Рыбаченко Олег Павлович
Hitler, der gemächliche Henker

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    Hitler griff also zuerst Großbritannien an und landete dort Truppen.

  Hitler, der gemächliche Henker
  ANMERKUNG
  Hitler griff also zuerst Großbritannien an und landete dort Truppen.
  KAPITEL NR. 1.
  Diese alternative Geschichtsversion ist gar nicht so schlecht. Es gibt aber auch weniger günstige. In einer griff Hitler die UdSSR nicht 1941 an, sondern eroberte zuerst Großbritannien und all seine Kolonien. Erst 1944 entschied er sich zum Einmarsch. Auch das war keine abwegige Idee. Die Nazis produzierten schließlich alle möglichen Panther-, Tiger-, Löwen- und sogar Mause-Panzer. Doch auch die UdSSR stagnierte; der vierte Fünfjahresplan lief bereits. Der dritte war sogar übertroffen worden. Im August 1941 ging der 68 Tonnen schwere und mit einer 107-mm-Kanone bewaffnete KV-3 in Produktion. Und im September folgte der nur eine Tonne schwere KV-5. Wenig später wurde auch der KV-4 in Produktion genommen, wobei Stalin sich für die schwerste aller Konstruktionen entschied: Er wog einhundertundsieben Tonnen, hatte eine 180 Millimeter starke Frontpanzerung, zwei 107-Millimeter-Kanonen und eine 76-Millimeter-Kanone.
  Fürs Erste entschied man sich für diese Baureihe. Der Fokus lag auf der Massenproduktion. Zwar erschien 1943 der noch größere KV-6 mit zwei 152-mm-Kanonen, doch der T-34, einfacher und praktischer, wurde in Serie gefertigt. Erst 1944 kam die stärker bewaffnete T-34-85-Serie auf den Markt. Die Deutschen produzierten seit 1943 den Tiger, den Panther und etwas später den Löwen. Der Tiger wurde dann durch den Tiger II ersetzt, und im September ging der Panther II in Produktion. Dieser Panzer verfügte über eine sehr leistungsstarke 88-mm-Kanone (71 EL), eine 100 mm starke, um 45 Grad geneigte Frontpanzerung der Wanne sowie 60 mm starke Turm- und Wannenseitenpanzerung. Die Turmfront war 120 mm dick, zuzüglich einer 150 mm starken Blende. Der Panther-2 wog 53 Tonnen, was ihm zusammen mit einem 900 PS starken Motor zufriedenstellende Ergonomie und Geschwindigkeit verlieh.
  Als Reaktion darauf begann die UdSSR einige Monate später mit der Produktion des T-34-85, doch dies war nur eine halbe Sache. Der Panther II, der 1944 meistproduzierte Panzer, war sowohl in der Bewaffnung als auch in der Frontpanzerung überlegen. Der sowjetische Panzer hatte jedoch den Vorteil der schieren Stückzahl. Hitler war jedoch nicht untätig. Mithilfe der Ressourcen Europas führte er außerdem die Operation Eisbär durch, bei der er Schweden eroberte, und die Operation Fels, bei der er die Schweiz und Monaco eroberte und so die Konsolidierung des Reiches vollendete.
  Fabriken aus vielen Ländern, darunter auch Großbritannien, arbeiteten für das Dritte Reich. Britische Fabriken produzierten unter anderem den Göring-Panzer, genauer gesagt den Churchill-Panzer. Er war gut geschützt - mit einer 152 Millimeter dicken Front und 95 Millimeter dicken Seiten - und wies eine zufriedenstellende Manövrierfähigkeit auf. Der britische Challenger, später Goebbels genannt, war ebenfalls recht gut und in Panzerung und Bewaffnung mit dem Standard-Panther vergleichbar, wog aber 33 Tonnen.
  Angesichts des Potenzials des Dritten Reichs, seiner Kolonialressourcen und des erklärten totalen Krieges wurde die Panzerproduktion weiter gesteigert. Obwohl die UdSSR zahlenmäßig noch überlegen war, begann sich der Abstand zu verringern. Die Nazis verfügten jedoch über überlegene Qualität. Der stärkste Nazi-Panzer war der Maus, dessen Produktion jedoch aufgrund häufiger Pannen und seines hohen Gewichts eingestellt wurde. Daher wurde der Lew weiterproduziert. Das Fahrzeug wog 90 Tonnen und verfügte über einen 1000-PS-Motor, der im Allgemeinen für eine zufriedenstellende Geschwindigkeit sorgte. Die 150 Millimeter dicke, um 45 Grad geneigte Frontpanzerung der Wanne und die Frontpanzerung des Turms, dank einer 240 Grad schwenkbaren Blende, boten dem Panzer einen ausgezeichneten Frontalschutz. Die 100 Millimeter dicke, geneigte Panzerung an den Seiten und am Heck bot einen zufriedenstellenden Schutz von allen Seiten. Die am häufigsten verwendete 76-mm-Kanone war jedoch völlig wirkungslos. Die 85-mm-Kanone konnte einen Panzer nur mit Unterkalibermunition bekämpfen. Der Lew war mit einer 105-mm-Kanone mit einer Rohrlänge von 71 EL und einer Mündungsgeschwindigkeit von 1000 m/s bewaffnet; die Unterkalibermunition erreichte sogar noch höhere Werte. Dieser Panzer war den sowjetischen KV-Panzern sowohl in der Bewaffnung als auch in der Panzerung überlegen.
  Insgesamt stieg die Panzerproduktion im Dritten Reich dank besserer Ausrüstung und Arbeitskräfte, einschließlich der Bevölkerung in den Kolonien, von 3841 auf 7000 im Jahr 1942 und auf 15.000 im Jahr 1943. Selbstfahrlafetten, von denen sowohl die UdSSR als auch Deutschland nur wenige produzierten, wurden dabei nicht mitgerechnet. Bis zu 15.000 Panzer wurden in der ersten Hälfte des Jahres 1944 gefertigt. Die meisten davon waren mittlere und schwere Panzer, wobei der Panther II am weitesten verbreitet war. Daneben gab es den T-4, eine modernisierte Version mit einer 75-mm-Kanone 48EL, die sich leicht produzieren ließ und sowjetische T-34 und sogar den überlegenen T-34-76, den meistproduzierten mittleren Panzer der UdSSR, sowie weitere Fahrzeuge bekämpfen konnte. Auch leichte Panzer wurden hergestellt.
  Hinzu kam das Problem, dass Hitler praktisch all seine Panzer gegen Russland einsetzen konnte. Die Vereinigten Staaten befanden sich weit jenseits des Ozeans und hatten einen Waffenstillstand sowohl mit Japan als auch mit dem Dritten Reich geschlossen. Und die UdSSR musste sich noch gegen Japan verteidigen. Japan verfügte über leichte, aber schnelle Dieselpanzer und einige mittlere Panzer. Es produzierte auch den Panther in Lizenz, hatte die Serienproduktion aber erst vor Kurzem aufgenommen. Doch Japans Luftwaffe und Marine waren stark. Zur See hatte die UdSSR keinerlei Chance, während die Japaner in der Luft über umfangreiche Kampferfahrung, gute, leichte und wendige Jagdflugzeuge sowie Kamikaze-Piloten verfügten. Außerdem besaßen sie eine große Anzahl an Infanteristen, und zwar sehr tapfere Infanterie, die zu rücksichtslosen Angriffen fähig war und keinerlei Rücksicht auf Menschenleben nahm.
  Trotz eines leichten Vorteils bei der Anzahl der Panzer war die UdSSR den Deutschen qualitativ unterlegen. Hitler verfügte dank seiner Kolonialdivisionen über eine deutliche Infanterieüberlegenheit. Zudem standen ihm zahlreiche europäische Divisionen und Satellitenstaaten zur Verfügung. Berücksichtigte man die Verbündeten und eroberten Staaten des Dritten Reichs, war seine militärische Überlegenheit gegenüber der UdSSR erheblich. Hinzu kamen Afrika, der Nahe Osten und Indien. Allein Indien hatte mehr als die dreifache Bevölkerung der UdSSR.
  Hitler konnte also eine gewaltige Infanterieeinheit aufbieten. Qualitativ war das Dritte Reich bei Autos, Motorrädern und Lastwagen deutlich überlegen. Auch die Kampferfahrung war größer. Die Nazis marschierten praktisch durch ganz Afrika, erreichten Indien, eroberten es und nahmen Großbritannien ein. Ihre Piloten verfügten über immense Erfahrung. Die UdSSR hatte weit weniger. Die finnische Luftwaffe war schwach, und es gab praktisch keine Luftkämpfe. Die Schlacht am Chalchil Gol war eine begrenzte lokale Operation, und nur wenige freiwillige Piloten kämpften in Spanien; selbst diese waren bereits veraltet. Daher lässt sich dies nicht mit der Erfahrung des Dritten Reichs oder gar der Japaner im Kampf gegen die USA vergleichen.
  Das Dritte Reich hatte bereits während der Luftoffensive gegen Großbritannien die Produktion gesteigert, Fabriken in ganz Europa errichtet und die bestehenden auf Dreischichtbetrieb umgestellt. Dabei wurden beeindruckende Flugzeuge entwickelt - die Me 309 mit drei 30-mm-Kanonen und vier Maschinengewehren sowie einer Geschwindigkeit von 740 km/h. Und die noch beeindruckendere Ta 152 mit zwei 30-mm- und vier 20-mm-Kanonen und einer Geschwindigkeit von 760 km/h. Diese Flugzeuge konnten dank ihrer starken Panzerung und Bewaffnung als Jagdflugzeuge, Angriffsflugzeuge und Frontbomber eingesetzt werden.
  Auch Düsenflugzeuge kamen auf. Doch sie waren noch nicht perfekt. Sie brauchten noch Zeit, um ihre volle Leistung zu entfalten. Dennoch war die Me 262 mit ihren vier 30-mm-Kanonen und einer Geschwindigkeit von 900 Kilometern pro Stunde eine sehr gefährliche Maschine und extrem schwer abzuschießen. Zugegeben, sie stürzte trotzdem häufig ab.
  Das Verhältnis ist, um es mal so auszudrücken, für die UdSSR nicht optimal. Auch die Artillerie hat ihre Tücken. Zwar war die Molotow-Verteidigungslinie im Gegensatz zur realen Geschichte fertiggestellt - ein Vorsprung von drei Jahren. Sie lag jedoch zu nah an der Grenze und bot nicht genügend operative Tiefe.
  Darüber hinaus war die Rote Armee nicht auf Verteidigung, sondern auf Offensive ausgerichtet. Dies hatte Folgen. Überraschungsmomente waren zwar schwer zu erzielen, doch den Nazis gelang es, einen taktischen Überraschungseffekt zu erzielen.
  Und so begann am 22. Juni 1944, genau drei Jahre später, der Große Vaterländische Krieg. Die UdSSR war zwar besser, aber noch nicht vollständig vorbereitet, während das Dritte Reich an Stärke gewonnen hatte. Zudem hatte Japan den Fernen Osten angegriffen. Und nun kämpfte nicht mehr das Dritte Reich an zwei Fronten, sondern die UdSSR.
  Was kann man tun? Die Deutschen durchbrechen mit ihren Panzerkeilen die starke Verteidigungslinie, und die sowjetischen Truppen starten Gegenangriffe. Und alle bewegen sich und kämpfen.
  Am 30. Juni hatten die Nazis Minsk bereits gestürmt. In der Stadt selbst brachen Straßenkämpfe aus. Sowjetische Truppen zogen sich zurück und versuchten, die Stellung zu halten.
  Die Generalmobilmachung wurde ausgerufen.
  Doch die Verteidigung scheiterte weiterhin. Anders als in der Realität behielt Hitler seine Infanterieüberlegenheit auch nach der sowjetischen Mobilmachung bei. In der Realität verlor die Wehrmacht ihren zahlenmäßigen Vorteil 1941 rasch. Die UdSSR hatte zwar stets einen Panzerüberschuss, doch hier war der Gegner in jeder Hinsicht überlegen. Aufgrund der hohen Panzerverluste wurde der Materialvorteil nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ.
  Eine Katastrophe braute sich zusammen. Und jetzt konnte nur noch eine Landungstruppe von Zeitreisenden die UdSSR retten.
  Und was sind Oleg und Margarita, ewige Kinder mit Superkräften, und die Töchter der russischen Götter Elena, Zoya, Victoria und Nadezhda, die fähig sind, der Wehrmacht und den aus dem Osten heraufkommenden Samurai hartnäckigen Widerstand zu leisten?
  Und so eröffneten Oleg und Margarita mit ihren Hypermag-Blastern das Feuer auf die deutschen Panzer. Und die mächtigen, massiven Maschinen begannen sich in cremeüberzogene Kuchen zu verwandeln.
  So lecker mit einer rosa Schokoladenkruste, und die Panzerbesatzungen verwandelten sich in Jungen von sieben oder acht Jahren.
  So geschah ein Wunder.
  Aber natürlich vollbrachten auch die Töchter der russischen Götter Wunder. Sie verwandelten Infanteristen in Kinder, und zwar in gehorsame und höfliche. Panzer, Selbstfahrlafetten und Schützenpanzer wurden zu kulinarischen Köstlichkeiten. Und Flugzeuge verwandelten sich mitten in der Luft in Zuckerwatte oder andere, äußerst appetitliche Leckereien. Das war wahrlich eine erstklassige und unglaublich coole Verwandlung.
  Das waren die leckeren Köstlichkeiten, die dann vom Himmel herabfielen.
  Und sie bewegten sich sehr sanft und ließen sich mit süßem Schluchzen nieder.
  Elena nahm es entgegen und sagte geistreich:
  Es ist besser, von einem Narren zu gewinnen, als von einem Klugen zu verlieren!
  Victoria, die die Nazis weiterhin mit einem Wink ihres Zauberstabs verwandelte, stimmte zu:
  - Natürlich! Gewinne sind immer positiv, Verluste immer negativ!
  Zoya kicherte und bemerkte mit einem süßen Blick:
  - Ehre sei uns, den coolsten Mädchen im Universum!
  Nadeschda bestätigte dies eifrig, fletschte die Zähne und verwandelte Hitlers Ausrüstung in Delikatessen:
  - Stimmt! Da kann man nichts gegen sagen!
  Und die Mädchen, ein Junge und ein Mädchen, schwangen ihre Zauberstäbe, schnippten mit ihren nackten Zehen und begannen zu singen:
  Ich wurde in einem recht wohlhabenden Haus geboren.
  Die Familie ist zwar nicht adlig, aber keineswegs arm...
  Wir gehörten zu dieser wohlgenährten, aufgeweckten Gruppe.
  Auch wenn wir keine Tausende in unserem Sparbuch hatten...
  
  Ich war ein Mädchen, das ein wenig heranwuchs.
  Anprobieren von Outfits in zarten Farben...
  So wurde ich Diener in diesem Haus.
  Ohne von irgendwelchen bösen Dingen zu wissen!
  
  Doch dann geschah das Unglück, ich war schuldig.
  Sie jagen mich barfuß zur Tür hinaus...
  Ein solches Skandalgeschehen ereignete sich.
  Oh hilf mir, allmächtiger Gott!
  
  Barfuß läuft man über die Kieselsteine.
  Der Kies des Bürgersteigs stößt die Füße um...
  Sie geben mir Brotkrumen als Almosen.
  Und sie werden dich einfach mit einem Schürhaken verfaulen lassen!
  
  Und wenn es regnet, tut es weh.
  Noch schlimmer ist es, wenn es schneit...
  Es schien, als hätten wir jetzt schon genug Kummer.
  Wann werden wir unsere Erfolge feiern?
  
  Aber dann traf ich einen Jungen.
  Er ist außerdem barfuß und sehr dünn...
  Aber er springt wie ein verspieltes Kaninchen.
  Und dieser Typ ist wahrscheinlich cool!
  
  Wir sind tatsächlich schon in der Kindheit Freunde geworden.
  Sie gaben sich die Hand und wurden eins...
  Jetzt haben wir gemeinsam schon viele Kilometer zurückgelegt.
  Über uns schwebt ein goldköpfiger Engel!
  
  Manchmal bitten wir gemeinsam um Almosen.
  Nun ja, manchmal stehlen wir in Gärten...
  Das Schicksal stellt uns vor eine Prüfung.
  Das lässt sich nicht in Poesie ausdrücken!
  
  Aber wir überwinden Schwierigkeiten gemeinsam.
  Einem Freund wird eine Schulter angeboten...
  Wir ernten im Sommer die Getreideähren auf dem Feld.
  Selbst bei frostigem Wetter kann es heiß sein!
  
  Ich glaube, dass großartige Zeiten kommen werden.
  Wenn Christus, der große Gott, kommt...
  Der Planet wird für uns zu einem blühenden Paradies werden.
  Und wir werden die Prüfung mit Bestnoten bestehen!
  Stalins Präventivkrieg 1911
  ANMERKUNG
  Der Krieg dauert an, es ist bereits Oktober 1942. Die Nazis und die antirussische Koalition rücken immer näher an Moskau heran. Dies stellt eine ernsthafte Bedrohung für den Fortbestand der UdSSR dar. Eine große Herausforderung sind die zahlenmäßige Überlegenheit des Feindes, seine enormen Ressourcen und die Tatsache, dass die Angriffe von mehreren Fronten erfolgen. Doch barfüßige Komsomol-Mädchen und Pionierjungen, in kurzen Hosen und ohne Schuhe, kämpfen trotz der rasch zunehmenden Kälte an vorderster Front.
  KAPITEL 1
  Der Oktober war bereits angebrochen, und das Wetter wurde kälter. Die Deutschen und die Koalition hatten Tula fast vollständig eingekesselt und verstärkten ihren Griff um die Stadt. Die Lage verschärfte sich zusehends.
  Als es jedoch kälter wurde, begannen die zahlreichen Truppen Großbritanniens und seiner Kolonien zu frieren. Sie zitterten buchstäblich. Daraufhin verlagerte sich der Kampf nach Zentralasien. Dort eskalierte die Situation regelrecht.
  Im Norden müssen wir wohl auf eine provisorische Verteidigung umstellen.
  Die neuen Machthaber haben die Zivilbevölkerung bereits dazu gezwungen, Befestigungsanlagen zu errichten.
  Und die Arbeit begann.
  Einer der Pioniere nahm eine Schaufel in die Hand und tat so, als wolle er graben, doch in Wirklichkeit schlug er damit auf den Polizisten ein.
  Dem Jungen wurden die Kleider vom Leib gerissen und er wurde an den Ständer gehängt.
  Ein Polizist schlug den Pionier mit einer Peitsche und verletzte den Jungen am Rücken.
  Und der andere brachte die Fackel zu den nackten Füßen des Kindes.
  Es war sehr schmerzhaft, aber der Junge bat nicht nur nicht um Gnade, sondern im Gegenteil, er sang tapfer;
  Es ist mir, einem Pionier, nicht recht, zu weinen.
  Wenigstens haben sie eine Feuerschale ins Feuer gestellt...
  Ich frage nicht, oh Gott hilf mir,
  Denn der Mensch ist Gott gleich!
  
  Ich werde für immer ihr Pionier sein.
  Die Faschisten werden mich nicht mit Folter brechen...
  Ich glaube, die schwierigen Jahre werden vorübergehen.
  Der Sieg wird im strahlenden Mai kommen!
  
  Und der böse Henkershund brät mir die Füße.
  Bricht Finger, treibt Nadeln an...
  Aber mein Motto lautet: Niemals weinen.
  Lebe für den Ruhm der Welt des Kommunismus!
  
  Nein, gib nicht auf, tapferer Junge!
  Stalin wird für immer in deinem Herzen weiterleben...
  Und Lenin ist wahrlich ewig jung.
  Und gusseiserne Fäuste aus Stahl!
  
  Wir fürchten weder den Tiger noch die Pantherherden.
  Wir werden das alles auf einmal überwinden...
  Lasst uns den Oktober-Anhängern zeigen, dass sie ein gutes Beispiel kennen sollten.
  Der strahlende Lenin ist für immer bei uns!
  
  Nein, der Kommunismus leuchtet ewig.
  Für das Vaterland, für das Glück, für die Freiheit...
  Möge der größte Traum in Erfüllung gehen.
  Wir werden den Menschen unsere Herzen schenken!
  Tatsächlich erschienen die ersten Panther an der Front. Diese Panzer waren sehr leistungsstark und mit einer schnellfeuernden, langläufigen Kanone ausgestattet.
  Und sie treffen tatsächlich ziemlich gut. Und die Panzer sind ziemlich wendig.
  Insbesondere Gerds Mannschaft kämpft auf ihnen.
  Und dieses Terminator-Mädchen hat mit bloßen Zehen den Feind vernichtet. Und sie ist in einen sowjetischen T-34 eingedrungen.
  Anschließend sang Gerda:
  - Herrschaft Deutschland - Blumenfelder
  Wir werden niemals Sklaven sein!
  Und dann zeigt sie ihr süßes kleines Gesicht. Das ist mal ein richtiges Wildfang-Mädchen.
  Und dann wird Charlotte mit der Kanone schießen, und sie wird es sehr genau tun, den Feind treffen und singen:
  - Wir werden wirklich alle töten.
  Ich bin ein Reich-Mädchen, komplett barfuß!
  Und die Mädchen werden lachen.
  Natasha und ihr Team hingegen kämpfen hart. Diese Mädchen sind wirklich mutig.
  Und mit bloßen Zehen werfen sie Granaten. Und sie besiegen die Nazis.
  Sie beschießen sie mit Maschinengewehren und singen gleichzeitig;
  Wir sind Komsomol-Mitglieder - die Ritter der Rus',
  Wir lieben es, gegen den brutalen Faschismus zu kämpfen...
  Und nicht für uns - das Gebet Gott schütze,
  Wir sind nur mit dem glorreichen Kommunismus befreundet!
  
  Wir kämpfen für unser Vaterland gegen den Feind.
  Unter der glorreichen Stadt - unserem Leningrad...
  Durchbohre den Nazi mit einem wahnsinnigen Bajonett,
  Wir müssen tapfer für unser Vaterland kämpfen!
  
  In der Kälte stürzen wir uns barfuß in die Schlacht.
  Um gefallene Trophäen zu sammeln...
  Der Führer wird einen Schlag ins Gesicht bekommen.
  Obwohl die Faschisten wirklich verrückt geworden sind!
  
  Wir sind Komsomol-Mitglieder - ein wunderschönes Mädchen.
  Du hast eine gute Figur und ein hübsches Gesicht...
  Unter meinen nackten Füßen ist Tau.
  Sollen die Teufel uns doch Grimassen schneiden!
  
  Wir werden diesen Erfolg erzielen, glauben Sie mir.
  Dass unsere Gedanken wie Gold fließen...
  Und das Tier wird unser Land nicht erhalten.
  Und der besessene Führer wird wütend sein!
  
  Lasst uns den Fritzes einen ordentlichen Schlag auf den Kopf verpassen!
  Wir werden die Türme unter den imposanten Mauern niederreißen...
  Der Bastard wird nur Schande und Schmach ernten.
  Die Mädchen werden dich mit ihren nackten Füßen zertreten!
  
  Es wird wunderschön sein, das sollt ihr auf Erden wissen.
  Darin wird das Land der großen Räte erblühen...
  Wir werden uns der Junta-Satan nicht unterwerfen.
  Und lasst uns all diese Drecksäcke zur Rechenschaft ziehen!
  
  Zum Ruhm unseres heiligen Vaterlandes,
  Die Mädchen gewinnen mit Bravour...
  Genosse Stalin ist unser Vaterland.
  Möge Lenin in der nächsten Welt für immer herrschen!
  
  Was für ein wunderbarer Kommunismus das sein wird!
  Lasst uns die leuchtenden Gebote des Führers erfüllen...
  Und wir werden den Nationalsozialismus in Moleküle zerlegen.
  Zum Ruhm des ewig roten Planeten!
  
  Heiliges Mutterland, nun haben wir,
  Wir haben die Fritzen aus Leningrad vertrieben...
  Ich glaube, die Stunde des Sieges naht.
  Wenn wir in Berlin mit Tapferkeit die Nationalhymne singen!
  
  Wir haben immer auf Gott gehofft.
  Aber es gibt keine Mädchen, keine Kugeln und keinen Frost...
  Für uns, die wir barfuß sind, sind Schneestürme nichts.
  Und auf dem Schnee wächst eine funkelnde Rose!
  
  Wählt den Kommunismus mit einem Traum,
  Damit wir neue Updates erhalten...
  Man kann die Nazis ohne Angst unter Druck setzen.
  Dann wird die Bestellung neu sein!
  
  Glaub mir, dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen.
  Es wird ein Leben kommen, das schöner ist als jedes andere...
  Der Elch setzt sich ein goldenes Geweih auf.
  Und vernichtet den Feind samt Turm!
  
  Wir sind eine freundliche Familie von Komsomol-Mitgliedern.
  Große Taten konnten wiedergeboren werden...
  Die faschistische Schlange wurde erwürgt.
  Wir Schönheiten haben keinen Grund mehr, wütend zu sein!
  Die Mädchen sangen so wunderschön. Und sie stampften mit ihren nackten, anmutigen Füßen.
  Der Junge Gulliver bemerkte mit einem Lächeln:
  Ihr singt wunderschön, meine lieben Schönheiten! So wunderschön und ausdrucksstark!
  Natasha nickte lächelnd:
  - Ganz genau, mein Junge, wir lieben es wirklich zu singen und wissen, wie es geht!
  Alice antwortete erfreut:
  Musik hilft uns beim Aufbau und im Leben.
  Wir gehen mit einem fröhlichen Lied auf eine Wanderung...
  Und wer mit einem Lied durchs Leben geht -
  Er wird nirgendwo verschwinden!
  Augustinus zwitscherte und sang:
  - Wer ist es gewohnt, für den Sieg zu kämpfen?
  Lasst ihn mit uns singen,
  Wer fröhlich ist, lacht.
  Wer es will, wird es erreichen.
  Wer sucht, der findet!
  Swetlana leckte sich die Lippen, warf sich ein Stück Schnee in den Mund und bot an:
  - Möge der Pionierjunge Gulya uns wieder mit seinen Sprüchen erfreuen!
  Natasha stimmte zu und stampfte mit ihrem nackten Fuß auf:
  - Genau! Die haben mir echt gut gefallen!
  Der Pionierjunge Gulliver begann zu sprechen;
  Das Leben ist wie Schach: Wenn Kunst Opfer erfordert, dann erfordert die Kunst des Krieges nur
  Mata!
  Wer nur Waterloos erlebt hat, soll sich nicht Napoleon nennen!
  Die Reißzähne eines Wolfes werden durch Schafsfell nicht stumpf!
  Aberglaube ist Stärke für diejenigen, die ihn nutzen, Schwäche für diejenigen, die daran glauben!
  Der einzige Unterschied zwischen Geisteskranken und Heiligen besteht darin, dass erstere in einem Ikonenrahmen eingeschlossen sind, während letztere in einer Irrenanstalt untergebracht werden!
  Ein Stift ist nur dann einem Bajonett gleichwertig, wenn er einem Dieb gehört!
  Das Auge der Wissenschaft ist schärfer als ein Diamant, und die Hand eines Wissenschaftlers ist sehr mächtig!
  Es zeugt von Prestige, wenn ein Mann einer Frau in allen Bereichen den Vortritt lässt, nur nicht bei wissenschaftlichen Entdeckungen!
  Fähige Jungen machen mehr Entdeckungen als brillante alte Männer!
  Die Wissenschaft ist ein Hirte - die Natur ist ein Schaf, aber ein störrisches Schaf, das sich nicht mit einer einfachen Peitsche zähmen lässt!
  Das Salz der Freiheit ist süßer als der Zucker der Sklaverei!
  Eine effektive Gehirnwäsche ist nur möglich, wenn die Menschen abwesend sind!
  Und verkaufe dein Gewissen, wenn es nichts wert ist!
  Vorsicht, die Haupteigenschaft von Verrätern!
  Angst ist immer egoistisch, weil sie Selbstaufopferung ausschließt!
  Ein Steinkopf - selbst ein Skalpell wird stumpf!
  Eine scharfe Zunge verbirgt oft einen stumpfen Verstand!
  Furcht ist ein so wertvolles Geschenk, dass es schwerfällt, es einem Feind zu geben, aber leicht, es für sich selbst zu behalten!
  Jeder kann eine Frau zum Schreien bringen, aber nur ein wahrer Gentleman kann sie zum Weinen bringen.
  Die Kirche ist wie ein Laden, nur dass die Waren immer abgelaufen sind, die Preise überhöht sind und der Verkäufer einen betrügt!
  Unter den Priestern gibt es keine Frauen, denn die Lügen der Priester sind ihnen ins Gesicht geschrieben!
  Ganz gleich wie groß die Kluft zwischen Vorstellungskraft und Realität ist, die Wissenschaft wird dennoch Brücken bauen!
  Wissen kennt keine Grenzen, die Vorstellungskraft wird durch den Ehrgeiz begrenzt!
  Talent und harte Arbeit bringen, wie Ehemann und Ehefrau, Entdeckungen nur gemeinsam hervor!
  Geist und Kraft können, wie ein junger Mann und eine junge Frau, die Abwesenheit des einen, die Abwesenheit des anderen nicht ertragen!
  Gewalt schließt Barmherzigkeit nicht aus, genauso wenig wie der Tod die Auferstehung ausschließt!
  Folter erfordert, genau wie Sex, Abwechslung, wechselnde Partner und Liebe zum Prozess!
  Nichts ist natürlicher als eine solche Perversion wie der Krieg!
  Jedes Stöhnen des Feindes ist ein Schritt in Richtung Sieg, es sei denn natürlich, es handelt sich um ein wollüstiges Stöhnen!
  Mit einer stumpfen Rasierklinge kann man sich schneiden, aber mit einem langweiligen Partner kann man keine aufregenden Momente erleben!
  Magie kann aus einem gewöhnlichen Menschen keinen Wissenschaftler machen, aber die Wissenschaft macht jeden zum Magier!
  Nicht jeder, der aggressiv ist, ist ein Krimineller, und nicht jeder Kriminelle ist aggressiv!
  Was am meisten brennt, ist kalter Hass!
  Grausamkeit ist immer Wahnsinn, selbst wenn sie einem System folgt!
  Ohne Feuer kann man kein Abendessen kochen! Ohne Lutscher kann man die Sahne nicht abschöpfen!
  Wenn es viele Kinderhelden gibt, dann gibt es nur wenige erwachsene Feiglinge!
  Mut und Können sind wie Zement und Sand - zusammen stark, getrennt zerbrechlich!
  Mut ist besser als feige Dummheit!
  Torheit ist immer falsch und prahlerisch, Weisheit aber ist wahrhaftig und bescheiden!
  Besser glauben als einer großen Lüge, ja, einer sehr großen Lüge!
  Eine Lüge ist die Kehrseite der Wahrheit, nur dass sie im Gegensatz zu einer Münze immer glatter erscheint!
  Um einen Wolf zu fangen, muss man seinem Heulen zuhören!
  Es ist gut zu sterben.
  Aber es ist besser, am Leben zu bleiben!
  Im Grab verrottest du - nichts.
  Man kann kämpfen, solange man noch lebt!
  Ein Huhn pickt Korn für Korn, nimmt aber mehr an Gewicht zu als ein Schwein, das große Stücke verschluckt!
  Wahre Größe braucht keine Schmeichelei!
  Ein ruhiger Schlag ist besser als hundert der durchdringendsten Schreie!
  Glück ist nur ein Spiegel, der harte Arbeit reflektiert!
  Der Duft des Weihrauchgefäßes verströmt eine Süße, die Geldscheine statt Fliegen anlockt!
  Ein Mensch kann lange Zeit auf einem bestimmten Intelligenzniveau verharren, aber Dummheit lässt sich durch keine noch so große Anstrengung ausmerzen!
  Intelligenz nimmt ohne Anstrengung immer ab, Dummheit hingegen wächst ohne Anstrengung!
  Ein Mann ist nicht eine Frage des Alters oder gar der körperlichen Stärke, sondern eine Kombination aus Intelligenz und Willenskraft!
  Der Verstand ist wie ein Tyrann, er verliert die Vernunft, wenn er schwach ist!
  Die Zigarette ist der heimtückischste Saboteur, der sein Opfer stets zum Komplizen macht!
  Geld ist widerlicher als Kot; auf dem Kot wachsen wunderschöne Blumen, aber im Geld gibt es nur niedere Laster!
  Wenn der Kapitalist die Macht Gottes erlangt, wird die Welt zur Hölle!
  Die Zunge eines Politikers, anders als die einer Prostituierten, bringt einen nicht zum Orgasmus, sondern in den Wahnsinn!
  Die Zukunft liegt in unseren Händen! Auch wenn es so scheint, als hinge nichts von uns ab!
  Die Faschisten können natürlich töten, aber was sie nicht können, ist, die Hoffnung auf Unsterblichkeit zu rauben!
  Es ist einfacher, eine Eisbahn in der Hölle zu füllen, als einem Soldaten eine Träne zu entlocken!
  Der Unterschied zwischen einem Weihrauchfass und einem Ventilator besteht darin, dass ein Ventilator Fliegen vertreibt, während ein Weihrauchfass Narren anzieht!
  Ein Schwert ist wie ein Penis - überleg es dir siebenmal, bevor du ihn reinsteckst!
  Der Mensch ist schwach, Gott ist stark, und der Gottmensch ist nur dann allmächtig, wenn er für eine gerechte Sache kämpft!
  Worte sind wie Noten in einer Komposition; ein einziger falscher Ton genügt, und die Rede ist ruiniert!
  Wenn du ein Mädchen langweilen willst, sprich über Waffen, und wenn du für immer Schluss machen willst, sprich über sowjetische Waffen!
  Die Stärke eines Panzers liegt nicht in seiner Panzerung, sondern im Kopf des Panzerfahrers!
  Der Herrscher über diejenigen, die vom Henker Brot annehmen, sammelt Salz auf seinem eigenen Hintern!
  Ehrlichkeit ist ein typisches Opfer auf dem Altar der Zweckmäßigkeit!
  Ein Angriff verdreifacht seine Stärke - eine Verteidigung halbiert sie!
  Ein mit einer Klinge abgetrennter Kopf wird Gartenkopf genannt, aus dem Büschel der Vergeltung sprießen!
  Im Krieg ist ein Mensch wie Kleingeld, das schneller an Wert verliert, als es ausgegeben wird!
  Das Leben eines Menschen im Krieg unterliegt der Inflation und ist gleichzeitig unbezahlbar!
  Krieg ist wie ein Wasserstrom: Der Dreck schwimmt an die Oberfläche, das Wertvolle setzt sich ab, und das Unbezahlbare wird erhöht!
  Ein Panzer ohne Mechaniker ist wie ein Pferd ohne Geschirr!
  Leere ist besonders gefährlich, wenn sie im eigenen Kopf wohnt!
  Die Leere im Kopf füllt sich mit Delirium, im Herzen mit Wut, im Geldbeutel mit Diebesgut!
  Eine lange Zunge geht meist mit krummen Armen, einem kurzen Verstand und einer geraden Hirnwindung einher!
  Die röteste Zunge, mit farblosen Gedanken!
  Die Wissenschaft ist kein Pferd, das mit leerem Magen eine Hürde nimmt!
  Die Gedanken eines Kindes gleichen einem übermütigen Hengst, die Gedanken eines klugen Kindes gleichen zwei übermütigen Hengsten und die Gedanken eines genialen Kindes gleichen einer Herde von Hengsten mit versengten Schwänzen!
  Boxhandschuhe sind zu weich, um einen scharfen Verstand zu trüben!
  Der Preis für den Sieg ist zu hoch, er kann die Trophäen entwerten!
  Die größte Trophäe im Krieg ist ein gerettetes Leben!
  Gemeinheit ist ansteckender als Cholera, tödlicher als die Pest, und es gibt nur einen Impfstoff dagegen - das Gewissen!
  Eine winzige Träne eines kleinen Kindes kann große Katastrophen und enorme Zerstörung auslösen!
  Die lächerlichsten Dummheiten werden mit einem klugen Blick, einem leeren Kopf und einem vollen Bauch begangen!
  Wenn eine Armee zu viele Banner hat, bedeutet das, dass es den Befehlshabern an Fantasie mangelt!
  Oft wird ein Überschuss an verdientem Geld durch Zeitmangel, es auszugeben, entwertet!
  Schweigen ist Gold - aber nur im Geldbeutel eines anderen!
  Es ist schwer, im Kampf zu überleben, aber es ist doppelt so schwer, nach dem Sieg Bescheidenheit zu bewahren!
  Ein Soldat ohne Brille ist wie ein Wachposten ohne Hütehund!
  Wer einen Russen unter ein Joch zwingen will, wird zu Dünger wie Scheiße!
  "War" ist ein lustiger Film, aber das Ende bringt einen immer zum Weinen!
  Krieg ist ein Theater, und es ist abscheulich, dort Zuschauer zu sein!
  Mit der Zunge kann man keine Granate werfen, aber ein Imperium kann man damit zerstören!
  Das Gehirn besitzt keine Muskelfasern, aber es schleudert Sterne aus ihrer Umlaufbahn!
  Intuition im Krieg ist wie der Weltraum auf hoher See, nur dass die Magnetnadel schneller springt!
  Einen verwundeten Kameraden zu retten ist eine größere Leistung als einen gesunden Feind zu töten!
  Die stärkste Kette des Lasters wird durch menschlichen Egoismus geschmiedet!
  Der Sieg über ein wehrloses Opfer ist schlimmer als die Niederlage gegen einen würdigen Gegner!
  Wenn du einen Mann bestrafen willst, zwinge ihn, mit einer Frau zusammenzuleben. Wenn du ihn noch mehr bestrafen willst, zwinge seine Schwiegermutter, mit ihnen zusammenzuleben!
  Es ist gut, für das Vaterland zu sterben, aber es ist noch besser, zu überleben und zu siegen!
  Das Überleben ist das wertvollste Gut eines Soldaten, und das, was Generäle am wenigsten schätzen!
  Die größten Konsequenzen ergeben sich aus kleinen Vergehen!
  Selbst der allmächtige Gott kann menschliche Schwächen nicht überwinden!
  Notwendigkeit ist ebenso eine treibende Kraft für Fortschritt wie eine Peitsche ein Stimulans für ein Pferd ist!
  Unter der großzügigen Bewässerung durch Tränen der Not sprießen die Triebe des Fortschritts!
  Im Krieg ist der Gedanke an ein Kind genauso unangebracht wie ein Clown bei einer Beerdigung!
  Wenn man Vergissmeinnicht auf eine Kanone malt, wird ihr Schuss dadurch nicht einmal um ein Blütenblatt weniger schädlich!
  Wenn alle Verräter so wären wie sie selbst, dann würde Ehrlichkeit die Welt regieren!
  Weiche Schafwolle stumpft die Reißzähne eines Wolfes nicht ab!
  Übermäßige Grausamkeit führt zu Anarchie!
  Richtet man einen Unschuldigen an, schafft man ein Dutzend Unzufriedene!
  Ein Photon ist nicht hundert Impulse wert!
  Dein eigener Penny ist mehr wert als der Nickel eines anderen!
  Talent ist wie klingendes Messing, aber ohne die Prüfung wird es nie richtig hart!
  Man kann alles zerstören außer einem Traum - man kann alles erobern außer einer Fantasie!
  Rauchen verlängert das Leben nur dann, wenn es die letzte Zigarette vor der Hinrichtung auf dem Schafott ist!
  Die Sprache eines Philosophen ist wie ein Propellerblatt - sie bewegt nur das Dach aus den Angeln, nicht aber das Boot!
  Jeder Mörder ist ein gescheiterter Philosoph!
  Das Alter verleiht einem Narren keine Weisheit, genauso wenig wie ein Galgenstrick einem Zwerg größere Größe verleiht!
  Was die Zunge zermahlen hat, kann, anders als ein Mühlstein, nicht auf einmal heruntergeschluckt werden!
  An Silvester werden sogar Dinge wahr, die zu anderen Zeiten unmöglich sind!
  Der Magen schwillt vom Mahlen eines Mühlsteins an, und das Gehirn verkümmert vom Dreschen einer Zunge!
  Der Krieg ist wie der Wind in einer Mühle - er zermalmt das Fleisch, aber breitet seine Flügel aus!
  Der Mensch ist der König der Natur, aber er hält das Zepter nicht in seiner Hand, sondern in seinem Kopf! 1
  Ein starker Geist kann schwache Muskeln ersetzen, aber starke Muskeln können niemals einen schwachen Geist ersetzen!
  Eine Frau im Krieg ist wie ein Steigbügel im Sattel!
  Eine leichte Kugel, das stärkste Argument in einem militärischen Konflikt!
  Das Böse entstand mit der Entstehung des Lebens, wird aber lange vor dem Ende der Existenz verschwinden!
  Technologie kann das Böse bestrafen, tausend Herzen brechen, aber sie kann den Hass nicht einmal aus einem einzigen Herzen ausrotten!
  Verrat ist heimtückisch: wie ein Angelhaken, nur dass der Köder immer stinkt!
  Der Verzehr eines Kannibalen mag einem zwar Übelkeit bereiten, aber satt wird man danach nie!
  Ein beschränkter Geist hat beschränkte Ideen, aber Dummheit kennt keine Grenzen!
  Es ist einfacher, eine Armbanduhr mit einer Axt zu reparieren, als Kommissaren beizubringen, sich um Menschen zu kümmern!
  Obwohl der Mensch aus Proteinen besteht, ist er schwächer als ein Trottel!
  Der Mensch hat zwei Todfeinde - sich selbst und seinen Egoismus!
  Wer ins Herz trifft, behält den Kopf!
  Der Maschinengewehrschütze ist auch Musiker, aber er bringt einen viel öfter zum Weinen!
  Der Unterschied zwischen der Lebensmittelration und dem Verstand besteht darin, dass sich der Wert verringert, wenn man die Hälfte hinzufügt!
  Ein wütendes Kind ist beängstigender als ein wütender Erwachsener: Mikroorganismen sind die Ursache der meisten Todesfälle!
  Wahnsinn ist wie ein Besen, der den Schrottplatz alter Ideen in deinem Kopf beseitigt und so dem Genie freien Lauf lässt!
  Der goldene Schimmer wärmt zwar nicht die Haut, aber er entfacht Leidenschaften!
  Macht ohne Unterhaltung ist wie Sklaverei in Lila!
  Ein mutiges Kind kann eine feindliche Armee in die Flucht schlagen, aber ein feiger Erwachsener kann seine eigene Mutter verraten!
  Die Ziegen wohnen am höchsten in den Bergen, besonders wenn es sich um den Berg der Selbstüberschätzung handelt!
  In den Händen eines ehrlichen Mannes ist ein Wort Gold wert, und er hält es fest; in den Händen eines gerechten Mannes ist es eine schneidende Klinge, und er lässt sie los!
  Es kann nicht zwei Wahrheiten geben, aber es kann Doppelstandards geben!
  Gold lässt sich leicht hämmern und polieren, haftet aber schlecht!
  Der Dollar ist so grün wie ein Krokodil, nur dass sein Maul weit aufgerissen ist, damit es der ganze Planet sehen kann!
  Ein friedlicher Hammer ist gut, aber noch besser, wenn er Bajonette schmiedet!
  Zeit ist kein Geld, wenn man sie verliert, bekommt man sie nicht zurück!
  Die Beine sind leicht, selbst bei schwerer Last, wenn es ein unbeschwertes Leben verspricht!
  Er kann kein schönes Leben führen - er ist ein moralischer Freak!
  Blut schmeckt salzig, aber süß, wenn es vom Feind vergossen wird!
  Discovery ist ein Goldfisch, der in den trüben Gewässern der Unwissenheit lebt!
  Um den Goldfisch der Entdeckung in den trüben Gewässern des Experimentierens zu fangen, braucht man ein Netz der Inspiration!
  Eine Minute Bedenkzeit verkürzt die Reise um eine Stunde, eine Sekunde Eile führt zu einer lebenslangen Verzögerung!
  Ein einzelnes Photon kann einen Quasar nicht bewegen!
  Gold ist schwer, aber es hebt einen besser an als ein Wasserstoffballon!
  Ein Ungläubiger ist wie ein Baby: Er spürt die Zärtlichkeiten seiner Mutter, glaubt aber nicht, dass sie existiert!
  Wer viel verkauft, betrügt oft!
  Macht ist süß, doch die Bitterkeit der Verantwortung tötet den Geschmack!
  Die Unvollkommenheit des Körpers ist der Hauptanreiz zur Verbesserung der Technik!
  Der Unterschied zwischen einem Henker und einem Künstler besteht darin, dass sein Werk nicht nachgezeichnet werden kann!
  Der Körper ist stets reformfreudig, der Geist aber konservativ!
  Ein Tropfen Realität stillt den Durst besser als ein Ozean von Illusionen!
  Ein Meisterwerk kann man nicht schreiben, während man auf einem Pferd reitet, sondern nur auf einem Felsbrocken!
  Ein großartiger Soldat kennt alles außer dem Wort "Ergeben!"
  Knockout ist wie ein Mädchen: Wenn man sie warten lässt, können sie nicht von selbst wieder aufstehen!
  Schwäche ist eine Krankheit, die kein Mitgefühl hervorruft!
  Mitgefühl: Es ist die Schwäche, die Krankheit verursacht!
  Goldene Flügel sind schlecht für das Flugzeug, aber gut für die Karriere!
  Die Starken streben nach den Starken - die Schwachen nach dem Allmächtigen!
  Genau das sagte der verzweifelte Pionierjunge Gulliver, und zwar sehr geistreich und prägnant.
  Und die Deutschen und ihre Verbündeten agierten weiter und kletterten wie eine Kröte an einem Baumstumpf empor.
  Die Shermans wirkten besonders gefährlich. Aber was ist mit den Tigers und Panthers? Einer, zwei, und das war's. Aber es gibt viele Shermans, und sie sind gut geschützt.
  Sie drängen sich vorwärts wie ein Ameisenschwarm.
  Das sind wahrlich Monster aus der Hölle.
  Lady Armstrong feuert in einem schwereren MP-16-Panzer mit ihrer Kanone und bringt ein sowjetisches Geschütz mit einem präzisen Treffer zum Umwerfen.
  Aussprache:
  - Für Großbritanniens Sieg in diesem Krieg!
  Und ihre Augen funkelten in einem blendenden Blau. Das ist mal ein richtig cooles Mädchen.
  Gertrude trat mit ihren bloßen Zehen gegen den Feind, traf den Gegner und stieß einen Schrei aus:
  - Für unseren Löwen!
  Malanya traf den Feind, und zwar präzise und genau, und sagte:
  - Zu den neuen Grenzen des Britischen Weltreichs!
  Und auch Monica wird mit höchster Präzision feuern. Und den Feind mit ihrem höllischen Stoß durchbohren.
  Und er wird die sowjetische Kanone zerstören, woraufhin er singen wird:
  Diese dummen Stalinisten,
  Du musst es in der Toilette waschen...
  Wir werden die Kommunisten töten.
  Es wird eine neue NATO geben!
  Und er wird laut lachen.
  
