Memel 1252 – 1945
Die Geschichte der Stadt Memel von der Gründung bis ins 20. Jahrh.
Rede zur 750 JAHRFEIER der Stadt Memel im Memeler Theater am 29. Juli 2002.
Wolfgang Stribrny
Am 29. Jul i 1252, heut e vor 750 Jahren regel ten ei n Angehöri ger des Deut -
schen Ordens und ei n B ischof des Deut schordenslandes, der Deutschmeister
Eberhard von Sayn und der Bischof Heinrich von Kurland aus dem Hause Lüt-
zelburg, die Gründung der B urg Memel und legten die Besitzverhältnisse fest
(2. Urkunde des B ischofs vom 1.8.). Es wurde verabredet, zwei Jahre nach der
Burg die Stadt Memel zu bauen und si e mit einer Domkirche für den B ischof
von Kurland, einer Bischofsresidenz und einem Domkapitel auszustatten.
Der Deut schmeister war für di e ausg edehnten B esitzungen des Deut schen
Ordens, der seit 1230 von Thorn ausgehend an W eichsel und Ostsee tätig war,
im deutschen Stammland verantwortlich. Eberhard stammte au s Sayn bei Ko -
blenz und B ischof Heinrich war ei n Graf von Luxemburg. - Der Deutsche Or-
den ist auch heute noch von prägender Kraft. Der Deutsche Orden hat nicht nur
Königsberg gegründet (3 Jahre nach M emel), sondern auch zur Haupt stadt
Ostpreußens (der B egriff Ost preußen wurde erst von Fri edrich dem Großen
erfunden) erhoben. Der lettische Staatspräsident residiert in Riga im Schloß des
Deutschen Ordens. Auf der vom Deutschen Orden erbauten Burg von Reval ist
auch heute die Macht des Staates Estland konzentriert. Estland und Lettland
sind seit der Zeit der Deutschordensherrschaft (1237 bis 1561) mit Mitteleuropa
durch das gem einsame, zuerst katholische und sei t der R eformation evange-
lisch-lutherische B ekenntnis verbunden; sie si nd durch die bis 1918 dominie-
rende deut sche Sprache und Kul tur t ief und, wi e si ch sei t der friedlichen Re-
volution von 1990 zeigt, bleibend geprägt.
In Litauen und Polen wird vorwiegend die militärisch-expansive Rolle des
Deutschen Ordens hervorgehoben und kritisiert. In Deutschl and betonen wir
die missionarische und kul turelle Bedeutung des Ordens i n Westpreußen, Ost-
preußen, Lettland und Estland. Der Orden hat dafür gesorgt, daß das Land der
Preußen modernisiert und dicht besiedelt wurde. Di e zahl reichen B urgen des
Ordens (ungefähr i n jedem Landkreis eine), di e von i hm gegründeten St ädte
mit ihren mittelalterlichen Bauten und die tausend Dörfer, die er gegründet hat,
zeugen bis heute von ihm. Beide Seiten des Ordens müssen gesehen werden.
Im November 1990 hörte ich bei der ersten deutsch-litauischen Historikerkon-
ferenz im sowjetisch belagerten Wilna davon, daß m an in Memel unter Vladas
Žulkus die Ordensburg ausgrabe und si e rekonstruieren wolle. Daß wir auf der
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Burg jetzt ein Museum betrachten können, beweist, daß auch Litauen heute die
Tradition des Ordens achtet und Memel seine Wurzeln kennt und respektiert.
Die Mem elburg sollte den W eg von Livl and zur W eichsel sichern und den
Zugang zum Kurischen Haff und zum Gebiet des Memelstroms kontrollieren.
Auch schon vor 1252 - das zeigen die neuen litauischen Ausgrabungen in
Polangen - war die Gegend um Memel durch verschiedene Sprachen und Kul -
turen gesegnet: kurisch-lettische, litaui sche und nordgerm anisch-wikingische
Einflüsse lassen sich nebeneinander nachweisen. Ob es in Memel vor 1252 eine
litauische Befestigung gegeben hat, weiß ich nicht. So wie Twangste (Prußen-
wall) für Königsberg, wäre auch si e für die nun einsetzende Entwicklung ohne
prägende Bedeutung gewesen.