  Gullivers und Chamberlains Wissenszug
  ANMERKUNG
  So geschah es, was erwartet worden war: Chamberlain weigerte sich zurückzutreten und schloss einen Separatfrieden mit Hitler. Daraufhin wurde die UdSSR vom Dritten Reich und seinen Satellitenstaaten sowie von Japan und der Türkei angegriffen. Die Rote Armee befand sich in einer verzweifelten Lage. Doch barfüßige Komsomol-Schönheiten und tapfere Pioniere zogen in die Schlacht.
  KAPITEL NR. 1.
  Gulliver muss eine wenig angenehme Aufgabe erledigen: einen Mühlstein drehen und Getreide zu Mehl mahlen. Und sie selbst steckt im Körper eines etwa zwölfjährigen Jungen - muskulös, kräftig und gebräunt.
  Doch der Sklavenjunge wird immer wieder in verschiedene Parallelwelten transportiert. Und eine davon entpuppte sich als etwas Besonderes.
  Chamberlain trat am 10. Mai 1940 nicht freiwillig zurück und schloss am 3. Juli 1940 einen ehrenvollen Frieden mit dem Dritten Reich. Hitler garantierte die Unverletzlichkeit des britischen Kolonialreichs. Im Gegenzug erkannten die Briten alle bereits eroberten Gebiete als deutsch an, darunter die Kolonien Frankreichs, Belgiens und der Niederlande sowie die italienische Herrschaft über Äthiopien.
  Damit endete der Krieg, der nicht Zweiter Weltkrieg genannt wurde. Zumindest vorerst. Die Deutschen begannen, ihre Eroberungen zu verarbeiten. Gleichzeitig erließ das Dritte Reich neue Gesetze, die Familien mit weniger als vier Kindern besteuerten und es SS-Männern und Kriegshelden erlaubten, ausländische Zweitfrauen zu heiraten.
  Die Kolonien wurden ebenfalls besiedelt. Und die Anreize für Frauen, die deutsche Kinder zur Welt brachten, wurden erhöht.
  Hitler behielt auch die UdSSR im Auge. Bei der Parade am 1. Mai 1941 marschierten KV-2-Panzer mit 152-mm-Kanone und T-34-Panzer über den Roten Platz und beeindruckten die Deutschen. Der Führer befahl die Entwicklung einer ganzen Reihe schwerer Panzer. Die Arbeiten an den Panzern Panther, Tiger II, Löwe und Maus begannen. Alle diese Panzer wiesen eine ähnliche Konstruktion mit geneigter Panzerung und zunehmend leistungsstärkerer Bewaffnung und Panzerung auf. Doch die Panzerentwicklung brauchte Zeit, ebenso wie die Wiederbewaffnung der Panzertruppe. Der Führer konnte erst im Mai 1944 bereit sein. Zu diesem Zeitpunkt war auch die UdSSR vollständig gerüstet.
  Stalin führte nach dem Finnlandkrieg keine weiteren Kämpfe mehr. Hitler, der einen Vertrag mit Finnland geschlossen hatte, verbot einen erneuten Feldzug gegen Finnland. Die Deutschen selbst kämpften nur gegen Griechenland und Jugoslawien; diese Kriege dauerten zwei Wochen und endeten mit einem Sieg. Mussolini griff zunächst Griechenland an, wurde aber besiegt. In Jugoslawien kam es zu einem antideutschen Putsch. Daher sahen sich die Deutschen zum Eingreifen gezwungen. Es handelte sich jedoch lediglich um einen Blitzkrieg.
  Nach dem Sieg setzte der Führer die Vorbereitungen für den Feldzug nach Osten fort. Die Deutschen nahmen neue Flugzeuge in Produktion - die propellergetriebene Me 309 und die Ju 288. Die Nazis begannen auch mit der Produktion der strahlgetriebenen Me 262 und des ersten Arado-Flugzeugs, allerdings noch nicht in großen Stückzahlen.
  Doch auch Stalin ruhte sich nicht aus. Die UdSSR scheiterte zwar an der Entwicklung von Düsenflugzeugen, produzierte aber in großer Zahl Propellerflugzeuge. Die Jak-9, die MiG-9, die LaGG-7 und die Il-18 erschienen. Und auch einige Bombertypen, insbesondere die Pe-18. Qualitativ waren deutsche Flugzeuge vielleicht überlegen, sowjetische jedoch weitaus besser. Die deutsche Me 309 war erst vor Kurzem in Produktion gegangen, obwohl sie über eine sehr starke Bewaffnung verfügte: drei 30-mm-Kanonen und vier Maschinengewehre. Die Me 262 hingegen war gerade erst in Dienst gestellt worden, und ihre Motoren waren nicht besonders zuverlässig.
  Die Focke-Wulf war ein in Serie gefertigtes, schwer bewaffnetes Arbeitstier. Ihre Geschwindigkeit übertraf die sowjetischer Flugzeuge, ebenso wie ihre Panzerung und Bewaffnung. Obwohl ihre Manövrierfähigkeit geringer war als die sowjetischer Flugzeuge, ermöglichte ihre hohe Sturzfluggeschwindigkeit das Ausweichen vor sowjetischen Heckjägern, und ihre starke Bewaffnung - sechs Kanonen gleichzeitig - befähigte sie, Flugzeuge im ersten Anflug abzuschießen.
  Man kann natürlich die verschiedenen Kräfte der Gegner lange vergleichen.
  Die UdSSR entwickelte die Panzer KV-3, KV-5 und KV-4. Zur T-34-76-Serie gehörten auch die späteren Ketten- und Radpanzer T-29. Außerdem erschienen der T-30 und der BT-18. Der schwerere KV-6 wurde ebenfalls entwickelt.
  Doch die Deutschen brachten den Panther auf den Markt, der den T-34 hinsichtlich Durchschlagskraft und Frontpanzerung deutlich übertraf. Zwar verfügte die UdSSR über den T-34-85, dessen Produktion jedoch erst im März 1944 begann. Der Panther hingegen ging bereits Ende 1942 in Produktion, ebenso wie der Tiger. Tiger II, Lew und Maus folgten später.
  Die UdSSR scheint zahlenmäßig im Vorteil zu sein, doch die Qualität der deutschen Panzer ist wohl überlegen. Obwohl die Panzer T-4 und T-3 ebenfalls etwas veraltet sind, bieten sie noch keinen entscheidenden Vorteil. Aber das ist noch nicht alles. Hitler verfügt über eine ganze Koalition alliierter Nationen, darunter Japan. Die UdSSR hingegen hat lediglich die Mongolei. Japan hat schließlich 100 Millionen Einwohner, seine Kolonien nicht mitgerechnet. Und es setzte fast 10 Millionen Soldaten ein. In China gelang es ihnen sogar, einen Waffenstillstand mit Chiang Kashi auszuhandeln, der Maos Armee angegriffen hatte.
  Hitler setzte also seine Armee und seine Satellitenstaaten gegen die UdSSR ein. Diesmal war die Molotow-Linie fertiggestellt und bildete eine starke Verteidigung. Doch dem Dritten Reich gelang es, die Türkei, die vom Transkaukasus aus angreifen konnte, und Japan auf seine Seite zu ziehen. Stalin mobilisierte, und die Rote Armee wurde auf zwölf Millionen Mann verstärkt. Hitler erhöhte die Wehrmacht auf zehn Millionen Mann. Hinzu kamen die Alliierten. Dazu gehörten Finnland, Ungarn, Kroatien, die Slowakei, Rumänien, Italien, Bulgarien, die Türkei und insbesondere Japan, Thailand und die Mandschurei.
  Diesmal stellte Italien eine volle Million Soldaten, da es nicht in Afrika gekämpft hatte und seine gesamte Streitmacht in die Schlacht werfen konnte. Insgesamt verfügte Stalin im Westen über siebeneinhalb Millionen Soldaten, denen sieben Millionen Deutsche und zweieinhalb Millionen Satelliten- und ausländische Divisionen an der Front gegenüberstanden. Die Deutschen hatten Truppen aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und anderen Ländern.
  Die Infanterie war zwar überlegen, doch die Armee insgesamt war uneinheitlich. Bei Panzern und Flugzeugen war die UdSSR zahlenmäßig überlegen, qualitativ jedoch möglicherweise unterlegen. Im Osten verfügten die Japaner ebenfalls über mehr Infanterie als die Samurai. Die Panzeranzahl war gleichwertig, die sowjetischen Panzer waren jedoch schwerer und leistungsstärker. In der Luftwaffe waren die Japaner im Fernen Osten hingegen zahlenmäßig überlegen. Und in der Marine hatten sie einen noch größeren Vorteil.
  Kurz gesagt, der Krieg begann am 15. Mai. Die Straßen waren ausgetrocknet, und die Deutschen und ihre Satellitenstaaten rückten vor.
  Der Krieg war von Anfang an langwierig und brutal. In den ersten Tagen gelang es den Deutschen lediglich, den Belostotsky-Frontbogen abzuschneiden und nach Süden durchzubrechen, wobei sie einige Stellungen einnahmen. Sowjetische Truppen starteten einen Gegenangriff. Die Kämpfe zogen sich in die Länge... Nach einigen Wochen stabilisierte sich die Frontlinie schließlich östlich der sowjetischen Grenze. Die Deutschen rückten zwischen zwanzig und hundert Kilometern vor, ohne jedoch Erfolge zu erzielen. Auch die Türken hatten im Transkaukasus wenig Erfolg und konnten die sowjetischen Verteidigungsanlagen nur geringfügig zurückdrängen. Von den größeren Städten eroberten die Osmanen lediglich Batumi. Die Japaner hingegen konnten nur in der Mongolei nennenswerte Fortschritte erzielen und drangen nur geringfügig in die Sowjetunion vor. Sie fügten Wladiwostok und Magadan jedoch schwere Schläge zu. Die Kämpfe tobten den ganzen Sommer über...
  Im Herbst unternahm die Rote Armee einen Offensivversuch, der jedoch ebenfalls erfolglos blieb. Zwar erzielten sie südlich von Lemberg einige Fortschritte, doch auch dort hielten die Deutschen sie auf. In der Luft zeigte sich, dass die Me-262-Düsenjäger ineffektiv waren und die Erwartungen nicht erfüllten.
  Zwar eignete sich der Panther gut zur Verteidigung, aber nicht zum Angriff. Die Kämpfe dauerten bis zum Winter an. Dann unternahm die Rote Armee einen erneuten Angriff. Dieses System entstand. Doch die Deutschen konnten sich immer wieder zur Wehr setzen.
  Der Panther-2 erschien, mit stärkerer Bewaffnung und Panzerung. Im Frühjahr 1945 entstanden neue Kampfformationen. Doch erneut blieb die Frontlinie unverändert.
  Die Deutschen starteten jedoch eine Offensive, die Lemberg umging, um dort einen Brennpunkt zu schaffen. Und die Kämpfe wurden sehr heftig.
  Hier treffen die Komsomol-Mädchen auf die Nazis. Und die barfüßigen Schönheiten kämpfen mit großer Wildheit. Und währenddessen singen sie und werfen mit ihren bloßen Zehen Handgranaten unter die Panzer.
  Das sind wirklich tolle Mädels. Und Natasha, die Hauptfigur, natürlich, nur mit einem Bikini bekleidet.
  Und sie singt so wunderschön und gefühlvoll;
  Die Hymne des erhabenen heiligen Mutterlandes,
  In unseren Herzen singen wir von barfüßigen Mädchen...
  Genosse Stalin ist der Liebste,
  Und die Stimmen der Schönheiten sind sehr klar!
  
  Wir wurden geboren, um die Faschisten zu besiegen.
  Es wird die Wehrmacht nicht in die Knie zwingen...
  Alle Mädchen haben die Prüfung mit hervorragenden Noten bestanden.
  Lass einen strahlenden Lenin in deinem Herzen wohnen!
  
  Und ich liebe Iljitsch mit Begeisterung.
  Er ist in Gedanken bei dem guten Jesus...
  Wir werden die Faschisten im Keim ersticken.
  Und wir werden das alles so gekonnt machen!
  
  Zum Ruhm unseres heiligen Vaterlandes,
  Wir werden tapfer für unser Vaterland kämpfen...
  Kämpfe barfuß mit dem Komsomol-Mitglied,
  Heilige haben solche Gesichter!
  
  Wir Mädchen sind mutige Kämpferinnen.
  Glaubt mir, wir wissen immer, wie man tapfer kämpft...
  Die Väter sind stolz auf die Komsomol-Mitglieder.
  Ich trage das Abzeichen in meinem Militärrucksack!
  
  Ich laufe barfuß in der Kälte.
  Ein Komsomol-Mitglied kämpft auf einer Schneewehe...
  Ich werde dem Feind ganz sicher das Rückgrat brechen.
  Und ich werde mutig eine Ode an die Rose singen!
  
  Ich werde das Vaterland grüßen.
  Das schönste Mädchen im Universum sind alle Frauen...
  Es wird allerdings noch viele Jahre dauern.
  Unser Glaube wird aber universell sein!
  
  Es gibt keine Worte, die dem Mutterland kostbarer sind.
  Diene deinem Vaterland, barfüßiges Mädchen...
  Im Namen des Kommunismus und der Söhne,
  Lasst uns eintreten in den strahlenden Schleier des Universums!
  
  Was konnte ich im Kampf nicht tun?
  Sie jagte die Tiger, verbrannte die Panther, scherzhaft...
  Mein Schicksal ist wie eine scharfe Nadel.
  Das Universum wird sich verändern!
  
  Also warf ich einen Haufen dieser Granaten.
  Was hungrige Jungen schmiedeten...
  Das furchterregende Stalingrad wird hinter uns liegen.
  Bald werden wir den Kommunismus erleben!
  
  Wir werden es alle richtig bewältigen können.
  Die Tiger und Panthers werden uns nicht besiegen...
  Der russische Gottbär wird brüllen
  Und wir werden angreifen - ohne auch nur das Limit zu kennen!
  
  Es ist lustig, barfuß in der Kälte zu laufen.
  Das schöne Mädchen rennt sehr schnell...
  Sie müssen nicht mit Gewalt nach vorne gezerrt werden.
  Ich habe jede Menge Spaß im Untoten-Gebiet!
  
  Der faschistische Kämpfer ist leider sehr stark.
  Er kann sogar eine Rakete bewegen...
  Die Kommunisten haben viele Namen.
  Schließlich werden ja die Heldentaten besungen!
  
  Das Mädchen geriet in schreckliche Gefangenschaft.
  Sie fuhren sie barfuß durch die Schneewehe...
  Doch der Verfall wird das Komsomol-Mitglied nicht befallen.
  Wir haben schon kältere Temperaturen erlebt!
  
  Die Monster begannen, das Mädchen zu foltern.
  Mit glühendem Eisen auf die nackten Fersen...
  Und um mit einer Peitsche auf der Streckbank zu foltern,
  Die Faschisten haben kein Mitleid mit dem Komsomol-Mitglied!
  
  Von der Hitze das rote, wütende Metall,
  Ich berührte die Fußsohle eines barfüßigen Mädchens...
  Der Henker folterte die nackte Schönheit.
  Er hängte die geschlagene Frau an ihren Zöpfen auf!
  
  Meine Arme und Beine waren furchtbar verdreht.
  Sie schoben dem Mädchen Feuer unter die Achseln...
  Ich war in Gedanken versunken, zum Mond.
  Ich tauchte in den Kommunismus ein, und mir wurde das Licht zuteil!
  
  Am Ende ging dem Henker die Puste aus.
  Die Fritzes treiben mich nackt zum Schafott...
  Und ich höre den Schrei eines Kindes,
  Auch die Frauen weinen vor Mitleid mit dem Mädchen!
  
  Die Bastarde legten mir eine Schlinge um den Hals.
  Die Monster drückten sie fester an sich...
  Ich liebe Jesus und Stalin.
  Obwohl der Abschaum das Mutterland mit Füßen trat!
  
  Hier wird die Kiste unter nackten Füßen weggeschlagen.
  Das Mädchen drehte sich nackt im Strick...
  Möge der allmächtige Gott die Seele annehmen.
  Im Paradies gibt es ewige Freude und Jugend!
  So sang Natasha es, mit großer Gelassenheit und Liebe. Und es sah wunderschön und prachtvoll aus. Aber was war mit dem Krieg? Die Deutschen konnten nicht durchbrechen.
  Doch dann rückte die Rote Armee vor, und erneut wurde erbitterter Widerstand geleistet. Die Frontlinie erstarrte wie im Ersten Weltkrieg. Obwohl die Verluste auf beiden Seiten hoch waren, wo blieb der Fortschritt?
  Hitler versuchte, auf Görings Rat hin mit Hilfe seiner afrikanischen Kolonien auf eine Luftoffensive und Düsenflugzeuge zu setzen. Doch die Hoffnungen, die mit der He 162 verbunden waren, erfüllten sich nicht. Der Jäger war zwar kostengünstig und einfach herzustellen, aber zu schwierig zu fliegen und für die Massenproduktion ungeeignet. Die Me 262X mit zwei fortschrittlicheren Triebwerken und Pfeilflügeln erwies sich als etwas besser und sowohl im Einsatz als auch in der Produktion zuverlässiger. Die ersten Maschinen dieses Typs erschienen bereits Ende 1945. Und 1946 entwickelten die Deutschen noch fortschrittlichere, schwanzlose Strahlbomber.
  Das Dritte Reich hatte die UdSSR in der Düsenluftfahrt, insbesondere hinsichtlich der Qualität der Ausrüstung, überholt. Daraufhin begann die Luftoffensive, und sowjetische Piloten wurden in der Luft angegriffen.
  Die leistungsstarken deutschen TA-400 und später die TA-500 und TA-600 begannen, feindliche Fabriken innerhalb und jenseits des Urals zu bombardieren. Dasselbe galt für die schwanzlosen Flugzeuge.
  Nun hatten die Deutschen die Initiative ergriffen. Zudem hatten die Nazis mit dem E-50 einen erfolgreicheren Panzer entwickelt, der besser geschützt, besser bewaffnet und schneller war. Die Entwicklung des fortschrittlicheren und leistungsstärkeren T-54 verzögerte sich derweil erheblich.
  So erzielten die neuen deutschen Panzer der E-Serie 1947 ihre ersten bedeutenden Erfolge: Sie durchbrachen die sowjetischen Verteidigungslinien und eroberten die Westukraine, zusammen mit dem Lew. Gemeinsam mit den Rumänen gelang es den Deutschen, nach Moldawien vorzustoßen und Odessa vom Rest der UdSSR abzuschneiden. Auch im Zentrum mussten sich die sowjetischen Truppen zurückziehen und zogen sich auf die sogenannte Stalin-Linie zurück. Riga fiel ebenfalls, was einen Rückzug aus dem Baltikum erzwang.
  Die Jungpioniere kämpften ebenfalls tapfer gegen die Nazis. Ein Junge namens Wassili begann sogar zu singen, während er mit bloßen Füßen Sprengstoffpäckchen auf die Nazis warf.
  Ich bin ein moderner Junge, wie ein Computer.
  Es ist einfacher, ein junges Wunderkind einfach so weiterzureichen...
  Und es ist echt cool geworden -
  Dieser Wahnsinnige wird Hitler besiegen!
  
  Ein Junge, barfuß durch die Schneewehen,
  Unter die Fässer der Faschisten kommt...
  Seine Beine wurden scharlachrot wie die einer Gans.
  Und eine bittere Abrechnung erwartet uns!
  
  Doch der Pionier richtete kühn die Schultern.
  Und mit einem Lächeln schreitet er auf das Erschießungskommando zu...
  Der Führer schickt einige in die Öfen.
  Jemand wurde von einem Faschisten mit Pfeilen getroffen!
  
  Ein Wunderkind aus unserer Zeit,
  Er nahm einen Blaster und stürzte sich kühn in die Schlacht...
  Die faschistischen Chimären werden sich auflösen.
  Und der allmächtige Gott ist für immer mit dir!
  
  Ein schlauer Junge traf die Fritzes mit einem Strahl.
  Und eine ganze Reihe von Monstern wurde niedergemäht...
  Die Distanzen zum Kommunismus sind nun geringer geworden.
  Er ging mit aller Kraft auf die Faschisten los!
  
  Das Wunderkind schießt einen Strahl ab.
  Schließlich besitzt er einen sehr leistungsstarken Blaster...
  "Panther" schmilzt in einem Schlag dahin.
  Weil man es einfach weiß, er ist ein Versager!
  
  Wir werden die Faschisten problemlos auslöschen.
  Und wir werden die Feinde einfach ausrotten...
  Hier traf unser Blaster mit voller Wucht.
  Hier reibt ein Engel seine Flügel!
  
  Ich zerquetsche sie, ohne dass ein metallischer Schimmer zu sehen ist.
  Hier fing dieser mächtige "Tiger" Feuer...
  Was, die Faschisten wissen wenig über das Land?
  Ihr wollt noch mehr blutige Spiele!
  
  Russland ist ein großes Imperium.
  Es erstreckt sich vom Meer bis zu den Wüsten...
  Ich sehe ein Mädchen barfuß herumlaufen.
  Und der barfüßige Junge - möge der Teufel verschwinden!
  
  Der verdammte Faschist bewegte den Panzer schnell.
  Mit einem stählernen Rammbock stürmte er kopfüber in Rus'...
  Aber wir werden Gläser mit Hitlers Blut aufstellen.
  Wir werden die Nazis in Stücke reißen!
  
  Mein Vaterland, du bist mir das Wertvollste.
  Endlos aus den Bergen und der Dunkelheit der Taiga...
  Es besteht keine Notwendigkeit, Soldaten auf ihren Betten ruhen zu lassen.
  Die Stiefel glänzen im tapferen Marsch!
  
  Ich wurde zu einem großen Pionier an vorderster Front.
  Der Held erlangte im Handumdrehen seinen Stern...
  Für andere werde ich ein grenzenloses Beispiel sein.
  Genosse Stalin ist einfach ideal!
  
  Wir können gewinnen, da bin ich mir ganz sicher.
  Obwohl die Geschichte einen anderen Verlauf nimmt...
  Da beginnt der Angriff der bösen Fäkalienkämpfer.
  Und der Führer wurde richtig cool!
  
  Für die Vereinigten Staaten besteht kaum noch Hoffnung.
  Sie schwimmen ohne jeglichen Unfug...
  Der Führer ist in der Lage, ihn von seinem Sockel zu stürzen.
  Die Kapitalisten sind furchtbar, einfach nur Abschaum!
  
  Was tun, wenn sich herausstellt, dass der Junge ...
  In Gefangenschaft, nackt ausgezogen und in die Kälte getrieben...
  Der Teenager kämpfte verzweifelt mit Fritz.
  Aber Christus selbst hat für uns gelitten!
  
  Dann wird er Folter ertragen müssen.
  Wenn man sich mit glühendem Eisen verbrannt hat...
  Wenn man sich Flaschen auf den Kopf schlägt,
  Drück dir einen glühenden Stab an die Fersen!
  
  Sei lieber still, beiß die Zähne zusammen, Junge.
  Und ertrage die Folter wie ein Titan der Rus...
  Lass deine Lippen mit einem Feuerzeug brennen.
  Aber Jesus kann den Kämpfer retten!
  
  Du wirst jede Folter über dich ergehen lassen, Junge.
  Aber du wirst ausharren, ohne dich der Peitsche zu beugen...
  Lass die Folterbank dir gierig die Hände ausreißen.
  Der Henker ist nun sowohl Zar als auch schwarzer Prinz!
  
  Eines Tages wird die Qual ein Ende haben.
  Du wirst dich in Gottes wunderschönem Paradies wiederfinden...
  Und es wird Zeit für neue Abenteuer geben.
  Wir werden Berlin erreichen, wenn der Mai glänzt!
  
  Na und, wenn sie das Kind gehängt hätten?
  Der Faschist wird dafür in die Hölle geworfen werden...
  Im Garten Eden ist eine laute Stimme zu hören.
  Der Junge ist wieder auferstanden - Freude und Erfolg!
  
  Du brauchst also keine Angst vor dem Tod zu haben.
  Es möge Heldentum für das Vaterland herrschen...
  Schließlich wussten die Russen schon immer, wie man kämpft.
  Wisst, dass der böse Faschismus vernichtet werden wird!
  
  Wir werden wie ein Pfeil durch das himmlische Dickicht gleiten.
  Mit einem Mädchen, das barfuß im Schnee ist...
  Unter uns erstreckt sich ein Garten, der pulsiert und blüht.
  Ich renne über die Wiese wie ein Pionier!
  
  Im Paradies werden wir für immer glücklich sein, Kinder.
  Uns geht es dort hervorragend, sehr gut...
  Und es gibt keinen schöneren Ort auf der Welt.
  Wisse, dass es niemals schwierig werden wird!
  Also ging der Junge hin und sang geistreich und gefühlvoll. Und es sah toll aus und fühlte sich gut an.
  Die sowjetischen Truppen zogen sich auf die Stalin-Linie zurück und gaben einen Teil der UdSSR auf. Dies war ein eindeutiger Vorteil für die Wehrmacht.
  Doch die Stalin-Linie war noch immer verteidigungsfähig. Die Japaner verstärkten ihren Angriff, durchbrachen die Front und schnitten Wladiwostok vom Festland ab. Sie eroberten Primorje fast vollständig und unterbrachen dort die Sauerstoffversorgung der Roten Armee. Die sowjetischen Truppen hatten es in der Tat sehr schwer.
  Doch die Kämpfe in Wladiwostok selbst waren äußerst heftig. Und wunderschöne Komsomol-Mädchen kämpften dort. Sie trugen nichts als Bikinis und waren barfuß. Mit ihren bloßen Zehen warfen sie tödliche Granaten. Das sind Mädchen - ihre vollen Brüste kaum von dünnen Stoffstreifen bedeckt.
  Was sie jedoch nicht davon abhält zu kämpfen und zu singen;
  Die Komsomol-Mädchen sind die coolsten von allen.
  Sie bekämpfen den Faschismus wie Adler...
  Möge unser Vaterland Erfolg haben.
  Krieger sind wie Vögel voller Leidenschaft!
  
  Sie strahlen grenzenlose Schönheit aus.
  In ihnen erstrahlt der ganze Planet heller...
  Das Ergebnis sei grenzenlos.
  Das Vaterland wird selbst Berge zermalmen!
  
  Zum Ruhm unseres heiligen Vaterlandes,
  Wir werden die Fanatiker bekämpfen...
  Ein Mädchen rennt barfuß durch den Schnee.
  Sie trägt Granaten in einem engen Rucksack!
  
  Wirf ein Geschenk auf einen sehr starken Panzer.
  Wird es im Namen des Ruhms in Stücke reißen...
  Das Maschinengewehr des Mädchens feuert.
  Doch es gibt einen Ritter von tapferer Macht!
  
  Dieses Mädchen kann alles schaffen, glaub mir.
  Er kann sogar im Weltraum kämpfen...
  Und die Ketten des Faschismus werden ein Ungeheuer sein.
  Hitler ist doch letztendlich nur ein Schatten eines jämmerlichen Clowns!
  
  Wir werden das erreichen, es wird ein Paradies im Universum geben.
  Und das Mädchen kann mit ihrem Absatz Berge versetzen...
  So kämpfst und wagst du es,
  Zum Ruhm unseres Vaterlandes Russland!
  
  Der Führer wird sich selbst den Strick holen.
  Und er hat ein Maschinengewehr mit einer Granate...
  Rede nicht so einen Blödsinn, du Idiot!
  Wir werden die Wehrmacht einfach mit einer Schaufel begraben!
  
  Und es wird ein solches Paradies im Universum geben.
  Unzählige Räume und sehr blühend...
  Du hast dich den Deutschen ergeben, du dummer Sam!
  Und Jesus wohnt immer in der Seele!
  
  KOMSOMOLKA UNTER DER ROTEN FLAGGE!
  Es ist sehr gut, Mitglied des Komsomol zu sein.
  Unter der schönen roten Flagge fliegen...
  Obwohl es mir manchmal schwerfällt
  Doch die Heldentaten der Schönen sind nicht vergeblich!
  
  Ich rannte barfuß in die Kälte.
  Schneeverwehungen kitzeln meine nackte Ferse...
  Die Leidenschaft des Mädchens hat wahrlich zugenommen.
  Lasst uns eine neue Welt des Kommunismus errichten!
  
  Schließlich ist das Mutterland unsere geliebte Mutter.
  Wir haben es mit einem extravaganten Kommunismus zu tun...
  Glaubt mir, wir werden unser Vaterland nicht mit Füßen treten.
  Lasst uns diesem abscheulichen Monster, dem Faschismus, ein Ende setzen!
  
  Ich bin immer ein schönes Mädchen.
  Obwohl ich es gewohnt bin, barfuß durch die Schneewehen zu laufen...
  Möge ein großer Traum in Erfüllung gehen.
  Was für goldene Zöpfe ich habe!
  
  Der Faschismus brach bis nach Moskau durch.
  Es ist fast so, als würden sie auf den Kreml schießen...
  Und wir Mädchen sind barfuß im Schnee...
  Es ist Januar, aber wir fühlen uns wie im Mai!
  
  Wir werden alles für das Vaterland tun, alles wissen.
  Es gibt kein Land im Universum, das uns wertvoller ist...
  Möge dein Leben sehr gut sein.
  Leg dich bloß nicht ins Bett!
  
  Lasst uns einen strahlenden Kommunismus aufbauen.
  Wo jeder einen Palast mit einem üppigen Garten hat...
  Und der Faschismus wird im Abgrund versinken.
  Wir müssen hart für unser Vaterland kämpfen!
  
  So wird es gut sein im Universum.
  Wenn wir unsere Feinde schnell töten...
  Doch heute ist der Kampf sehr schwierig.
  Die Mädchen laufen barfuß in einer Formation!
  
  Wir sind Mädchen, heldenhafte Kämpferinnen.
  Lasst uns in die Hölle des wilden Faschismus stürzen...
  Und du, barfüßige Schönheit, schau,
  Möge das Banner des Kommunismus siegen!
  
  Ich glaube, wir werden ein Paradies im Universum errichten.
  Und wir werden die rote Fahne über den Sternen hissen...
  Zum Ruhm unseres Vaterlandes, wage es!
  Erhabenes, mächtiges Licht Russlands!
  
  Wir werden erreichen, dass alles wie im Paradies ist.
  Roggen und Orangen blühen auf dem Mars...
  Wir werden trotz aller Einwände gewinnen.
  Wenn Volk und Armee vereint sind!
  
  Ich glaube, dass auf dem Mond eine Stadt entstehen wird.
  Die Venus wird zu einem neuen Testgelände...
  Und es gibt keinen schöneren Ort auf Erden.
  Moskau, die Hauptstadt, wurde unter einem Stöhnen erbaut!
  
  Wenn wir wieder ins Weltall fliegen,
  Und wir werden sehr kühn in den Jupiter eintreten...
  Der goldflügelige Cherub wird sich ausbreiten,
  Und wir werden den Faschisten nichts überlassen!
  
  Lasst die Flagge über dem Universum erstrahlen.
  Es gibt kein heiligeres Land, das höher im Universum liegt...
  Das Komsomol-Mitglied wird die Prüfung mit einer Eins bestehen.
  Wir werden alle Weiten und Dächer erobern!
  
  Für das Vaterland wird es keine Probleme geben, das sei dir bewusst.
  Sie wird ihren Blick über den Quasar erheben...
  Und wenn der böse Herr zu uns kommt,
  Wir werden ihn hinwegfegen, das ist mit einem Schlag erledigt!
  
  Lasst uns barfuß durch Berlin spazieren,
  Ihr lieben Mädchen, merkt euch das, ihr Komsomol-Mitglieder...
  Und die Macht des Drachen wird gebrochen sein.
  Und das Pionierhorn, schreiend und klingend!
  KAPITEL NR. 2.
  Und so entbrannte der Kampf... Die Deutschen rückten ein Stück weit auf Minsk vor und umzingelten die Stadt zur Hälfte. Die Kämpfe fanden in der belarussischen Hauptstadt selbst statt. Die Deutschen und ihre Verbündeten rückten langsam vor. Die deutschen Panzer der E-Serie waren fortschrittlicher und verfügten über eine dickere Panzerung, stärkere Motoren und eine schlagkräftige Bewaffnung sowie eine deutlich geneigte Panzerung. Die dichtere Panzerung ermöglichte einen besseren Schutz, ohne das Gewicht des Panzers wesentlich zu erhöhen.
  Die Nazis übten Druck auf Minsk aus.
  Im Norden kesselten die Nazis Tallinn ein und nahmen es schließlich ein. Nach langwierigen Kämpfen fiel Odessa. Im Winter eroberten die Deutschen schließlich Minsk. Sowjetische Truppen zogen sich an die Beresina zurück. Der Winter verging in heftigen Scharmützeln, doch die Deutschen rückten nicht vor. So hielten die Sowjets tatsächlich stand.
  Im Frühjahr 1948 wurde die deutsche Offensive schließlich wieder aufgenommen. Die schwereren und besser gepanzerten Panther-4-Panzer nahmen an den Kämpfen teil.
  Die UdSSR setzte die ersten IS-7 und T-54 in etwas größerer Zahl ein. Die Kämpfe verliefen mit unterschiedlichem Erfolg. Die ersten strahlgetriebenen MiG-15 gingen ebenfalls in Produktion, waren aber den deutschen Flugzeugen, insbesondere der fortschrittlicheren und moderneren Me 362, unterlegen. Die Ta 283 bewährte sich ebenfalls. Und die Ta 600 war im Bereich der strahlgetriebenen Langstreckenbomben unübertroffen.
  Doch die Deutschen rückten noch weiter vor, und die sowjetischen Truppen zogen sich hinter den Dnepr zurück.
  Um Kiew wurden erbitterte Kämpfe geführt. Und die Komsomol-Mädchen kämpften wie Heldinnen und sangen;
  Ich bin die Tochter des Vaterlandes des Lichts und der Liebe.
  Das schönste Komsomol-Mädchen...
  Auch wenn der Führer seine Popularität auf Blutvergießen aufbaut
  Manchmal fühle ich mich unwohl!
  
  Dies ist ein sehr glorreiches Jahrhundert des Stalinismus.
  Wenn alles um uns herum glitzert und funkelt...
  Der stolze Mann breitete seine Flügel aus -
  Und Abel freut sich, Kain kommt um!
  
  Russland ist meine Heimat.
  Obwohl ich mich manchmal etwas unbeholfen fühle...
  Und der Komsomol ist eine Familie.
  Auch barfuß ist es ein dorniger Weg!
  
  Tiefgreifender Faschismus griff das Mutterland an.
  Das Wildschwein fletschte wütend die Zähne...
  Vom Himmel ergoss sich wahnsinniges Napalm.
  Aber Gott und der geniale Stalin sind mit uns!
  
  Russland ist die Rote UdSSR.
  Mächtiges, großes Vaterland...
  Vergebens breitet der Herr seine Krallen aus.
  Wir werden definitiv unter dem Kommunismus leben!
  
  Auch wenn der große Krieg bereits begonnen hat,
  Und die Massen vergossen reichlich Blut...
  Hier windet sich das große Land.
  Vor Tränen, Feuer und großem Schmerz!
  
  Aber ich glaube, wir werden unser Vaterland wiederbeleben.
  Und lasst uns die sowjetische Flagge höher als die Sterne hissen...
  Über uns schwebt ein goldgeflügelter Cherub.
  Dem großen, strahlendsten Russland!
  
  Dies ist meine Heimat.
  Es gibt nichts Schöneres im gesamten Universum...
  Auch wenn sich Satans Strafe angehäuft hat,
  Unser Glaube wird durch dieses Leid gestärkt!
  
  Wie der selbsternannte Hitler etwas Lustiges tat,
  Es gelang ihm, ganz Afrika auf einmal einzunehmen...
  Woher bezieht der Faschismus so viel Kraft?
  Die Infektion hat sich über die ganze Erde ausgebreitet!
  
  So viel hat der Führer erobert.
  Und es hat nicht einmal ein Maß...
  Was für einen Streit dieser Bandit doch verursacht hat!
  Über ihnen weht eine scharlachrote Fahne des Grauens!
  
  Die Fritzes sind jetzt so stark.
  Sie haben keine Tigerpanzer, sondern noch viel furchterregendere Panzer...
  Und der Scharfschütze traf Adolf ins Auge -
  Gebt den Faschisten stärkere Dosen!
  
  Was wir nicht tun können, tun wir eben scherzhaft.
  Obwohl barfüßige Mädchen im Frost...
  Wir erziehen ein sehr starkes Kind.
  Und eine scharlachrote, wunderschöne Rose!
  
  Auch wenn der Feind alles daran setzt, nach Moskau durchzubrechen,
  Doch die nackten Brüste des Mädchens richteten sich auf...
  Wir werden mit einer Sense aus einem Maschinengewehr angreifen.
  Die Soldaten schießen, meine Lieben!
  
  Wir werden Russland über alle anderen stellen.
  Das Land, das im Universum schöner ist als die Sonne...
  Und es wird einen überzeugenden Erfolg geben.
  Unser Glaube wird in der Orthodoxie gestärkt!
  
  Und glaubt mir, wir werden die Toten auferwecken, Mädels.
  Oder durch die Macht Gottes oder die Blüte der Wissenschaft...
  Wir werden die Unermesslichkeit des Universums bezwingen.
  Ohne all die Verzögerungen und die widerliche Langeweile!
  
  Wir werden in der Lage sein, unser Mutterland cool zu machen.
  Lasst uns den Thron Russlands höher als die Sterne erheben...
  Du bist des Führers schnurrbärtiger Hurra!
  Wer bildet sich ein, ein Messias ohne jegliche Grenzen des Bösen zu sein!
  
  Wir werden das Vaterland zu einem Riesen machen.
  Was wird geschehen, wie ein Monolith aus einem einzigen...
  Die Mädchen standen alle gleichzeitig auf und machten den Spagat.
  Ritter sind schließlich im Kampf unbesiegbar!
  
  Schütze das große Vaterland,
  Dann werdet ihr von Christus eine Belohnung erhalten...
  Es wäre besser, wenn der Allmächtige den Krieg beenden würde.
  Manchmal muss man aber tapfer kämpfen!
  
  Kurz gesagt, die Kämpfe werden bald abflauen.
  Die Kämpfe und Verluste werden enden...
  Und die großen Adlerritter,
  Denn jeder ist von Geburt an Soldat!
  Doch Kiew fiel, und die Deutschen zwangen die sowjetischen Truppen zum Rückzug ans linke Dneprufer. Dort konnten sie wenigstens eine Verteidigung aufbauen. Auch Pskow und Narwa wurden erobert. Leningrad lag in unmittelbarer Nähe.
  Die Deutschen waren bereits in großer Stärke vorhanden. Sie versuchten, den Dnepr zu überqueren und ins Zentrum der sowjetischen Stellungen vorzudringen.
  Doch die Rote Armee hielt bis zum Winter durch. Dann kam das Jahr 1949. Und dann hätte alles anders verlaufen können. Der T-54 ging endlich in Serie, ebenso die MiG-15. Der IS-7 hingegen hatte Probleme: Der Panzer war zu komplex in der Produktion, zu teuer und zu schwer.
  Der Panther-4 löste den Panther-3 ab. Er verfügte über eine leistungsstärkere 105-mm-Kanone mit einem 100-EL-Rohr, deren Kampfkraft mit der 130-mm-Kanone des IS-7 mit einem 60-EL-Rohr vergleichbar war. Die Frontpanzerung des Panther-4 war mit 250 mm sogar noch dicker und geneigt.
  So gerieten sie aneinander.
  Die Deutschen rückten erneut im Zentrum vor und belagerten Smolensk. Dann gelang ihnen der Durchbruch nach Rschew. Die Komsomol-Mädchen kämpften verzweifelt.
  Und sie sangen gleichzeitig;
  Ich bin ein Komsomol-Mitglied, die Tochter des Stalinismus.
  Wir mussten jedoch den Faschismus bekämpfen...
  Eine gewaltige Macht brach über uns herein.
  Der Atheismus der Systeme hat sich gerächt!
  
  Ich habe den Nationalsozialismus in aller Eile bekämpft.
  Ich war barfuß in der bitteren Kälte...
  Und ich habe eine Eins in der Prüfung bekommen.
  Den wütenden Judas erledigt!
  
  Der Faschismus ist sehr heimtückisch und grausam.
  Und eine stählerne Horde brach bis nach Moskau durch...
  O sei gnädig, glorreicher Gott,
  Ich trage das RPK in einem lockeren Rucksack!
  
  Ich bin ein Mädchen von großer Schönheit.
  Es ist schön, barfuß durch eine Schneewehe zu laufen...
  Möge ein großer Traum in Erfüllung gehen.
  Oh, beurteile die Schönheit nicht so hart!
  
  Ich habe die Faschisten wie Erbsen zerquetscht.
  Von Moskau nach Stalingrad...
  Und der Führer entpuppte sich als schlechter Kämpfer.
  Ich habe die stolze Parade nicht mehr erlebt!
  
  O dieses grenzenlose Stalingrad,
  Du warst ein entscheidender Wendepunkt für uns...
  Es gab einen wahren Wasserfall an tollen Auszeichnungen.
  Und Hitler hat es mit nichts weiter als einer Brechstange geschafft!
  Wir werden für das große Vaterland kämpfen.
  Wir befinden uns am Ende der Welt oder des Universums...
  Ich werde mit dem Komsomol-Mitglied allein gelassen.
  Und es wird einen grenzenlosen Ruf geben!
  
  Ich rannte barfuß über die glühenden Kohlen.
  Diejenigen, die in unmittelbarer Nähe von Stalingrad brennen...
  Und meine Fersen sind von Napalm verbrannt.
  Wir werden sie ausrotten - die Faschisten werden Bastarde sein!
  
  Der Kursker Bogen brachte Feuer.
  Und es scheint, als ob der ganze Planet in Flammen stünde...
  Aber wir werden die Regimenter des Führers in Schutt und Asche legen.
  Möge ein Platz im strahlenden Paradies frei sein!
  
  Obwohl der Tiger ein sehr starker Panzer ist
  Und sein Stamm, glauben Sie mir, ist so kräftig...
  Doch lasst uns seinen Einfluss in Staub verwandeln.
  Und die Sonne wird nicht verschwinden - die Wolken werden verschwinden!
  
  "Panther" ist auch sehr wirkungsvoll, glaub mir.
  Das Geschoss fliegt wie ein massiver Meteorit...
  Es ist, als würde ein Ungeheuer seine Zähne fletschen.
  Deutschland und die Horden von Satelliten!
  
  Wir glauben fest an unseren Sieg.
  Wir sind Ritter und Komsomol-Mädchen...
  Wir werden den Ansturm der Horde niederschlagen können.
  Und wir werden den Kampf nicht unerlaubt verlassen!
  
  Wir lieben es, zu kämpfen und kühn zu siegen.
  Wir werden jede Aufgabe hervorragend erledigen...
  Du notierst unseren Pionier in deinem Notizbuch.
  Wenn man auf Marx' Seite steht, ist alles fair!
  
  Auch wir können mit Würde lieben.
  Zur Ehre des überirdischen Jesus...
  Auch wenn Satans Legionen kriechen,
  Wir werden gewinnen und wir sind nicht traurig darüber!
  
  Und Berlin wird von der Macht der Roten eingenommen werden.
  Wir werden bald auch den Mars besuchen...
  Ein cooler Sohn eines Komsomol-Mitglieds wird geboren werden.
  Wer das erste Wort sagt, sagt: Hallo!
  
  Möge die unermessliche Weite des Universums mit uns sein.
  Sie werden sich ausbreiten, es wird kein Hindernis für sie geben...
  Wir werden die höchste Auszeichnung erhalten.
  Und der Herr selbst wird die heiligen Belohnungen verkünden!
  
  Die Wissenschaft wird alle wieder zum Leben erwecken - daran glaube ich.
  Es besteht kein Grund, um die Gefallenen zu trauern...
  Wir sind eine treue Familie des Kommunismus.
  Wir werden die Entfernungen im Universum zwischen den Sternen sehen!
  So singen und kämpfen die Mädchen. Die Komsomol-Mädchen sind temperamentvoll und wortgewandt. Und wenn sie kämpfen, dann kämpfen sie mutig. Stalin versucht natürlich auch, einen Ausweg zu finden.
  Doch die Samurai rücken von Osten her vor, und Wladiwostok ist endgültig gefallen. Charkow ist erobert. Leningrad wird belagert. Die Finnen bedrängen die Stadt von Norden, die Deutschen von Süden.
  So ging es bis zum Winter und dem Jahreswechsel 1950 weiter... Im Frühjahr unternahmen die Deutschen einen Angriff. Doch die Verteidigungslinie bei Moschaisk hielt dank des heldenhaften Einsatzes der Roten Armee stand. Im Sommer gelang es den Deutschen, Orjol einzunehmen und nach Süden vorzustoßen. Bis zum Ende des Herbstes hatten sie die Ukraine und den Donbass nahezu vollständig erobert. Sowjetische Truppen zogen sich hinter den Don zurück und organisierten dort eine Verteidigung. Leningrad war weiterhin belagert.
  Wir schreiben das Jahr 1951... Die Deutschen versuchen, ihre Lufthoheit auszubauen. Ihre Flugscheiben sind immer ausgefeilter geworden. Die Bomber TA-700 und TA-800 sind noch leistungsstärker und schneller. Schwanzlose Jäger und Bomber setzen sie am Himmel unter Druck. Und die MiG-15 ist ihnen völlig hilflos ausgeliefert. Und allen möglichen Kampfflugzeugen aller Größen. Der Panther-5 befindet sich noch in der Entwicklung. Und andere Kampfflugzeuge und -geräte. Das wird wirklich extrem cool.
  Die Deutschen unternahmen eine Offensive im Süden und eroberten schließlich Rostow am Don. Auch Tichwin und Wolchow im Norden fielen. Dadurch war Leningrad vollständig von der Landversorgung abgeschnitten.
  Der Winter ist wieder da, und das Jahr 1952 ist angebrochen... Im Frühjahr rücken die Deutschen erneut auf Moskau vor. Der Panther-5 mit seinem 1800 PS starken Motor, der 128-mm-Kanone mit 100-Grad-Rohr und der deutlich dickeren, hochwertigeren Panzerung kommt in den Kämpfen zum Einsatz.
  Doch die sowjetischen Truppen leisten erbitterten Widerstand gegen die Nazis. Und nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder kämpfen hier.
  Die Pionierjungen, barfuß, in kurzen Hosen und mit Krawatten, leisteten den Nazis so hartnäckigen und erbitterten Widerstand, dass man nur staunend den Kopf schütteln kann. Wie sie für eine bessere Zukunft kämpften!
  Und gleichzeitig singen die jungen Helden;
  Ich bin eine Kriegerin des Vaterlandes - eine Pionierin.
  Ein zäher Kämpfer, obwohl er noch ein Junge ist...
  Und wir werden eine ganze Reihe verschiedener Dinge tun.
  Dem Feind wird es gar nicht so schlimm vorkommen!
  
  Ich kann einen Baum mit dem Fuß brechen.
  Und klettere mit Seilen zum Mond...
  Hier renne ich barfuß durch die Schneewehen -
  Und ich werde dem Führer sogar in die Eier treten!
  
  Ich bin ein Junge und natürlich bin ich Superman.
  Fähig, jedes beliebige Projekt zu erfinden...
  Und wir werden eine Fülle von Änderungen vornehmen.
  Lasst uns diese coole Großartigkeit vernichten!
  
  Das schreckliche Jahr einundvierzig ist angebrochen.
  In welcher die Faschisten viel Macht haben...
  Uns steht ein katastrophales Ergebnis bevor.
  Aber wir werden dem Grab entkommen können!
  
  Sowas gibt es bei uns, Kinder.
  Aber ihr Pioniere, ihr solltet wissen, dass ihr keine Kinder seid...
  Wir werden die Faschisten mit ganzem Herzen besiegen.
  Lasst uns Ordnung auf diesem Planeten schaffen!
  
  Lasst uns einen filigranen Kommunismus errichten.
  Und lasst uns die ganze Welt zu einem großen Paradies machen...
  Möge der böse Faschismus seine Krallen ausfahren,
  Wir werden alle Tyrannen auf einmal in Stücke reißen!
  
  Für einen Pionier gibt es kein Wort Feigling.
  Und es gibt kein Wort - so etwas darf nicht mehr passieren...
  Der weise Jesus ist in meinem Herzen.
  Selbst wenn ein Höllenhund ohrenbetäubend bellt!
  
  Der Faschismus ist mächtig und einfach stark.
  Sein Grinsen gleicht den Gesichtern der Unterwelt...
  Er rückte mit sehr starken Panzern vor.
  Aber wir werden durch die Macht des Herrn siegen!
  
  Lasst den Menschen zum Mars fliegen.
  Das wissen wir sehr wohl, Brüder...
  Bei uns läuft jede Aufgabe reibungslos.
  Und wir Jungs sind wagemutig und haben Spaß!
  
  Wir werden in der Lage sein, Frieden und Ordnung zu schützen.
  Und ganz gleich, wie der Feind war, er war grausam und heimtückisch...
  Wir werden den Feind hart besiegen.
  Und das russische Schwert wird in Schlachten berühmt werden!
  
  Ich bin ein Pionier - ein Sowjetbürger.
  Der Junge ist ein Verwandter der großen Titanen...
  Und die Blüte wird niemals kommen.
  Wenn wir den bösen Tyrannen nicht ordentlich die Leviten lesen!
  
  Aber ich glaube, wir werden die Faschisten besiegen.
  Obwohl wir in der Nähe von Moskau Schwierigkeiten hatten...
  Über uns schwebt ein strahlender Cherub.
  Und ich renne barfuß mit einem Mädchen durch den Schnee!
  
  Nein, ich werde mich niemals den Fritzes ergeben.
  Es werde Mut wie bei Titanen...
  Schließlich ist Lenin für immer in unseren Herzen.
  Er ist der Zermalmer wahnsinniger Tyrannen!
  
  Ich werde dafür sorgen, dass es Kommunismus gibt.
  Genosse Stalin wird die rote Fahne hissen...
  Und wir werden den verdammten Revanchismus zerschlagen.
  Und der Name Jesu wird im Herzen sein!
  
  Was kann ein Pionier für dich nicht verstehen?
  Aber er ist zu vielem fähig, Leute...
  Bestehe deine Fächer, Junge, mit hervorragenden Noten!
  Schießt auf die Fritz, schießt mit dem Maschinengewehr!
  
  Ich schwöre feierlich bei meinem Vaterland,
  Im Kampf seinen ganzen Körper ohne Reserve hingeben...
  Rus wird in der Schlacht unbesiegbar sein.
  Zumindest wurde dem Land eine Herausforderung gestellt!
  
  Und wir werden in das besiegte Berlin einziehen.
  Nachdem er mutig unter der roten Fahne dorthin gegangen war...
  Wir werden die Unermesslichkeit des Universums bezwingen -
  Lasst uns unser Vaterland verschönern!
  Barfußjungen, wie man so sagt, kämpfen, ebenso wie Komsomol-Mädchen. Die letzten Kämpfer sind fast nackt. Und alle haben nackte Füße.
  Der März 1953 bricht an. Stalin stirbt. Die Bevölkerung ist verständlicherweise in tiefer Trauer. Die Deutschen umzingeln mit schnellen Flankenangriffen die sowjetische Hauptstadt. Die Nazis nutzen ihren Erfolg und rücken auf Rjasan vor. Die ersten IS-10-Panzer kommen auf sowjetischer Seite zum Einsatz. Dieser ähnelt dem IS-3, verfügt jedoch über ein längeres Geschützrohr - nicht das EL-48, sondern das EL-60. Dadurch bietet er eine bessere und tödlichere ballistische Wirkung. Dann kommt der IS-11. Dieser ist mit seinem 152-mm-Geschütz und dem 70 mm langen Rohr deutlich stärker als der IS-7. Der neue Panzer selbst wiegt 100 Tonnen. Er hat natürlich dieselben Nachteile wie der IS-7: hohes Gewicht, hohe Kosten und Schwierigkeiten bei Produktion und Transport. Obwohl das neue Geschütz alle deutschen Panzer durchschlagen kann, nicht nur den massigen Panther-5, sondern auch die Tiger-Familie - noch schwerere, aber weniger moderne Fahrzeuge.
  Wenn der Panther-5 mit seinen 80 Tonnen schon ein Ungetüm ist, wozu dann noch schwerere Fahrzeuge produzieren? Trotzdem erschien der Tiger-5 - ein seltenes Geschoss mit einer 210-mm-Kanone und einem Gewicht von 160 Tonnen. Von den Panzern Maus und Lev wollen wir gar nicht erst reden. Fahrzeuge über 200 Tonnen lassen sich praktisch nicht per Bahn transportieren. Der Lev-5 erwies sich also als solches Monstrum, dass er nie in Serie ging.
  Wie dem auch sei, nach Stalins Tod und der Einkesselung Moskaus nahm der Krieg eine andere Wendung. Nun schienen die Deutschen unaufhaltsam. Sie hatten Gorki eingenommen und rückten bereits auf Kasan vor.
  Doch die Komsomol-Mädchen kämpfen mit wilder und befreiter Wut, wie barfüßige, kurz bekleidete Pioniere. Dabei singen sie mit voller Kraft ihrer heiseren Kehlen:
  In der Weite des wunderbaren Mutterlandes,
  Gestärkt in Schlachten und harter Arbeit...
  Wir haben ein fröhliches Lied komponiert.
  Über einen großartigen Freund und Anführer!
  
  Stalin ist militärischer Ruhm.
  Stalin ist die Flucht der Jugend....
  Mit Liedern kämpfen und gewinnen,
  Unser Volk folgt Stalin!
  
  CIA-SPEZIALEINSÄTZE - LATEINAMERIKA
  ANMERKUNG
  Spione aller Art sind weltweit aktiv. Sie infiltrieren verschiedene Machtbereiche. Auch Spezialoperationen sind sichtbar. Geheimdienstmitarbeiter und andere agieren in Lateinamerika und Afrika. Und natürlich liefern sich der FSB und die CIA einen erbitterten Kampf.
  KAPITEL NR. 1.
  Apostolischer Palast
    
  Sábado, 2. April 2005, 21:37 Uhr.
    
    
    
  Der Mann im Bett hatte aufgehört zu atmen. Sein persönlicher Sekretär, Monsignore Stanislav Dvišić, der 36 Stunden lang die rechte Hand des Sterbenden gehalten hatte, brach in Tränen aus. Die diensthabenden Männer mussten ihn mit Gewalt von sich stoßen und versuchten über eine Stunde lang, den alten Mann wiederzubeleben. Sie waren zutiefst verzweifelt. Während sie die Wiederbelebungsmaßnahmen immer wieder begannen, wussten sie alle, dass sie alles Mögliche und Unmögliche tun mussten, um ihr Gewissen zu beruhigen.
    
  Die Privatgemächer des Pontifex Sumo hätten einen uninformierten Beobachter überrascht. Der Herrscher, vor dem sich die Staatsoberhäupter der Nationen ehrfurchtsvoll verneigten, lebte in bitterer Armut. Sein Zimmer war unglaublich karg, die Wände bis auf ein Kruzifix kahl, und die Möbel aus lackiertem Holz bestanden aus einem Tisch, einem Stuhl und einem einfachen Bett. Das traditionelle Bett war in den letzten Monaten durch ein Krankenhausbett ersetzt worden. Krankenschwestern wuselten um sie herum und versuchten, sie wiederzubeleben, während dicke Schweißperlen die makellos weißen Badewannen hinunterliefen. Vier polnische Nonnen hatten sie dreimal gegen ein Krankenhausbett getauscht.
    
  Schließlich unterband Dr. Silvio Renato, mein persönlicher Sekretär beim Papst, diesen Versuch. Er gab den Krankenschwestern ein Zeichen, das Gesicht des alten Mannes mit einem weißen Schleier zu bedecken. Ich bat alle, den Raum zu verlassen, und blieb in der Nähe von Dvišić. Trotzdem sollte die Sterbeurkunde ausgestellt werden. Die Todesursache war mehr als offensichtlich - Herz-Kreislauf-Versagen, verschlimmert durch eine Kehlkopfentzündung. Er zögerte, den Namen des alten Mannes einzutragen, doch schließlich wählte ich seinen bürgerlichen Namen, um jegliche Probleme zu vermeiden.
    
  Nachdem der Arzt das Dokument entfaltet und unterschrieben hatte, übergab er es Kardinal Samalo, der soeben den Raum betreten hatte. Der Purpurrote steht nun vor der schwierigen Aufgabe, den Tod offiziell zu bestätigen.
    
  -Vielen Dank, Doktor. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich fortfahren.
    
  - Es gehört ganz Euch, Eure Eminenz.
    
  - Nein, Doktor. Das kommt jetzt von Gott.
    
  Samalo näherte sich langsam seinem Sterbebett. Mit 78 Jahren hatten Sie auf Wunsch Ihres Mannes oft in dem Haus gewohnt, um diesen Moment nicht miterleben zu müssen. Er war ein ruhiger und ausgeglichener Mann, der sich der schweren Last und der vielen Verantwortungen und Aufgaben bewusst war, die nun auf seinen Schultern lasteten.
    
  Seht euch diesen Mann an. Er wurde 84 Jahre alt und überlebte einen Brustschuss, einen Darmtumor und eine komplizierte Blinddarmentzündung. Doch die Parkinson-Krankheit schwächte ihn, und er frönte so sehr dem Genuss, dass sein Herz schließlich versagte und er starb.
    
  Aus einem Fenster im dritten Stock des Palastes beobachtete Kardinal Podí, wie sich fast zweihunderttausend Menschen auf dem Petersplatz versammelten. Die Dächer der umliegenden Gebäude waren mit Antennen und Fernsehstationen übersät. "Derjenige, der uns bedroht - pensó Samalo -. Derjenige, der uns bedroht. Die Menschen verehrten ihn, bewunderten sein Opfer und seinen eisernen Willen. Es wird ein schwerer Schlag sein, auch wenn es seit Januar alle erwartet hatten ... und nur wenige es wollten. Und dann wird es eine andere Sache sein."
    
  Ich hörte ein Geräusch an der Tür, und der vatikanische Sicherheitschef Camilo Sirin trat ein, vor den drei Kardinälen, die den Tod bestätigen sollten. Ihre Gesichter spiegelten Besorgnis und Hoffnung wider. Die Kardinäle näherten sich dem Sarg. Niemand war da, außer La Vista.
    
  "Lasst uns beginnen", sagte Samalo.
    
  Dvišić reichte ihm einen offenen Koffer. Das Dienstmädchen hob den weißen Schleier, der das Gesicht der Verstorbenen verhüllte, und öffnete das Fläschchen mit den heiligen Löwen. Beginne ... das tausendjährige Ritual An Lateinisch ín:
    
  - Si lebt, ego te absolvo a peccatis tuis, in nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti, amén 1.
    
    Samalo zeichnet ein Kreuz auf die Stirn des Verstorbenen und befestigt es am Kreuz.
    
    - Per istam sanctam Unctionem, gönne Tibi Dominus eine Gegenleistung ... Amen 2.
    
  Mit einer feierlichen Geste ruft er sie zum Segen und zum Apostel:
    
  Kraft der mir vom Apostolischen Stuhl verliehenen Vollmacht gewähre ich Ihnen den vollkommenen Ablass und die Absolution aller Sünden... und ich segne Sie. Im Namen des Vaters und des Sohnes und besonders der heiligen Rita... Amen.
    
  Tom nimmt einen silbernen Hammer aus dem Koffer und reicht ihn dem Bischof. Schlage vorsichtig dreimal auf die Stirn des Toten und sage nach jedem Schlag:
    
  - Ist Karol Wojtyla tot?
    
  Es kam keine Antwort. Der Camerlengo blickte die drei Kardinäle an, die am Bett standen und nickten.
    
  - Tatsächlich ist der Papst tot.
    
  Mit seiner rechten Hand nahm Samalo dem Verstorbenen den Fischerring, das Symbol seiner weltlichen Macht, ab. Mit meiner rechten Hand bedeckte ich erneut das Gesicht von Johannes Paul II. mit dem Schleier. Atme tief durch und betrachte deine drei Gefährten im Eros.
    
  - Wir haben viel Arbeit.
    
    
  EINIGE OBJEKTIVE FAKTEN ÜBER DEN VATIKAN
    
    (Extraídos del CIA World Factbook)
    
    
    Fläche: 0,44 Kilom² (die kleinste der Welt)
    
  Grenzen: 3,2 km (zu Italien)
    
  Tiefster Punkt más: Petersplatz, 19 Meter über dem Meeresspiegel.
    
  Höchster Punkt: Vatikanische Gärten, 75 Meter über dem Meeresspiegel.
    
  Temperatur: Mäßig regnerischer Winter von September bis Mitte Mai, heißer, trockener Sommer von Mai bis September.
    
  Landnutzung: 100 % städtische Gebiete. Ackerland: 0 %.
    
  Natürliche Ressourcen: Keine.
    
    
  Einwohnerzahl: 911 Staatsbürger mit Reisepass. 3.000 Arbeiter während des Tages.
    
  Regierungssystem: Kirche, Monarchie, absolut.
    
  Fruchtbarkeitsrate: 0 %. Neun Geburten in der gesamten Geschichte.
    
  Wirtschaft: basiert auf Almosen und dem Verkauf von Briefmarken, Postkarten und Briefmarken sowie der Verwaltung der eigenen Banken und Finanzen.
    
  Kommunikationsnetz: 2200 Telefonanschlüsse, 7 Radiosender, 1 Fernsehkanal.
    
  Jährliches Einkommen: 242 Millionen Dollar.
    
  Jährliche Ausgaben: 272 Millionen Dollar.
    
  Rechtssystem: Es basiert auf den im Kirchenrecht festgelegten Regeln. Obwohl die Todesstrafe seit 1868 offiziell nicht mehr vollstreckt wird, ist sie weiterhin gültig.
    
    
  Besondere Anmerkung: Der Heilige Vater hat einen tiefgreifenden Einfluss auf das Leben von über 1.086.000.000 Gläubigen.
    
    
    
    
    Iglesia de Santa Maria in Traspontina
    
  Via della Conciliazione, 14
    
    Dienstag , 5. April 2005 , 10:41 Uhr .
    
    
    
    Inspektor Dicanti blinzelt zum Eingang und versucht, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er brauchte fast eine halbe Stunde, um den Tatort zu erreichen. Wenn Rom schon immer ein Verkehrschaos war, so verwandelte es sich nach dem Tod des Heiligen Vaters in die Hölle. Tausende strömten täglich in die Hauptstadt der Christenheit, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die Ausstellung im Petersdom. Der Papst war als Heiliger gestorben, und Freiwillige zogen bereits durch die Straßen und sammelten Unterschriften für den Seligsprechungsprozess. 18.000 Menschen zogen stündlich am Leichnam vorbei. "Ein echter Erfolg für die Gerichtsmedizin", witzelt Paola.
    
  Seine Mutter hatte ihn gewarnt, bevor sie die gemeinsame Wohnung in der Via della Croce verließen.
    
  "Geh nicht nach Cavour, das dauert zu lange. Geh hoch nach Regina Margherita und runter nach Rienzo", sagte er und rührte den Brei um, den sie für ihn zubereitete, wie es jede Mutter von ihrem 33. Lebensjahr bis 33. tat.
    
  Natürlich ging sie auf Cavour los, und das dauerte eine ganze Weile.
    
  Sie hatte den Geschmack von Haferbrei im Mund, den Geschmack des Haferbreis seiner Mutter. Während meiner Ausbildung im FBI-Hauptquartier in Quantico, Virginia, vermisste ich dieses Gefühl so sehr, dass mir fast übel wurde. Er kam und bat seine Mutter, ihm eine Dose Haferbrei zu schicken, die sie in der Mikrowelle im Pausenraum der Abteilung für Verhaltenswissenschaften aufwärmten. Ich kenne niemanden, der ihm das Wasser reichen kann, aber ich werde ihm helfen, so weit weg von zu Hause diese schwierige und gleichzeitig so bereichernde Erfahrung zu machen. Paola wuchs nur einen Steinwurf von der Via Condotti entfernt auf, einer der angesehensten Straßen der Welt, und doch war ihre Familie arm. Sie wusste nicht, was das Wort bedeutete, bis sie nach Amerika kam, ein Land mit seinen eigenen Maßstäben für alles. Sie war überglücklich, in die Stadt zurückzukehren, die sie in ihrer Kindheit so gehasst hatte.
    
  1995 richtete Italien eine Einheit für Gewaltverbrechen ein, die sich auf Serienmörder spezialisierte. Es erscheint unglaublich, dass der fünftbeste Präsident der Welt erst so spät über eine solche Einheit verfügte. Die UACV besitzt eine Spezialabteilung namens Labor für Verhaltensanalyse, gegründet von Giovanni Balta, Dicantis Lehrer und Mentor. Tragischerweise verstarb Balta Anfang 2004 bei einem Verkehrsunfall, und Dr. Dicanti sollte Dicantis Führungsoffizier am Lake Rome werden. Seine FBI-Ausbildung und Baltas exzellente Gutachten zeugten von seiner Zustimmung. Nach dem Tod des Leiters war das Team des Labors sehr klein: nur noch sie selbst. Doch als in die UACV integrierte Abteilung profitierte es von der technischen Unterstützung einer der modernsten forensischen Einrichtungen Europas.
    
  Bislang war jedoch alles erfolglos geblieben. In Italien gibt es 30 unidentifizierte Serienmörder. Neun davon passen zu den aktuellen Fällen, die mit jüngsten Todesfällen in Verbindung stehen. Seit sie die Leitung des LAC übernommen hatte, war kein neues Personal eingestellt worden, und der Mangel an Expertenmeinungen erhöhte den Druck auf Dikanti, da sich psychologische Profile mitunter zu rein psychologischen Analysen entwickelten. Das Einzige, was ich tun kann, ist, einen Verdächtigen zu präsentieren. "Luftschlösser", nannte Dr. Boy sie, ein fanatischer Mathematiker und Kernphysiker, der mehr Zeit am Telefon als im Labor verbrachte. Leider war Boy der Generaldirektor des UACV und Paolas direkter Vorgesetzter, und jedes Mal, wenn er ihr auf dem Flur begegnete, warf er ihr einen ironischen Blick zu. "Meine schöne Schriftstellerin" war der Ausdruck, den er benutzte, wenn sie allein in seinem Büro waren - eine spielerische Anspielung auf die finstere Fantasie, die Dikanti mit Profilen verschwendete. Dikanti wollte unbedingt, dass seine Arbeit Früchte trug, damit er diesen Idioten eine reinhauen konnte. Sie hatte den Fehler begangen, in einer schwachen Nacht mit ihm zu schlafen. Lange, späte Nächte, völlig überrascht, eine unbestimmte Abwesenheit von El Corazón ... und die üblichen Klagen über Mamúñana. Vor allem, da Boy verheiratet und fast doppelt so alt war wie sie. Er war ein Gentleman und ging nicht weiter darauf ein (und achtete sorgfältig darauf, Abstand zu halten), aber er ließ Paola es nie vergessen, nicht mit einem einzigen Satz. Irgendwo zwischen Macho und charmant. Er verriet, wie sehr ich ihn hasste.
    
  Und schließlich haben Sie seit Ihrem Aufstieg einen echten Fall, der von Anfang an bearbeitet werden muss, nicht basierend auf fadenscheinigen Beweisen, die von ungeschickten Agenten gesammelt wurden. Er erhielt während des Frühstücks einen Anruf und ging zurück in sein Zimmer, um sich umzuziehen. Sie band ihr langes schwarzes Haar zu einem strengen Dutt zusammen und legte den Hosenrock und den Pullover, die sie im Büro getragen hatte, ab und entschied sich für einen eleganten Hosenanzug. Auch das Jackett war schwarz. Sie war fasziniert: Der Anrufer hatte keinerlei Informationen preisgegeben, es sei denn, er hatte tatsächlich ein Verbrechen in seinem Zuständigkeitsbereich begangen, und sie leitete ein Verfahren gegen ihn in Santa María in Transpontina "mit äußerster Dringlichkeit" ein.
    
  Und alle waren vor den Kirchentüren. Anders als in Paola hatte sich eine Menschenmenge entlang der fast fünf Kilometer langen "Cola" versammelt, die sich bis zur Vittorio-Emanuele-II.-Brücke erstreckte. Die Anwesenden beobachteten die Szene besorgt. Diese Menschen waren die ganze Nacht dort gewesen, aber diejenigen, die etwas hätten sehen können, waren bereits weit entfernt. Einige Pilger warfen beiläufige Blicke auf zwei unauffällige Carabinieri, die den Kircheneingang für eine Gruppe von Gläubigen versperrten. Sie versicherten ihnen sehr diplomatisch, dass am Gebäude Bauarbeiten im Gange seien.
    
  Paola sog die Atmosphäre der Festung ein und überschritt im Halbdunkel die Schwelle der Kirche. Das Haus besteht aus einem einzigen Kirchenschiff, flankiert von fünf Kapellen. Der Geruch von altem, rostigem Weihrauch lag in der Luft. Alle Lichter waren aus, zweifellos, weil sie noch brannten, als die Leiche gefunden wurde. Eine von Boys Regeln lautete: "Mal sehen, was er gesehen hat."
    
  Schau dich um und kniff die Augen zusammen. Zwei Personen unterhielten sich leise im hinteren Teil der Kirche, mit dem Rücken zur Bühne. Nahe dem Weihwasserbecken bemerkte ein nervöser Karmelit, der an seinem Rosenkranz spielte, die konzentrierte Aufmerksamkeit, mit der er die Bühne anstarrte.
    
  - Es ist wunderschön, nicht wahr, Signorina? Es stammt aus dem Jahr 1566. Es wurde von Peruzzi und seinen Kapellen erbaut...
    
  Dikanti unterbrach ihn mit einem entschlossenen Lächeln.
    
  "Leider, Bruder, interessiere ich mich im Moment überhaupt nicht für Kunst. Ich bin Inspektorin Paola Dicanti. Sind Sie dieser Verrückte?"
    
  - Ja, der Disponent. Ich war es auch, der die Leiche gefunden hat. Das wird die Massen sicherlich interessieren. Gepriesen sei Gott, an Tagen wie diesen... der Heilige hat uns verlassen, und nur Dämonen bleiben zurück!
    
  Es war ein älterer Mann mit dicker Brille, gekleidet in die Karmelitertracht von Bito Marra. Ein großer Spatel war um seine Hüfte gebunden, und ein dichter grauer Bart verdeckte sein Gesicht. Er ging leicht gebückt und humpelnd im Kreis um den Perlenhaufen. Ihre Hände flatterten über die Perlen, zitterten heftig und unkontrolliert.
    
  - Beruhig dich, Bruder. Wie heißt er?
    
  -Francesco Toma, Disponent.
    
  "Okay, Bruder, erzähl mir in deinen eigenen Worten, wie alles passiert ist. Ich weiß, ich habe es schon sechs oder sieben Mal erzählt, aber es ist notwendig, mein Schatz."
    
  Der Mönch seufzte.
    
  "Es gibt nicht viel zu erzählen. Außerdem, Roco, bin ich für die Kirche zuständig. Ich wohne in einer kleinen Zelle hinter der Sakristei. Ich stehe wie jeden Tag um sechs Uhr morgens auf. Ich wasche mir das Gesicht und lege mir einen Verband an. Ich gehe durch die Sakristei, verlasse die Kirche durch eine versteckte Tür hinter dem Hauptaltar und gehe zur Kapelle Nuestra Señora del Carmen, wo ich täglich bete. Ich bemerkte, dass vor der Kapelle San Toma Kerzen brannten, denn als ich schlafen ging, war niemand da. Dann sah ich es. Ich rannte panisch zur Sakristei, denn der Mörder musste in der Kirche sein, und rief die Polizei."
    
  - Nichts am Tatort berühren?
    
  Nein, Disponent. Nichts. Ich hatte große Angst, Gott möge mir vergeben.
    
  -Und Sie haben auch nicht versucht, dem Opfer zu helfen?
    
  - Der Disponent... es war offensichtlich, dass er jeglicher irdischen Hilfe völlig beraubt war.
    
  Eine Gestalt kam ihnen den Mittelgang der Kirche entlang entgegen. Es war Unterinspektor Maurizio Pontiero von der UACV.
    
  - Dikanti, beeil dich, sie werden gleich das Licht einschalten.
    
  Einen Moment. Bitteschön, Bruder. Hier ist meine Visitenkarte. Meine Telefonnummer steht unten. Ich werde jederzeit zum Meme, wenn mir etwas einfällt, das mir gefällt.
    
  - Ich erledige das, Disponent. Hier ist ein Geschenk.
    
  Der Karmeliter überreichte ihm einen farbenprächtigen Druck.
    
  -Santa Maria del Carmen. Er wird immer bei dir sein. Weise ihm den Weg in diesen dunklen Zeiten.
    
  "Danke, Bruder", sagte Dikanti und entfernte gedankenverloren das Siegel.
    
  Der Inspektor folgte Pontiero durch die Kirche bis zur dritten Kapelle auf der linken Seite, die mit rotem UACV-Absperrband abgesperrt war.
    
  "Sie sind zu spät", tadelte ihn der junge Inspektor.
    
  -Tráfico war todkrank. Draußen gibt es einen guten Zirkus.
    
  - Du solltest eigentlich Rienzo abholen.
    
  Obwohl Pontiero bei der italienischen Polizei einen höheren Rang bekleidete, war er für die Feldforschung der UACV zuständig, und somit unterstand jeder Laborforscher der Polizei - selbst jemand wie Paola, die den Titel Abteilungsleiterin trug. Pontiero war ein Mann zwischen 51 und 241 Jahren, sehr hager und mürrisch. Sein rosinenartiges Gesicht war von Falten gezeichnet. Paola bemerkte, dass der Unterinspektor sie verehrte, obwohl er sich sehr bemühte, es nicht zu zeigen.
    
  Dikanti wollte die Straße überqueren, aber Pontiero packte ihn am Arm.
    
  "Moment mal, Paola. Nichts, was du bisher gesehen hast, hat dich darauf vorbereitet. Das ist absoluter Wahnsinn, das verspreche ich dir", ihre Stimme zitterte.
    
  "Ich denke, ich kann das regeln, Pontiero. Aber danke."
    
  Betreten Sie die Kapelle. Ein UACV-Fotograf wohnte darin. Im hinteren Teil der Kapelle ist ein kleiner Altar an der Wand befestigt, an dem ein Gemälde des heiligen Thomas hängt, das den Moment zeigt, als der Heilige seine Finger auf Jesu Wunden legte.
    
  Darunter lag eine Leiche.
    
  -Heilige Madonna.
    
  - Ich hab's dir ja gesagt, Dikanti.
    
  Es war der Anblick eines Esels aus der Sicht eines Zahnarztes. Der Tote lehnte an dem Altar. Ich hatte ihm die Augen ausgestochen und zwei schreckliche, schwärzliche Wunden hinterlassen. Aus seinem Mund, der zu einer grauenhaften Grimasse verzerrt war, hing ein bräunlicher Gegenstand. Im grellen Blitzlicht entdeckte Dikanti etwas, das mir entsetzlich erschien. Seine Hände waren abgetrennt und lagen, vom Blut gereinigt, neben dem Körper auf einem weißen Laken. An einer der Hände trug er einen dicken Ring.
    
  Der Tote war in einen schwarzen Talardanzug mit rotem Rand gekleidet, typisch für Kardinäle.
    
  Paolas Augen weiteten sich.
    
  - Pontiero, sag mir, dass er kein Kardinal ist.
    
  "Wir wissen es nicht, Dikanti. Wir werden ihn untersuchen, obwohl von seinem Gesicht kaum noch etwas übrig ist. Wir warten darauf, dass Sie sehen, wie dieser Ort aussieht, so wie ihn der Mörder gesehen hat."
    
  -¿Dóndeá der Rest des Tatortteams?
    
  Das Analyseteam bildete den Großteil der UACV. Es bestand ausschließlich aus forensischen Experten, die sich auf die Sicherung von Spuren, Fingerabdrücken, Haaren und allem anderen spezialisiert hatten, was ein Verbrecher an einer Leiche hinterlassen könnte. Sie arbeiteten nach dem Prinzip, dass jedes Verbrechen eine Spurenübertragung beinhaltet: Der Täter nimmt etwas mit und hinterlässt etwas.
    
  - Er ist bereits unterwegs. Der Lieferwagen steckt in Cavour fest.
    
  "Ich hätte Rienzo holen sollen", warf mein Onkel ein.
    
  - Niemand hat jemals nach seiner Meinung gefragt - espetó Dicanti.
    
  Der Mann verließ den Raum und murmelte dem Inspektor etwas wenig Angenehmes zu.
    
  - Du musst anfangen, dich selbst zu beherrschen, Paola.
    
  "Mein Gott, Pontiero, warum hast du mich nicht früher angerufen?", sagte Dikanti und ignorierte die Empfehlung des Unterinspektors. "Das ist eine sehr ernste Angelegenheit. Wer auch immer das getan hat, hat einen schweren Verstand."
    
  -Ist das Ihre professionelle Analyse, Herr Doktor?
    
  Carlo Boy betrat die Kapelle und warf ihr einen seiner finsteren Blicke zu. Er liebte solche unerwarteten Begegnungen. Paola erkannte, dass er einer der beiden Männer war, die sich mit dem Rücken zum Weihwasserbecken unterhalten hatten, als sie die Kirche betrat, und sie ärgerte sich, dass sie sich von ihm hatte überraschen lassen. Der andere stand neben dem Dirigenten, sagte aber nichts und betrat die Kapelle nicht.
    
  "Nein, Direktor Boy. Meine professionelle Analyse wird Ihnen das Ergebnis umgehend zukommen lassen, sobald sie fertig ist. Deshalb warne ich Sie gleich vorweg: Wer auch immer dieses Verbrechen begangen hat, ist sehr krank."
    
  Der Junge wollte gerade etwas sagen, als in diesem Moment das Licht in der Kirche anging. Und alle sahen, was der Había entgangen war: In nicht sehr großen Buchstaben stand auf dem Boden neben dem Verstorbenen: Había
    
    
  EGO, ICH RECHTFERTIGE DICH
    
    
  "Es sieht aus wie Blut", sagte Pontiero und brachte damit zum Ausdruck, was alle dachten.
    
  Es war ein scheußliches Telefon, aus dem die Akkorde von Händels Halleluja erklangen. Alle drei sahen Genosse de Boy an, der das Gerät sehr ernst aus seiner Manteltasche zog und den Anruf entgegennahm. Er sagte fast nichts, nur ein Dutzend Mal "aja" und "mmm".
    
  Nachdem ich aufgelegt hatte, sah ich Boy an und nickte.
    
  "Genau davor haben wir Angst, Amos", sagte der Direktor der UACV. "Ispetto Dikanti, Vice-Ispettore Pontiero, das ist natürlich eine sehr heikle Angelegenheit. Bei dem Toten handelt es sich um den argentinischen Kardinal Emilio Robaira. Wenn der Mord an einem Kardinal in Rom an sich schon eine unbeschreibliche Tragödie ist, dann erst recht in dieser Phase. Der Vizepräsident war einer von 115 Personen, die mehrere Monate lang an Cí225;n, dem Schlüssel zur Wahl eines neuen Sumoringers, teilgenommen haben. Daher ist die Situation heikel und komplex. Dieses Verbrechen darf nicht in die Hände der Presse fallen, gemäß dem Prinzip von ningún. Stellen Sie sich die Schlagzeilen vor: ‚Serienmörder terrorisiert die Anhängerschaft des Papstes." Ich will gar nicht daran denken ..."
    
  -Moment mal, Direktor. Haben Sie Serienmörder gesagt? Gibt es hier etwas, das wir nicht wissen?
    
  Bekämpfe Carraspeó und sieh dir die mysteriöse Gestalt an, mit der du aus éL gekommen bist.
    
  -Paola Dicanti, Maurizio Pontiero, Permílet me introduce you to Camilo Sirin, Inspector General of the Vatican State Surveillance Corps.
    
  É Sentó nickte und trat einen Schritt vor. Als er sprach, tat er dies mühsam, als wolle er kein Wort sagen.
    
  -Wir glauben, dass é sta die zweite vístima ist.
    
    
    
    
    Instituto Saint Matthew
    
  Silver Spring, Maryland
    
    August 1994
    
    
    
  "Herein, Pater Karoski, herein. Bitte entkleiden Sie sich vollständig hinter dem Paravent, wenn Sie so freundlich wären."
    
  Der Priester begann, den Priester von sich zu entfernen. Die Stimme des Kapitäns erreichte ihn von der anderen Seite der weißen Trennwand.
    
  "Du brauchst dir wegen der Prozesse keine Sorgen zu machen, Vater. Das ist normal, nicht wahr? Anders als bei gewöhnlichen Leuten, hehe. Es mag andere Gefangene geben, die über sie reden, aber sie ist nicht so stolz, wie sie sie darstellen, wie meine Großmutter. Wer ist auf unserer Seite?"
    
  - Zwei Wochen.
    
  - Genügend Zeit, um davon zu erfahren, wenn Sie... oder... Tennis spielen gehen würden?
    
  - Ich mag Tennis nicht. Höre ich etwa schon auf?
    
  - Nein, Vater, zieh schnell dein grünes T-Shirt an, geh nicht angeln, hehe.
    
  Karoski kam in einem grünen T-Shirt hinter dem Sichtschutz hervor.
    
  - Geh zur Trage und heb sie hoch. Das ist alles. Warte, ich verstelle die Rückenlehne. Er sollte das Bild auf dem Fernseher gut sehen können. Alles in Ordnung?
    
  - Sehr gut.
    
  - Ausgezeichnet. Moment, ich muss noch ein paar Einstellungen an den Medición-Werkzeugen vornehmen, dann legen wir gleich los. Übrigens, der Fernseher von ahí ist echt gut, oder? Er ist 81 cm groß; wenn ich zu Hause auch so einen hätte, würde mein Verwandter mir sicher Respekt zollen, nicht wahr? Hehe.
    
  - Ich bin mir nicht sicher.
    
  "Natürlich nicht, Vater, natürlich nicht. Diese Frau hätte keinerlei Respekt vor ihm und würde ihn gleichzeitig auch nicht lieben, selbst wenn er aus einer Packung Golden Grahams springen und ihm in den fettigen Hintern treten würde, heh-heh-heh."
    
  - Man soll den Namen Gottes nicht missbrauchen, mein Kind.
    
  "Er hat einen Grund, Vater. Nun, das war"s. Sie hatten noch nie eine Penisplethysmographie, oder?"
    
  - NEIN.
    
  - Natürlich nicht, das wäre doch dumm, hehe. Haben sie dir denn schon erklärt, worum es bei dem Test geht?
    
  -Allgemein.
    
  - Gut, jetzt schiebe ich meine Hände unter sein Hemd und befestige diese beiden Elektroden an seinem Penis, richtig? Das hilft uns, Ihre sexuelle Reaktion auf bestimmte Reize zu messen. Okay, jetzt fange ich an, sie anzubringen. Das war's.
    
  - Seine Hände sind kalt.
    
  - Ja, hier ist es cool, hehe. ¿ Thisá thisómode?
    
  - Mir geht es gut.
    
  - Na dann, los geht's.
    
  Meine Gene begannen sich auf dem Bildschirm gegenseitig zu ersetzen. Der Eiffelturm. Morgendämmerung. Nebel in den Bergen. Schokoladeneis. Heterosexueller Geschlechtsverkehr. Wald. Bäume. Heterosexueller Fellatio. Tulpen in Holland. Homosexueller Geschlechtsverkehr. Las Meninas de Velázquez. Sonnenuntergang am Kilimandscharo. Homosexueller Blowjob. Schnee liegt hoch auf den Dächern eines Dorfes in der Schweiz. Felachi ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped ped Nio sieht Samara direkt an, während sie den Penis eines Erwachsenen lutscht. Traurigkeit liegt in seinen Augen.
    
  Karoski steht auf, seine Augen voller Wut.
    
  - Vater, er kann nicht aufstehen, wir sind noch nicht fertig!
    
  Der Priester packt ihn am Hals, schlägt den Kopf des Psy-Logos immer wieder gegen das Armaturenbrett, während Blut die Knöpfe, den weißen Mantel des Footballspielers, Karoskis grünes Trikot und die ganze Welt durchnässt.
    
    - Keine verunreinigten Taten mehr, richtig? ¿ Das stimmt, du dreckiges Stück Scheiße, oder?
    
    
    
    
    Iglesia de Santa Maria in Traspontina
    
  Via della Conciliazione, 14
    
    Dienstag , 5. April 2005 , 11:59 Uhr .
    
    
    
    Die Stille, die auf Sirins Worte folgte, wurde durch das Läuten der Weihnachtsglocken auf dem nahegelegenen Petersplatz unterbrochen.
    
  "Der zweite fünfte Teil? Sie haben einen weiteren Kardinal in Stücke gerissen, und wir erfahren es jetzt erst?" Pontieros Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, welche Meinung er in der aktuellen Situation verdiente.
    
  Sirin, ungerührt, blickte sie an. Er war zweifellos ein Mann, der weit über seine Vorstellungskraft hinausging. Von mittlerer Größe, mit keuschen Augen, von unbestimmtem Alter, in einem unauffälligen Anzug und grauem Mantel. Kein Gesichtszug überlagerte das andere, und das war ungewöhnlich: Es war ein Inbegriff von Normalität. Er sprach so leise, als wolle auch er in der Stille verschwinden. Doch das beeindruckte weder Enga noch die anderen Anwesenden: Sie alle sprachen über Camilo Sirin, einen der mächtigsten Männer im Vatikan. Er kontrollierte die kleinste Polizeitruppe der Welt: die Vatikanische Vigilanz. Ein Korps von 48 Agenten (offiziell), weniger als die Hälfte der Schweizergarde, aber ungleich mächtiger. Nichts geschah in seinem kleinen Haus ohne Sirins Wissen. 1997 versuchte jemand, ihn in Verruf zu bringen: Der Rektor ernannte Alois Siltermann zum Kommandanten der Schweizergarde. Zwei Personen wurden nach seiner Ernennung tot aufgefunden - Siltermann, seine Frau und ein Korporal mit tadellosem Ruf. Ich habe sie erschossen. Die Schuld liegt beim Korporal, der angeblich den Verstand verlor, das Paar erschoss und sich dann seine Dienstwaffe in den Mund steckte und abdrückte. Alle Erklärungen wären korrekt, gäbe es da nicht zwei kleine Details: Korporale der Schweizergarde sind unbewaffnet, und dem betreffenden Korporal wurden die Vorderzähne ausgeschlagen. Alle gehen davon aus, dass ihnen die Waffe auf grausame Weise in den Mund gestopft wurde.
    
  Diese Geschichte erzählte Dikanti ein Kollege vom Inspektorat Nr. 4. Nachdem Él und seine Kameraden von dem Vorfall erfahren hatten, sollten sie den Beamten des Sicherheitsdienstes jede erdenkliche Hilfe leisten. Doch kaum hatten sie den Tatort betreten, wurden sie freundlich zurück in den Untersuchungsraum gebeten und die Tür von innen verschlossen - ohne auch nur anzuklopfen. Nicht einmal ein Dankeschön. Die düstere Legende von Sirin verbreitete sich mündlich unter den Polizeistationen in ganz Rom, und auch die UACV bildete da keine Ausnahme.
    
  Und alle drei waren, als sie die Kapelle verließen, von Sirins Aussage fassungslos.
    
  "Mit allem gebührenden Respekt, Herr Generalinspektor, ich denke, wenn Sie erfahren, dass ein Mörder, der zu einem Verbrechen wie éste fähig ist, in Rom frei herumläuft, ist es Ihre Pflicht, dies der UACV zu melden", sagte Dicanti.
    
  "Genau das hat mein geschätzter Kollege getan", erwiderte Boy. "Ich habe es mir persönlich gemeldet. Wir sind uns einig, dass diese Angelegenheit zum Wohle aller streng vertraulich bleiben muss. Und wir stimmen auch in einem anderen Punkt überein: Es gibt im Vatikan niemanden, der mit einem so... typischen Kriminellen wie íste umgehen könnte."
    
  Überraschenderweise griff Sirin ein.
    
  -Seré franco, signorina. Unsere Arbeit umfasst Streitbeilegung, Verteidigung und Spionageabwehr. Wir sind in diesen Bereichen sehr gut, das kann ich Ihnen garantieren. Aber wenn Sie diesen Kerl mit einem so schlechten Kopf als ¿sómo ó you? bezeichnen würden, fällt er nicht in unseren Zuständigkeitsbereich. Wir werden überlegen, sie um Hilfe zu bitten, bis wir von einem zweiten Verbrechen erfahren.
    
  "Wir dachten, dieser Fall würde einen deutlich kreativeren Ansatz erfordern, Herr Controller Dikanti. Deshalb möchten wir nicht, dass Sie sich wie bisher auf die Erstellung von Profilen beschränken. Wir möchten, dass Sie die Ermittlungen leiten", sagte Direktor Boy.
    
  Paola schwieg. Das war Aufgabe einer Außendienstmitarbeiterin, nicht einer forensischen Psychiaterin. Natürlich konnte sie das genauso gut wie jede andere Außendienstmitarbeiterin, da sie in Quantico die entsprechende Ausbildung erhalten hatte, aber es war völlig klar, dass diese Anfrage von Boy kam, nicht von mir. In diesem Moment ließ ich sie bei Nita zurück.
    
  Sirin wandte sich dem Mann in der Lederjacke zu, der auf sie zukam.
    