Zur immer neu auft auchenden Nam ensfrage M emel-Klaipėda nur so vi el:
Alle Völker haben für di e wichtigen Orte der Nachbarländer ihre eigenen Na-
men, die meistens anders lauten als die einheimischen. Es gibt wohl kein Volk
in Europa, das die Stadt Kö ln am Rhein mit ih rem amtlichen Namen "Köln"
nennt - di e Deut schen natürlich ausgenommen. Di e Pol en haben für al le be-
deutenden deutschen Städte eigene Namen, ebenso di e Italiener und Li tauer -
von Am erikanern und R ussen ganz zu schweigen. Deshal b sagen Deut sche
Memel und Wilna, Königsberg und Ti lsit - wie die Litauer Klaipėda, Vilnius,
Karalaučius und Tilžė. Die Russen haben ja jetzt einen alten russischen Namen
für Königsberg entdeckt, besser werden die aber wi e St. Petersburg, Jekateri-
nenburg und Orani enbaum wohl bald Königsberg sagen. Si e brauchen si ch
dann nicht mehr zu schäm en, den Nam en des M assenmörders Kalinin, er war
ein Spi eßgeselle von St alin, i m Schilde zu führen. Ni emand i m heutigen Eu-
ropa, der über einen Funken Vernunft ve rfügt, will Grenzen verschieben. Der
von R ückwärtsgewandten erhobene Vorwu rf des deut schen Revanchismus ist
absurd und ist der politischen Hetze zuzurechnen.
Nach diesen Vorbemerkungen zurück zu 1252. M emel wurde von Norden
her gegründet. Der Bischof von Kurland wollte hier resi dieren. Kurland ist der
südliche Teil des heutigen Lettland; Mitau, Libau und W indau liegen in Kur-
land. - Der Deu tsche Orden wollte d ie Kuren, die im Norden des Kurischen
Haffs vorwi egend si edelten, unt erwerfen. Die Verbi ndung zum Zentrum des
Deutschen Ordens an der W eichsel so llte g esichert werden. Die älteste Stadt
des späteren Ostpreußen hat also die ersten Jahrzehnte über zum livländischen
Ordensbereich gehört. Erst 1328 legte der Orden fest, daß die Komturei Memel
zu Preußen kam . Die heutige Grenzlinie bei Nidden war aber schon sei t etwa
1255 di e Trennungsl inie zwischen den Kom tureien M emel und Königsberg -
eine bloße Verwaltungslinie, die kein Reisender spürte. Wir hoffen, daß es bald
wieder so sei n wird wi e vor 700 Jahren und zu allen Zeiten, abgesehen von
1920 bis 1939 und seit 1990.
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"Die memele war zu verne gelegen, Got der mußte ir selber pflegen,"
hieß es im Orden. Schon 1253 wurde die Burg auf die östliche Seite der Dange
verlegt, weil hier der Baugrund sicherer war. Preußische Samländer und litaui-
sche Schamaiten wollten sie gleich zu Beginn zerstören. Bei der Burg siedelten
sich Bürger an: die erst e Ki rche wurde gewei ht. 1254 wurden di e St ädte Lü-
beck und Dort mund gebeten, ihre Stadtrechte zu übersenden. Di e junge St adt
erhielt wie die Städte in Livland und Kurl and 1257/58 das l übsche Recht und
man nimmt an, daß die ersten Bewohner der Stadt von Lübeck kamen.
Erst 1475 bekam Memel wie die übrigen Städte im Deutsch Ordensland
Preußen das Kul mer R echt. Damit verschwand ei ne l etzte Erinnerung an die
Gründung der Stadt von Norden her. Memel wurde zum nordöstlichen und mit
Abstand am weitesten nördl ich gelegenen Tei l des geschl ossenen deut schen
Sprachgebiets. Es war di e nördl ichste Stadt Preußens und ab 1871 des Deut -
schen Reiches. Bei deutscher Mehrheit siedelten sich auch Kuren und Liven an,
wenn sie auch kei ne Vol lbürger waren. M emel war und i st in seiner ganzen
Geschichte eine mehrsprachige Stadt - darin lag und liegt ein Reichtum seiner
Geschichte.
Die Stadtgründer wollten, daß Mem el ein geistliches Zentrum , eine Bi-
schofsstadt wird. Doch nur kurz haben di e B ischöfe von Kurl and i n Memel
residiert und gingen schon wenige Jahre später nach Pilten (das 1290 errichtete
Domkapitel siedelte 1298 nach W indau und spät er nach Hasenpot h über; erst
1392 verzichtete der Bischof auf seine Rechte in Memel. Die sechs Domherren
waren Priester im Deutschen Orden). Domkirche war St. Marien. Wegen einer
Erweiterung der Burg wurde die ursprünglich einzige Kirche Memels kurz nach
der Reformation 1529/30 abgebrochen.
Trotz sei ner günst igen Lage am Memeler Ti ef und der Brückenfunktion
zwischen Preußen und Livland entwickelte sich Memel schlecht. Wo gab es im
Mittelalter eine nennenswerte Stadt, in der m an nur über ein e einzige Kirch e
verfügen konnte?