  -Oh ja, das habe ich. Erlauben Sie mir, Ihnen Superintendent Dante vom Vigilanzdienst vorzustellen. Dikanti, fungieren Sie als sein Verbindungsmann zum Vatikan. Melden Sie ihm das vorherige Verbrechen und arbeiten Sie an beiden Fällen, da es sich hier um einen Einzelfall handelt. Alles, was ich von Ihnen verlange, gilt auch für mich. Und für den Reverend gilt: Alles, was er abstreitet, gilt auch für mich. Wir haben unsere eigenen Regeln im Vatikan, ich hoffe, Sie verstehen das. Und ich hoffe auch, dass dieses Monster gefasst wird. Der Mord an zwei Priestern der Heiligen Mutter Kirche darf nicht ungesühnt bleiben.
    
  Und ohne ein Wort zu sagen, ging er.
    
  Boy war Paola sehr nahe gekommen, bis er ihr das Gefühl gab, nicht dazuzugehören. Ihr kürzlicher Streit als Liebende war ihm wieder in den Sinn gekommen.
    
  "Das hat er bereits getan, Dikanti. Sie haben gerade Kontakt zu einer einflussreichen Persönlichkeit im Vatikan aufgenommen, und er hat Sie um etwas ganz Bestimmtes gebeten. Ich weiß nicht, warum er Sie überhaupt bemerkt hat, aber erwähnen Sie seinen Namen direkt. Nehmen Sie alles mit, was Sie brauchen. Er benötigt klare, prägnante und einfache Tagesberichte. Und vor allem eine Nachuntersuchung. Ich hoffe, seine Bemühungen werden sich hundertfach auszahlen. Versuchen Sie, mir etwas mitzuteilen, und zwar schnell."
    
  Er drehte sich um und ging Sirin in Richtung Ausgang hinterher.
    
  "Was für Bastarde!", platzte es schließlich aus Dikanti heraus, als sie sicher war, dass die anderen nicht in der Lage sein würden, niían, niírla zu sagen.
    
  "Wow, wenn er doch nur reden würde", lachte Dante, der gerade angekommen war.
    
  Paola errötet und ich reiche ihr meine Hand.
    
  -Paola Dikanti.
    
  -Fabio Dante.
    
  -Maurizio Pontiero.
    
  Dikanti nutzte den Händedruck zwischen Pontiero und Dante, um Letzteren genauer zu mustern. Er war klein, dunkelhaarig und kräftig, sein Kopf war nur durch gut fünf Zentimeter - fast einen Meter dicken Hals - mit seinen Schultern verbunden. Obwohl er nur 1,70 Meter groß war, war der Superintendent ein attraktiver Mann, wenn auch nicht gerade elegant. Man sollte bedenken, dass die olivgrünen Augen, so charakteristisch für den südlichen PEN-Club, ihm ein unverwechselbares Aussehen verleihen.
    
  Soll ich etwa annehmen, dass Sie mit dem Ausdruck "Bastarde" meinen Chef, den Inspektor, meinen?
    
  - Um ehrlich zu sein, ja. Ich denke, es war eine unverdiente Ehre.
    
  "Wir wissen beide, dass das keine Ehre, sondern ein schwerer Fehler ist, Dikanti. Und er hat es nicht unverdient; seine bisherigen Leistungen sprechen Bände über seine Vorbereitung. Er bedauert, dass es ihm nicht zu Erfolgen verhelfen wird, aber das wird sich sicher bald ändern, nicht wahr?"
    
  - Haben Sie meine Geschichte? Heilige Madonna, gibt es hier wirklich nichts Vertrauliches?
    
  -Nicht für él.
    
  "Hör mal, du Anmaßender..." Pontiero war empört.
    
  -Basta, Maurizio. Das ist nicht nötig. Wir sind an einem Tatort, und ich bin verantwortlich. Na los, ihr Affen, an die Arbeit, wir reden später. Überlasst Mosl ihnen.
    
  -So, jetzt bist du verantwortlich, Paola. Das hat der Chef gesagt.
    
  Zwei Männer und eine Frau in dunkelblauen Overalls warteten in respektvollem Abstand hinter der roten Tür. Sie gehörten zur Spurensicherung und waren auf die Beweissicherung spezialisiert. Der Inspektor und zwei weitere Personen verließen die Kapelle und gingen in Richtung Mittelschiff.
    
  - Okay, Dante. Sein - all das - pidió Dicanti.
    
  -Okay... das erste Opfer war der italienische Kardinal Enrico Portini.
    
  "Das kann doch nicht wahr sein!", waren Dikanti und Pontiero damals überrascht.
    
  - Bitte, Freunde, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.
    
  "Ein hervorragender Kandidat aus dem reformliberalen Flügel der Kirche. Wenn diese Nachricht an die Öffentlichkeit gelangt, wird das furchtbar sein."
    
  -Nein, Pontiero, das ist eine Katastrophe. George Bush ist gestern Morgen mit seiner ganzen Familie in Rom angekommen. Zweihundert andere internationale Staats- und Regierungschefs bleiben zu Hause, werden aber am Freitag an der Beerdigung teilnehmen. Die Lage bereitet mir große Sorgen, aber ihr wisst ja, wie es in der Stadt zugeht. Es ist eine sehr schwierige Situation, und das Letzte, was wir wollen, ist, dass Niko scheitert. Komm bitte mit mir raus. Ich brauche eine Zigarette.
    
  Dante führte sie auf die Straße, wo die Menschenmassen immer dichter wurden und es immer voller wurde. Die Menschheit füllte die Via della Conciliazione vollständig aus. Französische, spanische, polnische und italienische Flaggen wehten. Jay und du kamen mit euren Gitarren, religiöse Figuren mit brennenden Kerzen, sogar ein blinder alter Mann mit seinem Blindenhund. Zwei Millionen Menschen würden an der Beerdigung des Papstes teilnehmen, der die Landkarte Europas verändert hatte. Natürlich, Pensó Dikanti, esent - der schlimmste Ort der Welt zum Arbeiten. Jegliche Spuren würden im Pilgerstrom viel früher verloren gehen.
    
  "Portini wohnte in der Residenz Madri Pie in der Via de" Gasperi", sagte Dante. "Er kam am Donnerstagmorgen an, wohl wissend um den ernsten Gesundheitszustand des Papstes. Die Nonnen berichten, dass er am Freitag ganz normal zu Abend aß und lange in der Kapelle für den Heiligen Vater betete. Sie sahen ihn nicht hinlegen. Es gab keine Anzeichen eines Kampfes in seinem Zimmer. Niemand schlief in seinem Bett, sonst hätte derjenige, der ihn entführt hatte, es perfekt gemacht. Der Papst ging nicht zum Frühstück, aber man nahm an, er sei zum Beten im Vatikan geblieben. Wir wissen nicht, ob das Ende der Welt gekommen ist, aber es herrschte große Verwirrung in der Stadt. Verstehen Sie? Ich verschwand einen Block vom Vatikan entfernt."
    
  Er stand auf, zündete sich eine Zigarre an und bot Pontiero eine weitere an, die dieser angewidert ablehnte und seine eigene hervorholte. Weiter.
    
  "Gestern Morgen erschien Anna in der Kapelle der Residenz, doch wie hier deutete das Fehlen von Blut auf dem Boden darauf hin, dass es sich um eine inszenierte Szene handelte. Glücklicherweise war es der angesehene Priester, der uns ursprünglich gerufen hatte, der dies entdeckte. Wir fotografierten den Tatort, aber als ich vorschlug, Sie zu benachrichtigen, sagte Sirin, ich würde mich darum kümmern. Und er befahl uns, alles gründlich zu reinigen. Kardinal Portinis Leichnam wurde an einen bestimmten Ort innerhalb des Vatikangeländes überführt und eingeäschert."
    
  -¡Sómo! ¡ Sie haben Beweise für ein schweres Verbrechen auf italienischem Boden vernichtet! Ich kann es wirklich nicht glauben.
    
  Dante blickt sie trotzig an.
    
  "Mein Chef hat eine Entscheidung getroffen, und vielleicht war es die falsche. Aber er hat seinen Vorgesetzten angerufen und ihm die Situation geschildert. Und jetzt seid ihr hier. Wissen die überhaupt, womit wir es zu tun haben? Wir sind auf so eine Situation nicht vorbereitet."
    
  "Deshalb musste ich ihn den Profis übergeben", warf Pontiero mit ernster Miene ein.
    
  "Er versteht es immer noch nicht. Wir können niemandem trauen. Deshalb hat Sirin das getan, was er getan hat, gesegneter Soldat unserer Mutterkirche. Schau mich nicht so an, Dikanti. Ich mache ihm Vorwürfe wegen seiner Motive. Wäre es mit Portinis Tod geendet, hätte Amos jede Ausrede finden und die Sache vertuschen können. Aber es war kein Trumpf. Es ist nichts Persönliches, Entiéndalo."
    
  "Soweit ich das verstehe, sind wir jetzt im zweiten Jahr hier. Und das mit nur der Hälfte der Beweise. Eine unglaubliche Geschichte. Gibt es irgendetwas, das wir wissen sollten?" Dikanti war sichtlich wütend.
    
  "Nicht jetzt, Disponent", sagte Dante und verbarg erneut sein spöttisches Lächeln.
    
  "Verdammt! Verdammt nochmal! Wir haben hier ein furchtbares Problem, Dante. Von nun an will ich, dass du mir absolut alles erzählst. Und eines ist ganz klar: Ich habe hier das Sagen. Du wurdest beauftragt, mich bei allem zu unterstützen, aber ich will, dass du verstehst, dass, obwohl es sich um Kardinalprozesse handelt, beide Fälle in meine Zuständigkeit fielen, ist das klar?"
    
  -Kristallklar.
    
  - Es wäre besser, "así" zu sagen. War die Vorgehensweise dieselbe?
    
  - Was meine detektivischen Fähigkeiten angeht, ja. Die Leiche lag am Fuße des Altars. Ihm fehlten die Augen. Seine Hände waren, wie hier, abgetrennt und auf die Leinwand neben der Leiche gelegt. Unten. Es war widerlich. Ich habe die Leiche selbst in den Sack gesteckt und zum Krematoriumsofen getragen. Glaub mir, ich habe die ganze Nacht unter der Dusche verbracht.
    
  - Ein kleiner, maskuliner Pontiero würde ihm gut stehen.
    
    
  Vier lange Stunden nach dem Ende der Gerichtsverhandlung gegen Kardinal de Robair konnten die Dreharbeiten beginnen. Auf ausdrücklichen Wunsch von Regisseur Boy verpackte das Team von Análisis die Leiche in einen Plastiksack und transportierte sie in die Leichenhalle, damit das medizinische Personal den Anzug des Kardinals nicht sah. Es war klar, dass dies ein Sonderfall war und die Identität des Verstorbenen geheim bleiben musste.
    
  An Gut alle .
    
    
    
    
  Instituto Saint Matthew
    
  Silver Spring, Maryland
    
    September 1994
    
    
    
    TRANSKRIPT DES INTERVIEWS #5 ZWISCHEN PATIENTEN #3643 UND DR. CANIS CONROY.
    
    
    DR. CONROY: Guten Morgen, Viktor. Willkommen in meiner Praxis. Geht es Ihnen besser?
    
  #3643 : Ja, danke, Doktor.
    
  DR. CONROY: Möchten Sie etwas trinken?
    
  #3643 : Nein, danke.
    
  DOKTOR CONROY: Nun, ein Priester, der nicht trinkt ... das ist ein völlig neues Phänomen. Es kümmert ihn nicht, dass ich ...
    
  #3643 : Nur zu, Doktor.
    
  DR. CONROY: Ich nehme an, Sie haben einige Zeit in der Krankenstation verbracht.
    
  #3643 : Ich habe mir letzte Woche ein paar blaue Flecken zugezogen.
    
  DR. CONROY: Erinnern Sie sich, wer diese blauen Flecken bekommen hat?
    
  #3643: Natürlich, Doktor. Es geschah während des Streits im Untersuchungszimmer.
    
    D.R. CONROY: Hábleme de ello, Viktor.
    
    #3643: Ich habe keine Mühen gescheut, die von Ihnen empfohlene Plethysmographie durchführen zu lassen.
    
    D.R. CONROY: Erwarten Sie, dass der Prüfvorschlag gekommen ist, Viktor?
    
    #3643 : Ermitteln Sie die Ursachen meines Problems.
    
  DR. CONROY: Effektiv, Viktor. Zuzugeben, dass man ein Problem hat, ist definitiv ein Fortschritt.
    
  #3643: Doktor, ich wusste schon immer, dass Sie ein Problem haben. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich freiwillig im Saint Centro bin.
    
  DR. CONROY: Das ist ein Thema, das ich sehr gerne persönlich mit Ihnen in diesem ersten Gespräch besprechen würde, versprochen. Aber nun lasst uns zu etwas anderem übergehen.
    
  #3643 : Ich kam herein und zog mich aus.
    
    D.R. CONROY: ¿So le incomodó?
    
    #3643 : Ja.
    
  DOKTOR CONROY: Dies ist ein ernster Test. Sie müssen dafür nackt sein.
    
  #3643 : Ich sehe dafür keine Notwendigkeit.
    
  DOKTOR CONROY: Das Psychó-Logo erfordert, dass Medición-Werkzeuge an einer normalerweise unzugänglichen Stelle Ihres Körpers platziert werden. Deshalb mussten Sie nackt sein, Victor.
    
  #3643 : Ich sehe dafür keine Notwendigkeit.
    
  DR. CONROY: Nun, nehmen wir einmal an, es wäre notwendig gewesen.
    
  #3643 : Wenn Sie das sagen, Doktor.
    
    D.R. CONROY: Was ist Ihnen gelungen?
    
  #3643 : Lay manche Cables ahí.
    
  D.R. CONROY: ¿En donde, Viktor?
    
    #3643 : Das weißt du schon.
    
  DR. CONROY: Nein, Victor, ich weiß es nicht, und ich möchte, dass du es mir sagst.
    
  #3643 : In meinem Fall.
    
  D.R. CONROY: Kann das mehr explizit sein, Viktor?
    
  #3643 : Auf meinem... Schwanz.
    
  DR. CONROY: Okay, Victor, das ist richtig. Es ist der Penis, das männliche Organ, das zum Geschlechtsverkehr und zum Wasserlassen dient.
    
  #3643 : In meinem Fall fällt es unter die zweite Kategorie, Doktor.
    
    D.R. CONROY: Ist es sicher, Viktor?
    
    #3643 : Sí.
    
  DOKTOR CONROY: Du warst nicht immer so, Victor.
    
  #3643: Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Ich möchte, dass sie sich ändert.
    
  DR. CONROY: Wozu?
    
  #3643 : Weil es Gottes Wille ist.
    
  DR. CONROY: Glauben Sie wirklich, dass Gottes Wille damit irgendetwas zu tun hat, Victor? Mit Ihrem Problem?
    
  #3643 : Gottes Wille gilt für alles.
    
  DR. CONROY: Ich bin auch Priester, Victor, und ich glaube, dass Gott manchmal der Natur ihren Lauf lässt.
    
  #3643 : Die Natur ist eine erleuchtete Erfindung, die in unserer Religion keinen Platz hat, Doktor.
    
  DOKTOR CONROY: Gehen wir zurück in den Untersuchungsraum, Victor. Kuéntemé kué sintió, als sie ihm den Draht anschlossen.
    
  #3643 : Psychedelisches Zehner-Logo in den Händen eines Freaks.
    
  D.R. CONROY: Solo frío, nicht mehr?
    
  #3643 : Нада мáс.
    
  DR. CONROY: Und ab wann erschienen meine Gene auf dem Bildschirm?
    
  #3643: Ich habe auch nichts gespürt.
    
  DR. CONROY: Wissen Sie, Victor, ich habe diese Plethysmographie-Ergebnisse, und sie zeigen hier und hier bestimmte Reaktionen. Sehen Sie die Spitzenwerte?
    
  #3643 : Ich habe eine Abneigung gegen bestimmte Immunogene.
    
  DR. CONROY: Asco, Viktor?
    
  (Hier folgt eine einminütige Pause)
    
  DR. CONROY: Ich habe so viel Zeit, wie Sie zum Beantworten benötigen, Victor.
    
  #3643: Ich war von meinen sexuellen Genen angewidert.
    
    D.R. CONROY: ¿Alguna en konkret, Viktor?
    
  #3643 : Alle Sie .
    
  D.R. CONROY: ¿Sabe porqué le molestaron?
    
    #3643 : Weil sie Gott beleidigen.
    
  DR. CONROY: Und dennoch registriert die Maschine anhand der identifizierten Gene einen Knoten in Ihrem Penis.
    
  #3643 : Das ist unmöglich.
    
  DR. CONROY: Er wurde beim Anblick von Ihnen erregt und benutzte vulgäre Worte.
    
  #3643: Diese Ausdrucksweise beleidigt Gott und seine Würde als Priester. Lang...
    
  D.R. CONROY: Was ist los, Viktor?
    
  #3643 : Nichts.
    
  DR. CONROY: Haben Sie gerade einen hellen Blitz gespürt, Victor?
    
  #3643 : Nein, Doktor.
    
  DR. CONROY: ¿ Noch ein Fall von Cinthia im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Ausbruch?
    
  #3643: Was kommt sonst noch von Gott?
    
  DOKTOR CONROY: Richtig, entschuldigen Sie meine Ungenauigkeit. Sie sagen also, dass das, als ich neulich den Kopf meines Psychologen gegen das Armaturenbrett schlug, ein Gewaltausbruch war?
    
  #3643: Dieser Mann wurde von mir verführt. "Wenn dich dein rechtes Auge zum Fall bringt, so sei es", sagt der Priester.
    
    D.R. CONROY: Mateo, Kapitel 5, Versiculo 19.
    
    #3643 : In der Tat.
    
  DR. CONROY: Und das Auge? Bei Augenschmerzen?
    
  #3643 : Ich verstehe ihn nicht.
    
  DOKTOR CONROY: Dieser Mann heißt Robert, er hat eine Frau und eine Tochter. Sie bringen ihn ins Krankenhaus. Ich habe ihm die Nase und sieben Zähne gebrochen und ihm einen schweren Schock zugefügt, aber Gott sei Dank konnten die Wachen Sie rechtzeitig retten.
    
  #3643 : Ich glaube, ich bin ein bisschen grausam geworden.
    
  DR. CONROY: Glauben Sie, ich könnte jetzt gewalttätig werden, wenn meine Hände nicht an den Armlehnen des Stuhls festgeschnallt wären?
    
  #3643 : Wenn Sie möchten, dass wir es herausfinden, Doktor.
    
  DR. CONROY: Wir sollten dieses Interview beenden, Victor.
    
    
    
    
    Städtische Leichenhalle
    
    Dienstag , 5. April 2005 , 20:32 Uhr.
    
    
    
    Der Autopsieraum war ein düsterer Ort, in einem unpassenden Grauviolett gestrichen, was ihn nicht gerade aufhellte. Ein sechsflammiger Scheinwerfer stand auf dem Seziertisch und gab dem Kadetten die Möglichkeit, seine letzten Momente des Ruhms vor vier Zuschauern zu erleben, die entscheiden würden, wer ihn von der Bühne holte.
    
  Pontiero verzog angewidert das Gesicht, als der Gerichtsmediziner die Statuette von Kardinal Robaira auf das Tablett legte. Ein widerlicher Geruch erfüllte den Obduktionsraum, als ich begann, ihn mit dem Skalpell zu öffnen. Der Gestank war so stark, dass er selbst den Geruch von Formaldehyd und Alkohol überdeckte, mit denen alle die Instrumente desinfizierten. Dikanti fragte sich absurd, welchen Sinn diese gründliche Reinigung der Instrumente vor den Schnitten hatte. Alles in allem schien es nicht so, als würde sich der Tote mit Bakterien oder irgendetwas anderem infizieren.
    
  -Hey, Pontiero, weißt du, warum der Cruzó el Bebé auf der Straße liegen geblieben ist?
    
  -Ja, Dottore, weil ich an dem Huhn hing. Er erzählte mir sechs, nein, sieben Mal im Jahr davon. Kennst du keinen anderen Witz?
    
  Der Gerichtsmediziner summte leise vor sich hin, während er die Schnitte machte. Er sang sehr gut, mit einer rauchigen, süßen Stimme, die Paola an Louis Armstrong erinnerte. " Also sang ich den Gesang aus der Zeit von ‚What a Wonderful World"." Er summte den Gesang, während er die Schnitte machte.
    
  "Der einzige Witz ist, Ihnen dabei zuzusehen, wie Sie sich so sehr bemühen, nicht in Tränen auszubrechen, Vizepräsident. He he he. Glauben Sie nicht, ich fände das alles nicht amüsant. He é ste gave his..."
    
  Paola und Dante blickten sich über dem Leichnam des Kardinals an. Der Gerichtsmediziner, ein überzeugter alter Kommunist, war ein Vollblutprofi, doch manchmal ließ ihn sein Respekt vor den Toten im Stich. Sie trauerte sichtlich tief um Robairas Tod, etwas, was Dikanti bei Miss Minima Grace nicht getan hatte.
    
  "Dottore, ich muss Sie bitten, die Leiche zu untersuchen und nichts zu unternehmen. Sowohl unser Gast, Superintendent Dante, als auch ich finden seine vermeintlichen Versuche, sich zu amüsieren, anstößig und unangemessen."
    
  Der Gerichtsmediziner starrte Dikanti an und untersuchte weiter den Inhalt der Kiste der Magierin Robaira, vermied aber weitere unhöfliche Bemerkungen, obwohl er mit zusammengebissenen Zähnen alle Anwesenden und seine Vorfahren verfluchte. Paola hörte ihm nicht zu, da sie sich Sorgen um Pontieros Gesicht machte, dessen Farbe zwischen weiß und grünlich schwankte.
    
  "Maurizio, ich weiß nicht, warum du so sehr leidest. Du hast Blut noch nie vertragen."
    
  - Verdammt nochmal, wenn dieser Mistkerl mir widerstehen kann, kann ich das auch.
    
  - Du wärst überrascht zu erfahren, wie viele Autopsien ich schon miterlebt habe, meine zarte Kollegin.
    
  - Ach ja? Nun, ich erinnere dich daran, dass du wenigstens noch einen übrig hast, obwohl ich ihn, glaube ich, lieber mag als du...
    
  "Oh Gott, jetzt geht"s schon wieder los", dachte Paola und versuchte, zwischen den beiden zu schlichten. Sie waren wie alle anderen angezogen. Dante und Pontiero hatten sich von Anfang an nicht ausstehen können, aber ehrlich gesagt, mochte die Unterinspektorin niemanden, der Hosen trug und ihr zu nahe kam. Ich wusste, er sah sie wie eine Tochter, aber manchmal übertrieb er. Dante war ein etwas raubeiniger Kerl und sicherlich nicht der witzigste, aber im Moment konnte er die Zuneigung seiner Freundin nicht erwidern. Was ich nicht verstehe, ist, wie jemand wie der Superintendent diese Position bei der Aufsichtsbehörde annehmen konnte. Seine ständigen Witze und seine bissige Zunge bildeten einen zu starken Kontrast zu dem grauen, geräuschlosen Wagen von Generalinspektor Sirin.
    
  -Vielleicht werden meine verehrten Besucher den Mut aufbringen, der Autopsie, zu der Sie gekommen sind, genügend Aufmerksamkeit zu schenken.
    
  Die heisere Stimme des Gerichtsmediziners holte Dikanti in die Realität zurück.
    
  "Bitte fahren Sie fort", sagte ich und warf den beiden Polizisten einen eisigen Blick zu, um sie zum Aufhören des Streits zu bewegen.
    
  - Nun ja, ich habe seit dem Frühstück fast nichts mehr gegessen, und alles deutet darauf hin, dass ich es sehr früh getrunken habe, denn ich habe kaum noch Reste gefunden.
    
  - Entweder man verpasst also das Essen oder man gerät frühzeitig in die Hände des Mörders.
    
  "Ich bezweifle, dass er Mahlzeiten ausgelassen hat ... er ist offensichtlich daran gewöhnt, gut zu essen. Ich lebe, wiege etwa 92 kg und bin 1,83 m groß."
    
  "Das sagt uns, dass der Mörder ein kräftiger Kerl ist. Robaira war kein kleines Mädchen", warf Dante ein.
    
  "Von der Hintertür der Kirche bis zur Kapelle sind es vierzig Meter", sagte Paola. "Jemand muss gesehen haben, wie der Mörder Gaddafi in die Kirche einführte. Pontiero, tu mir einen Gefallen. Schick vier vertrauenswürdige Agenten in die Gegend. Sie sollen Zivilkleidung tragen, aber ihre Abzeichen. Sag ihnen nicht, dass das passiert ist. Sag ihnen, es habe einen Raubüberfall in der Kirche gegeben, und lass sie herausfinden, ob jemand in der Nacht etwas gesehen hat."
    
  -Halte unter den Pilgern Ausschau nach einem Wesen, das Zeit verschwendet.
    
  "Nun, tun Sie das nicht. Lassen Sie sie die Nachbarn fragen, insbesondere die älteren. Die tragen normalerweise helle Kleidung."
    
  Pontiero nickte und verließ den Autopsieraum, sichtlich erleichtert, nicht alles fortsetzen zu müssen. Paola sah ihm nach, und als sich die Türen hinter ihm schlossen, wandte er sich Dante zu.
    
  - Darf ich fragen, was mit Ihnen los ist, falls Sie vom Vatikan kommen? Pontiero ist ein mutiger Mann, der Blutvergießen nicht ausstehen kann, das ist alles. Ich bitte Sie inständig, diesen absurden Wortwechsel zu beenden.
    
  "Wow, da sind aber viele Schwätzer in der Leichenhalle", kicherte der Gerichtsmediziner.
    
  "Sie tun Ihre Arbeit, Dottore, und wir folgen nun Ihren Anweisungen. Ist Ihnen alles klar, Dante?"
    
  "Beruhigen Sie sich, Herr Polizeichef", verteidigte sich der Superintendent und hob die Hände. "Ich glaube nicht, dass Sie verstehen, was hier vor sich geht. Wenn Manana selbst mit einer brennenden Pistole in der Hand Schulter an Schulter mit Pontiero in den Raum hätte kommen müssen, hätte sie es zweifellos getan."
    
  "Können wir dann herausfinden, warum er sich auf sie einlässt?", fragte Paola völlig verwirrt.
    
  Weil es Spaß macht. Ich bin sicher, er genießt es auch, wütend auf mich zu sein. Schwanger.
    
  Paola schüttelt den Kopf und murmelt etwas Unfreundliches über Männer.
    
  -Also, fahren wir fort. Doktor, wissen Sie bereits den Zeitpunkt und die Todesursache?
    
  Der Gerichtsmediziner prüft seine Akten.
    
  "Ich weise darauf hin, dass dies ein vorläufiger Bericht ist, aber ich bin mir fast sicher. Der Kardinal starb gestern Abend, Montag, gegen 21 Uhr. Die Fehlertoleranz beträgt eine Stunde. Ich starb mit einem Kehlschnitt. Der Schnitt wurde, glaube ich, von einem Mann von seiner Größe ausgeführt. Über die Waffe kann ich nichts sagen, außer dass sie mindestens fünfzehn Zentimeter entfernt war, eine glatte Schneide hatte und sehr scharf war. Es könnte ein Rasiermesser gewesen sein, ich weiß es nicht."
    
  "Und die Wunden?", fragte Dante.
    
  -Die Ausweidung der Augen erfolgte posthum, ebenso wie die Verstümmelung der Zunge.
    
  "Ihm die Zunge herausreißen? Mein Gott!", Dante war entsetzt.
    
  "Ich glaube, das wurde mit einer Zange gemacht, Disponent. Wenn Sie fertig sind, stopfen Sie die Öffnung mit Toilettenpapier aus, um die Blutung zu stoppen. Dann habe ich es entfernt, aber es blieben noch Zellulosereste zurück. Hallo, Dikanti, du überraschst mich. Er schien nicht sonderlich beeindruckt."
    
  -Nun ja, ich habe schon Schlimmeres gesehen.
    
  "Also, ich zeige dir mal was, was du wahrscheinlich noch nie gesehen hast. Ich hab sowas noch nie gesehen, und davon gibt's ja schon genug." Mit erstaunlicher Geschicklichkeit führte er seine Zunge in ihren After ein. Danach wischte ich das Blut von allen Seiten ab. Ich hätte es gar nicht bemerkt, wenn ich nicht hineingeschaut hätte.
    
  Der Gerichtsmediziner wird ihnen einige Fotos der abgetrennten Zunge zeigen.
    
  "Ich habe es in Eis gelegt und ins Labor geschickt. Bitte fertigen Sie eine Kopie des Berichts an, sobald er da ist, Disponent. Ich verstehe nicht, wie mir das passieren konnte."
    
  "Kümmere dich nicht darum, ich kümmere mich persönlich darum", versicherte Dikanti ihm. "Was ist denn mit deinen Händen los?"
    
  "Das waren postmortale Verletzungen. Die Schnitte sind nicht sehr sauber. Hier und da sind Spuren von Zögern zu erkennen. Wahrscheinlich hat es ihn das Leben gekostet ... oder er befand sich in einer ungünstigen Position."
    
  - Liegt da irgendetwas unter den Füßen?
    
  -Die Luft. Die Hände sind blitzsauber. Ich vermute, sie waschen sie mit einem Spritzer. Ich meine, einen deutlichen Lavendelduft zu riechen.
    
  Paola bleibt nachdenklich.
    
  - Dottore, Ihrer Meinung nach, wie lange hat der Mörder gebraucht, um éstas die Wunden des Opfers zuzufügen?
    
  - Nun, daran hast du nicht gedacht. Lass mich mal sehen, lass mich nachzählen.
    
  Der alte Mann verschränkt nachdenklich die Hände, die Unterarme auf Hüfthöhe, die Augenhöhlen, der entstellte Mund. Ich summe weiter vor mich hin, wieder etwas von den Moody Blues. Paola wusste die Tonart von Lied Nr. 243 nicht mehr.
    
  "Nun ja, er betet ... zumindest brauchte er eine halbe Stunde, um seine Hände abzunehmen und abzutrocknen, und etwa eine Stunde, um seinen ganzen Körper zu waschen und sich anzuziehen. Es ist unmöglich zu berechnen, wie lange er das Mädchen gequält hat, aber es scheint sehr lange gedauert zu haben. Ich versichere Ihnen, er war mindestens drei Stunden mit dem Mädchen zusammen, und wahrscheinlich länger."
    
  Ein ruhiger, geheimer Ort. Ein abgelegener Ort, fernab neugieriger Blicke. Und isoliert, denn Robaire muss geschrien haben. Welchen Laut macht ein Mann, dem Augen und Zunge herausgerissen wurden? Natürlich einen gewaltigen. Sie mussten die Zeit verkürzen, bestimmen, wie viele Stunden der Kardinal in den Händen des Mörders gewesen war, und die Zeit abziehen, die er für die Tat benötigt hatte. Sobald man den Radius der biquadratischen Funktion reduziert hat - vorausgesetzt, der Mörder hatte sich nicht in der Wildnis versteckt gehalten -, ...
    
  - Ja, die Kollegen haben keine Spuren gefunden. Haben Sie vor dem Abwaschen etwas Ungewöhnliches festgestellt, etwas, das zur Analyse eingeschickt werden muss?
    
  -Nichts Ernstes. Ein paar Stofffasern und ein paar Flecken, möglicherweise Make-up, am Hemdkragen.
    
  -Make-up? Interessant. Ein Mörder sein?
    
  "Nun, Dikanti, vielleicht ist unser Kardinal ja insgeheim vor allen verborgen", sagte Dante.
    
  Paola miro blickte schockiert in die Augen. Gerichtsmediziner Rio knirschte mit den Zähnen, unfähig, klar zu denken.
    
  "Oh, warum sollte ich jemand anderem nachstellen?", beeilte sich Dante zu sagen. "Ich meine, er war wahrscheinlich sehr um sein Image besorgt. Schließlich wird man in einem gewissen Alter zehn Jahre alt ..."
    
  - Das ist immer noch ein bemerkenswertes Detail. Hat Algíalgún irgendwelche Spuren von Make-up im Gesicht?
    
  "Nein, aber der Mörder hätte es abwaschen oder zumindest das Blut aus ihren Augenhöhlen wischen müssen. Ich sehe mir das genau an."
    
  "Dottore, schicken Sie vorsichtshalber eine Kosmetikprobe an das Labor. Ich möchte die Marke und den genauen Farbton wissen."
    
  "Es kann einige Zeit dauern, wenn sie keine vorbereitete Datenbank haben, die sie mit der von uns gesendeten Probe vergleichen können."
    
  -Schreiben Sie in den Arbeitsauftrag, dass das Vakuum gegebenenfalls sicher und ordnungsgemäß befüllt werden soll. Das ist die Anweisung, die Direktor Boya besonders mag. Was sagt er mir zu Blut oder Sperma? Hat es geklappt?
    
  "Absolut nicht. Die Kleidung des Opfers war sehr sauber, und daran wurden Spuren desselben Bluttyps gefunden. Natürlich war es sein eigenes."
    
  - Irgendetwas auf deiner Haut oder in deinen Haaren? Sporen, irgendetwas?
    
  "Ich habe Klebereste an den Überresten der Kleidung gefunden. Ich vermute, der Mörder hat den Kardinal nackt ausgezogen, ihn mit Klebeband gefesselt, bevor er ihn folterte, und ihn dann wieder angezogen. Waschen Sie die Leiche, aber tauchen Sie sie nicht in Wasser, verstanden?"
    
  Der Gerichtsmediziner fand an der Seite von de Robairas Stiefel einen dünnen weißen Kratzer, der von einem Schlag stammte, sowie eine trockene Wunde.
    
  -Gib ihm einen Schwamm mit Wasser und tupfe ihn ab, aber mach dir keine Sorgen, wenn er viel Wasser hat oder diesem Teil nicht viel Aufmerksamkeit schenkt, da sonst zu viel Wasser und viele Schläge auf den Körper gelangen.
    
  -¿А tip udarón?
    
  "Es ist einfacher, natürlicher zu sein als mit Make-up, aber es fällt auch weniger auf. Es ist wie ein Hauch von Lavendel im Vergleich zu normalem Make-up."
    
  Paola seufzte. Es stimmte.
    
  -Das ist alles?
    
  "Es befinden sich auch einige Klebereste im Gesicht, aber nur sehr wenige. Das ist alles. Der Verstorbene war übrigens stark kurzsichtig."
    
  - Und was hat das mit der Angelegenheit zu tun?
    
  "Dante, verdammt noch mal, mir geht's gut." Die Brille fehlte.
    
  "Natürlich brauchte ich eine Brille. Ich werde ihm die verdammten Augen ausreißen, aber die Brille wird nicht umsonst sein?"
    
  Der Gerichtsmediziner trifft sich mit dem Polizeidirektor.
    
  - Also, hören Sie, ich will Ihnen nicht vorschreiben, Ihre Arbeit zu machen, ich sage Ihnen nur, was ich sehe.
    
  -Alles ist in Ordnung, Doktor. Zumindest bis ich den vollständigen Bericht habe.
    
  - Selbstverständlich, Disponent.
    
  Dante und Paola überließen den Gerichtsmediziner seinem Leichenbeschauer und seinen Jazz-Klischees und gingen hinaus in den Flur, wo Pontiero dem Handy kurze, lakonische Befehle zurief. Nachdem sie aufgelegt hatte, wandte sich der Inspektor an beide.
    
  Okay, also, wir machen Folgendes: Dante, geh zurück in dein Büro und verfasse einen Bericht mit allem, woran du dich vom Tatort des ersten Verbrechens erinnern kannst. Ich würde es vorziehen, wenn er allein wäre, so wie er es war. Das ist einfacher. Nimm alle Fotos und Beweismittel mit, die dir dein weiser und aufgeklärter Vater anvertraut hat. Und komm sofort zum UACV-Hauptquartier, sobald du fertig bist. Ich fürchte, das wird eine sehr lange Nacht.
    
    
    
    
    
  Nicks Frage: Beschreiben Sie in weniger als 100 Wörtern die Bedeutung der Zeit beim Aufbau eines Strafverfahrens. Ziehen Sie Ihre eigene Schlussfolgerung und setzen Sie die Variablen in Bezug zur Erfahrung des Täters. Sie haben zwei Minuten Zeit, die Sie bereits ab dem Umblättern der Seite heruntergezählt haben.
    
    
  Antwort: Die benötigte Zeit für:
    
    
  a) Opfer eliminieren
    
  b) Interaktion mit CAD/CAM-Systemen.
    
  c) seine Spuren am Körper beseitigen und ihn loswerden
    
    
  Kommentar: Meines Erachtens wird Variable a) durch die Fantasien des Mörders bestimmt, Variable b) trägt dazu bei, seine verborgenen Motive aufzudecken, und c) bestimmt seine Fähigkeit zur Analyse und Improvisation. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wenn der Mörder mehr Zeit damit verbringt, ...
    
    
  a) hat ein durchschnittliches Niveau (3 Kriminalität)
    
  b) Er ist ein Experte (4 oder mehr Straftaten)
    
  c) Er ist ein Neuling (erstes oder zweites Vergehen).
    
    
    
    
  UACCV-Hauptsitz
    
  Via Lamarmora, 3
    
  Dienstag, 5. April 2005, 22:32 Uhr.
    
    
    
  - Mal sehen, was wir haben?
    
  - Zwei Kardinäle wurden auf schreckliche Weise getötet, Dikanti.
    
  Dikanti und Pontiero aßen im Café zu Mittag und tranken Kaffee im Konferenzraum des Labors. Trotz seiner modernen Einrichtung wirkte der Raum grau und trostlos. Der bunte Anblick im Raum lenkte ihren Blick auf die Hunderte von Tatortfotos, die vor ihnen ausgebreitet waren. Auf einer Seite des großen Tisches im Wohnzimmer standen vier Plastiktüten mit Spurenmaterial. Mehr wissen Sie im Moment nicht, außer dem, was Dante Ihnen über das erste Verbrechen erzählt hat.
    
  Okay, Pontiero, fangen wir mit Robaira an. Was wissen wir über ihn?
    
  "Ich habe in Buenos Aires gelebt und gearbeitet. Wir landen am Sonntagmorgen mit einem Flug von Aerolíneas Argentinas. Nehmen Sie Ihr vor ein paar Wochen gekauftes Ticket mit offener Buchung und warten Sie bis Samstag, 13 Uhr. Angesichts der Zeitverschiebung vermute ich, dass der Heilige Vater zu dieser Zeit gestorben ist."
    
  -Hin- und zurück?
    
  - Nur Ida.
    
  "Das Merkwürdige ist ... entweder war der Kardinal sehr kurzsichtig, oder er kam mit großen Hoffnungen an die Macht. Maurizio, du kennst mich: Ich bin nicht besonders religiös. Weißt du etwas über Robairas Potenzial als Papst?"
    
  -Schon gut. Ich habe ihm vor einer Woche etwas darüber vorgelesen, ich glaube in La Stampa. Sie meinten, er stünde gut da, aber er gehöre nicht zu den Topfavoriten. Nun ja, es sind eben die italienischen Medien. Sie machen unsere Kardinäle darauf aufmerksam. Es geht um Portini sí habíleído und vieles mehr.
    
  Pontiero war ein Familienmensch von tadelloser Integrität. Soweit Paola es beurteilen konnte, war er ein guter Ehemann und Vater. "Ich ging jeden Sonntag wie ein Uhrwerk zur Messe." Wie pünktlich war doch seine Einladung, ihn nach Arles zu begleiten, die Dikanti unter verschiedensten Vorwänden ablehnte. Manche waren gut, manche schlecht, aber keiner war stichhaltig. Pontiero wusste, dass der Inspektor nicht viel Glauben hatte. Er war vor zehn Jahren mit seinem Vater in den Himmel gegangen.
    
  "Etwas beunruhigt mich, Maurizio. Es ist wichtig zu wissen, welche Art von Desillusionierung den Mörder und die Kardinäle verbindet. Hasst er die Farbe Rot, ist er ein verrückter Seminarist oder hasst er einfach nur kleine runde Hüte?"
    
  -Kardinal Capello.
    
  "Vielen Dank für die Klarstellung. Ich vermute, es besteht ein Zusammenhang zwischen den beiden Dingen. Kurz gesagt, wir werden auf diesem Weg nicht weit kommen, ohne eine vertrauenswürdige Quelle zu konsultieren. Mama Ana Dante muss uns den Weg ebnen, um mit jemandem in einer höheren Position der Kurie zu sprechen. Und wenn ich "höher" sage, meine ich wirklich "höher".
    
  -Sei nicht oberflächlich.
    
  "Das werden wir sehen. Konzentrieren wir uns jetzt erst einmal auf die Tests mit den Affen. Fangen wir damit an, dass wir wissen, dass Robaira nicht in der Kirche gestorben ist."
    
  "Es war wirklich sehr wenig Blut. Er hätte woanders sterben sollen."
    
  "Der Mörder musste die Kardinalin sicherlich für eine gewisse Zeit an einem abgelegenen und geheimen Ort gefangen halten, wo er die Leiche benutzen konnte. Wir wissen, dass er irgendwie ihr Vertrauen gewinnen musste, damit das Opfer diesen Ort freiwillig betrat. Von Ahí, movió el Caddiáver nach Santa Maria in Transpontina, offensichtlich aus einem bestimmten Grund."
    
  -Und was ist mit der Kirche?
    
  "Sprechen Sie mit dem Priester. Er schloss die Tür für Gespräche und Gesang, sobald er zu Bett ging. Er erinnert sich, dass er sich bei seiner Ankunft der Polizei öffnen musste. Aber es gibt noch eine zweite Tür, eine sehr kleine, die zur Via dei Corridori führt. Das war vermutlich der fünfte Eingang. Haben Sie dort nachgesehen?"
    
  "Das Schloss war intakt, aber es war modern und stabil. Aber selbst wenn die Tür weit offen gestanden hätte, sehe ich nicht, wie der Mörder hätte hineinkommen können."
    
  -Warum?
    
  Ist dir aufgefallen, wie viele Leute vor der Tür in der Via della Conciliazione standen? Die Straße ist ja wahnsinnig voll. Voller Pilger. Ja, die haben sie sogar für den Verkehr gesperrt. Sag bloß nicht, der Mörder sei mit einem Sprengstoffmesser in der Hand reingekommen, damit es jeder sehen konnte.
    
  Paola dachte einige Sekunden nach. Vielleicht war dieser Zustrom von Menschen die beste Tarnung für den Mörder, aber war er oder sie hineingekommen, ohne die Tür aufzubrechen?
    
  "Pontiero, herauszufinden, was unsere Priorität ist, ist eine unserer Prioritäten. Ich finde das sehr wichtig. Morgen gehen wir zu Bruder ¿sómo, wie hieß er noch gleich?"
    
  -Francesco Toma, Karmelitermönch.
    
  Der junge Inspektor nickte langsam und machte sich Notizen in seinem Notizbuch.
    
  - Dazu. Andererseits gibt es da einige unheimliche Details: die Botschaft an der Wand, die abgetrennten Hände auf der Leinwand ... und diese türkisfarbenen Taschen. Erzähl weiter.
    
  Pontiero begann zu lesen, während Inspektor Dikanti Bolu Grafs Testbericht ausfüllte. Ein hochmodernes Büro und zehn Relikte des 20. Jahrhunderts, wie diese veralteten Druckwerke.
    
  Die Untersuchung ist einfach 1. Diebstahl. Ein rechteckiges Stück besticktes Tuch, das von katholischen Priestern im Sakrament der Beichte verwendet wird. Es wurde, vollständig mit Blut bedeckt, am Mund eines Beichtvaters hängend gefunden. Die Blutgruppe stimmt mit der Opfergruppe überein. Die DNA-Analyse läuft.
    
  Es war ein bräunliches Objekt, das ich im Dämmerlicht der Kirche nicht erkennen konnte. Die DNA-Analyse dauerte mindestens zwei Monate, da UACV über eines der modernsten Labore der Welt verfügt. Dikanti lachte oft, während er CSI 6 im Fernsehen sah. Ich hoffe, die Tests werden genauso schnell bearbeitet wie in amerikanischen Fernsehserien.
    
  -Untersuchung núprosto 2. Weiße Leinwand. Herkunft unbekannt. Material: Algodón. Spuren von Blut, jedoch sehr gering. Auf dem él wurden abgetrennte Hände eines Opfers gefunden. Die Sanguíneo-Gruppe stimmt mit der Opfergruppe überein. Die DNA-Analyse läuft.
    
  -Zunächst einmal, ist ¿Robaira Griechisch oder Latein? -dudó Dicanti.
    
  - Mit Griechisch, glaube ich.
    
  -Okay, bitte, Maurizio.
    
  -Expertise #3. Ein zerknittertes Stück Papier, etwa so groß wie drei Cent-Münzen, befindet sich in der linken Augenhöhle am fünften Augenlid. Papierart, Zusammensetzung, Fettgehalt und Chlorgehalt werden untersucht. Buchstaben werden von Hand und mit einem Zeichenbecher auf das Papier geschrieben.
    
    
    
    
  "M T 16", sagte Dikanti. "In welche Richtung gehen Sie?"
    
  "Das Papier wurde blutbefleckt und zusammengerollt gefunden. Es ist eindeutig eine Botschaft des Mörders. Das Fehlen von Augen auf dem Opfer ist vielleicht weniger eine Strafe für ihn als vielmehr ein Hinweis ... als ob er uns sagen wollte, wo wir suchen sollen."
    
  Oder dass wir blind sind.
    
  "Ein brutaler Killer ... der erste seiner Art in Italien. Ich glaube, deshalb wollte ich, dass du auf dich selbst aufpasst, Paola. Keine gewöhnliche Ermittlerin, sondern jemand mit kreativem Denkvermögen."
    
  Dicantió dachte über die Worte des Unterinspektors nach. Wenn es stimmte, verdoppelte sich die Gefahr. Das Täterprofil erlaubte es ihm, auf sehr intelligente Menschen zu reagieren, und normalerweise war ich sehr schwer zu fassen, es sei denn, ich machte einen Fehler. Früher oder später passiert das jedem, aber im Moment füllten sie die Leichenhalle.
    
  Okay, lasst uns mal kurz nachdenken. Welche Straßen haben wir mit solchen Initialen?
    
  -Viale del Muro Torto...
    
  - Alles gut, er geht durch den Park und hat keinen Púmeros, Mauricio.
    
  - Auch der Monte Tarpeo, der durch die Gärten des Palazzo dei Conservatori führt, ist nicht lohnenswert.
    
  -¿Y Monte Testaccio?
    
  -Durch den Testaccio Park... es könnte sich lohnen.
    
  -Moment mal -Dicanti cogió el teléfono i Markó an nú simply intern- ¿Documentación? Oh, hallo, Silvio. Sehen Sie sich an, was im Monte Testaccio, 16, verfügbar ist. Und bitte bringen Sie uns die Via Roma hinunter zum Tagungsraum.
    
  Während sie warteten, zählte Pontiero weiterhin die Beweise auf.
    
  -Ganz zum Schluss (vorerst): Prüfung núsimply 4. Zerknülltes Papier von etwa drei mal drei Zentimetern. Es befindet sich in der unteren rechten Ecke des Blattes, unter idealen Bedingungen, unter denen der Test gerade durchgeführt wurde. 3. Die Papiersorte, ihre Zusammensetzung, ihr Fett- und Chlorgehalt sind in der folgenden Tabelle angegeben. Das Wort wird von Hand und mithilfe eines Schreibbechers auf das Papier geschrieben.
    
    
    
    
  - Undeviginti .
    
  - Verdammt, es ist wie ein puñetero ieroglifífiko -se desesperó Dikanti. Ich hoffe nur, das ist keine Fortsetzung der Nachricht aus dem ersten Teil, denn der erste Teil ist im Sande verlaufen.
    
  "Ich denke, wir müssen uns im Moment mit dem begnügen, was wir haben."
    
  -Ausgezeichnet, Pontiero. Warum erklärst du mir nicht, was undeviginti ist, damit ich es verstehen kann?
    
  "Deine Breiten- und Längengradangaben sind etwas eingerostet, Dikanti. Das bedeutet neunzehn."
    
  - Verdammt, es stimmt. Ich wurde ständig von der Schule suspendiert. Und der Pfeil?
    
  In diesem Moment betrat einer der Assistenten des Dokumentarfilmers aus der Rome Street den Raum.
    
  "Das ist alles, Inspektor. Ich habe nach dem gesucht, wonach ich gefragt habe: Monte Testaccio 16 existiert nicht. Es gibt vierzehn Portale in dieser Straße."
    
  "Danke, Silvio. Tu mir einen Gefallen, triff dich mit Pontiero hier und überprüfe, ob die Straßen Roms tatsächlich vom Berg aus beginnen. Es ist zwar nur ein Schuss ins Blaue, aber ich hatte da so eine Ahnung."
    
  "Hoffen wir, dass Sie ein besserer Psychopath sind, als Sie denken, Dr. Dikanti. Hari, Sie sollten sich besser eine Bibel besorgen."
    
  Alle drei wandten ihre Köpfe zur Tür des Versammlungsraums. Ein Priester stand im Türrahmen, gekleidet wie ein Geistlicher. Er war groß und hager, drahtig und hatte eine deutlich sichtbare Glatze. Er wirkte, als bestünde er aus fünfzig sehr gut erhaltenen Knochen, und seine Gesichtszüge waren fest und kräftig, charakteristisch für jemanden, der viele Sonnenaufgänge im Freien erlebt hatte. Dikanti fand, er sähe eher wie ein Soldat als wie ein Priester aus.
    
  "Wer sind Sie und was wollen Sie? Dies ist ein Sperrgebiet. Tun Sie mir einen Gefallen und verlassen Sie es sofort", sagte Pontiero.
    
  "Ich bin Pater Anthony Fowler, und ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen", sagte er in korrektem Italienisch, aber etwas stockend und zögernd.
    
  "Das sind Polizeistationen, und Sie sind ohne Erlaubnis eingedrungen. Wenn Sie uns helfen wollen, gehen Sie in die Kirche und beten Sie für unsere Seelen."
    
  Pontiero ging auf den eintreffenden Priester zu, um ihn in schlechter Laune zum Gehen aufzufordern. Dikanti hatte sich bereits wieder den Fotografien zugewandt, als Fowler das Wort ergriff.
    
  - Es stammt aus der Bibel. Genauer gesagt aus dem Neuen Testament, von mir.
    
  - Was? - Pontiero war überrascht.
    
  Dicanti alzó la cabeza und miró an Fowler.
    
  - Okay, erkläre mir was.
    
  -Matthäus 16,16. Das Matthäusevangelium, Abschnitt 16, Kapitel 237, Tul. Haben Sie noch weitere Anmerkungen?
    
  Pontiero scheint verärgert zu sein.
    
  - Hör mal, Paola, ich werde dir wirklich nicht zuhören...
    
  Dikanti unterbrach ihn mit einer Geste.
    
  - Hör zu, Mosle.
    
  Fowler betrat den Gerichtssaal. Er hielt einen schwarzen Mantel in der Hand und legte ihn auf einen Stuhl.
    
  Wie Sie wissen, ist das christliche Neue Testament in vier Bücher unterteilt: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. In der christlichen Bibliographie wird das Matthäusevangelium mit den Buchstaben Mt. bezeichnet. Die einfache Zahl unter nún bezieht sich auf Kapitel 237 des Evangeliums. Mit zwei núsimple más wird dasselbe Zitat zwischen zwei Versen mit derselben Zahl angegeben.
    
  -Der Mörder hat dies hinterlassen.
    
  Paola wird Ihnen Test Nr. 4 zeigen, verpackt in Plastik. Er starrte ihr in die Augen. Der Priester zeigte keinerlei Anzeichen, den Zettel zu erkennen, noch empfand er Abscheu angesichts des Blutes. Sie sah ihn aufmerksam an und sagte:
    
  - Neunzehn. Was angemessen ist.
    
  Pontiero war wütend.
    
  -Wirst du uns jetzt alles, was du weißt, sofort erzählen, oder lässt du uns lange warten, Vater?
    
    - Ich gebe dir die Schlüssel des Himmelreichs; was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein , und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein. Matthäus 16,19. Mit diesen Worten bestätige ich den heiligen Petrus als Haupt der Apostel und übertrage ihm und seinen Nachfolgern die Autorität über die gesamte Christenheit.
    
  - Santa Madonna - excamó Dicanti.
    
  "Angesichts dessen, was in dieser Stadt bevorsteht, sollten Sie, wenn Sie beten, meiner Meinung nach eher besorgt sein. Und noch vieles mehr."
    
  "Verdammt nochmal, irgendein Verrückter hat einem Priester die Kehle durchgeschnitten, und Sie schalten die Sirenen ein. Ich sehe da nichts Verwerfliches dran, Pater Fowler", sagte Pontiero.
    
  "Nein, mein Freund. Der Mörder ist kein verrückter Wahnsinniger. Er ist ein grausamer, zurückgezogener und intelligenter Mann, und er ist furchtbar geisteskrank, glaub mir."
    
  "Oh ja? Er scheint viel über Ihre Motive zu wissen, Vater", kicherte der junge Inspektor.
    
  Der Priester blickt Dikanti aufmerksam an, während ich antworte.
    
  - Ja, viel mehr als das, bitte. Wer ist er?
    
    
    
    
    (ARTÍCULO EXTRAÍDO DEL DIARIO MARYLAND GAZETTE,
    
    
    
    29. JULI 1999 SEITE 7)
    
    
  Ein amerikanischer Priester, der des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurde, hat Selbstmord begangen.
    
    
    SILVER SPRING, Maryland (NACHRICHTENAGENTUREN) - Während die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs die katholische Geistlichkeit in Amerika weiterhin erschüttern, hat sich ein Priester aus Connecticut, der beschuldigt wurde, Minderjährige sexuell missbraucht zu haben, in seinem Zimmer in einem Pflegeheim, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen, erhängt, wie die örtliche Polizei der Zeitung American-Press am vergangenen Freitag mitteilte.
    
  Peter Selznick, 64, trat am 27. April des vergangenen Jahres, nur einen Tag vor seinem Geburtstag, von seinem Amt als Priester der St. Andrew's Parish in Bridgeport, Connecticut, zurück. Nachdem Vertreter der katholischen Kirche zwei Männer befragt hatten, die Selznick des Missbrauchs zwischen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre beschuldigten, bestätigte ein Sprecher der Kirche die Vorwürfe.
    
  Der Priester wurde im St. Matthew's Institute in Maryland behandelt, einer psychiatrischen Einrichtung, in der Insassen untergebracht sind, die des sexuellen Missbrauchs oder der "sexuellen Verwirrung" beschuldigt werden, wie die Einrichtung mitteilte.
    
  "Das Krankenhauspersonal klingelte mehrmals an Ihrer Tür und versuchte, Ihr Zimmer zu betreten, aber etwas blockierte die Tür", sagte Diane Richardson, Sprecherin der Polizei und des Grenzschutzes von Prince George"s County, auf einer Pressekonferenz. "Als sie das Zimmer betraten, fanden sie die Leiche an einem der freiliegenden Deckenbalken hängend vor."
    
  Selznick erhängte sich mit einem seiner Kopfkissen und bestätigte Richardson, dass sein Leichnam zur Autopsie in die Leichenhalle gebracht worden war. Er wies Gerüchte, CAD sei entkleidet und verstümmelt worden, kategorisch zurück - Gerüchte, die er als "völlig unbegründet" bezeichnete. Während der Pressekonferenz zitierten mehrere Journalisten "Augenzeugen", die behaupteten, solche Verstümmelungen gesehen zu haben. Eine Sprecherin erklärte, eine Krankenschwester des medizinischen Dienstes des Landkreises habe Verbindungen zu Drogen wie Marihuana und anderen Betäubungsmitteln, unter deren Einfluss sie diese Aussagen gemacht habe. Die betreffende Angestellte sei bis zur Beendigung dieser Verbindung vom Dienst suspendiert und bezahle nicht mehr, so die Sprecherin der Polizei. Saint Perióu Dicó konnte die besagte Krankenschwester kontaktieren, die sich weigerte, eine weitere Stellungnahme abzugeben; lediglich ein kurzes "Ich habe mich geirrt".
    
  Der Bischof von Bridgeport, William Lopez, bestätigte, dass er über Selznicks tragischen Tod "zutiefst betrübt" sei und fügte hinzu, dass die Kirche "glaubt, dass dies für den nordamerikanischen Zweig der Cat Church beunruhigend ist."#243Die Leakeys haben nun "mehrere Opfer".
    
  Pater Selznick wurde 1938 in New York City geboren und empfing 1965 in Bridgeport die Priesterweihe. Ich war in mehreren Pfarreien in Connecticut tätig und für kurze Zeit in der Pfarrei San Juan Vianney in Chiclayo, Peru.
    
  "Jeder Mensch, ohne Ausnahme, besitzt Würde und Wert in den Augen Gottes, und jeder Mensch braucht und verdient unser Mitgefühl", bekräftigt Lopez. "Die erschütternden Umstände seines Todes können all das Gute, das er bewirkt hat, nicht ungeschehen machen", schließt der Bischof.
    
  Pater Canis Conroy, Direktor des Saint Matthew Instituts, lehnte es ab, in Saint Periódico eine Stellungnahme abzugeben. Pater Anthony Fowler, Direktor des Instituts für Neue Programme, behauptet, Pater Conroy sei "unter Schock" gewesen.
    
    
    
  UACCV-Hauptsitz
    
  Via Lamarmora, 3
    
  Dienstag, 5. April 2005, 23:14 Uhr.
    
    
    
  Fowlers Aussage traf wie ein Schlag. Dikanti und Pontiero blieben stehen und starrten den kahlköpfigen Priester eindringlich an.
    
  - Darf ich mich setzen?
    
  "Es gibt genügend freie Stühle", sagte Paola. "Suchen Sie sich einen aus."
    
  Er deutete auf den Dokumentationsassistenten, der daraufhin ging.
    
  Fowler stellte eine kleine, schwarze Reisetasche mit ausgefransten Rändern und zwei Rosetten auf den Tisch. Die Tasche hatte schon viel von der Welt gesehen und erzählte deutlich von den Kilos, die ihr Doppelgänger mit sich herumschleppte. Er öffnete sie und zog einen geräumigen Aktenkoffer aus dunklem Karton mit Eselsohren und Kaffeeflecken heraus. Er stellte ihn auf den Tisch und setzte sich dem Inspektor gegenüber. Dikanti beobachtete ihn aufmerksam und bemerkte seine sparsamen Bewegungen und die Energie, die von seinen schwarzen Augen ausging. Sie war zutiefst fasziniert von der Herkunft dieses zusätzlichen Priesters, aber sie war entschlossen, sich nicht in die Enge treiben zu lassen, schon gar nicht in ihrem eigenen Revier.
    
  Pontiero nahm einen Stuhl, stellte ihn dem Pfarrer gegenüber auf und setzte sich links von ihm, die Hände auf der Lehne. Dikanti Tomó ermahnte ihn innerlich, endlich aufzuhören, Humphrey Bogarts Hintern nachzuahmen. Der Vizepräsident hatte "The Halcón Maltés" etwa dreihundert Mal gesehen. Er saß stets links von Personen, die er für verdächtig hielt, und rauchte neben ihnen zwanghaft eine ungefilterte Pall Mall nach der anderen.
    
  -Okay, Vater. Legen Sie uns ein Dokument vor, das Ihre Identität bestätigt.
    
  Fowler zog seinen Pass aus der Innentasche seiner Jacke und reichte ihn Pontiero. Wütend deutete er auf die Rauchwolke, die von der Zigarre des Unterinspektors aufstieg.
    
  "Wow, wow. Ein Diplompass. Hat der etwa Immunität? Was zum Teufel ist das, eine Art Spion?", fragt Pontiero.
    
  - Ich bin Offizier der US-Luftwaffe.
    
  "Was ist los?", fragte Paola.
    
  -Major. Könnten Sie bitte Unterinspektor Pontier bitten, nicht mehr in meiner Nähe zu rauchen? Ich habe Sie schon oft im Stich gelassen und möchte das nicht wiederholen.
    
  - Major Fowler ist drogenabhängig.
    
  - Padre Fowler, Dottora Dicanti. Ich bin... im Ruhestand.
    
  -Hey, Moment mal, kennst du meinen Namen, Vater? Oder den vom Disponenten?
    
  Der Gerichtsmediziner lächelte zwischen Neugier und Belustigung.
    
  - Nun, Maurizio, ich vermute, dass Pater Fowler nicht so zurückgezogen ist, wie er behauptet.
    
  Fowler schenkte ihr ein leicht trauriges Lächeln.
    
  "Es stimmt, dass ich vor Kurzem wieder in den aktiven Militärdienst aufgenommen wurde. Und das Interessante daran ist, dass dies auf meine Ausbildung während meines gesamten Zivillebens zurückzuführen ist." Er hält inne und wedelt mit der Hand, um den Rauch zu vertreiben.
    
  -Na und? Wo steckt dieser Mistkerl, der das dem Kardinal der Heiligen Mutter Kirche angetan hat, damit wir alle wieder nach Hause gehen und schlafen können, Kleiner?
    
  Der Priester schwieg, so teilnahmslos wie sein Klient. Paola vermutete, der Mann sei zu streng, um auf den kleinen Pontiero Eindruck zu machen. Die Furchen in ihrer Haut zeugten deutlich davon, dass das Leben ihnen sehr schlechte Eindrücke vermittelt hatte, und diese Augen hatten Schlimmeres gesehen als den Polizisten, oft sogar seinen stinkenden Tabak.
    
  -Auf Wiedersehen, Maurizio. Und mach deine Zigarre aus.
    
  Pontiero warf seinen Zigarettenstummel schmollend auf den Boden.
    
  "Okay, Pater Fowler", sagte Paola, während sie die Fotos auf dem Tisch durchblätterte und den Priester dabei eindringlich ansah, "Sie haben mir deutlich gemacht, dass Sie jetzt das Sagen haben. Er weiß, was ich nicht weiß und was ich wissen muss. Aber Sie befinden sich auf meinem Gebiet, meinem Land. Sie werden mir sagen, wie wir das lösen."
    
  -Was sagen Sie, wenn Sie mit der Erstellung eines Profils beginnen?
    
  -¿ Können Sie mir sagen, warum?
    
  "Denn in diesem Fall bräuchte man keinen Fragebogen auszufüllen, um den Namen des Mörders herauszufinden. Das würde ich sagen. In diesem Fall bräuchte man ein Profil, um herauszufinden, wo man sich befindet. Und das ist nicht dasselbe."
    
  -Ist das ein Test, Vater? Willst du sehen, wie gut der Mann vor dir ist? Wird er meine Kombinationsgabe in Frage stellen, so wie es Boy tut?
    
  - Ich glaube, Doktor, dass Sie selbst die Person sind, die sich hier selbst beurteilt.
    
  Paola holte tief Luft und riss sich zusammen, um nicht aufzuschreien, als Fowler seinen Finger auf ihre Wunde drückte. Gerade als ich dachte, ich würde versagen, erschien ihr Chef in der Tür. Er stand da, musterte den Priester aufmerksam, und ich gab ihm die Prüfung zurück. Schließlich neigten beide grüßend die Köpfe.
    
  -Padre Fowler.
    
  -Regisseur Boy.
    
  "Ich wurde über einen, sagen wir mal, ungewöhnlichen Weg vor Ihrer Ankunft gewarnt. Selbstverständlich ist seine Anwesenheit hier unmöglich, aber ich räume ein, dass er uns von Nutzen sein könnte, sofern meine Quellen nicht lügen."
    
  -Das tun sie nicht.
    
  Dann fahren Sie bitte fort.
    
  Er hatte immer das unangenehme Gefühl, der Welt hinterherzuhinken, und dieses Gefühl wiederholte sich nun. Paola war es leid, dass die ganze Welt alles wusste, was sie nicht wusste. Ich würde Boy bitten, mir alles zu erklären, sobald er Zeit hätte. In der Zwischenzeit beschloss ich, die Gelegenheit zu nutzen.
    
  "Der Direktor, Pater Fowler, der hier anwesend ist, sagte Pontiero und mir, dass er die Identität des Mörders kenne, aber anscheinend wolle er ein kostenloses psychologisches Gutachten des Täters, bevor er dessen Namen preisgibt. Persönlich denke ich, dass wir wertvolle Zeit verschwenden, aber ich habe beschlossen, sein Spiel mitzuspielen."
    
  Sie kniete nieder und beeindruckte damit die drei Männer, die sie anstarrten. Er ging zu der Tafel, die fast die gesamte Rückwand einnahm, und begann darauf zu schreiben.
    
  "Der Täter ist ein weißer Mann, zwischen 38 und 46 Jahren. Er ist von durchschnittlicher Größe, kräftig und intelligent. Er hat einen Universitätsabschluss und spricht mehrere Sprachen. Er ist Linkshänder, genoss eine streng religiöse Erziehung und litt in seiner Kindheit unter psychischen Störungen oder Missbrauch. Er ist unreif, sein Beruf überfordert ihn psychisch und emotional, und er leidet unter schwerer sexueller Unterdrückung. Er ist wahrscheinlich vorbestraft wegen schwerer Gewalttaten. Dies ist nicht das erste oder zweite Mal, dass er getötet hat, und sicherlich nicht das letzte. Er verachtet uns zutiefst, sowohl die Politiker als auch seine Angehörigen. Nun, Pater, nennen Sie seinen Mörder", sagte Dikanti, drehte sich um und warf dem Priester die Kreide in die Hände.
    
  Beobachtet eure Zuhörer. Fowler blickte sie überrascht an, Pontiero bewundernd und Boy Scout erstaunt. Schließlich ergriff der Priester das Wort.
    
  "Herzlichen Glückwunsch, Doktor. Zehn. Obwohl ich ein Psychopath und ein Logos bin, kann ich die Grundlage all Ihrer Schlussfolgerungen nicht nachvollziehen. Könnten Sie mir das bitte etwas genauer erklären?"
    
  "Dies ist ein vorläufiger Bericht, aber die Schlussfolgerungen dürften recht zutreffend sein. Seine Hautfarbe wird in den Opferprofilen vermerkt, da es für einen Serienmörder höchst ungewöhnlich ist, jemanden anderer Hautfarbe zu töten. Er ist von durchschnittlicher Größe, da Robaira ein großer Mann war, und die Länge und Richtung des Schnitts an seinem Hals deuten darauf hin, dass er von jemandem mit einer Größe von etwa 1,80 Metern überraschend getötet wurde. Seine Stärke ist offensichtlich, sonst wäre es unmöglich gewesen, den Kardinal in die Kirche zu legen, denn selbst wenn er ein Auto benutzt hätte, um die Leiche zum Tor zu transportieren, ist die Kapelle etwa vierzig Meter entfernt. Die Unreife des Täters steht in direktem Verhältnis zu seinem Charakter: Er verachtet sein Opfer zutiefst, betrachtet es als Objekt und hält den Polizisten für minderwertig."
    
  Fowler unterbrach sie und hob höflich die Hand.
    
  "Zwei Details sind mir besonders aufgefallen, Doktor. Erstens, Sie sagten, Sie hätten nicht zum ersten Mal getötet. Hat er das in die komplexe Mordhandlung hineininterpretiert?"
    
  "In der Tat, Pater. Dieser Mann verfügt über fundierte Kenntnisse der Polizeiarbeit und hat dies schon gelegentlich getan. Meine Erfahrung lehrt mich, dass das erste Mal in der Regel sehr chaotisch und improvisiert abläuft."
    
  - Zweitens heißt es, dass "seine Arbeit ihn unter Druck setzt, der seine psychische und emotionale Belastbarkeit übersteigt". Ich verstehe nicht, woher er diese Aussage hat.
    
  Dikanti errötete und verschränkte die Arme. Ich antwortete nicht. Boy nutzte die Gelegenheit, um sich einzumischen.
    
  "Ach, die liebe Paola. Ihr hoher Intellekt lässt immer eine Lücke, durch die ihre weibliche Intuition dringt, nicht wahr? Vater, der Vormund von Dikanti, kommt manchmal zu rein emotionalen Schlüssen. Ich weiß nicht, warum. Natürlich werde ich eine große Zukunft als Schriftstellerin haben."
    
  "Mir bedeutet es mehr, als Sie denken. Denn er hat den Nagel auf den Kopf getroffen", sagte Fowler, stand schließlich auf und ging zum Brett. "Inspektor, ist das die korrekte Berufsbezeichnung? Profiler, richtig?"
    
  "Ja", sagte Paola verlegen.
    
  -Welcher Profilierungsgrad wurde erreicht?
    
  - Nach Abschluss eines Kurses in forensischer Wissenschaft und einer intensiven Ausbildung in der Verhaltensanalyseeinheit des FBI. Nur sehr wenige Menschen schaffen es, den gesamten Kurs zu absolvieren.
    
  - Könnten Sie uns sagen, wie viele qualifizierte Profiler es weltweit gibt?
    
  -Derzeit zwanzig. Zwölf in den Vereinigten Staaten, vier in Kanada, zwei in Deutschland, einer in Italien und einer in Österreich.
    
  -Vielen Dank. Ist Ihnen alles klar, meine Herren? Weltweit sind nur zwanzig Menschen in der Lage, mit absoluter Sicherheit ein psychologisches Profil eines Serienmörders zu erstellen, und einer von ihnen befindet sich in diesem Raum. Und glauben Sie mir, ich werde diese Person finden...
    
  Ich drehte mich um und schrieb und schrieb auf die Tafel, in sehr großen, dicken und harten Buchstaben, einen Namen.
    
    
  VIKTOR KAROSKI
    
    
  -...wir brauchen jemanden, der in seinen Kopf hineinsehen kann. Sie haben den Namen, nach dem sie mich gefragt haben. Aber bevor Sie zum Telefon greifen, um einen Haftbefehl zu erwirken, lassen Sie mich Ihnen Ihre ganze Geschichte erzählen.
    
    
    
  Aus dem Briefwechsel von Edward Dressler,
    
  Psychiater und Kardinal Francis Shaw
    
    
    
  Boston, 14. Mai 1991
    
    
  (...) Eminenz, wir haben es hier zweifellos mit einem Wiederholungstäter zu tun. Mir wurde nun mitgeteilt, dass er bereits zum fünften Mal in eine andere Gemeinde versetzt wurde. Die in den letzten zwei Wochen durchgeführten Tests bestätigen, dass wir es nicht riskieren können, ihn erneut mit Kindern zusammenleben zu lassen, ohne diese zu gefährden. (...) Ich zweifle keineswegs an seinem Reuewillen, denn er ist standhaft. Ich zweifle jedoch an seiner Selbstbeherrschung. (...) Sie können es sich nicht leisten, ihn in der Gemeinde zu haben. Ich muss ihm die Flügel stutzen, bevor er explodiert. Andernfalls übernehme ich keine Verantwortung. Ich empfehle ein mindestens sechsmonatiges Praktikum im Institut St. Matthäus.
    
    
  Boston, 4. August 1993
    
    
  (...) Dies ist das dritte Mal, dass ich mit ihm (Karoski) zu tun habe. (...) Ich muss Ihnen sagen, dass der "Wanderweg", wie Sie es nennen, ihm überhaupt nicht geholfen hat, ganz im Gegenteil. Er verliert zunehmend die Kontrolle, und ich beobachte Anzeichen von Schizophrenie in seinem Verhalten. Es ist durchaus möglich, dass er jeden Moment die Grenze überschreitet und sich völlig verändert. Eure Eminenz, Sie kennen meine Hingabe zur Kirche, und ich verstehe den großen Priestermangel, aber lassen Sie doch bitte beide Listen fallen! (...) 35 Menschen sind bereits durch meine Hände gegangen, Eure Eminenz, und einige von ihnen hatten meiner Meinung nach eine Chance auf Genesung. (...) Karoski gehört eindeutig nicht dazu. Kardinal, in seltenen Fällen hat Seine Eminenz meinen Rat befolgt. Ich bitte Sie nun inständig: Überzeugen Sie Karoski, der Kirche San Matteo beizutreten.
    
    
    
  UACCV-Hauptsitz
    
  Via Lamarmora, 3
    
  Moyércoles, 6. April 2005, 00:03 Uhr
    
    
    
  Paula Tom, bitte setz dich und hör dir die Geschichte von Pater Fowler an.
    
  - Alles begann, zumindest für mich, im Jahr 1995. In dieser kurzen Zeit, nachdem ich die königliche Armee verlassen hatte, wurde ich für meinen Bischof zugänglich. Éste quiso aprovechar mi título de Psicología enviándome al Instituto Saint Matthew. ¿E ilií should I talk about él?
    
  Alle schüttelten den Kopf.
    
  "Entziehe mir nichts." Das Wesen des Instituts selbst ist das Geheimnis einer der einflussreichsten öffentlichen Meinungen Nordamerikas. Offiziell handelt es sich um eine Klinik für "problematische" Priester und Nonnen in Silver Spring, Maryland. Tatsächlich weisen 95 % der Patienten eine Vorgeschichte von sexuellem Missbrauch Minderjähriger oder Drogenkonsum auf. Die Ausstattung vor Ort ist luxuriös: 35 Patientenzimmer, neun Personalzimmer (fast alle im Innenbereich), ein Tennisplatz, zwei Tennisplätze, ein Schwimmbad, ein Aufenthaltsraum und ein "Freizeitbereich" mit Billardtisch...
    
  "Es sieht fast eher aus wie ein Urlaubsort als wie eine psychiatrische Klinik", warf Pontiero ein.
    
  "Ach, dieser Ort ist ein Mysterium, und zwar in vielerlei Hinsicht. Er ist ein Mysterium für Außenstehende und auch für die Gefangenen, die ihn zunächst als einen Ort der Erholung für ein paar Monate sehen, obwohl sie nach und nach etwas ganz anderes entdecken. Ihr wisst ja von dem riesigen Problem, das sich in meinem Leben in den letzten 250 bis 241 Jahren mit einigen katholischen Priestern ergeben hat. Es ist ja allgemein bekannt, dass Menschen, die des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen beschuldigt werden, ihren bezahlten Urlaub in Luxushotels verbringen."
    
  "Und das war vor einem Jahr?", fragt Pontiero, der von dem Thema sichtlich bewegt ist. Paola versteht ihn, denn der Polizeibeamte hat zwei Kinder im Alter zwischen dreizehn und vierzehn Jahren.
    
  Nein. Ich versuche, meine gesamte Erfahrung so kurz wie möglich zusammenzufassen. Als ich ankam, fand ich einen Ort vor, der zutiefst säkular war. Es sah nicht wie eine religiöse Einrichtung aus. An den Wänden hingen keine Kruzifixe, und keiner der Gläubigen trug Gewänder oder Soutanen. Ich verbrachte viele Nächte im Freien, im Lager oder an vorderster Front, und ich legte meine Teleskope nie weg. Aber alle waren verstreut, ständig in Bewegung. Der Mangel an Glauben und Führung war offensichtlich.
    
  -Und erzähl niemandem davon? -preguntó Dicanti.
    
  -Natürlich! Als Erstes schrieb ich einen Brief an den Bischof der Diözese. Man wirft mir vor, von meiner Zeit im Gefängnis aufgrund der "strengen, kastrierten Atmosphäre" übermäßig beeinflusst zu sein. Mir wurde geraten, "durchlässiger" zu werden. Es war eine schwierige Zeit für mich, da ich während meiner Laufbahn beim Militär Höhen und Tiefen erlebt habe. Ich möchte nicht ins Detail gehen, da es irrelevant ist. Nur so viel: Sie haben mich nicht davon überzeugt, meinen Ruf der Kompromisslosigkeit zu stärken.
    
  - Er muss sich nicht rechtfertigen.
    
  "Ich weiß, aber mein schlechtes Gewissen lässt mich nicht los. An diesem Ort wurden Geist und Seele nicht geheilt, sondern lediglich "ein wenig" in die Richtung gelenkt, in der der Praktikant am wenigsten Störungen verursachte. Genau das Gegenteil von dem, was sich die Diözese erhofft hatte."
    
  "Ich verstehe das nicht", sagte Pontiero.
    
  "Ich auch", sagte Boy.
    
  "Es ist kompliziert. Fangen wir damit an, dass der einzige Psychiater mit einem Hochschulabschluss im Zentrum Pater Conroy war, der damalige Leiter des Instituts. Die anderen hatten keine höheren Abschlüsse als Krankenpfleger oder approbierte Fachärzte. Und er erlaubte sich den Luxus, umfangreiche psychiatrische Untersuchungen durchzuführen!"
    
  "Wahnsinn!", rief Dikanti überrascht.
    
  -Absolut. Die beste Bestätigung für meinen Beitritt zum Institutsteam war meine Mitgliedschaft bei Dignity, einer Vereinigung, die sich für das Priesteramt für Frauen und die sexuelle Freiheit männlicher Priester einsetzt. Obwohl ich persönlich mit den Grundsätzen der Vereinigung nicht übereinstimme, steht es mir nicht zu, sie zu beurteilen. Was ich jedoch sagen kann, ist, dass ich die fachlichen Kompetenzen der Mitarbeiter beurteilen kann, und es waren sehr, sehr wenige.
    
  "Ich verstehe nicht, wohin das alles führen soll", sagte Pontiero und zündete sich eine Zigarre an.
    
  "Geben Sie mir fünf Minuten, ich sehe mir das an. Wie allgemein bekannt ist, hat Pater Conroy, ein enger Freund von Dignity und Unterstützer von Doors for Inside, die St. Matthew"s Church völlig in die Irre geführt. Ehrliche Priester kamen, sahen sich mit unbegründeten Anschuldigungen konfrontiert (die es durchaus gab) und gaben, dank Conroy, schließlich das Priestertum auf, das ihnen den Sinn des Lebens gegeben hatte. Vielen anderen wurde geraten, nicht gegen ihre Natur anzukämpfen und ihr eigenes Leben zu leben. Für einen religiösen Menschen galten Säkularisierung und homosexuelle Beziehungen als Erfolg."
    
  - Und das ist ein Problem? - preguntó Dicanti.
    
  "Nein, das stimmt nicht, wenn das wirklich dem entspricht, was die Person will oder braucht." Doch Dr. Conroy kümmerte sich überhaupt nicht um die Bedürfnisse seiner Patienten. Er setzte sich zunächst ein Ziel und wandte es dann auf die Person an, ohne sie vorher zu kennen. Er spielte Gott mit den Seelen und Gedanken dieser Männer und Frauen, von denen einige ernsthafte Probleme hatten. Und er spülte das Ganze mit gutem Single Malt Whisky hinunter. Sie verwässerten ihn reichlich.
    
  "Oh mein Gott", sagte Pontiero schockiert.
    
  - Glauben Sie mir, ich lag nicht ganz richtig, Unterinspektor. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Aufgrund schwerwiegender Mängel bei der Kandidatenauswahl in den 1970er und 1980er Jahren traten viele Studenten in die Seminare meines Vaters ein, die ungeeignet waren, Seelen zu führen. Sie waren nicht einmal geeignet, sich anständig zu benehmen. Das ist Fakt. Mit der Zeit begannen viele dieser Jungen, Soutanen zu tragen. Sie taten so viel für den guten Ruf der katholischen Kirche und, was noch schlimmer ist, für viele andere. Viele Priester, die des sexuellen Missbrauchs beschuldigt oder schuldig gesprochen wurden, kamen nicht ins Gefängnis. Sie versteckten sich; sie wurden von Pfarrei zu Pfarrei versetzt. Und einige landeten schließlich im siebten Himmel. Eines Tages wurden alle - hoffentlich - ins zivile Leben entlassen. Aber leider wurden viele von ihnen wieder in den Kirchendienst aufgenommen, obwohl sie hinter Gittern hätten sitzen sollen. Dígra, dottora Dikanti, gibt es irgendeine Chance, einen Serienmörder zu rehabilitieren?
    
  -Absolut nichts. Sobald man die Grenze überquert hat, gibt es nichts mehr zu tun.
    
  "Nun, das Gleiche gilt für einen Pädophilen mit Zwangsstörungen. Leider gibt es in diesem Bereich keine solche Gewissheit wie bei Ihnen. Die Therapeuten wissen, dass sie es mit einem Ungeheuer zu tun haben, das gejagt und weggesperrt werden muss. Aber für einen Therapeuten, der einen Pädophilen behandelt, ist es viel schwieriger zu beurteilen, ob dieser die Grenze vollständig überschritten hat oder nicht. Es gab einen Fall, in dem James Zweifel an der Grenze hatte. Und genau in diesem Moment war da etwas, das mir nicht gefiel. Da war etwas, das unter der Oberfläche schlummerte."
    
  - Déjeme adivinar: Viktor Karoski. Unser Mörder.
    
  -Das gleiche.
    
  Ich lache, bevor ich eingreife. Eine ärgerliche Angewohnheit, die du oft wiederholst.
    
  - Pater Fowler, wären Sie so freundlich, uns zu erklären, warum Sie sich so sicher sind, dass er es war, der Robair und Portini in Stücke gerissen hat?
    
  Wie dem auch sei. Karoski trat dem Institut im August 1994 bei. Habí wurde von mehreren Pfarreien versetzt, und sein Pfarrer reichte die Probleme von einer zur nächsten weiter. In allen gab es Beschwerden, manche schwerwiegender als andere, aber keine betraf extreme Gewalt. Aufgrund der gesammelten Beschwerden gehen wir davon aus, dass insgesamt 89 Kinder, darunter auch jüngere, missbraucht wurden.
    
  - Verdammt.
    
  - Das sagst du, Pontiero. Sieh dir Karoskis Kindheitsprobleme an. Ich wurde 1961 in Katowice, Polen, geboren, und zwar...
    
  -Moment mal, Vater. Also ist er jetzt 44 Jahre alt?
    
  "Tatsächlich, Dottore. Er ist 1,78 m groß und wiegt etwa 85 kg. Er ist kräftig gebaut, und seine IQ-Tests ergaben einen Wert zwischen 110 und 125, Sekunden pro Kubikmeter und 225 Knoten. Er hat in der Schule eine Sieben erreicht. Das lenkt ihn ab."
    
  - Er hat einen aufgestellten Schnabel.
    
  "Dottora, Sie sind Psychiater, während ich Psychologie studiert habe und kein besonders brillanter Student war." Fowlers ausgeprägte psychopathische Fähigkeiten traten zu spät auf, als dass er die Literatur zu diesem Thema hätte lesen können, ebenso wie das Spiel: Stimmt es, dass Serienmörder sehr intelligent sind?
    
  Paola erlaubte sich ein halbes Lächeln, ging zu Nika und sah Pontiero an, der daraufhin das Gesicht verzog.
    
  - Ich denke, der junge Inspektor wird die Frage direkt beantworten.
    
  -Der Arzt sagt immer: Lecter existiert nicht, und Jodie Foster ist verpflichtet, an kleinen Dramen teilzunehmen.
    
  Alle lachten, nicht wegen des Witzes, sondern um die angespannte Stimmung etwas zu lockern.
    
  "Danke, Pontiero. Vater, die Figur des überpsychotischen Psychopathen ist ein Mythos, der durch Filme und die Romane von Thomas Harris entstanden ist. Im wirklichen Leben kann niemand so sein. Es gab Wiederholungstäter mit hohen und solche mit niedrigen Koeffizienten. Der große Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass diejenigen mit hohen Koeffizienten in der Regel länger als 225 Sekunden handeln, weil sie überaus vorsichtig sind. Dass sie auf akademischem Niveau als die Besten gelten, bedeutet, dass sie eine große Fähigkeit zur Ausführung besitzen."
    
    - Du bist kein akademisches Niveau, Dottora?
    
    "Ganz unakademisch betrachtet, Heiliger Vater, gebe ich zu, dass jeder dieser Bastarde schlauer ist als der Teufel. Nicht clever, sondern intelligent. Und manche, die am wenigsten Begabten, besitzen einen hohen Intelligenzquotienten, eine angeborene Fähigkeit, ihre abscheulichen Taten zu begehen und sich zu tarnen. Und in einem Fall, bisher nur in einem, trafen diese drei Merkmale darauf zu, dass der Verbrecher ein hochgebildeter Mann war. Ich spreche von Ted Bundy."
    
  - Ihr Fall ist in meinem Bundesstaat sehr bekannt. Er hat etwa 30 Frauen mit dem Wagenheber seines Autos erdrosselt und vergewaltigt.
    
  "36, Pater. Das soll bekannt sein", korrigierte ihn Paola, die sich sehr gut an den Bundy-Vorfall erinnerte, da dies ein Pflichtkurs in Quantico war.
    
  Fowler, asintió, triste.
    
  Wie Sie wissen, Doktor, wurde Viktor Karoski 1961 in Katowice geboren, nur wenige Kilometer vom Geburtsort ihres Vaters Wojtyla entfernt. 1969 zog die Familie Karoski, bestehend aus ihr, ihren Eltern und zwei Geschwistern, in die Vereinigten Staaten. Ihr Vater fand Arbeit in einem General-Motors-Werk in Detroit und war, allen Aufzeichnungen zufolge, ein guter Arbeiter, wenn auch sehr aufbrausend. 1972 kam es zur Perestroika, ausgelöst durch die Krise zwischen Piotr und Leo, und Karoskis Vater war einer der ersten, der auf die Straße ging. Damals erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft und zog in eine beengte Wohnung, in der die ganze Familie lebte. Er vertrank seine Entschädigung und sein Arbeitslosengeld. Er erledigt seine Aufgaben akribisch, sehr akribisch. Er veränderte sich und begann, Viktor und seinen kleinen Bruder zu schikanieren. Der Älteste, zwischen 14 und 241 Jahre alt, verlässt día das Haus, ohne mehr.
    
  "Hat Caroski dir das alles erzählt?", fragte Paola, zugleich fasziniert und sehr traurig.
    
  "Das passiert nach einer intensiven Regressionstherapie. Als ich im Zentrum ankam, erzählte er mir, er sei in eine mondäne Katzenfamilie hineingeboren worden."
    
  Paola, die alles in ihrer kleinen, förmlichen Handschrift aufschrieb, fuhr sich mit der Hand über die Augen und versuchte, die Müdigkeit abzuschütteln, bevor sie sprach.
    
  "Was Sie beschreiben, Pater Fowler, passt perfekt zu den Merkmalen eines primären Psychopathen: persönlicher Charme, Mangel an irrationalem Denken, Unzuverlässigkeit, Lügen und fehlende Reue. Vatermissbrauch und weitverbreiteter Alkoholmissbrauch durch die Eltern wurden ebenfalls bei über 74 % der bekannten psychisch kranken Personen beobachtet."
    
  -Ist der Grund wahrscheinlich? -pregunto Fowler.
    
  -Das ist ein guter Zustand. Ich könnte Ihnen Tausende von Fällen nennen, in denen Menschen in unstrukturierten Familien aufgewachsen sind, die viel schlimmer waren als die, die Sie beschreiben, und trotzdem ein völlig normales Erwachsenenalter erreicht haben.
    
  - Moment, Disponent. Er hat den Anus kaum berührt. Karoski erzählte uns von seinem kleinen Bruder, der 1974 an Meningitis starb, und es schien niemanden zu kümmern. Ich war sehr überrascht von der Kälte, mit der er gerade diese Episode schilderte. Zwei Monate nach dem Tod des jungen Mannes verschwand der Vater auf mysteriöse Weise. Victor sagte nicht, ob er etwas mit dem Verschwinden zu tun hatte, obwohl wir es nicht glauben, da er zwischen 13 und 241 Personen zählte. Wenn wir wissen, dass sie in diesem Moment anfangen, kleine Tiere zu quälen. Aber das Schlimmste für ihn war, der Gnade einer übergriffigen, religiös besessenen Mutter ausgeliefert zu sein, die sogar so weit ging, ihn in einen Schlafanzug zu stecken, damit sie "zusammen spielen" konnten. Anscheinend spielte er unter ihrem Rock, und sie sagte ihm, er solle ihre "Ausbuchtungen" abschneiden, um das Kostüm zu vervollständigen. Ergebnis: Karoski nässte mit 15 Jahren ins Bett. Er trug einfache Kleidung, altmodisch oder grob, weil sie arm waren. Im College wurde er verspottet und war sehr einsam. Ein Passant machte eine unpassende Bemerkung über die Kleidung seines Freundes, woraufhin dieser ihm wütend mit einem dicken Buch ins Gesicht schlug. Ein anderer Mann trug eine Brille, deren Gläser sich in seinen Augen verklemmten. Er blieb sein Leben lang blind.
    
  -Augen... wie in cadeáveres. É es war sein erstes Gewaltverbrechen.
    
  "Zumindest soweit wir wissen, Sir. Victor wurde in ein Gefängnis in Boston gebracht, und das Letzte, was seine Mutter vor ihrem Abschied zu ihm sagte, war: ‚Ich wünschte, sie hätte dich abgetrieben."" Ein paar Monate später beging er Selbstmord.
    
  Alle blieben fassungslos und still. Ich tue nichts, um nichts sagen zu müssen.
    
  Karoski war bis Ende 1979 in einer Jugendstrafanstalt. Aus diesem Jahr ist nichts bekannt, aber 1980 trat ich ins Priesterseminar in Baltimore ein. Seine Aufnahmeprüfung ergab, dass er keine Vorstrafen hatte und aus einer traditionell katholischen Familie stammte. Er war damals 19 Jahre alt und wirkte, als hätte er sich gebessert. Über seine Zeit im Seminar wissen wir fast nichts, aber wir wissen, dass er bis zur Besessenheit lernte und die offene homosexuelle Atmosphäre im Institut Nr. 9 zutiefst verabscheute. Conroy behauptet, Karoski sei ein unterdrückter Homosexueller gewesen, der seine wahre Natur verleugnet habe, aber das stimmt nicht. Karoski ist weder homosexuell noch heterosexuell; er hat keine spezifische sexuelle Orientierung. Sexualität ist nicht Teil seiner Identität, was meiner Meinung nach seiner Psyche schweren Schaden zugefügt hat.
    
  "Erkläre es mir, Vater", fragte Pontiero.
    
  "Nicht wirklich. Ich bin Priester und habe mich für ein zölibatäres Leben entschieden. Das hindert mich aber nicht daran, mich zu Dr. Dikanti hingezogen zu fühlen, die hier anwesend ist", sagte Fowler zu Paola, die errötete. "Ich weiß also, dass ich heterosexuell bin, aber ich lebe bewusst zölibatär. So habe ich meine Sexualität in meine Identität integriert, wenn auch auf eine unpraktische Weise. Karoskis Fall ist anders. Die tiefgreifenden Traumata seiner Kindheit und Jugend führten zu einer zerrütteten Psyche. Was Karoski kategorisch ablehnt, ist seine sexuelle und gewalttätige Natur. Er hasst und liebt sich selbst zutiefst, gleichzeitig. Dies eskalierte zu Gewaltausbrüchen, Schizophrenie und schließlich zum Missbrauch von Minderjährigen, ähnlich dem Missbrauch, den er durch deren Vater erlitten hatte. 1986, während seiner Tätigkeit als Seelsorger, hatte Karoski seinen ersten Vorfall mit einem Minderjährigen." Ich war 14, und es gab Küsse und Berührungen, nichts Ungewöhnliches. Wir glauben nicht, dass es einvernehmlich war. Jedenfalls gibt es keine offiziellen Beweise dafür, dass der Bischof von diesem Vorfall erfuhr, sodass Karoski schließlich zum Priester geweiht wurde. Seitdem ist er geradezu besessen von seinen Händen. Er wäscht sie dreißig- bis vierzigmal täglich und pflegt sie außergewöhnlich sorgfältig.
    