Das Hinterland blieb litauisch und die Litauer führten als Heiden einen
Dauerkrieg m it dem Orden, dem beide m it Erbitterung oblagen. 1325, 1379,
1393, 1402 und 1455 (sowie 1457 von den Danzigern) wurde Memel überfallen
und niedergebrannt. Die Memel-Burg mit ihren 4 Flügeln und den Rundtürmen
an den Ecken wurde zu ei ner der st ärksten Ordensburgen, hi elt aber keinen
Vergleich mit der B urg R agnit (bei Tilsit) aus, dem wichtigsten St ützpunkt
gegen Litauen.
Zwar gab es einen Botenkurs auf dem Ostseestrand der Kurischen Nehrung,
der Königsberg über Memel mit Riga verband, und selbstverständlich berührten
gelegentlich auch Schiffe auf dem Seeweg von Preußen nach Livland den Me-
meler Hafen, aber eine Handelsstadt war es im Mittelalter nicht. Es fehlte nicht
nur das Hi nterland, das ohnehi n kaum besiedelt war, sondern der M emeler
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Handel mußte den m ühsamen Weg über das Haff nach Labi au, dann über die
Deime und den Pregel nach Köni gsberg nehmen. Erst Herzog Albrecht hat
1567 M emel den frei en Handel über See erl aubt. Ab 1567 begann m an dann
auch in Memel, größere Schiffe zu bauen.
Memels Weg durch die Geschichte war schwieriger als bei den übrigen ost-
preußischen Städten. Die bis 1945 ei ndeutig deutsche Stadt lag exponiert und
grenzte an die Sprachgebiete der Litaue r, Kuren und Letten. Es kam im Mittel-
alter nach 1252 noch drei mal zu Neuansätzen der St adtgründung (nach B ern-
hard Jähnig: Die Entwicklung der Sakraltopographie von Memel im Mittelalter
und der frühen Neuzei t. Festschrift für Udo Arnold: Das Preußenland als For-
schungsaufgabe, Lüneburg 2000, S.219): 1) 1365 stellte der große Hochmeister
Winrich v. Kniprode eine Handfeste für Memel (das heißt eine Ordnung für das
Rechtsleben) aus, 2) der kurz darauf in der Schlacht von Tannenberg gefallene
Hochmeister Ulrich v. Jungingen betraute 1408/09 den Danziger Johann
Lanckau damit, als Lokator die Stadt neu zu besiedeln, 3) 1475 erhielt die Stadt
das im Ordensland Preußen übliche Kulmer Recht.
Früher auch in Deutschland und in Polen sowie Litauen weithin noch heute
wird die Schlacht von Tannenberg-Grunwald 1410 al s nationaler Sieg der Po-
len und Litauer über die Deutschen verstanden. Tatsächlich siegte ein von Wla-
dislaw II. Jagiello und seinem Vetter Großfürst Witold-Vytautas dem Großen
geführtes Heer über des Heer des Deutschen Ordens. Auf beiden Seiten kämpf-
ten Deutsche und Sl awen. Es war ei ne normale Auseinandersetzung zwischen
Machthabern ohne nat ionale Akzente. - Spät estens der Friede vom Melnosee
1422 zeigte, daß der Abst ieg des Deut schen Ordens und der Aufst ieg des pol -
nisch-litauischen Unionsstaates auch Memels Lage völlig veränderte. Im Frie-
densvertrag, der di e Grenze erst mals genau l inear fest legte, wurde Memel er-
wähnt: "et castrum Memel in Sam ogitico Cleupeda appellatum". Mit Polangen
erhielt Litauen 1422 erstmals einen Zugang zum Meer. Die Grenzen um Memel
wurden so festgelegt (bei Nim mersatt und Deutsch-Krottingen), wie sie bis
1945 Gültigkeit hatten.
Der Hochmeister Albrecht von Brandenburg, ein Hohenzoller, trat auf Rat
Martin Luthers 1525 zum evangelischen B ekenntnis über, l egte sei n Ordens-
kleid ab und wurde - m it Zustimmung sei nes Onkels König Sigismund des
Alten von Polen-Litauen 1525 (Krakaue r Huldigung) - weltlicher Herzog von
Preußen. Memel wurde zum nord-östlichen Eckpfeiler des nunm ehrigen Her-
zogtums Preußen, trat unter di e Herrschaft der Hohenzol lern und wurde ei ne
evangelisch geprägt e Stadt, die es bi s 1945 bl ieb. Preußen wurde das erste
evangelische Land der W elt mit der ersten evangelischen Landeskirche. W as
bedeutet das?
Die Reformation ist die Voraussetzung für die moderne Entwicklung:
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