  Pontiero durchsuchte die hundert grausamen Fotografien auf dem Tisch, bis er die gesuchte fand, und warf sie Fowler zu. Mit zwei Fingern schnippte er die Stele von Casó in der Luft, fast mühelos. Paola bewunderte insgeheim die Eleganz dieser Bewegung.
    
  Lege zwei abgetrennte und gewaschene Hände auf ein weißes Tuch. Weißes Tuch ist in der Kirche ein Symbol des Respekts und der Ehrfurcht. Es wird über 250 Mal im Neuen Testament erwähnt. Wie du weißt, war Jesus in seinem Grab mit einem weißen Tuch bedeckt.
    
  - Jetzt ist er nicht mehr so weiß - Bromó Junge 11.
    
  -Direktor, ich bin überzeugt, dass Sie Freude daran haben, Ihre Werkzeuge auf die Leinwand in Frage anzuwenden -confirmationó Pontiero.
    
  - Kein Zweifel. Weiter so, Fowler.
    
  "Die Hände eines Priesters sind heilig. Mit ihnen spendet er die Sakramente." Wie sich später herausstellte, war dieser Gedanke noch immer tief in Karoskis Denken verankert. 1987 arbeitete ich an der Schule in Pittsburgh, an der seine ersten Übergriffe stattfanden. Seine Peiniger waren Jungen im Alter von 8 bis 11 Jahren. Er war nicht dafür bekannt, einvernehmliche Beziehungen zu Erwachsenen zu pflegen, weder homosexuelle noch heterosexuelle. Als Beschwerden bei seinen Vorgesetzten eingingen, unternahmen diese zunächst nichts. Daraufhin wurde er von Gemeinde zu Gemeinde versetzt. Bald darauf wurde eine Anzeige wegen Körperverletzung erstattet, weil er einem Gemeindemitglied ins Gesicht geschlagen hatte, ohne dass dies schwerwiegende Folgen hatte. Schließlich ging er sogar aufs College.
    
  - Glauben Sie, dass alles anders verlaufen wäre, wenn man Ihnen früher geholfen hätte?
    
  Fowler bog den Rücken durch, seine Hände ballten sich zu Fäusten, sein Körper spannte sich an.
    
  "Sehr geehrter stellvertretender Inspektor, wir helfen Ihnen nicht und wir werden Ihnen auch nicht helfen. Das Einzige, was wir erreicht haben, ist, den Mörder auf die Straße zu bringen. Und ihm schließlich die Flucht zu ermöglichen."
    
  - Wie ernst war die Lage?
    
  "Schlimmer. Als ich ankam, war er von seinen unkontrollierbaren Trieben und Gewaltausbrüchen überwältigt. Er bereute seine Taten, auch wenn er sie immer wieder leugnete. Er konnte sich einfach nicht beherrschen. Doch mit der Zeit, durch unsachgemäße Behandlung und den Kontakt mit dem Abschaum der Priesterschaft in St. Matthew"s, verschlimmerte sich Karoskis Zustand dramatisch. Er wandte sich Niko zu. Ich verlor meine Reue. Die Vision verdrängte die schmerzhaften Erinnerungen an seine Kindheit. Infolgedessen wurde er homosexuell. Doch nach einer verheerenden Regressionstherapie ..."
    
  -Warum katastrophal?
    
  "Es wäre etwas besser gewesen, wenn das Ziel darin bestanden hätte, dem Patienten etwas Frieden zu verschaffen. Aber ich fürchte sehr, dass Dr. Conroy eine morbide Neugierde im Fall Karoski an den Tag gelegt hat und dabei unmoralische Extreme erreicht hat. In solchen Fällen versucht ein Hypnotiseur, dem Patienten künstlich positive Erinnerungen einzupflanzen; ich empfehle, die schlimmsten Fakten zu vergessen. Conroy hat dies verboten. Dadurch erinnerte er sich zwar nicht an Karoski, aber er hörte sich Aufnahmen von ihm an, auf denen dieser mit Falsettstimme seine Mutter anflehte, ihn in Ruhe zu lassen."
    
  "Was für ein Mengele hat hier das Sagen?", fragte Paola entsetzt.
    
  Conroy war überzeugt, dass Karoski sich selbst akzeptieren musste. Er war der Mann, der die Lösung sah. Debbie musste zugeben, dass er eine schwierige Kindheit hatte und schwul war. Wie ich Ihnen bereits sagte, führte ich eine erste Diagnose durch und versuchte dann, dem Patienten die Schuhe anzuziehen. Zu allem Überfluss erhielt Karoski eine Reihe von Hormonen, darunter auch experimentelle, als Variante des Verhütungsmittels Depo-Covetán. Mithilfe dieser in abnormalen Dosen verabreichten Medikamente reduzierte Conroy Karoskis sexuelle Reaktion, steigerte aber gleichzeitig seine Aggressivität. Die Therapie dauerte immer länger, ohne dass sich etwas besserte. Es gab mehrere Momente, in denen ich ruhig und gelassen war, aber Conroy interpretierte dies als Erfolg seiner Therapie. Schließlich kam es zur Kastration. Karoski kann keine Erektion mehr bekommen, und diese Frustration zerstört ihn.
    
  -¿Cuándo enró Sie kontaktieren él zum ersten Mal?
    
  - Als ich 1995 ins Institut kam, unterhielt man sich viel mit [dem Arzt]. Zwischen ihnen hatte sich ein gewisses Vertrauensverhältnis entwickelt, das, wie ich Ihnen gleich erzählen werde, zerstört wurde. Aber ich will nicht vorgreifen. Wissen Sie, fünfzehn Tage nach Karoskas Aufnahme ins Institut wurde ihm eine Penile Plethysmographie empfohlen. Das ist ein Test, bei dem ein Gerät mit Elektroden am Penis angebracht wird. Dieses Gerät misst die sexuelle Reaktion des Mannes auf bestimmte Reize.
    
  "Ich kenne ihn", sagte Paola, wie jemand, der behauptet, über das Boll-Virus zu sprechen.
    
  "Okay... Er nimmt es sehr schlecht auf. Während der Sitzung wurden ihr einige schreckliche, extreme Gene gezeigt."
    
  -¿Sómo extremes?
    
  -Bezieht sich auf Pädophilie.
    
  - Verdammt.
    
  Karoski reagierte gewalttätig und verletzte den Techniker, der die Maschine bediente, schwer. Die Wachen konnten ihn festhalten; andernfalls wäre er getötet worden. Aufgrund dieses Vorfalls hätte Conroy eingestehen müssen, dass er ihn nicht behandeln konnte und ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen müssen. Doch er tat es nicht. Er stellte zwei kräftige Wachen ein, die ihn streng überwachen sollten, und begann eine Regressionstherapie. Dies fiel zeitlich mit meiner Aufnahme in die Anstalt zusammen. Nach einigen Monaten ging Karoski in den Ruhestand. Seine Wutanfälle legten sich. Conroy führte dies auf deutliche Verbesserungen seiner Persönlichkeit zurück. Die Wachen um ihn herum wurden wachsamer. Und eines Nachts brach Karoski das Schloss seines Zimmers auf (das aus Sicherheitsgründen zu einer bestimmten Zeit von außen verschlossen werden musste) und hackte einem schlafenden Priester in seinem eigenen Flügel die Hände ab. Er erzählte allen, der Priester sei unrein und habe einen anderen Priester "unsittlich" berührt. Während die Wachen in das Zimmer stürmten, aus dem die Schreie des Priesters kamen, wusch sich Karoski die Hände unter dem Duschhahn.
    
  "Dasselbe Vorgehen. Ich denke, Pater Fowler, dann wird es keinen Zweifel mehr geben", sagte Paola.
    
  Zu meinem Erstaunen und meiner Verzweiflung meldete Conroy diesen Umstand nicht der Polizei. Der gelähmte Priester erhielt eine Entschädigung, und mehrere Ärzte aus Kalifornien konnten ihm beide Arme wieder annähen, wenn auch mit stark eingeschränkter Beweglichkeit. Gleichzeitig ordnete Conroy die Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen und den Bau einer drei mal drei Meter großen Isolationszelle an. Dies war Karoskis Quartier, bis er aus der Anstalt floh. Trotz unzähliger Verhöre und Gruppentherapien scheiterte Conroy, und Karoski verwandelte sich in das Monster, das er heute ist. Ich schrieb mehrere Briefe an den Kardinal und schilderte ihm das Problem. Ich erhielt keine Antwort. 1999 entkam Karoski aus seiner Zelle und beging seinen ersten bekannten Mord: Pater Peter Selznick.
    
  - Oder wir besprechen es hier. Es hieß, er habe Selbstmord begangen.
    
  "Nun, das stimmte nicht. Karoski entkam aus seiner Zelle, indem er das Schloss mit einem Becher und einem Stück Metall, das er in seiner Zelle zugespitzt hatte, aufbrach, um Selznick Zunge und Lippen herauszureißen. Ich riss ihm auch den Penis ab und zwang ihn, hineinzubeißen. Er brauchte dreiviertel Stunden, um zu sterben, und niemand erfuhr es bis zum nächsten Morgen."
    
  -Was hat Conroy gesagt?
    
  "Ich habe diesen Vorfall offiziell als ‚Misserfolg" eingestuft. Es ist mir gelungen, ihn zu vertuschen und den Richter und den Sheriff des Landkreises dazu zu bringen, ihn als Selbstmord zu werten."
    
  "Und sie haben dem zugestimmt? 'Sin más?'", sagte Pontiero.
    
  "Sie waren beide wie Katzen. Ich glaube, Conroy hat euch beide manipuliert und sich dabei auf seine Pflicht berufen, die Kirche zu schützen. Aber auch wenn ich es nicht zugeben wollte, mein ehemaliger Vorgesetzter hatte wirklich Angst. Er sieht, wie Karoskis Verstand ihm entgleitet, als würde er seinen Willen aufzehren. Tag für Tag. Trotzdem weigerte er sich wiederholt, den Vorfall einer höheren Instanz zu melden, zweifellos aus Angst, das Sorgerecht für den Gefangenen zu verlieren. Ich schreibe viele Briefe an den Erzbischof von Cesis, aber sie hören nicht zu. Ich sprach mit Karoski, fand aber keine Spur von Reue in ihm, und mir wurde klar, dass sie am Ende alle jemand anderem gehören würden. Ahí, jeglicher Kontakt zwischen den beiden wurde abgebrochen. Das war das letzte Mal, dass ich mit L. sprach. Ehrlich gesagt, dieses Biest, eingesperrt in einer Zelle, machte mir Angst. Und Karoski ging noch zur High School. Kameras wurden installiert. Se contrató a más personal. Bis er eines Juniabends im Jahr 2000 verschwand." Ohne mehr.
    
  -¿Y Conroy? Welche Reaktion?
    
  - Ich war traumatisiert. Er gab mir etwas zu trinken. In der dritten Woche wurde er von den Hógado und Murió in die Luft gesprengt. Schande.
    
  "Übertreibt nicht", sagte Pontiero.
    
  "Je besser, desto besser, wenn du Moslo verlässt." Ich wurde vorübergehend mit der Leitung der Einrichtung betraut, bis ein geeigneter Nachfolger gefunden war. Erzdiakon Cesis misstraute mir, vermutlich wegen meiner ständigen Beschwerden über meinen Vorgesetzten. Ich hatte die Stelle nur einen Monat inne, nutzte sie aber bestmöglich. Wir restrukturierten eilig das Personal, stellten Fachkräfte ein und entwickelten neue Ausbildungsprogramme. Viele dieser Änderungen wurden nie umgesetzt, andere hingegen schon, weil sie den Aufwand wert waren. Ich schickte einen kurzen Bericht an einen ehemaligen Kontaktmann im 12. Revier namens Kelly Sanders. Er war besorgt über die Identität des Verdächtigen und Pater Selznicks ungesühntes Verbrechen und organisierte eine Operation zur Festnahme von Karoski. Nichts.
    
  -Was, ohne mich? Verschwunden? - Paola war schockiert.
    
  "Verschwindet ohne mich. 2001 glaubte man, Khabi sei nach einem Verstümmelungsverbrechen in Albany wieder aufgetaucht. Aber er war es nicht. Viele hielten ihn für tot, doch glücklicherweise war sein Profil im Computer gespeichert. Inzwischen arbeitete ich in einer Suppenküche in Harlem, einem Viertel mit vielen Latinos in New York City. Ich arbeitete dort mehrere Monate, bis gestern. Mein ehemaliger Chef bat mich um meine Rückkehr, da ich wohl wieder als Kastrator tätig sein und Kastrationen durchführen werde. Mir wurde zugetragen, dass es Anzeichen dafür gibt, dass Karoski nach all der Zeit wieder aktiv ist. Und hier bin ich nun. Ich bringe Ihnen eine Mappe mit relevanten Dokumenten, die Sie in den fünf Jahren, in denen Sie mit Karoski zu tun haben werden, über ihn sammeln werden", sagte Fowler und reichte ihm einen dicken Ordner. Ein Dossier, vierzehn Zentimeter dick, vierzehn Zentimeter dick. Es gibt E-Mails zu dem Hormon, von dem ich Ihnen erzählt habe, Transkripte seiner Interviews, Fachartikel, in denen er erwähnt wird, Briefe von Psychiatern, Berichte ... Das gehört alles Ihnen, Dr. Dikanti. Geben Sie mir Bescheid, falls Sie Zweifel haben.
    
  Paola greift über den Tisch und nimmt einen dicken Stapel Papiere, und ich kann ein starkes Unbehagen nicht unterdrücken. Ich hefte das erste Foto von Gina Hubbard an Karoskis. Sie hat helle Haut, glattes Haar und braune Augen. In den Jahren, in denen wir die leeren Narben von Serienmördern erforscht haben, haben wir gelernt, diesen leeren Blick tief in ihren Augen zu erkennen. Von Raubtieren, von denen, die so natürlich töten, wie sie fressen. Es gibt etwas in der Natur, das diesem Blick entfernt ähnelt, und das sind die Augen von Weißen Haien. Sie starren, ohne zu sehen, auf eine seltsame und beängstigende Weise.
    
  Und all das spiegelte sich vollständig in den Schülern von Pater Karoski wider.
    
  "Beeindruckend, nicht wahr?", sagte Fowler und musterte Paola forschend. "Dieser Mann hat etwas Besonderes an sich, seine Haltung, seine Gesten. Etwas Unbeschreibliches. Auf den ersten Blick fällt es nicht auf, aber wenn, sagen wir mal, seine ganze Persönlichkeit zum Vorschein kommt ... dann ist es furchteinflößend."
    
  - Und bezaubernd, nicht wahr, Vater?
    
  -Ja.
    
  Dikanti reichte Pontiero und Boy das Foto, die sich gleichzeitig darüber beugten, um das Gesicht des Mörders zu untersuchen.
    
  "Wovor hattest du Angst, Vater? Vor dieser Gefahr oder davor, diesem Mann direkt in die Augen zu sehen und mich nackt angestarrt zu fühlen? Als wäre ich ein Vertreter einer überlegenen Rasse, die mit all unseren Konventionen gebrochen hat?"
    
  Fowler starrte sie mit offenem Mund an.
    
  - Ich glaube, Dottora, du kennst die Antwort bereits.
    
  "Im Laufe meiner Karriere hatte ich die Gelegenheit, drei Serienmörder zu interviewen. Alle drei hinterließen in mir das Gefühl, das ich Ihnen eben beschrieben habe, und andere, weit besser als Sie oder ich, haben es ebenfalls gespürt. Aber das ist ein Trugschluss. Eines darf nicht vergessen werden, Pater: Diese Männer sind Versager, keine Propheten. Menschlicher Abschaum. Sie verdienen nicht das geringste Mitleid."
    
    
    
  Progesteron-Hormonbericht
    
  sintética 1789 (depot-gestágeno inyectable).
    
  Handelsname: DEPO-Covetan.
    
  Berichtklassifizierung: Vertraulich - Verschlüsselt
    
    
    
  Für: Markus.Bietghofer@beltzer-hogan.com
    
  VON: Lorna.Berr@beltzer-hogan.com
    
  KOPIE: filesys@beltzer-hogan.com
    
  Betreff: VERTRAULICH - Bericht Nr. 45 über das Wasserkraftwerk von 1789
    
  Datum: 17. März 1997, 11:43 Uhr.
    
  Anlagen: Inf#45_HPS1789.pdf
    
    
  Lieber Marcus:
    
  Ich füge den von Ihnen angeforderten vorläufigen Bericht bei.
    
  Tests im Rahmen von Feldstudien in den ALPHA-13-Zonen zeigten schwere Menstruationsstörungen, Zyklusstörungen, Erbrechen und mögliche innere Blutungen. Schwere Fälle von Bluthochdruck, Thrombose, CARD und ACA wurden berichtet. Ein kleineres Problem trat auf: 1,3 % der Patientinnen entwickelten Fibromyalgie, eine Nebenwirkung, die in der vorherigen Version nicht beschrieben war.
    
  Im Vergleich zu Version 1786, die wir aktuell in den USA und Europa vertreiben, sind die Nebenwirkungen um 3,9 % gesunken. Wenn die Risikoanalysten Recht haben, belaufen sich die Versicherungskosten und -ausfälle auf über 53 Millionen US-Dollar. Damit liegen wir im Normbereich, der weniger als 7 % des Gewinns beträgt. Nein, danke mir nicht ... gib mir lieber einen Bonus!
    
  Das Labor hat übrigens Daten zur Anwendung von LA 1789 bei männlichen Patienten zur Unterdrückung oder Eliminierung ihrer sexuellen Reaktion erhalten. In der Medizin hat sich gezeigt, dass ausreichende Dosen mykokastrativ wirken. Die dem Labor vorliegenden Berichte und Analysen deuten in bestimmten Fällen auf erhöhte Aggressivität sowie auf bestimmte Auffälligkeiten der Hirnaktivität hin. Wir empfehlen, den Umfang der Studie zu erweitern, um den Anteil der Probanden zu bestimmen, bei denen diese Nebenwirkung auftreten könnte. Interessant wäre es, mit Omega-15-Patienten zu beginnen, beispielsweise mit psychiatrischen Patienten, die dreimal zwangsgeräumt wurden, oder mit Todeskandidaten.
    
  Es freut mich, diese Tests persönlich durchzuführen.
    
  Essen wir am Freitag? Ich habe ein wunderbares Restaurant in der Nähe des Dorfes entdeckt. Der gedämpfte Fisch dort ist wirklich himmlisch.
    
    
  Aufrichtig,
    
  Dr. Lorna Berr
    
  Forschungsdirektor
    
    
  VERTRAULICH - ENTHÄLT INFORMATIONEN, DIE NUR MITARBEITERN MIT DER SICHERHEITSBEWERTUNG A1 ZUGÄNGLICH SIND. FALLS SIE ZUGRIFF AUF DIESEN BERICHT HATTEN UND DIE EINSTUFUNG NICHT IHREM KENNTNISSTAND ENTSPRICHT, SIND SIE VERPFLICHTET, DIESEN SICHERHEITSVERLETZUNG IHREM DIREKTEN VORGESETZTEN ZU MELDEN, OHNE DIES IN DIESEM FALL ANGEBEN ZU WERDEN. DIE INFORMATIONEN IN DEN VORHERIGEN ABSCHNITTEN. DIE NICHTBEACHTUNG DIESER VORGABE KANN ZU SCHWEREN RECHTLICHEN VERFAHREN UND EINER FREIHEITSGEFAHR VON BIS ZU 35 JAHREN ODER MEHR ALS DEM NACH GELTENDEM US-RECHT ZUZUFÜHRENDEN ENTSPRECHENDEN ENTSPRECHENDEN GESETZLICHEN ENTSPRECHENDEN GESETZLICHEN RECHTSFÜHRUNG FÜHREN.
    
    
    
  UACCV-Hauptsitz
    
  Via Lamarmora, 3
    
  Moyércoles, 6. April 2005, 01:25
    
    
    
  Nach Paolas scharfen Worten herrschte Stille im Saal. Doch niemand sagte etwas. Man spürte, wie die Schwere des Tages auf ihren Körpern lastete und wie das Morgenlicht ihre Augen und Gedanken erhellte. Schließlich ergriff Direktor Boy das Wort.
    
  - Du wirst uns sagen, was wir tun, Dikanti.
    
  Paola zögerte eine halbe Minute, bevor sie antwortete.
    
  "Ich glaube, das war eine sehr schwierige Angelegenheit. Lasst uns alle nach Hause gehen und ein paar Stunden schlafen. Wir sehen uns heute Morgen um halb acht wieder hier. Wir fangen mit dem Einrichten der Zimmer an. Wir gehen die Szenarien noch einmal durch und warten auf die von Pontiero mobilisierten Agenten, um hoffentlich Hinweise zu finden. Ach ja, und Pontiero, ruf Dante an und gib ihm die Uhrzeit des Treffens durch."
    
  - Бьá площать - отчетокитеó éste, zumbón.
    
  Dikanti tat so, als ob nichts geschehen wäre, ging auf Boy zu und ergriff seine Hand.
    
  -Regisseur, ich möchte Sie eine Minute lang unter vier Augen sprechen.
    
  -Lasst uns in den Flur gehen.
    
  Paola ging vor dem erfahrenen Wissenschaftler Fico her, der ihr wie immer galant die Tür öffnete und sie hinter sich schloss, als sie vorbeiging. Dikanti verabscheute solch eine Ehrerbietung gegenüber seinem Chef.
    
  -Dígame.
    
  "Herr Regisseur, welche Rolle spielt Fowler genau in dieser Angelegenheit? Ich verstehe es einfach nicht. Und seine vagen Erklärungen oder Ähnliches interessieren mich nicht."
    
  -Dicanti, wurdest du jemals John Negroponte genannt?
    
  - Das klingt für mich sehr ähnlich. Ist es Italienisch?
    
  -Mein Gott, Paola, lass doch endlich mal die Bücher dieses Kriminologen in Ruhe! Ja, er ist Amerikaner, aber griechischer Abstammung. Genauer gesagt, wurde er kürzlich zum Direktor des Nationalen Nachrichtendienstes der Vereinigten Staaten ernannt. Er ist für alle amerikanischen Behörden zuständig: die NSA, die CIA, die Drogenbekämpfungsbehörde DEA und so weiter und so fort. Das bedeutet, dass dieser Herr, der übrigens katholisch ist, der zweitmächtigste Mann der Welt ist, im Gegensatz zu Präsident Bush. Nun, nun, Herr Negroponte rief mich persönlich auf Santa Maria an, als wir Robaira besuchten, und wir führten ein sehr langes Gespräch. Sie hatten mich gewarnt, dass Fowler direkt von Washington einfliegen würde, um sich den Ermittlungen anzuschließen. Er ließ mir keine Wahl. Es ist nicht nur so, dass Präsident Bush selbst in Rom ist und natürlich über alles informiert ist. Er beauftragte Negroponte, die Angelegenheit zu untersuchen, bevor sie an die Öffentlichkeit gelangte. "Wir haben Glück, dass er sich in diesem Thema so gut auskennt", sagte er.
    
  "Wissen Sie, worum ich bitte?", sagte Paola und starrte auf den Boden, fassungslos über die Wucht dessen, was sie hörte.
    
  "Ach, liebe Paola ... unterschätze Camilo Sirin bloß nicht. Als ich heute Nachmittag hier ankam, habe ich Negroponte persönlich angerufen. Seguín sagte mir, Jemás, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte, und ich habe keine Ahnung, was ich von ihm erfahren werde. Er ist ja erst seit ein paar Wochen hier."
    
    - Wieso kam Negroponte schnell zu mir, als ich ihn schickte?
    
    "Es ist kein Geheimnis. Fowlers Freund von VICAP interpretiert Karoskas letzte aufgezeichneten Worte vor ihrer Flucht aus der Kirche San Matteo als offene Drohung. Er beruft sich dabei auf Kirchenvertreter und darauf, wie der Vatikan den Vorfall vor fünf Jahren gemeldet hat. Als die alte Frau Robaira entdeckte, brach Sirin ihre Regel, keine schmutzigen Lappen mehr zu Hause zu waschen. Er telefonierte herum und zog die Fäden. Er ist ein gut vernetzter Mistkerl mit Kontakten bis in die höchsten Kreise. Aber ich denke, das ist dir bereits klar, meine Liebe."
    
  "Ich habe da so eine kleine Idee", sagt Dikanti ironisch.
    
  "Seguin sagte mir, Negroponte, George Bush habe sich persönlich für diese Angelegenheit eingesetzt. Der Präsident ist der Ansicht, er stehe in der Schuld von Johannes Paul II., der einen dazu zwingt, ihm in die Augen zu sehen und ihn anzuflehen, nicht in den Irak einzumarschieren. Bush sagte Negroponte, dass er zumindest das dem Andenken Wojtylas schulde."
    
  -Oh mein Gott. Diesmal wird es kein Team geben, oder?
    
  -Beantworten Sie die Frage selbst.
    
  Dikanti sagte nichts. Wenn Geheimhaltung oberste Priorität hatte, muss ich mit dem arbeiten, was ich habe. Keine Messe.
    
  "Regisseur, finden Sie das nicht alles ein bisschen anstrengend?" Dikanti war sehr müde und von den Umständen niedergeschlagen. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie so etwas gesagt, und lange danach bereute er diese Worte.
    
  Der Junge hob ihr Kinn mit den Fingern an und zwang sie, geradeaus zu schauen.
    
  "Das übersteigt unsere Vorstellungskraft, Bambina. Aber Olvi, du kannst dir alles wünschen. Denk nur mal darüber nach: Da ist ein Monster, das Menschen tötet. Und du jagst Monster."
    
  Paola lächelte dankbar. "Ich wünsche dir noch einmal, zum letzten Mal, alles Gute, auch wenn ich wusste, dass es ein Fehler war und ich dir damit das Herz brechen würde." Zum Glück war es nur ein flüchtiger Moment, und er versuchte sofort, sich wieder zu fassen. Ich war mir sicher, dass er nichts bemerkt hatte.
    
  "Direktor, ich befürchte, dass Fowler sich während der Ermittlungen in unserer Nähe aufhalten wird. Ich könnte ein Hindernis sein."
    
  -Podía. Und er könnte auch sehr nützlich sein. Dieser Mann war beim Militär und ist ein erfahrener Scharfschütze. Neben... anderen Fähigkeiten. Ganz zu schweigen davon, dass er unseren Hauptverdächtigen in- und auswendig kennt und Priester ist. Sie werden sich in einer Welt zurechtfinden müssen, die Ihnen noch nicht ganz vertraut ist, genau wie Superintendent Dante. Bedenken Sie, dass unser Kollege aus dem Vatikan Ihnen Türen geöffnet hat und Fowler Ihnen neue Perspektiven eröffnet hat.
    
  Dante ist ein unerträglicher Idiot.
    
  "Ich weiß. Und es ist auch ein notwendiges Übel. Alle potenziellen Opfer unseres Verdächtigen befinden sich in seiner Gewalt. Selbst wenn wir nur wenige Meter voneinander entfernt sind, ist es ihr Territorium."
    
  "Und Italien gehört uns. Im Fall Portini handelten sie rechtswidrig und ohne Rücksicht auf uns. Das ist Justizbehinderung."
    
  Der Regisseur zuckte mit den Achseln, Niko tat es ihm gleich.
    
  Was wird mit den Viehbesitzern geschehen, wenn sie sie verurteilen? Es hat keinen Sinn, Streit zwischen uns zu schüren. Olvi will, dass alles gut geht, also können sie es gleich ruinieren. Jetzt brauchen wir Dante. Wie du ja weißt, sind die Éste seine Verbündeten.
    
  - Du bist der Boss.
    
  "Und Sie sind meine Lieblingslehrerin. Nun gut, Dikanti, ich werde mich etwas ausruhen und einige Zeit im Labor verbringen, um jedes einzelne Stück von dem, was man mir bringt, zu analysieren. Ich überlasse es Ihnen, Ihr Luftschloss zu bauen."
    
  Der Junge ging bereits den Flur entlang, blieb aber plötzlich an der Schwelle stehen, drehte sich um und schaute sie von Schritt zu Schritt an.
    
  - Nur eine Sache, mein Herr. Negroponte bat mich, ihn zum Cabrón Cabrón zu bringen. Er bat mich um einen persönlichen Gefallen. Er... Folgen Sie mir? Und seien Sie versichert, dass wir uns freuen werden, dass Sie uns diesen Gefallen schulden.
    
    
    
  Pfarrei St. Thomas
    
  Augusta, Massachusetts
    
  Juli 1992
    
    
    
  Harry Bloom stellte den Kollektenkorb auf den Tisch unten in der Sakristei. Sieh dich noch einmal in der Kirche um. Niemand ist mehr da ... Am Samstagmorgen waren nicht viele Leute gekommen. Wenn du dich beeilst, kommst du gerade noch rechtzeitig zum Finale über 100 Meter Freistil. Du musst nur noch die Ministrantin im Schrank lassen, deine schicken Schuhe gegen Turnschuhe tauschen und nach Hause sausen. Orita Mona, seine Lehrerin aus der vierten Klasse, sagt ihm das jedes Mal, wenn er durch die Schulflure rennt. Seine Mutter sagt es ihm jedes Mal, wenn er ins Haus platzt. Aber auf dem halben Kilometer, der die Kirche von seinem Zuhause trennte, herrschte Freiheit ... er konnte so viel rennen, wie er wollte, solange er vor dem Überqueren der Straße nach links und rechts schaute. Wenn ich älter bin, werde ich Sportler.
    
  Sie faltete den Koffer vorsichtig zusammen und legte ihn in den Schrank. Darin befand sich sein Rucksack, aus dem er seine Turnschuhe holte. Sie zog gerade vorsichtig ihre Schuhe aus, als sie Pater Karoskis Hand auf ihrer Schulter spürte.
    
  - Harry, Harry... Ich bin sehr enttäuscht von dir.
    
  Nío wollte sich gerade umdrehen, doch Pater Karoskas Hand hielt ihn davon ab.
    
  - Habe ich wirklich etwas Schlimmes getan?
    
  Der Tonfall meines Vaters hatte sich verändert. Es war, als ob ich schneller atmete.
    
  - Oh, und obendrein spielst du die Rolle eines kleinen Jungen. Noch schlimmer.
    
  - Vater, ich weiß wirklich nicht, was ich getan habe...
    
  - Welch eine Unverschämtheit! Sind Sie nicht zu spät dran, um vor der Messe den Rosenkranz zu beten?
    
  - Vater, die Sache ist die: Mein Bruder Leopold hat mich nicht auf die Toilette gehen lassen, und, nun ja, du weißt schon... Es ist nicht meine Schuld.
    
  Sei still, du Schamloser! Rechtfertige dich nicht. Nun gibst du zu, dass die Sünde des Lügens die Sünde deiner Selbstverleugnung ist.
    
  Harry war überrascht, als er erfuhr, dass ich ihn erwischt hatte. In Wahrheit war es ihre Schuld. Sie öffnete die Tür und sah nach, wie spät es war.
    
  - Es tut mir leid, Vater...
    
  - Es ist sehr schlimm, wenn Kinder einen anlügen.
    
  Jemas Habi hatte Pater Karoski schon so wütend reden hören. Jetzt bekam sie richtig Angst. Er versuchte sich einmal umzudrehen, aber meine Hand presste ihn mit voller Wucht gegen die Wand. Nur war es keine Hand mehr. Es war eine Klaue, wie die des Werwolfs in der NBC-Serie. Und die Klaue bohrte sich in seine Brust und presste sein Gesicht gegen die Wand, als wollte sie ihn hindurchzwingen.
    
  Nun, Harry, nimm deine Strafe an. Zieh deine Hose hoch und dreh dich nicht um, sonst wird es noch viel schlimmer.
    
  Niío hörte etwas Metallisches zu Boden fallen. Er zog Nico die Hose herunter, überzeugt, dass er gleich eine Tracht Prügel bekommen würde. Der vorherige Diener, Stephen, hatte ihm leise erzählt, dass Pater Karoski ihn einmal bestraft hatte und dass es sehr schmerzhaft gewesen war.
    
  "Nun nimm deine Strafe an", wiederholte Karoski heiser und presste seinen Mund dicht an ihren Hinterkopf. "Mir läuft es kalt den Rücken runter. Du bekommst frische Minze mit Aftershave-Geschmack." In einem atemberaubenden Gedankensprung erkannte sie, dass Karoskis Vater dieselben Orte benutzt hatte wie ihr Vater.
    
  - ¡Arrepiétete!
    
  Harry spürte einen Ruck und einen stechenden Schmerz zwischen den Pobacken und glaubte, er würde sterben. Es tat ihm so leid, dass er zu spät war, so leid, so leid. Aber selbst wenn er Talon davon erzählte, würde es nichts nützen. Der Schmerz hielt an und wurde mit jedem Atemzug stärker. Harry, das Gesicht an die Wand gepresst, erblickte seine Turnschuhe auf dem Boden der Sakristei, wünschte sich, er hätte sie an, und rannte mit ihnen davon, frei und weit weg.
    
  Frei und weit weg, sehr weit weg.
    
    
    
  Die Wohnung der Familie Dikanti
    
  Via Della Croce, 12
    
  Moyércoles, 6. April 2005, 1:59 Uhr
    
    
    
  - Ich wünsche mir Veränderung.
    
  - Sehr großzügig, grazie tante.
    
  Paola ignorierte das Angebot des Taxifahrers. So ein Großstadt-Mist! Selbst der Taxifahrer beschwerte sich, weil das Trinkgeld nur sechzig Cent betrug. Das wäre... igitt. Viel Geld gewesen. Natürlich. Und als ob das nicht schon genug wäre, gab er auch noch unverschämt Gas, bevor er davonfuhr. Wäre ich ein Gentleman gewesen, hätte ich gewartet, bis er im Haus war. Es war zwei Uhr morgens, und, mein Gott, die Straße war wie ausgestorben.
    
  Mach es warm für ihr Kleines, aber trotzdem ... Paola Cintió fröstelte, als sie das Portal öffnete. Hast du den Schatten am Ende der Straße gesehen? Ich bin sicher, es war nur seine Einbildung.
    
  Schließ die Tür hinter ihr ganz leise, bitte, verzeih mir meine Angst vor einem Schlag. Ich rannte alle drei Stockwerke hoch. Die Holztreppe knarzte furchtbar, aber Paola hörte nichts, weil ihr das Blut aus den Ohren strömte. Fast atemlos erreichten wir die Wohnungstür. Doch als wir den Treppenabsatz erreichten, blieb sie stecken.
    
  Die Tür war angelehnt.
    
  Langsam und vorsichtig knöpfte sie ihre Jacke auf und griff nach ihrer Handtasche. Er zog seine Dienstwaffe und nahm Kampfstellung ein, den Ellbogen am Oberkörper. Ich drückte die Tür mit einer Hand auf und betrat die Wohnung sehr langsam. Das Licht im Flur brannte. Vorsichtig trat er ein, riss dann die Tür mit einem Ruck auf und deutete in den Türrahmen.
    
  Nichts.
    
  -Paola?
    
  -¿Mamaá?
    
  - Komm herein, Tochter, ich bin in der Küche.
    
  Ich atmete erleichtert auf und verstaute die Waffe. Gem hatte den Umgang mit einer Waffe in einer realen Situation nur an der FBI-Akademie gelernt. Dieser Vorfall machte sie sichtlich extrem nervös.
    
  Lucrezia Dicanti war in der Küche und bestrich Kekse mit Butter. Es war das Geräusch der Mikrowelle und eines Gebets, das zwei dampfende Tassen Milch herausholte. Wir stellten sie auf den kleinen Formica-Tisch. Paola blickte sich um, ihre Brust hob und senkte sich. Alles war an seinem Platz: das kleine Schweinchen mit den Holzlöffeln um die Hüfte, die glänzende Farbe, die sie selbst aufgetragen hatten, der Hauch von Goldduft, der noch in der Luft hing. Er wusste, dass seine Mutter Echo Canolis war. Sie wusste auch, dass sie alle Kekse gegessen hatte, und deshalb hatte ich ihr die Kekse angeboten.
    
  -Werde ich mit Stas zu dir kommen? Falls du mich salben willst.
    
  "Mama, um Himmels willen, du hast mich zu Tode erschreckt! Darf ich fragen, warum du die Tür offen gelassen hast?"
    
  Ich hätte beinahe geschrien. Ihre Mutter sah sie besorgt an. Schütteln Sie das Papiertuch vom Bademantel ab und wischen Sie mit den Fingerspitzen, um eventuelle Ölreste zu entfernen.
    
  "Tochter, ich war wach und habe auf der Terrasse die Nachrichten gehört. Ganz Rom ist in Aufruhr, die Papstkapelle brennt, im Radio wird über nichts anderes berichtet... Ich beschloss, zu warten, bis du aufwachst, und sah dich aus dem Taxi steigen. Es tut mir leid."
    
  Paola fühlte sich sofort unwohl und bat darum, einen fahren zu dürfen.
    
  - Beruhig dich, Frau. Nimm den Keks.
    
  -Danke, Mama.
    
  Die junge Frau saß neben ihrer Mutter, die sie unverwandt ansah. Seit Paola klein war, hatte Lucrezia gelernt, jedes aufkommende Problem sofort zu erfassen und ihr den richtigen Rat zu geben. Nur das Problem, das ihm im Kopf herumspukte, war zu ernst, zu komplex. Ich weiß nicht einmal, ob es diesen Ausdruck überhaupt gibt.
    
  -Liegt es an der Arbeit?
    
  - Du weißt, dass ich nicht darüber reden kann.
    
  "Ich weiß, und wenn man so ein Gesicht macht, als hätte einem jemand auf den Zeh getreten, verbringt man die ganze Nacht wach. Bist du sicher, dass du mir nichts erzählen willst?"
    
  Paola blickte auf ihr Glas Milch und gab, während sie sprach, Löffel für Löffel Azikar hinzu.
    
  "Es ist einfach... ein anderer Fall, Mama. Ein Fall für Verrückte. Ich fühle mich wie ein verdammtes Glas Milch, in das jemand immer wieder Stickstoff gießt. Der Stickstoff löst sich nicht mehr auf und füllt nur noch das Glas."
    
  Lucrezia, meine Liebe, legt kühn ihre offene Hand auf das Glas, und Paola gießt einen Löffel voll Zucker in ihre Handfläche.
    
  -Manchmal hilft es, es zu teilen.
    
  - Das geht nicht, Mama. Es tut mir leid.
    
  "Schon gut, mein Schatz, schon gut. Möchtest du einen Keks von mir? Ich bin mir sicher, du hast noch nichts zu Abend gegessen", sagte Ora und wechselte klugerweise das Thema.
    
  "Nein, Mama, Stas reicht mir. Ich habe ein Tamburin, wie im Roma-Stadion."
    
  Meine Tochter, du hast einen wunderschönen Hintern.
    
  - Ja, deshalb bin ich immer noch nicht verheiratet.
    
  "Nein, meine Tochter. Du bist immer noch Single, weil du ein wirklich schlechtes Auto hast. Du bist hübsch, kümmerst dich um dich selbst, gehst ins Fitnessstudio... Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du einen Mann findest, der sich von deinem Geschrei und deinen schlechten Manieren nicht abschrecken lässt."
    
  - Ich glaube nicht, dass das jemals passieren wird, Mama.
    
  - Warum nicht? Was können Sie mir über Ihren Chef, diesen charmanten Mann, erzählen?
    
  - Sie ist verheiratet, Mama. Und er könnte mein Vater sein.
    
  "Wie übertrieben das doch ist! Bitte richten Sie mir das aus und achten Sie darauf, dass ich ihn nicht beleidige. Außerdem ist die Frage der Ehe in der modernen Welt irrelevant."
    
  Wenn du nur wüsstest, denk an Paola.
    
  - Was meinst du, Mama?
    
  -Ich bin überzeugt. Madonna, was für wunderschöne Hände sie hat! Ich habe mit ihr einen Slang-Tanz getanzt...
    
  - Mama! Er könnte mich schockieren!
    
  "Seit dein Vater uns vor zehn Jahren verlassen hat, Tochter, habe ich keinen einzigen Tag verbracht, ohne an él zu denken. Aber ich glaube nicht, dass ich so sein werde wie diese sizilianischen Witwen in Schwarz, die Muschelschalen neben die Eier ihrer Männer werfen. Komm, trink noch einen, und lass uns ins Bett gehen."
    
  Paola tunkte einen weiteren Keks in Milch, überschlug im Kopf, wie heiß sie war, und fühlte sich dabei unglaublich schuldig. Zum Glück dauerte es nicht lange.
    
    
    
  Aus dem Briefwechsel des Kardinals
    
  Francis Shaw und die Señora Edwina Bloom
    
    
    
  Boston, 23.02.1999
    
  Liebling, sei und bete:
    
  In Bezug auf Ihren Brief vom 17. Februar 1999 möchte ich Ihnen versichern, dass ich Ihren Schmerz und den Schmerz Ihres Sohnes Harry respektiere und bedauere. Ich bin mir des immensen Leids bewusst, das er ertragen musste. Ich stimme Ihnen zu, dass die Fehler, die Pater Karoski begangen hat, die Grundfesten seines Glaubens erschüttern können. Ich gestehe meinen Fehler ein. Ich hätte Pater Karoski niemals versetzen dürfen. Vielleicht hätte ich beim dritten Mal, als besorgte Gläubige wie Sie sich mit ihren Beschwerden an mich wandten, einen anderen Weg einschlagen sollen. Nachdem er von Psychiatern, die seinen Fall begutachteten, wie beispielsweise Dr. Dressler, der sein berufliches Ansehen gefährdete, indem er ihn für den Kirchendienst als geeignet erklärte, schlechte Ratschläge erhalten hatte, gab er schließlich nach.
    
  Ich hoffe, dass die mit seinem Anwalt vereinbarte großzügige Entschädigung diese Angelegenheit zur Zufriedenheit aller Beteiligten beigelegt hat (...), da sie mehr ist, als wir (...) Amos bieten können, sofern wir es überhaupt könnten. Um seinen finanziellen Schmerz zu lindern, möchte ich ihm, wenn ich so frei sein darf, zum Schweigen raten, zum Wohle aller (...). Unsere Heilige Mutter Kirche hat bereits genug unter den Verleumdungen der Bösen, des mittelbaren Satans, gelitten (...). Zum Wohle aller. Unsere kleine Gemeinde, um seines Sohnes und um seinetwillen, lasst uns so tun, als sei dies nie geschehen.
    
  Nimm all meine Segenswünsche an.
    
    
  Francis Augustus Shaw
    
  Kardinalprälat der Erzdiözese Boston und Cesis
    
    
    
    Instituto Saint Matthew
    
  Silver Spring, Maryland
    
    November 1995
    
    
    
  TRANSKRIPT DES INTERVIEWS NR. 45 ZWISCHEN PATIENTEN NR. 3643 UND DR. CANIS CONROY. ANWESEND IN TEILNEHMEN VON DR. FOWLER UND SALER FANABARZRA
    
    
  D.R. CONROY: Hola Viktor, ¿podemos pasar?
    
  #3643: Bitte, Doktor. Das ist seine Frau, Nika.
    
  #3643: Bitte herein, bitte herein.
    
  DOKTOR CONROY: Geht es ihr gut?
    
  #3643: Ausgezeichnet.
    
  DR. CONROY Sie nehmen Ihre Medikamente regelmäßig ein, besuchen regelmäßig die Gruppensitzungen... Sie machen Fortschritte, Victor.
    
  #3643: Danke, Doktor. Ich tue mein Bestes.
    
  DOKTOR CONROY: Okay, da wir heute schon darüber gesprochen haben, beginnen wir mit diesem ersten Schritt in der Regressionstherapie. Das ist der Beginn von Fanabarzra. Er ist Dr. Hindú und spezialisiert auf Hypnose.
    
  #3643 : Doktor, ich weiß nicht, ob ich das Gefühl habe, gerade mit der Idee konfrontiert worden zu sein, einem solchen Experiment unterzogen zu werden.
    
  DOKTOR CONROY: Das ist wichtig, Victor. Wir haben letzte Woche darüber gesprochen, erinnern Sie sich?
    
  #3643 : Sí, ich erinnere mich.
    
  Wenn Sie Fanabarzra sind, bevorzugen Sie es, wenn der Patient sitzt?
    
  Herr FANABARZRA: Halten Sie sich an Ihre normale Bettroutine. Es ist wichtig, dass Sie so entspannt wie möglich sind.
    
  DOCTOR CONROY Túmbate, Viktor.
    
  #3643 : Wie Sie wünschen.
    
    Schwester Fanabarzra: Viktor, bitte kommen Sie zu mir. Würden Sie die Jalousien ein wenig herunterlassen, Doktor? Das genügt, danke. Viktor, sehen Sie sich bitte den Jungen an, wenn Sie so freundlich wären.
    
  (Auf Wunsch von Herrn Fanabarzra wurde in diesem Transkript die Hypnoseprozedur weggelassen. Zur besseren Lesbarkeit wurden außerdem die Pausen entfernt.)
    
    
  Herr FANABARZRA: Okay... es ist 1972. Was erinnern Sie sich an die geringe Größe der Stadt?
    
  #3643: Mein Vater... war nie zu Hause. Manchmal wartete die ganze Familie freitags in der Fabrik auf ihn. Mama, am 22. Dezember erfuhr ich, dass er drogenabhängig war und wir versuchten, zu verhindern, dass er sein Geld in Bars ausgab. Wir mussten dafür sorgen, dass die Leute rauskamen. Wir warteten und hofften. Wir traten gegen den Boden, um uns warm zu halten. Emil (Karoskas kleiner Bruder) bat mich um seinen Schal, weil er einen Vater hat. Ich gab ihn ihr nicht. Meine Mutter schlug mir auf den Kopf und sagte, ich solle ihn ihr geben. Schließlich hatten wir das Warten satt und gingen.
    
  Herr FANABARZRA: Wissen Sie, wo Ihr Vater war?
    
  Er wurde gefeuert. Ich kam zwei Tage nach meiner Krankheit nach Hause. Mama sagte, Habiá trank und trieb sich mit Prostituierten herum. Sie stellten ihm einen Scheck aus, aber er lebte nicht lange. Lass uns zur Rentenversicherung gehen und Papas Scheck abholen. Aber manchmal kam Papa nach vorne und trank ihn. Emil versteht nicht, warum jemand Papier trinken sollte.
    
  Herr FANABARZRA: Haben Sie um Hilfe gebeten?
    
  #3643: Die Gemeinde gab uns manchmal Kleidung. Andere Jungen gingen ins Armenhaus, um dort Kleidung zu bekommen, was immer besser war. Aber Mama sagte, sie seien Ketzer und Heiden, und es sei besser, anständige christliche Kleidung zu tragen. Beria (der Ältere) stellte fest, dass seine anständigen christlichen Kleider voller Löcher waren. Ich hasse ihn dafür.
    
  Herr FANABARZRA: Waren Sie froh, als Beria ging?
    
  #3643: Ich lag im Bett. Ich sah ihn im Dunkeln durchs Zimmer gehen. Er hielt seine Schuhe in der Hand. Er gab mir seinen Schlüsselbund. "Nimm den silbernen Bären", sagte er. "Ich soll die passenden Schlüssel ins Schloss stecken." Ich schwöre bei Mama Anna Emil Llor, denn sie wurde nicht aus dem Schloss gefeuert. Ich gab ihm den Schlüsselbund. Emil weinte ununterbrochen und warf den Schlüsselbund um sich. Er weinte den ganzen Tag. Ich zerschmetterte das Bilderbuch, das ich für ihn hatte, damit er endlich Ruhe gab. Ich zerriss es mit der Schere. Mein Vater sperrte mich in mein Zimmer.
    
  Herr FANABARZRA: Wo war Ihre Mutter?
    
  #3643: In der Gemeinde wurde Bingo gespielt. Es war Dienstag. Dienstags wurde Bingo gespielt. Jeder Wagen kostete einen Penny.
    
  Herr FANABARZRA: Was geschah in diesem Zimmer?
    
    #3643 : Nichts . Esper é.
    
  Sr. FANABARZRA: Viktor, ich bin Ihnen dankbar.
    
    #3643: Verpassen Sie bloß nichts, verstanden, Sir, GAR NICHTS!
    
    Schwester FANABARZRA: Viktor, irgendetwas stimmt nicht. Dein Vater hat dich in seinem Zimmer eingesperrt und dir etwas angetan, nicht wahr?
    
  #3643: Du verstehst es nicht. Ich verdiene es!
    
  Herr FANABARZRA: Ist das das, was du verdienst?
    
  #3643: Strafe. Strafe. Ich brauchte viel Strafe, um meine schlechten Taten zu bereuen.
    
  Herr FANABARZRA: Was ist los?
    
  #3643: Alles Schlechte. Wie schlecht es war. Über Katzen. Er traf eine Katze in einem Mülleimer voller zerknitterter Zeitschriften und zündete ihn an. Kalt! Kalt, mit menschlicher Stimme. Und über ein Märchen.
    
  Herr: War das eine Strafe, Victor?
    
  #3643: Schmerz. Es tut mir weh. Und sie mochte ihn, das weiß ich. Ich beschloss, dass es auch weh tat, aber es war eine Lüge. Es ist auf Polnisch. Ich kann nicht auf Englisch lügen, zögerte er. Er sprach immer Polnisch, wenn er mich bestrafte.
    
  Herr FANABARZRA: Hat er Sie berührt?
    
  #3643: Er schlug mir auf den Hintern. Er ließ mich nicht umdrehen. Und ich stieß gegen etwas in mir. Etwas Heißes, das weh tat.
    
  Herr FANABARZRA: Waren solche Strafen üblich?
    
  #3643: Jeden Dienstag. Wenn Mama nicht da war. Manchmal, wenn er fertig war, schlief er auf mir ein. Als wäre er tot. Manchmal konnte er mich nicht bestrafen und schlug mich.
    
  Herr FANABARZRA: Hat er Sie geschlagen?
    
  #3643: Er hielt meine Hand, bis er es leid war. Manchmal kannst du mich bestrafen, nachdem du mich geschlagen hast, und manchmal nicht.
    
    Schwester FANABARZRA: Hat dein Vater sie bestraft , Viktor?
    
  Ich glaube, er hat Beria bestraft. Niemals Emil, Emil ging es gut, also ist er gestorben.
    
  Sterben die Guten, Victor?
    
  Ich kenne gute Kerle. Böse Kerle nie.
    
    
    
  Gouverneurspalast
    
  Vatikan
    
  Moyércoles, 6. April 2005, 10:34 Uhr.
    
    
    
  Paola wartete auf Dante und wischte mit kurzen, nervösen Schritten den Teppich im Flur. Der Start ins Leben war denkbar schlecht gewesen. Er hatte die Nacht kaum geschlafen und war nun im Büro angekommen, von einem erdrückenden Berg an Papierkram und Verpflichtungen überwältigt worden. Guido Bertolano, der Leiter des italienischen Zivilschutzes, war äußerst besorgt über den zunehmenden Zustrom von Pilgern in die Stadt. Sportzentren, Schulen und alle möglichen städtischen Einrichtungen mit Dächern und zahlreichen Spielplätzen waren bereits völlig überfüllt. Nun schliefen sie auf den Straßen, an Portalen, auf Plätzen und an Fahrkartenautomaten. Dikanti hatte ihn kontaktiert und um Hilfe bei der Suche und Festnahme des Verdächtigen gebeten, woraufhin Bertolano ihm höflich ins Ohr lachte.
    
  Selbst wenn es sich bei dem Verdächtigen um denselben Simo Osama handeln würde, könnten wir wenig tun. Natürlich könnte er warten, bis alles vorbei ist, lieber Barullo.
    
  -Ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst ist...
    
  "Die Disponentin ... Dikanti sagte, sie ruft Sie an, nicht wahr? En Fiumicino ist an Bord der Air Force One 17. Es gibt kein einziges Fünf-Sterne-Hotel, das nicht einen Kronprinzen in der Präsidentensuite hat. Verstehen Sie, was für ein Albtraum es ist, diese Leute zu beschützen? Alle Viertelstunde gibt es Hinweise auf mögliche Terroranschläge und falsche Bombendrohungen. Ich rufe die Carabinieri aus den Dörfern im Umkreis von zweihundert Metern an. Cré love me, your business can wait. Now not quitting my line please", sagte er und legte abrupt auf.
    
  Verdammt! Warum hat sie niemand ernst genommen? Der Fall war ein schwerer Schock, und die Unklarheit des Urteils hinsichtlich der Art des Falles trug dazu bei, dass jegliche Beschwerden seinerseits von den Demokraten ignoriert wurden. Ich habe viel Zeit am Telefon verbracht, aber kaum etwas erreicht. Zwischen den Anrufen bat ich Pontiero, mit der alten Karmelitin aus Santa María in Transpontina zu sprechen, während sie mit Kardinal Samalò sprach. Und alle standen draußen vor der Tür des Büros des diensthabenden Offiziers und kreisten wie ein Tiger, der sich mit Kaffee vollgesogen hat.
    
  Pater Fowler sitzt bescheiden auf einer luxuriösen Kirchenbank aus Palisanderholz und liest in seinem Brevier.
    
  - In solchen Momenten bereue ich es, mit dem Rauchen aufgehört zu haben, Dottora.
    
  -Ist Tambié nervös, Vater?
    
  - Nein. Aber Sie bemühen sich sehr, dies zu erreichen.
    
  Paola verstand den Wink des Priesters und ließ sich von ihm herumdrehen. Er setzte sich neben sie. Ich tat so, als läse ich Dantes Bericht über das erste Verbrechen und dachte dabei an den zusätzlichen Blick, den der vatikanische Superintendent Pater Fowler zugeworfen hatte, als er sie im Hauptquartier der UACV vom Justizministerium einander vorstellte. "Anna, Dante, sei nicht wie er." Der Inspektor war alarmiert und zugleich neugierig. Ich beschloss, Dante bei der ersten Gelegenheit zu bitten, diese Formulierung zu erklären.
    
  Ich habe Ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bericht gelenkt. Er war absoluter Unsinn. Offensichtlich hatte Dante seine Pflichten vernachlässigt, was ihm andererseits zugutekam. Ich muss den Ort, an dem Kardinal Portini starb, gründlich untersuchen, in der Hoffnung, etwas Interessanteres zu finden. Ich werde es noch heute tun. Wenigstens waren die Fotos nicht schlecht. Schlagen Sie die Mappe zu. Er kann sich nicht konzentrieren.
    
  Es fiel ihr schwer, ihre Angst einzugestehen. Er befand sich im selben vatikanischen Gebäude, isoliert vom Rest der Stadt, mitten in Città. In diesem Gebäude werden über 1500 Depeschen aufbewahrt, darunter auch die des Papstes. Paola war schlichtweg beunruhigt und abgelenkt von der Fülle an Statuen und Gemälden, die die Säle füllten. Dies war das Ergebnis, nach dem die vatikanischen Beamten seit Jahrhunderten gestrebt hatten, die Wirkung, die sie auf ihre Stadt und ihre Besucher kannten. Doch Paola durfte sich nicht von ihrer Arbeit ablenken lassen.
    
  -Padre Fowler.
    
  -¿Sí?
    
  - Darf ich Ihnen eine Frage stellen?
    
  -Sicherlich.
    
  - Das ist das erste Mal, dass ich einen Kardinal sehe.
    
  - Das stimmt nicht.
    
  Paola dachte einen Moment nach.
    
  - Ich meine, am Leben.
    
  - Und warum ist das Ihre Frage?
    
  -¿Sómo spricht den Kardinal allein an?
    
  "Mit Respekt, Ihre", sagte Fowler, schloss sein Tagebuch und sah ihr in die Augen. "Ruhig, fürsorglich. Er ist ein Mann wie Sie und ich. Und Sie sind die leitende Ermittlerin und eine hervorragende Fachfrau. Benehmen Sie sich normal."
    
  Dikanti lächelte dankbar. Schließlich öffnete Dante die Tür zum Flur.
    
  -Bitte kommen Sie diesen Weg entlang.
    
  Das ehemalige Büro enthielt zwei Schreibtische, hinter denen zwei Priester saßen, die für Telefonate und E-Mails zuständig waren. Beide begrüßten die Besucher mit einer höflichen Verbeugung, die dann ohne weiteres ins Büro des Kammerdieners gingen. Es war ein schlichter Raum, ohne Gemälde oder Teppiche, mit einem Bücherregal an der einen und einem Sofa mit Beistelltischen an der anderen Seite. Ein Kruzifix an einem Stab schmückte die Wände.
    
  Im Gegensatz zu den leeren Wänden war der Schreibtisch von Eduardo González Samaló, dem Mann, der die Kirche bis zur Wahl des neuen Sumo Pon Fis geleitet hatte, bis zum Bersten mit Papieren bedeckt. Samaló, in einer sauberen Soutane, erhob sich und kam ihnen entgegen. Fowler beugte sich hinunter und küsste den Ring des Kardinals als Zeichen des Respekts und Gehorsams, wie es alle Katzen tun, wenn sie einen Kardinal begrüßen. Paola blieb zurückhaltend und senkte leicht den Kopf - etwas verlegen. Seit ihrer Kindheit hatte sie sich nicht mehr als Katze gesehen.
    
  Samalo nimmt den Sturz des Inspektors gelassen hin, doch Müdigkeit und Bedauern sind ihr deutlich anzusehen. Jahrzehntelang war sie die mächtigste Person im Vatikan gewesen, aber es war ihr sichtlich unangenehm, diese Rolle auszufüllen.
    
  "Es tut mir leid, dass ich Sie warten ließ. Ich telefoniere gerade mit einem Delegierten der deutschen Kommission, der sehr nervös ist. Es sind nirgendwo mehr Hotelzimmer frei, und die Stadt befindet sich im kompletten Chaos. Und jeder möchte bei der Beerdigung seiner Ex-Mutter und von Anna in der ersten Reihe sitzen."
    
  Paola nickte höflich.
    
  - Ich nehme an, das Ganze muss verdammt umständlich sein.
    
  Samalo, ich widme jedem einzelnen ihrer Antworten ihren gelegentlichen Seufzer.
    
  -Ist Ihnen bewusst, was geschehen ist, Eure Eminenz?
    
  "Selbstverständlich. Camilo Sirin informierte mich umgehend über den Vorfall. Das Ganze war eine furchtbare Tragödie. Ich nehme an, unter anderen Umständen hätte ich auf diese niederträchtigen Verbrecher viel härter reagiert, aber ehrlich gesagt hatte ich keine Zeit, entsetzt zu sein."
    
  "Wie Sie wissen, Eminenz, müssen wir auch an die Sicherheit der anderen Kardinäle denken."
    
  Samalo deutete auf Dante.
    
  -Vigilance unternahm besondere Anstrengungen, alle Anwesenden früher als geplant in der Domus Sanctae Marthae zu versammeln und die Unversehrtheit der Stätte zu schützen.
    
  -¿La Domus Sanctae Marthae?
    
  "Dieses Gebäude wurde auf Wunsch von Johannes Paul II. renoviert und diente während des Konklaves als Residenz der Kardinäle", warf Dante ein.
    
  -Eine sehr ungewöhnliche Nutzung für ein ganzes Gebäude, nicht wahr?
    
  "Der Rest des Año wird für die Unterbringung hochrangiger Gäste genutzt. Ich glaube sogar, Sie haben dort einmal übernachtet, nicht wahr, Pater Fowler?", sagte Samalo.
    
    Fowler stand da, den Kopf gesenkt. Für einen kurzen Augenblick schien es, als hätte zwischen ihnen eine kurze, nicht feindselige Auseinandersetzung stattgefunden, ein Kampf der Willen. Es war Fowler, der den Kopf senkte.
    
  - In der Tat, Eure Eminenz. Ich war einige Zeit Gast des Heiligen Stuhls.
    
  - Ich glaube, Sie hatten Probleme mit Uffizio 18.
    
  - Ich wurde zu einer Beratung über Ereignisse einbestellt, an denen ich tatsächlich teilgenommen habe. Es ging nur um mich.
    
  Der Kardinal schien mit der sichtbaren Unruhe des Priesters zufrieden zu sein.
    
  "Ach, aber selbstverständlich, Pater Fowler ... Sie brauchen mir keine Erklärungen zu geben. Sein Ruf eilte ihm voraus. Wie Sie wissen, Inspektor Dikanti, bin ich dank unserer hervorragenden Wachsamkeit beruhigt, was die Sicherheit meiner Kardinalsbrüder angeht. Fast alle sind hier, tief im Inneren des Vatikans, in Sicherheit. Einige sind noch nicht angekommen. Grundsätzlich war der Aufenthalt in der Domus bis zum 15. April freiwillig. Viele Kardinäle waren Gemeinschaften oder Priesterresidenzen zugeteilt. Aber nun haben wir Sie darüber informiert, dass Sie alle zusammenbleiben müssen."
    
  -¿Wer ist derzeit in Domus Sanctae Marthae?
    
  "Vierundachtzig. Die übrigen, bis zu einhundertfünfzehn, werden innerhalb der ersten zwei Stunden eintreffen. Wir haben versucht, alle zu kontaktieren, um ihnen ihre Route mitzuteilen und so die Sicherheit zu verbessern. Diesen Leuten mache ich mir Sorgen. Aber wie ich Ihnen bereits gesagt habe, hat Generalinspektor Sirin das Kommando. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, meine liebe Nina."
    
  -¿In diesen einhundertfünfzehn Staaten á einschließlich Robaira und Portini? -inquirió Dicanti, verärgert über die Nachsicht des Camerlengo.
    
  "Okay, ich meine wohl eher einhundertdreizehn Kardinäle", erwiderte ich scharf. Samalo. Er war ein stolzer Mann und mochte es nicht, wenn ihn eine Frau korrigierte.
    
  "Ich bin sicher, Seine Eminenz hat sich dafür bereits einen Plan ausgearbeitet", warf Fowler versöhnlich ein.
    
  "Tatsächlich ... Wir werden das Gerücht verbreiten, Portini sei krank auf dem Landsitz seiner Familie in Córcega. Die Krankheit endete leider tragisch. Was Robaira betrifft, so hindern ihn bestimmte Angelegenheiten im Zusammenhang mit seiner pastoralen Tätigkeit daran, an der Konklave teilzunehmen, obwohl er nach Rom reist, um sich dem neuen päpstlichen Sumo zu unterwerfen. Leider wird er bei einem Autounfall ums Leben kommen, da ich durchaus eine Lebensversicherung abschließen könnte. Diese Nachricht wird erst nach ihrer Veröffentlichung in der Konklave öffentlich gemacht."
    
  Paola ist nicht von Staunen überwältigt.
    
  "Ich sehe, dass Seine Eminenz alles geregelt und gut organisiert hat."
    
  Der Camerlengo räuspert sich, bevor er antwortet.
    
  "Es ist dieselbe Version wie alle anderen. Und es ist diejenige, die niemandem gegeben wird und auch in Zukunft niemandem gegeben werden wird."
    
  - Abgesehen von der Wahrheit.
    
  - Dies ist die Kirche der Katzen, ihr Gesicht, ihr Sender. Inspiration und Licht, die Milliarden von Menschen den Weg weist. Wir dürfen uns nicht verirren. Was ist aus dieser Perspektive die Wahrheit?
    
  Dikanti verzog das Gesicht, obwohl sie die Logik in den Worten des alten Mannes verstand. Ihr überlegte sie, wie sie ihm widersprechen könnte, aber mir wurde klar, dass ich damit nicht weiterkommen würde. Ich zog es vor, das Interview fortzusetzen.
    
  "Ich gehe davon aus, dass Sie den Kardinälen den Grund für Ihre vorzeitige Konzentration nicht mitteilen werden."
    
  -Überhaupt nicht. Ihnen wurde direkt geraten, nicht abzureisen, ebenso der Schweizergarde, unter dem Vorwand, es gäbe eine radikale Gruppe in der Stadt, die Drohungen gegen die Kirchenhierarchie ausgesprochen habe. Ich denke, das war jedem klar.
    
  -¿ Die Mädchen persönlich kennenlernen?
    
  Das Gesicht des Kardinals verdüsterte sich einen Moment lang.
    
  "Ja, geh und schenk mir den Himmel. Ich stimme Kardinal Portini weniger zu, obwohl er Italiener war, aber meine Arbeit konzentrierte sich stets auf die interne Organisation des Vatikans, und ich widmete mein Leben der Lehre. Er hat viel geschrieben, ist viel gereist ... er war ein großer Mann. Persönlich stimmte ich seiner Politik nicht zu, so offen, so revolutionär."
    
  -¿ Revolutionär? - Ich interessiere mich für Fowler.
    
  "Absolut, Pater, absolut. Er setzte sich für die Verwendung von Kondomen und die Priesterweihe von Frauen ein ... er wäre der Papst des 21. Jahrhunderts gewesen. Adam war noch relativ jung, kaum 59 Jahre alt. Hätte er auf dem Stuhl Petri gesessen, hätte er das Dritte Vatikanische Konzil geleitet, das viele für die Kirche als so notwendig erachten. Sein Tod war eine absurde und sinnlose Tragödie."
    
  "Hat er mit seiner Stimme gerechnet?", fragte Fowler.
    
  Der Camerlengo lacht durch die Zähne.
    
  -Frag mich doch nicht ernsthaft, wen ich wählen werde, oder, Vater?
    
  Paola ist zurück und übernimmt das Interview.
    
  - Eure Eminenz, Sie sagten, ich stimme Portini am wenigsten zu, aber was ist mit Robaira?
    
  -Ein großartiger Mann. Ganz dem Wohl der Armen verschrieben. Natürlich hatte auch er seine Fehler. Er konnte sich leicht vorstellen, in Weiß gekleidet auf dem Balkon des Petersplatzes zu stehen. Nicht, dass ich etwas Nettes getan hätte, was ich natürlich gern getan hätte. Wir stehen uns sehr nahe. Wir haben uns oft geschrieben. Seine einzige Sünde war der Stolz. Er stellte seine Armut immer zur Schau. Er unterzeichnete seine Briefe mit "der selige Arme". Um ihn zu ärgern, beendete ich meine immer mit "der selige Arme", obwohl er diesen Wink nie ernst nehmen wollte. Aber trotz seiner Fehler war er ein Staatsmann und ein Geistlicher. Er hat zeitlebens viel Gutes getan. Ich konnte ihn mir nie in Fischersandalen vorstellen; ich nehme an, wegen meiner Größe bedecken sie ihn.
    
  Während Seguú von seinem Freund sprach, wirkte der alte Kardinal kleiner und ergrauter, seine Stimme wurde traurig, und sein Gesicht spiegelte die Müdigkeit wider, die sich in achtundsiebzig Jahren in seinem Körper angesammelt hatte. Obwohl ich seine Ansichten nicht teile, empfindet Paola Cinti Mitgefühl mit ihm. Sie wusste, dass der alte Spanier beim Hören dieser Worte, die einem ehrlichen Nachruf gleichkamen, bedauerte, keinen Ort gefunden zu haben, an dem er allein um seinen Freund trauern konnte. Verdammte Würde! Darüber nachdenkend, erkannte sie, dass sie begann, in all den Gewändern und Soutanen des Kardinals den Menschen zu sehen, der sie trug. Sie musste lernen, Kirchenmänner nicht länger als eindimensionale Wesen zu betrachten, denn die Vorurteile gegenüber der Soutane könnten ihre Arbeit gefährden.
    
  "Kurz gesagt, ich glaube nicht, dass jemand in seinem eigenen Land ein Prophet ist. Wie ich Ihnen bereits sagte, haben wir viele ähnliche Erfahrungen gemacht. Der gute Emilio kam vor sieben Monaten hierher und wich mir nicht von der Seite. Einer meiner Assistenten machte ein Foto von uns im Büro. Ich glaube, ich habe es auf der Algún-Website."
    
  Der Kriminelle ging zum Schreibtisch und zog einen Umschlag mit einem Foto aus einer Schublade. Schauen Sie hinein und unterbreiten Sie den Besuchern eines Ihrer Sofortangebote.
    
  Paola hielt das Foto teilnahmslos in den Händen. Doch plötzlich starrte er es mit weit aufgerissenen Augen an. Ich packte Dantes Hand fest.
    
  - Verdammt nochmal! Verdammt nochmal!
    
    
    
  Iglesia de Santa Maria in Traspontina
    
    Via della Conciliazione, 14
    
    My ércoles, 6. April 2005 , 10:41 Uhr .
    
    
    
    Pontiero klopfte beharrlich an die Hintertür der Kirche, die zur Sakristei führte. Bruder Francesco hatte, den Anweisungen der Polizei folgend, ein Schild mit zittriger Schrift an die Tür gehängt, auf dem stand, dass die Kirche wegen Renovierungsarbeiten geschlossen sei. Doch abgesehen vom Gehorsam musste der Mönch wohl etwas taub gewesen sein, denn der Polizeibeamte hatte fünf Minuten lang an der Tür geklingelt. Anschließend drängten sich Tausende von Menschen auf der Via dei Corridori, die nun breiter und chaotischer war als die Via della Conciliazione.
    
  Schließlich höre ich ein Geräusch auf der anderen Seite der Tür. Die Riegel sind zugeschoben, und Bruder Francesco steckt sein Gesicht durch den Türspalt und blinzelt im hellen Sonnenlicht.
    
  -¿Sí?
    
  "Bruder, ich bin der stellvertretende Inspektor Pontiero. Sie erinnern mich an gestern."
    
  Der fromme Mann nickt immer wieder.
    
  "Was wollte er? Er kam, um mir zu sagen, dass ich nun meine Kirche eröffnen kann, Gott sei Dank. Mit Pilgern auf der Straße ... Kommt und überzeugt euch selbst ...", sagte er zu den Tausenden von Menschen auf der Straße.
    
  - Nein, Bruder. Ich muss ihm ein paar Fragen stellen. Darf ich kurz durchgehen?
    
  - Muss es denn jetzt sein? Ich habe schon so lange gebetet...
    
  -Nehmen Sie nicht zu viel seiner Zeit in Anspruch. Seien Sie einfach nur einen Moment da, wirklich.
    
  Francesco Menó schüttelt den Kopf von einer Seite zur anderen.
    
  "Was für eine Zeit ist das, was für eine Zeit ist das? Überall ist Tod, Tod und Eile. Nicht einmal meine Gebete erlauben mir zu beten."
    
  Die Tür öffnete sich langsam und schloss sich hinter Pontiero mit einem lauten Knall.
    
  - Vater, das ist eine sehr schwere Tür.
    
  -Ja, mein Sohn. Manchmal fällt es mir schwer, die Tür zu öffnen, besonders wenn ich voll bepackt vom Supermarkt komme. Niemand hilft älteren Menschen mehr beim Tragen ihrer Taschen. Was für Zeiten!
    
  - Es liegt in deiner Verantwortung, den Einkaufswagen zu benutzen, Kumpel.
    
  Der junge Inspektor strich von innen über die Tür, betrachtete den Stift genau und befestigte ihn mit seinen dicken Fingern an der Wand.
    
  Ich meine, das Schloss weist keinerlei Gebrauchsspuren auf und es sieht auch nicht so aus, als ob daran manipuliert worden wäre.
    
  "Nein, mein Sohn, Gott sei Dank, nein. Das Schloss ist gut, und die Tür wurde erst kürzlich gestrichen. Pinto ist ein Gemeindemitglied, mein Freund, der gute Giuseppe. Wissen Sie, er hat Asthma, und Farbdämpfe machen ihm nichts aus ..."
    
  - Bruder, ich bin sicher, dass Giuseppe ein guter Christ ist.
    
  - So ist es, mein Kind, so ist es.
    
  "Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Ich muss wissen, wie der Mörder in die Kirche gelangt ist, ob es überhaupt noch andere Eingänge gibt. Ispetora Dikanti."
    
  "Er hätte durch eines der Fenster einsteigen können, wenn er eine Leiter gehabt hätte. Aber ich glaube nicht, denn ich bin gebrochen. Mein Gott, was für eine Katastrophe wäre es, wenn sie eines der Buntglasfenster zerbrechen würde!"
    
  -Stört es Sie, wenn ich mir diese Fenster ansehe?
    
  -Nein, das tue ich nicht. Es ist ein Spiel.
    
  Der Mönch schritt durch die Sakristei in die Kirche, die hell von Kerzen am Fuße der Heiligenstatuen erleuchtet war. Pontiero war überrascht, dass nur so wenige Kerzen brannten.
    
  - Deine Gaben, Bruder Francesco.
    
  - Ach, mein Kind, ich war es, der alle Kerzen in der Kirche angezündet und die Heiligen gebeten hat, die Seele unseres heiligen Vaters Johannes Paul II. in den Schoß Gottes aufzunehmen.
    
  Pontiero lächelte über die naive Unschuld des frommen Mannes. Sie befanden sich im Mittelschiff, von wo aus sie sowohl die Sakristeitür als auch den Haupteingang sowie die Fenster der Fassade und die Nischen, die einst die Kirche gefüllt hatten, sehen konnten. Er strich mit dem Finger über die Lehne einer Kirchenbank - eine unwillkürliche Geste, die er bei Tausenden von Messen an Tausenden von Sonntagen wiederholt hatte. Dies war das Haus Gottes, und es war entweiht und geschändet worden. An diesem Morgen, im flackernden Kerzenlicht, wirkte die Kirche völlig anders als zuvor. Der Polizeibeamte konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Drinnen war es warm und kühl zugleich, im Gegensatz zur Hitze draußen. Er blickte zu den Fenstern. Der niedrige Altarraum ragte etwa fünf Meter über dem Boden empor. Er war mit makellosen, kostbaren Buntglasfenstern verziert.
    
  "Es ist unmöglich, dass ein Mörder mit 92 Kilogramm Gepäck durch die Fenster einsteigt. Ich müsste Grua benutzen. Und Tausende von Pilgern draußen würden ihn sehen. Nein, das ist unmöglich."
    
  Zwei von ihnen hörten Lieder über diejenigen, die in der Schlange standen, um sich von Papa Wojtyla zu verabschieden. Sie alle sprachen von Frieden und Liebe.
    
  - Ach, ihr Idioten. Sie sind unsere Hoffnung für die Zukunft, nicht wahr, junger Inspektor?
    
  - Куánта разón есть, бара.
    
  Pontiero kratzte sich nachdenklich am Kopf. Ihm fiel kein anderer Zugang ein als Türen oder Fenster. Sie gingen ein paar Schritte, deren Geräusche in der ganzen Kirche widerhallten.
    
  "Hör mal, Bruder, hat irgendjemand einen Schlüssel zur Kirche? Vielleicht jemand, der die Reinigung macht."
    
  "Oh nein, überhaupt nicht. Einige sehr fromme Gemeindemitglieder helfen mir morgens früh während des Gebets und auch nachmittags beim Reinigen des Tempels, aber sie kommen immer, wenn ich zu Hause bin. Ich habe sogar einen Schlüsselbund, den ich immer bei mir trage, verstehen Sie?" Er hielt seine linke Hand in der Innentasche seines marokkanischen Habitos, wo die Schlüssel klimperten.
    
  - Nun gut, Vater, ich gebe auf... Ich verstehe nicht, wer unbemerkt eintreten konnte.
    
  - Schon gut, mein Sohn, es tut mir leid, dass ich nicht helfen konnte...
    
  - Danke, Vater.
    
  Pontiero drehte sich um und ging in Richtung Sakristei.
    
  "Es sei denn ...", dachte der Karmeliter einen Moment nach, dann schüttelte er den Kopf. "Nein, das ist unmöglich. Das kann nicht sein."
    
  -Was, Bruder? Dígame. Jede Kleinigkeit kann úas long as sein.
    
  -Nein, dejelo.
    
  - Ich bestehe darauf, Bruder, ich bestehe darauf. Spiel, was du für richtig hältst.
    
  Der Mönch strich sich nachdenklich über den Bart.
    
  -Nun ja... es gibt einen unterirdischen Zugang zum Neo. Es ist ein alter Geheimgang, der aus der Zeit des zweiten Kirchengebäudes stammt.
    
  -¿Segunda construcción?
    
  Die ursprüngliche Kirche wurde 1527 während der Plünderung Roms zerstört. Sie stand auf dem feurigen Berg derer, die die Engelsburg verteidigten. Und diese Kirche wiederum...
    
  -Bruder, bitte, lass die Geschichtsstunde manchmal weg, dann ist es besser. Schnell zum Gang!
    
  -Sind Sie sicher? Er trägt einen sehr schönen Anzug...
    
  -Ja, Vater. Ich bin mir sicher, encéñemelo.
    
  "Wie Sie wünschen, junger Inspektor, wie Sie wünschen", sagte der Mönch demütig.
    
  Gehen Sie zum nächsten Eingang, wo das Weihwasserbecken stand. Onñaló repariert einen Riss in einer der Bodenfliesen.
    
  - Siehst du diese Lücke? Stecke deine Finger hinein und ziehe kräftig.
    
  Pontiero kniete nieder und befolgte die Anweisungen des Mönchs. Nichts geschah.
    
  -Wiederhole den Vorgang und wende dabei die Kraft nach links an.
    
  Der Unterinspektor tat, wie Bruder Francesco befohlen worden war, doch vergeblich. Trotz seiner schmächtigen und kleinen Statur besaß er große Kraft und Entschlossenheit. Ich versuchte es ein drittes Mal und sah zu, wie sich der Stein löste und mühelos wegglitt. Es war tatsächlich eine Falltür. Ich öffnete sie mit einer Hand und gab den Blick auf eine schmale Treppe frei, die nur wenige Meter hinabführte. Ich holte meine Taschenlampe heraus und leuchtete in die Dunkelheit. Die Stufen waren aus Stein und wirkten massiv.
    
  Okay, mal sehen, wie uns das alles nützen wird.
    
  - Juniorinspektor, gehen Sie bitte nicht nach unten, nur einer, bitte.
    
  - Ruhig Blut, Bruder. Alles in Ordnung. Alles unter Kontrolle.
    
  Pontiero konnte sich das Gesicht vorstellen, das Dante und Dikanti sehen würden, wenn er ihnen von seiner Entdeckung berichtete. Er stand auf und begann, die Treppe hinunterzugehen.
    
  -Warte, junger Inspektor, warte. Hol eine Kerze.
    
  "Keine Sorge, Bruder. Die Taschenlampe reicht aus", sagte Pontiero.
    
  Die Treppe führte in einen kurzen Korridor mit halbrunden Wänden und einen etwa sechs Quadratmeter großen Raum. Pontiero hob seine Taschenlampe. Es schien, als ob die Straße hier endete. In der Mitte des Raumes standen zwei getrennte Säulen. Sie wirkten sehr alt. Er wusste nicht, welchen Stil er bestimmen sollte; schließlich hatte er im Geschichtsunterricht nie viel Wert darauf gelegt. Doch auf dem, was von einer der Säulen übrig war, sah er etwas, das aussah wie die Überreste von etwas, das nicht überall sein sollte. Es schien aus jener Zeit zu stammen ...
    
  Isolierband.
    
  Dies war kein Geheimgang, sondern ein Hinrichtungsplatz.
    
  Oh nein.
    
  Pontiero drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um den Schlag abzuwehren, der ihm den Schädel hätte brechen sollen. Der Schlag traf ihn an der rechten Schulter. Kay fiel schmerzverzerrt zu Boden. Die Taschenlampe flog davon und beleuchtete den Fuß einer der Säulen. Intuition - ein zweiter Schlag in einem Bogen von rechts, der seinen linken Arm traf. Ich spürte die Pistole im Holster und schaffte es trotz des Schmerzes, sie mit der linken Hand zu ziehen. Die Pistole lag schwer auf ihm, als wäre sie aus Blei. Seine andere Hand bemerkte er nicht.
    
  Eisenstange. Er muss eine Eisenstange oder etwas Ähnliches haben.
    
  Versuchen Sie zu zielen, aber überanstrengen Sie sich nicht. Er versucht, sich zur Kolonne zurückzuziehen, doch ein dritter Schlag, diesmal in den Rücken, wirft ihn zu Boden. Er umklammerte die Pistole fest, als klammere er sich ans Leben.
    
  Er stellte seinen Fuß auf ihre Hand und zwang sie loszulassen. Der Fuß krampfte und entspannte sich immer wieder. Eine vage vertraute Stimme, aber mit einem sehr, sehr eigentümlichen Klang, mischte sich unter das Knirschen brechender Knochen.
    
  -Pontiero, Pontiero. Während die vorherige Kirche von der Engelsburg aus beschossen wurde, stand diese unter dem Schutz der Engelsburg. Und diese Kirche wiederum ersetzte den heidnischen Tempel, dessen Zerstörung Papst Alexander VI. anordnete. Im Mittelalter hielt man sie für das Grab des gleichen Kimoraners Mula.
    
  Die Eisenstange sauste vorbei und knallte erneut herunter, traf den Unterinspektor am Rücken, der daraufhin benommen war.
    
  "Aber seine faszinierende Geschichte endet hier noch nicht. Diese beiden Säulen, die Sie hier sehen, sind diejenigen, an die die Heiligen Petrus und Paulus gefesselt waren, bevor sie von den Römern den Märtyrertod erlitten. Ihr Römer seid immer so rücksichtsvoll gegenüber unseren Heiligen."
    
  Die Eisenstange traf ihn erneut, diesmal am linken Bein. Pontiero schrie vor Schmerz auf.
    
  "Ich hätte das alles oben hören können, wenn Sie mich nicht unterbrochen hätten. Aber keine Sorge, Sie werden Stas Stolbov sehr gut kennenlernen. Sie werden sie alle sehr, sehr gut kennenlernen."
    
  Pontiero versuchte sich zu bewegen, doch erschrak, als er feststellte, dass er es nicht konnte. Er kannte das Ausmaß seiner Verletzungen nicht, doch er spürte seine Gliedmaßen nicht. Ich spüre starke Hände, die mich in der Dunkelheit bewegen, und einen stechenden Schmerz. Alarm!
    
  "Ich rate Ihnen davon ab, zu schreien. Niemand kann ihn hören. Und von den anderen beiden hat auch niemand etwas gehört. Ich treffe viele Vorsichtsmaßnahmen, verstehen Sie? Ich mag es nicht, unterbrochen zu werden."
    
  Pontiero spürte, wie sein Bewusstsein in ein schwarzes Loch stürzte, ähnlich dem, in das er in Suño allmählich versank. Wie in Suño, oder auch in der Ferne, hörte er die Stimmen von Passanten, nur wenige Meter über ihm. Glaub mir, du wirst das Lied wiedererkennen, das sie im Chor sangen, eine Erinnerung an deine Kindheit, eine Meile entfernt in der Vergangenheit. Es war "Ich habe einen Freund, der mich liebt, sein Name ist Jess".
    
  "Ich hasse es eigentlich, unterbrochen zu werden", sagte Karoski.
    
    
    
  Gouverneurspalast
    
  Vatikan
    
  Moyércoles, 6. April 2005, 13:31 Uhr.
    
    
    
  Paola zeigte Dante und Fowler ein Foto von Robaira. Eine perfekte Nahaufnahme: Der Kardinal lächelte sanft, seine Augen funkelten hinter dicken, muschelförmigen Brillengläsern. Dante starrte das Foto zunächst verwirrt an.
    
  - Die Brille, Dante. Die fehlende Brille.
    
  Paola suchte nach dem widerlichen Mann, wählte wie verrückt die Nummer, ging zur Tür und verließ schnell das Büro des verdutzten Camerlengo.
    
  - Brille! Carmelitas Brille! - rief Paola aus dem Flur.
    
  Und dann verstand mich der Schulleiter.
    
  - Komm schon, Vater!
    
  Ich entschuldigte mich schnell bei der Kellnerin und ging mit Fowler hinaus, um Paola abzuholen.
    
  Der Inspektor legte wütend auf. Pontiero hatte ihn nicht erwischt. Debí musste das geheim halten. Er rannte die Treppe hinunter auf die Straße. Noch zehn Schritte, dann endete die Via del Governatorato. In diesem Moment fuhr ein Geländewagen mit dem Kennzeichen SCV 21 vorbei. Drei Nonnen saßen darin. Paola gestikulierte wild, sie sollten anhalten, und stellte sich vor das Auto. Der Stoßfänger kam nur hundert Meter vor seinen Knien zum Stehen.
    
  - Heilige Madonna! Bist du verrückt, bist du eine Orita?
    
  Die forensische Wissenschaftlerin kommt zur Fahrertür und zeigt mir ihr Nummernschild.
    
  "Bitte, ich habe keine Zeit für Erklärungen. Ich muss zum St. Anne's Gate."
    
  Die Nonnen sahen sie an, als wäre sie verrückt geworden. Paola fuhr den Wagen bis zu einer der Hintertüren.
    
  "Von hier aus geht es nicht, ich muss durch den Cortil del Belvedere", sagte der Fahrer zu ihr. "Wenn Sie möchten, kann ich Sie zur Piazza del Sant"Uffizio bringen, das ist der Ausgang. Bestellen Sie in Kürze bei Città in éstos días. Die Schweizergarde errichtet Absperrungen für den Co-Key."
    
  - Alles ist möglich, aber bitte beeilen Sie sich.
    
  Als die Nonne sich bereits hingesetzt und die Nägel herausgezogen hatte, stürzte das Auto erneut zu Boden.
    
  "Aber sind denn wirklich alle verrückt geworden?", rief die Nonne.
    
  Fowler und Dante positionierten sich vor dem Auto, die Hände auf der Motorhaube. Als Nonne Fran sich in den vorderen Teil des Hauswirtschaftsraums gezwängt hatte, waren die religiösen Zeremonien beendet.
    
  "Fang endlich an, Schwester, um Gottes willen!", sagte Paola.
    
  Der Kinderwagen brauchte keine zwanzig Sekunden, um die halbe Kilometer lange Metrolinie zurückzulegen, die sie von ihrem Ziel trennte. Die Nonne schien es eilig zu haben, ihre unnötige, unpassende und lästige Last loszuwerden. Ich hatte keine Zeit mehr, den Wagen auf der Plaza del Santo Agricó anzuhalten, als Paola bereits mit einem verdächtigen Gegenstand in der Hand auf den schwarzen Eisenzaun zurannte, der den Stadteingang schützte. Mark, kontaktiere sofort deinen Chef und nimm den Anruf entgegen.
    
  - Inspektorin Paola Dicanti, Sicherheitsdienst 13897. Agent in Gefahr, ich wiederhole, Agent in Gefahr. Stellvertretender Inspektor Pontiero befindet sich in der Via della Conciliazione 14, Kirche Santa Maria in Traspontina. Alarmieren Sie so viele Einheiten wie möglich. Möglicher Mordverdächtiger im Gebäude. Äußerste Vorsicht ist geboten.
    
  Paola rannte, ihre Jacke flatterte im Wind und gab den Blick auf ihr Holster frei. Sie schrie wie eine Wahnsinnige wegen dieses widerlichen Mannes. Die beiden Schweizergardisten, die den Eingang bewachten, waren verblüfft und versuchten, sie aufzuhalten. Paola wehrte sich, indem sie den Arm um ihre Taille legte, doch einer der Wachen packte sie schließlich an der Jacke. Die junge Frau streckte die Arme nach ihm aus. Das Handy fiel zu Boden, die Jacke blieb in den Händen des Wachmanns. Er wollte gerade die Verfolgung aufnehmen, als Dante mit voller Geschwindigkeit ankam. Er trug seinen Ausweis des Wachsamkeitskorps.
    
    -¡ D é tyan ! ¡ It unsere !
    
  Fowler folgte der Linie, allerdings etwas langsamer. Paola beschloss, einen kürzeren Weg zu nehmen. Um die Plaza de San Pedro zu passieren, da die Menschenmengen dort mehr als klein waren, hatte die Polizei in der Gegenrichtung eine sehr schmale Kette gebildet, aus deren Zufahrtsstraßen ein ohrenbetäubendes Grollen zu hören war. Während sie liefen, hielt die Inspektorin ein Schild hoch, um Ärger mit ihren Teamkollegen zu vermeiden. Nachdem sie die Esplanade und Berninis Kolonnade problemlos passiert hatten, erreichten sie die Via dei Corridori und hielten den Atem an. Die gesamte Pilgermasse war beunruhigend dicht gedrängt. Paola presste ihren linken Arm an ihren Körper, um ihr Holster so gut wie möglich zu verbergen, näherte sich den Gebäuden und versuchte, so schnell wie möglich voranzukommen. Der Superintendent stellte sich vor sie und diente ihr als improvisierter, aber effektiver Rammbock, indem er alle seine Ellbogen und Unterarme einsetzte. Fowler schloss die Kette.
    
  Es dauerte quälende zehn Minuten, bis sie die Sakristeitür erreichten. Zwei Polizisten erwarteten sie bereits und klingelten unaufhörlich. Dikanti, schweißüberströmt, in einem T-Shirt, mit griffbereitem Holster und offenem Haar, war eine echte Überraschung für die beiden Beamten. Dennoch begrüßten sie sie respektvoll, sobald sie ihnen atemlos ihren UACV-Ausweis zeigte.
    
  "Wir haben Ihre Benachrichtigung erhalten. Drinnen antwortet niemand. Im anderen Gebäude befinden sich vier Kollegen."
    
  - Kann ich erfahren, warum die Kollegen noch nicht da sind? Wissen sie denn nicht, dass sich drinnen ein Genosse befinden könnte?
    
  Die Offiziere senkten die Köpfe.
    
  "Regisseur Boy hat angerufen. Er hat uns gesagt, wir sollen vorsichtig sein. Viele Leute beobachten uns."
    
  Der Inspektor lehnt sich an die Wand und denkt fünf Sekunden lang nach.
    
  Verdammt, hoffentlich ist es nicht zu spät.
    
  - Haben sie den "Generalschlüssel 22" mitgebracht?
    
  Einer der Polizisten zeigte ihm einen doppelseitigen Stahlhebel. Er war an ihrem Bein befestigt und so vor den zahlreichen Pilgern auf der Straße verborgen, die bereits auf dem Rückweg waren und die Position der Gruppe gefährdeten. Paola wandte sich dem Beamten zu, der die Stahlstange auf sie gerichtet hatte.
    
  -Gib mir sein Radio.
    
  Der Polizist reichte ihm den Telefonhörer, der mit einem Kabel an einem Gerät an seinem Gürtel befestigt war. Paola diktierte dem Team am anderen Eingang kurze, präzise Anweisungen. Niemand durfte einen Finger rühren, bis er eintraf, und natürlich durfte niemand das Gebäude betreten oder verlassen.
    
  "Könnte mir bitte jemand erklären, wohin das alles führen soll?", sagte Fowler zwischen Hustenanfällen.
    
  "Wir glauben, dass der Verdächtige drinnen ist, Pater. Ich erkläre es ihr jetzt ganz langsam. Er soll jetzt hierbleiben und draußen warten", sagte Paola. Er deutete auf die Menschenmenge um sie herum. "Tut alles, um sie abzulenken, während wir die Tür aufbrechen. Ich hoffe, wir schaffen es rechtzeitig."
    
  Fowler asintió. Sieh dich um, um einen Platz zum Sitzen zu finden. Kein einziges Auto war da, die Straße war an der Kreuzung abgeschnitten. Aber beeil dich! Nur Leute nutzen diesen Weg, um Fuß zu fassen. Nicht weit von ihm entfernt sah er einen großen, kräftigen Pilger. Deb war fast zwei Meter groß. Er ging auf ihn zu und sagte:
    
  - Glaubst du, ich kann auf deine Schultern klettern?
    
  Der junge Mann deutete an, dass er kein Italienisch sprach, und Fowler gab ihm ein Zeichen. Der andere verstand endlich. "Knie nieder und stell dich lächelnd vor den Priester." "Esteó" klang nun lateinisch wie der Gesang der Eucharistie und der Totenmesse.
    
    
    Im paradisum deducant te angeli,
    
  In tuo advente
    
  Suscipiant te martyres... 23
    
    
  Viele Menschen drehten sich nach ihm um. Fowler bedeutete seinem geduldigen Gepäckträger, mitten auf die Straße zu treten, um Paola und die Polizei abzulenken. Einige Gläubige, hauptsächlich Nonnen und Priester, beteten mit ihm für den verstorbenen Papst, auf den sie schon seit Stunden gewartet hatten.
    
  Die Ablenkung nutzend, öffneten zwei Agenten die Sakristeitür einen Spaltbreit. Sie konnten eintreten, ohne Aufsehen zu erregen.
    
  - Leute, da ist ein Mann drin. Seid sehr vorsichtig.
    
  Einer nach dem anderen traten sie ein, zuerst Dikanti, der ausatmete und seine Pistole zog. Ich überließ die Sakristei den beiden Polizisten und verließ die Kirche. Miró eilte zur Kapelle San Tomás. Sie war leer, versiegelt mit dem roten Siegel der UACV. Ich umrundete die Kapellen zur Linken, die Waffe in der Hand. Er wandte sich Dante zu, der die Kirche durchquerte und in jede Kapelle hineinblickte. Die Gesichter der Heiligen huschten unruhig an den Wänden entlang im flackernden, grellen Licht hunderter Kerzen, die überall brannten. Beide trafen sich im Mittelgang.
    
  -Nichts?
    
  Dante ist nicht gerade ein Meister im Kopf.
    
  Dann sahen sie es auf dem Boden geschrieben, nicht weit vom Eingang entfernt, am Fuße eines Haufens Weihwasser. Es stand dort in großen, roten, krummen Buchstaben.
    
    
  VEXILLA REGIS PRODEUNT INFERNI
    
    
  "Die Banner des Königs der Unterwelt bewegen sich", sagte einer von ihnen mit missmutiger Stimme.
    
  Dante und der Inspektor drehten sich verblüfft um. Es war Fowler, dem es gelungen war, die Arbeit zu beenden und hineinzuschlüpfen.
    
  -Glauben Sie mir, ich habe ihm gesagt, er solle sich fernhalten.
    
  "Das spielt jetzt keine Rolle mehr", sagte Dante, ging zu der offenen Luke im Boden und zeigte sie Paola. Dann rief er die anderen herbei.
    
  Paola Ten machte eine enttäuschte Geste. Sein Herz riet ihm, sofort nach unten zu gehen, doch er wagte es nicht, in der Dunkelheit dorthin zu gehen. Dante ging zur Haustür und verriegelte sie. Zwei Agenten traten ein, die anderen beiden blieben an der Tür stehen. Dante bat einen von ihnen, ihm die Maglite zu leihen, die er am Gürtel trug. Dikanti riss sie ihm aus der Hand und senkte sie vor sich, die Hände zu Fäusten geballt, die Pistole nach vorn gerichtet. "Fowler, ich werde dir ein kleines Gebet sprechen."
    
  Nach einer Weile erschien Paolas Kopf, als sie eilig hinaustrat. Dante salió slow. Sieh Fowler an und schüttle den Kopf.
    
  Paola rannte schluchzend auf die Straße. Ich schnappte mir ihr Frühstück und trug es so weit wie möglich von der Tür weg. Mehrere ausländisch aussehende Männer, die in der Schlange warteten, kamen auf sie zu und zeigten Interesse an ihr.
    
  -Brauchen Sie Hilfe?
    
  Paola winkte sie ab. Fowler erschien neben ihr und reichte ihr eine Serviette. Ich nahm sie und wischte mir Galle und Grimassen ab. Die äußeren, denn die inneren lassen sich nicht so schnell entfernen. Ihm war schwindlig. Ich kann nicht der Pontifex dieser blutigen Masse sein, die Sie an der Säule gefunden haben. Maurizio Pontiero, der Superintendent, war ein guter Mann, hager und stets schlecht gelaunt, mit einer scharfen, einfältigen Laune. Er war ein Familienmensch, ein Freund, ein Teamkollege. An regnerischen Abenden nuckelte er in seinem Anzug herum, er war ein Kollege, bezahlte immer den Kaffee, war immer da. Ich war schon oft an Ihrer Seite. Ich hätte das nicht geschafft, wenn ich nicht aufgehört hätte zu atmen und zu diesem formlosen Klumpen geworden wäre. Versuchen Sie, dieses Bild aus seinen Pupillen zu löschen, indem Sie mit der Hand vor seinen Augen wedeln.
    
  Und in diesem Moment war er ihr widerlicher Ehemann. Er zog es mit einer angewiderten Geste aus der Tasche, und sie war wie gelähmt. Auf dem Bildschirm war der eingehende Anruf zu sehen.
    
  M. PONTIER
    
    
  Paola de Colgó hat Todesangst. Fowler la miró intrigada.
    
  -¿Sí?
    
    Guten Tag, Inspektor. Was ist das für ein Ort?
    
  - Wer ist das?
    
  -Inspektor, bitte. Sie haben mich doch selbst gebeten, Sie jederzeit anzurufen, falls mir etwas einfällt. Mir ist gerade eingefallen, dass ich seinen erotischen Kameraden noch erledigen muss. Es tut mir sehr leid. Er kreuzt gerade meinen Weg.
    
  "Los, Francesco, schnapp ihn dir! Was ist denn mit Viktor los?", sagte Paola wütend, die Augen zu grimmigen Mienen verzogen, aber bemüht, ruhig zu bleiben. "Triff ihn da, wo er hin will. Dann merkt er, dass seine Narbe fast verheilt ist."
    
  Es entstand eine kurze Pause. Sehr kurz. Ich hatte ihn überhaupt nicht überrascht.
    
  -Oh ja, natürlich. Sie wissen ja schon, wer ich bin. Ich persönlich erinnere Pater Fowler daran. Sie hat ihre Haare verloren, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Und ich sehe Sie, Ma'am.
    
  Paolas Augen weiteten sich vor Überraschung.
    
  -¿Dónde está, du verdammter Hurensohn?
    
  - Ist das nicht offensichtlich? Von dir.
    
  Paola blickte auf die Tausenden von Menschen, die die Straßen bevölkerten, Hüte und Mützen trugen, Fahnen schwenkten, Wasser tranken, beteten und sangen.
    
  -Warum kommt er nicht näher, Vater? Wir könnten uns ein wenig unterhalten.
    
  "Nein, Paola, leider muss ich mich eine Weile von dir fernhalten. Denk ja nicht, dass du mit der Entdeckung des guten Bruders Francesco einen Schritt weitergekommen bist. Sein Leben war schon am Ende. Kurz gesagt, ich muss sie verlassen. Ich habe bald Neuigkeiten für dich, mach dir keine Sorgen. Und keine Sorge, ich habe dir deine früheren, unbedeutenden Annäherungsversuche längst verziehen. Du bist mir wichtig."
    
  Und legen Sie auf.
    
  Dikanti stürzte sich kopfüber in die Menge. Ich ging zwischen den nackten Menschen umher, suchte nach Männern von einer gewissen Größe, nahm ihre Hände und wandte mich denen zu, die wegschauten, um ihnen die Hüte und Mützen abzunehmen. Die Leute wandten sich von ihr ab. Sie war aufgebracht, mit einem abwesenden Blick, bereit, notfalls jeden Pilger einzeln zu untersuchen.
    
  Fowler drängte sich durch die Menge und packte ihren Arm.
    
  -Es inútil, ispettora .
    
  -¡Суéлтеме!
    
  -Paola. Dejalo. Er ist weg.
    
  Dikanti brach in Tränen aus und weinte. Fowler umarmte ihn. Um ihn herum näherte sich langsam eine riesige menschliche Schlange dem untrennbaren Körper von Johannes Paul II. Und V ihn War Mörder .
    
    
    
  Instituto Saint Matthew
    
  Silver Spring, Maryland
    
    Januar 1996
    
    
    
  TRANSKRIPT DES INTERVIEWS NR. 72 ZWISCHEN PATIENTEN NR. 3643 UND DR. CANIS CONROY. ANWESEND IN TEILNEHMEN VON DR. FOWLER UND SALER FANABARZRA
    
    
  D.R. CONROY: Buenas tardes Viktor.
    
    #3643: Mehr einmal Hallo .
    
  D.R. CONROY: Día de terapia regresiva, Viktor.
    
    
    (WIE IN FRÜHEREN BERICHTEN VERZICHTEN WIR ERNEUT AUF DIE HYPNOSEPROZESSION)
    
    
  Herr FANABARZRA: Es ist 1973, Victor. Von nun an hörst du nur noch meine Stimme und keine andere mehr, okay?
    
  #3643: Ja.
    
  Herr FANABARZRA: Nun können Sie das nicht mehr mit mir besprechen, meine Herren.
    
  Doktor Victor nahm wie üblich am Test teil und sammelte gewöhnliche Blumen und Vasen. Solo in Two sagte mir, er habe nichts gesehen. Bitte beachten Sie, Pater Fowler: Wenn Victor desinteressiert wirkt, bedeutet das, dass es ihn tief berührt. Ich versuche, diese Reaktion während der Regression hervorzurufen, um ihren Ursprung zu ergründen.
    
  DOKTOR FOWLER: In einem regressiven Zustand verfügt ein Patient nicht über so viele Schutzmechanismen wie im Normalzustand. Das Verletzungsrisiko ist zu hoch.
    
  Dr. Conroy: Sie wissen, dass dieser Patient einen tiefen Groll gegen bestimmte Aspekte seines Lebens hegt. Wir müssen die Barrieren überwinden und die Quelle seines Übels aufdecken.
    
  DOKTOR FOWLER: Um jeden Preis?
    
  Herr FANABARZRA: Meine Herren, streiten Sie nicht. Es ist ohnehin unmöglich, ihm Bilder zu zeigen, da der Patient die Augen nicht öffnen kann.
    
  DOKTOR CONROY Nur zu, Fanabarzra.
    
  Herr FANABARZRA: Auf Ihren Befehl. Viktor, es ist 1973. Ich möchte, dass wir irgendwohin gehen, wo es Ihnen gefällt. Wen wählen wir?
    
  #3643: Feuertreppe.
    
  Herr FANABARZRA: Verbringen Sie viel Zeit auf der Treppe?
    
    #3643: Ja .
    
  Sr. FANABARZRA: Erklärt von mir.
    
    #3643: Dort ist viel Luft. Es riecht nicht schlecht. Das Haus riecht faulig.
    
  Herr FANABARZRA: Verrottet?
    
  #3643: Dasselbe wie bei der letzten Frucht. Der Geruch kommt aus Emils Bett.
    
  Herr FANABARZRA: Ist Ihr Bruder krank?
    
  #3643: Er ist krank. Wir wissen nicht, wer krank ist. Niemand kümmert sich um ihn. Meine Mutter sagt, es liegt an seiner Pose. Er verträgt das Licht nicht und zittert. Sein Nacken schmerzt.
    
  ARZT Lichtempfindlichkeit, Nackenkrämpfe, Krämpfe.
    
  Herr FANABARZRA: Kümmert sich denn niemand um Ihren Bruder?
    
  #3643: Meine Mutter, wenn sie sich erinnert. Er gibt ihm zerdrückte Äpfel. Er hat Durchfall, und mein Vater will nichts davon wissen. Ich hasse ihn. Er sieht mich an und befiehlt mir, es sauber zu machen. Ich will nicht, ich bin angewidert. Meine Mutter sagt mir, ich soll etwas tun. Ich will nicht, und er drückt mich gegen den Heizkörper.
    
  DOKTOR CONROY: Mal sehen, wie die Bilder des Rorschach-Tests ihn berühren. Ich bin besonders besorgt über das ésta.
    
  Herr FANABARZRA: Gehen wir zurück zur Feuertreppe. Siéntate allí. Sag mir, wie du dich fühlst.
    
  #3643: Luft. Metall unter den Füßen. Ich kann den Geruch von jüdischem Eintopf aus dem Gebäude gegenüber riechen.
    
  Herr FANABARZRA: Stellen Sie sich nun Folgendes vor: Ein großer schwarzer Fleck, sehr groß. Er bedeckt alles vor Ihnen. Am unteren Rand des Flecks befindet sich ein kleiner weißer, ovaler Fleck. Bietet er Ihnen etwas an?
    
  #3643: Dunkelheit. Allein im Schrank.
    
  DOKTOR CONROY
    
  Herr FANABARZRA: Was machen Sie im Schrank?
    
  #3643: Ich bin eingesperrt. Ich bin allein.
    
  DOKTOR FOWLER Sie leidet.
    
  DR. CONROY: Calle Fowler. Wir kommen schon ans Ziel. Fanabrazra, ich schreibe dir meine Fragen hier auf die Tafel. Ich schreibe die Flügel wortgetreu auf, okay?
    
  Herr FANABARZRA: Victor, erinnerst du dich, was geschah, bevor du in den Schrank gesperrt wurdest?
    
  #3643: Viele Dinge. Emil murió.
    
  Sr. FANABARZRA: ¿Cómo murió Emil?
    
  #3643: Ich bin eingesperrt. Ich bin allein.
    
  Sr. FANABARZRA: Lo sé, Viktor. Sag es mir, Mo Muri, Emil.
    
  Er war in unserem Zimmer. Papa, geh fernsehen, Mama war nicht da. Ich war auf der Treppe. Oder es lag am Lärm.
    
  Herr FANABARZRA: Was ist das für ein Geräusch?
    
  #3643: Wie ein Ballon, dem die Luft entweicht. Ich steckte den Kopf ins Zimmer. Emil war kreidebleich. Ich ging in den Salon. Ich unterhielt mich mit meinem Vater und trank eine Dose Bier.
    
  Herr FANABARZRA: Hat er es Ihnen gegeben?
    
  #3643: Am Kopf. Er blutet. Ich weine. Mein Vater steht auf und hebt eine Hand. Ich erzähle ihm von Emil. Er ist wütend. Er sagt, es sei meine Schuld. Dass Emil in meiner Obhut war. Dass ich bestraft werden soll. Und alles von vorn beginnen muss.
    
  Herr FANABARZRA: Ist das die übliche Strafe? Du bist dran, was?
    
  #3643: Es tut weh. Ich blute am Kopf und am Po. Aber es hört auf.
    
  Herr FANABARZRA: Warum hört es auf?
    
  Ich höre die Stimme meiner Mutter. Sie schreit meinen Vater schreckliche Dinge an. Dinge, die ich nicht verstehe. Mein Vater sagt ihr, dass sie es schon weiß. Meine Mutter schreit Emil an. Ich weiß, dass Emil nicht sprechen kann, und ich bin sehr froh. Dann packt sie mich an den Haaren und wirft mich in den Schrank. Ich schreie und bekomme Angst. Ich klopfe lange an die Tür. Sie öffnet sie und hält mir ein Messer an den Kopf. Sie sagt, sobald ich den Mund aufmache, werde ich sie annageln.
    
  Herr FANABARZRA: Was machst du da?
    
  #3643: Ich bin still. Ich bin allein. Draußen höre ich Stimmen. Fremde Stimmen. Es sind schon Stunden vergangen. Ich bin immer noch drinnen.
    
  DOKTOR CONROY
    
  Wie lange bist du schon im Schrank?
    
  #3643: Lange Zeit. Ich bin allein. Meine Mutter öffnet die Tür. Er sagt mir, dass ich sehr unartig war. Dass Gott keine unartigen Jungen will, die ihre Väter provozieren. Dass ich gleich erfahren werde, welche Strafe Gott für diejenigen bereithält, die sich danebenbenehmen. Er gibt mir ein altes Einmachglas. Er sagt mir, ich solle meine Aufgaben erledigen. Am Morgen gibt sie mir ein Glas Wasser, Brot und Käse.
    
  Herr FANABARZRA: Aber wie lange waren Sie insgesamt dort?
    
  #3643: Es war viel Mañan.
    
  Herr FANABARZRA: Sie haben keine Uhr? Sie wissen nicht, wie man die Zeit abliest?
    
  #3643: Ich versuche zu zählen, aber es sind zu viele. Wenn ich Oído ganz fest gegen die Wand drücke, höre ich das Transistorradio von Ora Berger. Sie ist etwas schwerhörig. Manchmal spielen sie Béisbol.
    
  Herr FANABARZRA: ¿ Cuá, welche Spiele haben Sie gehört?
    
  #3643 : Elf.
    
  DR. FOWLER: Mein Gott, oh, der Junge war fast zwei Monate lang eingesperrt!
    
    Sr. FANABARZRA: ¿No salías nunca?
    
  #3643: Es war einmal ...
    
  Sr. FANABARZRA: ¿Por qué saliste?
    
    #3643: Ich mache einen Fehler. Ich trete gegen das Glas und werfe es um. Der Schrank stinkt furchtbar. Ich muss mich übergeben. Als Mama nach Hause kommt, ist sie wütend. Ich vergrabe mein Gesicht im Dreck. Dann zerrt er mich aus dem Schrank, damit ich ihn putze.
    
  Herr FANABARZRA: Sie versuchen nicht zu fliehen?
    
  #3643: Ich habe nirgendwohin zu gehen. Mama tut das zu meinem Besten.
    
  Herr FANABARZRA: Und wann lasse ich Sie frei?
    
  #3643: Tag. Er führt mich ins Bad. Er reinigt mich. Er sagt, er hoffe, ich hätte meine Lektion gelernt. Er sagt, der Kleiderschrank sei die Hölle, und dass ich dorthin käme, wenn ich nicht brav wäre, nur dass ich nie wieder herauskäme. Er zieht mir seine Kleider an. Er sagt, ich hätte die Verantwortung, ein Kind zu sein, und dass wir Zeit hätten, das wieder in Ordnung zu bringen. Es geht um meine Beulen. Er sagt, alles sei verdorben. Dass wir sowieso in die Hölle kämen. Dass es keine Heilung für mich gäbe.
    
    Sr. FANABARZRA: ¿Y tu padre?
    
    #3643: Papa ist nicht da. Er ist weg.
    
  DOKTOR FOWLER Sehen Sie sich sein Gesicht an. Der Patient ist sehr krank.
    
  #3643 : Er ist weg, weg, weg...
    
    DR. FOWLER: ¡Conroy!
    
  DR. CONROY: Está gut. Fanabrazra, hör auf mit der Aufnahme und komm aus der Trance heraus.
    
    
    
    Iglesia de Santa Maria in Traspontina
    
  Via della Conciliazione, 14
    
    My ércoles, 6. April 2005 , 15:21 Uhr .
    
    
    
    Zum zweiten Mal in dieser Woche passierten sie den Kontrollpunkt Las Puertas de Santa Mar am Tatort Transpontina. Sie taten dies unauffällig, in Zivilkleidung, um die Pilger nicht zu alarmieren. Eine weibliche Inspektorin im Inneren gab Anweisungen über Lautsprecher und Funk. Pater Fowler sprach einen der UACV-Beamten an.
    
  -Bist du schon auf der Bühne gewesen?
    
  -Ja, Vater. Lass uns den CADáver abnehmen und uns in der Sakristei umsehen.
    
    Fowler verhört Dicanti mit der Mirada.
    
    -Ich gehe mit dir unter.
    
  -Sind Sie in Sicherheit?
    
  - Ich möchte nichts übersehen. Worum geht es?
    
  In seiner rechten Hand hielt der Priester ein kleines schwarzes Kästchen.
    
  -Enthält die Namen der i#225;ntos Óleo. Dies soll ihm eine letzte Chance geben.
    
  - Glauben Sie, dass dies jetzt noch irgendeinen Zweck erfüllen wird?
    
  - Nicht für unsere Untersuchung. Aber wenn ein él. Era a católico devoto, ¿verdad?
    
    - Das war er. Und ich habe ihn auch nicht wirklich bedient.
    
  - Nun ja, Dottora, bei allem Respekt... das wissen Sie nicht.
    
  Die beiden stiegen die Treppe hinab und achteten darauf, nicht auf die Inschrift am Eingang der Krypta zu treten. Sie gingen einen kurzen Korridor entlang zur Cámara. UACV-Spezialisten hatten zwei leistungsstarke Generatoren installiert, die den Bereich nun beleuchteten.
    
  Pontiero hing regungslos zwischen zwei Säulen, die sich mitten in der Halle emporhoben. Er war bis zur Taille nackt. Karoski hatte seine Hände mit Klebeband an den Stein gefesselt, offenbar mit demselben Klebeband, das die Había für Robaira verwendet hatten. Bogí hatte weder Augen noch Zunge. Sein Gesicht war grauenhaft entstellt, und Fetzen blutiger Haut hingen wie grässliche Ornamente von seiner Brust.
    
  Paola senkte den Kopf, als ihr Vater ihr die Sterbesakramente spendete. Die schwarzen, makellosen Schuhe des Priesters traten durch eine Lache getrockneten Blutes. Die Inspektorin schluckte und schloss die Augen.
    
  -Dikanti.
    
  Ich öffnete sie wieder. Dante stand daneben. Fowler war bereits fertig und machte sich höflich zum Gehen bereit.
    
  -Wohin gehst du, Vater?
    
  -Draußen. Ich möchte nicht stören.
    
  "Das stimmt nicht, Vater. Wenn auch nur die Hälfte von dem, was man über dich sagt, stimmt, bist du ein sehr intelligenter Mann. Du wurdest doch gesandt, um zu helfen, nicht wahr? Nun, wehe uns."
    
  - Mit großem Vergnügen, Disponent.
    
  Paola schluckte und begann zu sprechen.
    
  "Offenbar ist Pontiero durch die Tür des Atrós gegangen. Natürlich haben sie geklingelt, und der falsche Mönch hat ganz normal geöffnet. Sprich mit Karoski und greif ihn an."
    
  - Aber ¿dónde?
    
  "Es musste hier unten sein. Sonst wird da oben Blut fließen."
    
  Warum hat er das getan? Vielleicht hat Pontiero etwas gerochen?
    
  "Das bezweifle ich", sagte Fowler. "Ich denke, es war richtig, dass Karoski die Gelegenheit sah und sie nutzte. Ich neige dazu zu glauben, dass ich ihm den Weg zur Krypta zeigen werde und dass Pontiero allein hinabsteigen und den anderen Mann zurücklassen wird."
    
  "Das leuchtet ein. Ich werde Bruder Francesco wohl sofort verleugnen. Ich entschuldige mich nicht bei ihm dafür, dass ich wie ein gebrechlicher alter Mann aussehe ..."
    
  -...aber weil er ein Mönch war. Pontiero hatte doch keine Angst vor Mönchen, oder? Armer Illusionist, klagt Dante.
    
  -Tun Sie mir einen Gefallen, Superintendent.
    
  Fowler lenkte ihre Aufmerksamkeit mit einer anklagenden Geste auf sich. Dante wandte den Blick ab.
    
  -Es tut mir sehr leid. Weiter, Dicanti.
    
  "Kaum hier, schlug Karoski ihn mit einem stumpfen Gegenstand. Wir vermuten, es war ein bronzener Kerzenleuchter. Die Leute von der UACV haben ihn bereits für die Strafverfolgung sichergestellt. Er lag neben der Leiche. Nachdem er sie angegriffen und ihr das angetan hatte, litt er furchtbar."
    
  Seine Stimme versagte. Die anderen beiden ignorierten den Moment der Schwäche des Gerichtsmediziners. Sie überspielten ihn, um ihren Tonfall wiederzuerlangen, bevor sie fortfuhren.
    
  -Ein dunkler Ort, sehr dunkel. Wiederholst du das Trauma deiner Kindheit? Die Zeit, die ich im Schrank eingesperrt verbracht habe?
    
  -Vielleicht. Haben sie irgendwelche Hinweise auf ein vorsätzliches Handeln gefunden?
    
  - Wir glauben, dass es keine andere Botschaft gab als die Botschaft von außen. "Vexilla regis prodeunt inferni."
    
  "Die Banner des Höllenkönigs ziehen vorwärts", übersetzte der Priester erneut.
    
  - Was bedeutet das, Fowler? - frag Dante.
    
  - Das solltest du wissen.
    
  - Wenn er mich in Ridízadnica zurücklassen will, wird ihm das nicht gelingen, Vater.
    
  Fowler lächelte traurig.
    
  "Nichts kann mich von meinen Absichten ablenken." Dies ist ein Zitat seines Vorfahren Dante Alighieri.
    
  "Er ist nicht mein Vorfahre. Mein Name ist ein Familienname, seiner ein Vorname. Wir haben damit nichts zu tun."
    
  -Ach, Entschuldigung. Wie alle Italiener behaupten sie, von Dante oder Julius César abzustammen...
    
  -Zumindest wissen wir, woher wir kommen.
    
  Sie standen da und blickten sich von Meilenstein zu Meilenstein an. Paola unterbrach sie.
    
  - Wenn Sie Ihre Kommentare zu xenóPhobos abgeschlossen haben, können wir fortfahren.
    
    Fowler fuhr fort, bevor er fortfuhr.
    
    "Wie wir wissen, ist ‚Inferno" ein Zitat aus der Göttlichen Komödie. Es handelt davon, wie Dante und Vergil in die Hölle fahren. Es sind ein paar Phrasen aus einem christlichen Gebet, nur dass sie dem Teufel und nicht Gott gewidmet sind. Viele wollten in diesem Satz Ketzerei sehen, aber in Wirklichkeit wollte Dante seine Leser nur erschrecken."
    
  - Ist es das, was ihr wollt? Uns Angst einjagen?
    
  "Das ist ein Warnsignal, dass die Hölle nahe ist. Ich glaube nicht, dass Karoski damit meint, in die Hölle zu fahren. Er ist kein besonders kultivierter Mann, auch wenn er das gerne zur Schau stellt. Irgendwelche Botschaften von mir?"
    
  "Nicht in der Leiche", antwortete Paola. Er wusste, dass sie die Besitzer trafen, und er hatte Angst. Und er erfuhr es durch mich, weil ich Herrn Vil de Pontiero immer wieder anrief.
    
  -Haben wir den abscheulichen Mann gefunden? - fragt Dante.
    
  "Sie haben die Firma mit Nicks Handy angerufen. Das Ortungssystem zeigt an, dass das Handy ausgeschaltet oder außer Betrieb ist. Der letzte Pfosten, an dem ich den Zaun befestigen werde, befindet sich oberhalb des Atlante Hotels, weniger als dreihundert Meter von hier", antwortet Dikanti.
    
  "Genau dort habe ich gewohnt", sagte Fowler.
    
  - Wow, ich hatte ihn mir als Priester vorgestellt. Wissen Sie, ich bin etwas bescheiden.
    
  Fowler nahm das nicht als selbstverständlich hin.
    
  "Freund Dante, in meinem Alter lernt man die schönen Dinge des Lebens zu genießen. Vor allem, wenn Tíli Sam dafür bezahlt. Ich habe schon einige schlimme Zeiten durchgemacht."
    
  - Ich verstehe, Vater. Mir ist das bewusst.
    
  -Können wir sagen, worauf Sie anspielen?
    
  "Ich will damit nichts Böses sagen. Ich bin einfach überzeugt, dass Sie aufgrund Ihrer... Dienste in noch schlimmeren Unterkünften geschlafen haben."
    
  Dante war deutlich feindseliger als sonst, und Pater Fowler schien der Grund dafür zu sein. Die Gerichtsmedizinerin verstand das Motiv nicht, aber ihr war klar, dass die beiden das unter vier Augen klären mussten.
    
  -Genug. Lass uns rausgehen und frische Luft schnappen.
    
  Beide folgten Dikanti zurück zur Kirche. Der Arzt teilte den Krankenschwestern mit, dass sie Pontieros Leiche nun bergen könnten. Einer der UACV-Anführer trat an sie heran und berichtete ihr von einigen ihrer Erkenntnisse. Paola nickte. Und er wandte sich Fowler zu.
    
  -¿ Können wir uns einen Moment konzentrieren, Vater?
    
  - Natürlich, Dottora.
    
  -¿Dante?
    
  -Faltaría más.
    
  "Okay, Folgendes haben wir herausgefunden: Im Büro des Rektors gibt es eine professionelle Umkleidekabine, und auf dem Schreibtisch befand sich Asche, die unserer Meinung nach zum Pass passt. Wir haben sie mit reichlich Alkohol verbrannt, sodass nichts Wesentliches mehr übrig ist. Die Mitarbeiter der UACV haben die Asche mitgenommen; wir werden sehen, ob sie uns weiterhelfen können. Die einzigen Fingerabdrücke, die sie im Haus des Rektors gefunden haben, gehören nicht Caroschi, da sie seinen Schuldner ausfindig machen müssen. Dante, du hast heute eine Aufgabe. Finde heraus, wer Pater Francesco war und wie lange er schon hier ist. Suche unter den regelmäßigen Gemeindemitgliedern."
    
  Okay, Disponent. Ich werde mich jetzt mal mit dem Thema Seniorenleben beschäftigen.
    
  "Dédjez hat nur gescherzt. Karoski hat mitgespielt, war aber nervös. Er ist weggelaufen und hat sich versteckt, und wir werden eine Weile nichts von ihm wissen. Wenn wir herausfinden können, wo er sich in den letzten Stunden aufgehalten hat, können wir vielleicht herausfinden, wo er sich die ganze Zeit aufgehalten hat."
    
  Paola drückte heimlich die Daumen in ihrer Jackentasche und versuchte, seinen Worten Glauben zu schenken. Die Dämonen kämpften mit allen Mitteln und taten gleichzeitig so, als sei diese Möglichkeit mehr als nur eine ferne Ungewissheit.
    
  Dante kehrte zwei Stunden später zurück. Sie wurden von einer Frau mittleren Alters begleitet, die Dikanti seine Geschichte erzählte. Nach dem Tod des vorherigen Papstes erschien Bruder Darío, Bruder Francesco. Das war vor etwa drei Jahren. Seitdem bete ich, helfe bei der Reinigung der Kirche und kümmere mich um den Pfarrer. Seguín la señora el Fray Toma war ein Vorbild an Demut und christlichem Glauben. Er leitete die Gemeinde mit fester Hand, und niemand hatte etwas an ihm auszusetzen.
    
  Insgesamt war es eine recht unschöne Aussage, aber man sollte zumindest bedenken, dass es eine unbestreitbare Tatsache ist. Bruder Basano starb im November 2001, was Karoska zumindest die Einreise ins Land ermöglichte.
    
  "Dante, tu mir einen Gefallen. Finde heraus, was die Karmeliten von Francesco Toma - pidio Dicanti - wissen."
    
  - Gut für ein paar Anrufe. Aber ich vermute, wir werden nur sehr wenige bekommen.
    
  Dante verließ das Gebäude durch die Vordertür und begab sich in sein Büro in vatikanischer Obhut. Fowler verabschiedete sich von dem Inspektor.
    
  -Ich gehe ins Hotel, ziehe mich um und sehe sie später.
    
  -Im Leichenschauhaus zu sein.
    
  - Dafür gibt es keinen Grund, Disponent.
    
  -Ja, ich habe einen.
    
  Zwischen ihnen herrschte Stille, die nur unterbrochen wurde von einem religiösen Lied, das der Pilger anzustimmen begann und in das Hunderte einstimmten. Die Sonne verschwand hinter den Hügeln, und Rom versank in Dunkelheit, obwohl die Straßen voller Leben waren.
    
  - Zweifellos war eine dieser Fragen das Letzte, was der junge Inspektor hörte.
    
  Paola Siguió schwieg. Fowler hatte diesen Prozess, den die Gerichtsmedizinerin nach dem Tod eines ihrer Kameraden durchmachte, schon zu oft miterlebt. Zuerst Euphorie und Rachegelüste. Dann allmählich Erschöpfung und Trauer, als ihr das Geschehene bewusst wurde; der Schock zehrte an ihrem Körper. Schließlich versank sie in einer dumpfen Leere, einer Mischung aus Wut, Schuld und Groll, die erst enden würde, wenn Karoski hinter Gittern oder tot wäre. Und vielleicht nicht einmal dann.
    
  Der Priester wollte Dikantis Hand auf die Schulter legen, hielt aber im letzten Moment inne. Obwohl der Inspektor ihn nicht sehen konnte, da er ihm den Rücken zugewandt hatte, musste ihn etwas instinktiv dazu bewegt haben.
    
  "Sei sehr vorsichtig, Vater. Jetzt weiß er, dass du hier bist, und das könnte alles verändern. Außerdem sind wir uns nicht ganz sicher, wie er aussieht. Er hat bewiesen, dass er ein Meister der Tarnung ist."
    
  -So viel wird sich in fünf Jahren verändern?
    
  "Vater, ich habe das Foto von Karoska gesehen, das Sie mir gezeigt haben, und ich habe Bruder Francesco gesehen. Lassen Sie sich auf keinen Fall darauf ein."
    
  - Es war sehr dunkel in der Kirche, und du hast dem alten Karmeliten nicht viel Beachtung geschenkt.
    
  "Vater, vergib mir und hab mich lieb. Ich kenne mich gut mit Physiognomie aus. Er trug vielleicht Perücken und einen Bart, der sein halbes Gesicht verdeckte, aber er sah aus wie ein älterer Mann. Er ist ein Meister der Tarnung und kann nun jemand anderes werden."
    
  "Nun, ich habe ihr in die Augen geschaut, Doktor. Wenn er mir in die Quere kommt, werde ich wissen, dass es stimmt. Und ich bin seine Tricks nicht wert."
    
  "Das ist nicht nur ein Trick, Vater. Jetzt hat er auch noch eine 9-mm-Patrone und dreißig Kugeln. Pontieros Pistole und das Ersatzmagazin fehlten."
    
    
    
  Städtische Leichenhalle
    
  Donnerstag, 7. April 2005, 1:32 Uhr
    
    
    
  Er gab dem Treo ein Zeichen, die Autopsie durchzuführen. Der anfängliche Adrenalinschub hatte nachgelassen, und ich fühlte mich zunehmend deprimiert. Mit ansehen zu müssen, wie der Gerichtsmediziner seinen Kollegen mit dem Skalpell sezierte - es war fast unmöglich für ihn, aber ich hatte es geschafft. Der Gerichtsmediziner stellte fest, dass Pontiero 43 Mal mit einem stumpfen Gegenstand geschlagen worden war, wahrscheinlich mit dem blutigen Kerzenständer, der am Tatort gefunden worden war. Die Ursache der Schnittverletzungen an seinem Körper, einschließlich des Kehlschnitts, wurde erst nach Abdrücken der Wunden durch die Labortechniker festgestellt.
    
  Paola würde diese Meinung wie in einem sinnlichen Schleier wahrnehmen, was ihr Leid in keiner Weise lindern würde. Er würde stundenlang dastehen und alles - wirklich alles - beobachten und sich diese unmenschliche Strafe freiwillig auferlegen. Dante erlaubte sich, kurz in den Autopsieraum zu gehen, stellte ein paar Fragen und ging sofort wieder. Boy war auch anwesend, aber das war nur ein Beweismittel. Er ging bald darauf, fassungslos und benommen, und erwähnte, dass er erst wenige Stunden zuvor mit L. gesprochen hatte.
    
  Als der Gerichtsmediziner seine Arbeit beendet hatte, ließ er das CAD-System auf dem Metalltisch liegen. Er wollte sich gerade die Hände vors Gesicht halten, als Paola sagte:
    
  -NEIN.
    
  Der Gerichtsmediziner verstand und ging, ohne ein Wort zu sagen.
    
  Die Leiche war gewaschen, doch ein schwacher Blutgeruch ging von ihr aus. Im grellen, kalten Licht wirkte der kleine Unterinspektor mindestens 250 Grad leblos. Schläge bedeckten seinen Körper wie Schmerzmale, und riesige Wunden, die wie obszöne Münder aussahen, verströmten den kupferartigen Geruch von Blut.
    
  Paola fand den Umschlag mit dem Inhalt von Pontieros Taschen. Rosenkranz, Schlüssel, Portemonnaie. Die Schale des Grafen, ein Feuerzeug, eine halbvolle Tabakpackung. Als sie den letzten Gegenstand sah und ihr bewusst wurde, dass niemand diese Zigaretten rauchen würde, überkam sie tiefe Traurigkeit und Einsamkeit. Und sie begann zu begreifen, dass ihr Kamerad, ihr Freund, tot war. In einer Geste der Verleugnung griff sie nach einem der Zigarettenetuis. Das Feuerzeug durchbrach die bedrückende Stille des Obduktionsraums mit einer lebendigen Flamme.
    
  Paola verließ das Krankenhaus unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters. Ich unterdrückte den Hustenreiz und trank meinen Mahonda in einem Zug aus. Den Rauch warf ich direkt in Richtung des Rauchverbotsbereichs, so wie Pontiero es gern tat.
    
  Und beginnen Sie, sich von él zu verabschieden.
    
    
  Verdammt, Pontiero. Verdammt. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Wie konntest du nur so ungeschickt sein? Das ist alles deine Schuld. Ich bin nicht schnell genug. Wir haben deiner Frau nicht mal dein Leichentuch gezeigt. Er hat dir doch grünes Licht gegeben, verdammt noch mal, wenn er dir grünes Licht gegeben hat. Sie hätte sich nicht gewehrt, sie hätte sich nicht gewehrt, dich so zu sehen. Mein Gott, Enza. Glaubst du, es ist okay, dass ich die Letzte auf der Welt bin, die dich nackt sieht? Ich verspreche dir, das ist nicht die Art von Intimität, die ich mit dir haben will. Nein, von allen Polizisten der Welt warst du der schlechteste Kandidat fürs Gefängnis, und du hast es verdient. Alles für dich. Ungeschickt, ungeschickt, ungeschickt, konnten sie dich denn nicht bemerken? Wie zum Teufel bist du nur in diese Scheiße geraten? Ich kann es nicht fassen. Du bist immer vor der Polizei von Pulma geflohen, genau wie mein verdammter Vater. Gott, du kannst dir nicht mal vorstellen, was ich mir jedes Mal ausgemalt habe, wenn du diesen Scheiß geraucht hast. Ich komme zurück und sehe meinen Vater im Krankenhausbett liegen, wie er sich in der Badewanne die Lunge aus dem Leib kotzt. Und abends lerne ich alles. Fürs Geld, für die Abteilung. Abends quälen mich Fragen, die auf Husten basieren. Ich habe immer geglaubt, dass auch er ans Fußende deines Bettes kommen, deine Hand halten würde, während du zum anderen Block zwischen Avemar und unseren Eltern gehst, und zusehen würdest, wie die Krankenschwestern ihn in den Arsch ficken. Das hier, das sollte sein, nicht das. Pat, könntest du mich anrufen? Verdammt, wenn ich glaube, dich lächeln zu sehen, ist das wie eine Entschuldigung. Oder denkst du, das ist meine Schuld? Deine Frau und deine Eltern denken jetzt noch nicht daran, aber sie denken schon daran. Wenn ihnen jemand die ganze Geschichte erzählt. Aber nein, Pontiero, es ist nicht meine Schuld. Es gehört dir und nur dir, verdammt noch mal, dir, mir und dir, du Idiot. Warum zum Teufel hast du dich in diese Misere gebracht? Verflucht sei dein ewiges Vertrauen in jeden, der eine Soutane trägt. Karoski, die Ziege, wir sind die Schlampe. Nun, ich habe es von dir, und du hast dafür bezahlt, Tí. Dieser Bart, diese Nase. Er hat die Brille nur aufgesetzt, um uns zu verarschen, uns lächerlich zu machen. So ein Schwein. Er hat mir direkt ins Gesicht geschaut, aber ich konnte seine Augen nicht sehen, wegen dieser zwei Glas-Zigarettenstummel, die er mir vors Gesicht hielt. Dieser Bart, diese Nase. Willst du mir etwa glauben, dass ich nicht weiß, ob ich ihn wiedererkennen würde, wenn ich ihn wiedersähe? Ich weiß schon, was du denkst. Soll er sich doch die Fotos vom Tatort von Robaira ansehen, falls sie darauf auftaucht, selbst im Hintergrund. Und ich werde es tun, um Gottes Willen. Ich werde es tun. Aber hör auf, so zu tun. Und lächle nicht, du Arschloch, lächle nicht. Um Gottes Willen! Bis zu deinem Tod willst du mir die Schuld in die Schuhe schieben. Ich vertraue niemandem, ist mir egal. Sei vorsichtig, ich sterbe. Was soll der ganze Rat, wenn du ihn später sowieso nicht befolgst? Oh Gott, Pontiero. Wie oft lässt du mich im Stich? Deine ständige Ungeschicklichkeit lässt mich allein vor diesem Monster stehen. Verdammt, wenn wir einem Priester folgen, wirken Soutanen automatisch verdächtig, Pontiero. Komm mir nicht damit. Benutz nicht die Ausrede, Pater Francesco sähe aus wie ein hilfloser, lahmer alter Mann. Verdammt, was hat er dir bloß für die Haare gemacht? Verdammt, verdammt! Wie ich dich hasse, Pontiero! Weißt du, was deine Frau gesagt hat, als sie von deinem Tod erfahren hat? Er sagte: "Sie kann nicht sterben. Er liebt Jazz." Er sagte nicht: "Er hat zwei Söhne" oder "Er ist mein Mann und ich liebe ihn." Nein, er sagte, du magst Jazz. Wie Duke Ellington oder Diana Krall - das ist wie eine verdammte kugelsichere Weste. Verdammt, sie spürt dich, sie spürt, wie du lebst, sie spürt deine heisere Stimme und das Miauen, das du hörst. Du riechst nach den Zigarren, die du rauchst. Was du geraucht hast. Wie ich dich hasse. Heilige Scheiße ... Was ist dir all das, wofür du gebetet hast, jetzt noch wert? Diejenigen, denen du vertraut hast, haben dich im Stich gelassen. Ja, ich erinnere mich an den Tag, als wir Pastrami auf der Piazza Colonna aßen. Du sagtest mir, Priester seien nicht einfach nur Männer mit Verantwortung, sie seien keine Menschen. Dass die Kirche das nicht versteht. Und ich schwöre dir, ich werde das dem Priester ins Gesicht sagen, der auf den Balkon des Petersdoms blickt, ich schwöre es dir. Ich schreibe das auf ein Banner, so groß, dass ich es selbst mit einem Blinden sehen kann. Pontiero, du verdammter Idiot. Das war nicht unser Kampf. Oh Gott, ich habe Angst, so große Angst. Ich will nicht so enden wie du. Dieser Tisch sieht so schön aus. Was, wenn Karoski mir nach Hause folgt? Pontiero, du Idiot, das ist nicht unser Kampf. Das ist der Kampf der Priester und ihrer Kirche. Und sag mir nicht, dass das auch meine Mutter ist. Ich glaube nicht mehr an Gott. Doch, eigentlich schon. Aber ich glaube nicht, dass sie besonders gute Menschen sind. Meine Liebe zu dir... Ich lasse dich zu Füßen eines Toten zurück, der eigentlich schon vor dreißig Jahren hätte leben sollen. Er ist fort. Ich bitte dich um etwas billiges Deo, Pontiero. Und jetzt bleibt der Geruch der Toten, von all den Toten, die wir in diesen Tagen gesehen haben. Körper, die früher oder später verwesen, weil Gott einigen seiner Geschöpfe nicht Gutes getan hat. Und dein Oberkellner stinkt am meisten von allen. Sieh mich nicht so an. Sag mir nicht, dass Gott an mich glaubt. Ein guter Gott lässt so etwas nicht zu, er lässt nicht zu, dass einer der Seinen zum Wolf unter den Schafen wird. Du bist genau wie ich, wie Pater Fowler. Sie haben die Mutter da unten mit all dem Dreck zurückgelassen, den sie ihr angetan haben, und jetzt sucht sie nach stärkeren Gefühlen, als ein Kind zu vergewaltigen. Und was ist mit dir? Was für ein Gott erlaubt solchen glückseligen Bastarden wie dir, ihn in einen verdammten Kühlschrank zu stopfen, während seine Firma verrottet, und ihm die ganze Hand in die Wunden zu stecken? Verdammt, es war nicht mein Kampf, ich wollte nur ein bisschen auf Boy zielen, endlich einen dieser Degenerierten erwischen. Aber anscheinend bin ich nicht von hier. Nein, bitte. Sag nichts. Hör auf, mich zu verteidigen! Ich bin keine Frau und ich bin es nicht! Gott, ich war so anhänglich. Was ist falsch daran, es zuzugeben? Ich habe nicht klar gedacht. Das Ganze hat mich eindeutig überwältigt, aber es ist vorbei. Es ist vorbei. Verdammt, es war nicht mein Kampf, aber jetzt weiß ich, dass es so war. Jetzt ist es eine persönliche Angelegenheit, Pontiero. Der Druck vom Vatikan, dem Sirin, den Bojaren oder dieser Schlampe, die sie alle verraten hat, ist mir jetzt egal. Ich werde alles tun, und es ist mir egal, ob dabei Köpfe eingeschlagen werden. Ich werde ihn kriegen, Pontiero. Für dich und für mich. Für deine Frau, die draußen wartet, und für deine beiden Gören. Aber vor allem wegen dir, weil du wie erstarrt bist und dein Gesicht nicht mehr dein Gesicht ist. Gott, was zum Teufel hat dich verlassen? Welcher Bastard hat dich verlassen, und dass ich mich so allein fühle? Ich hasse dich, Pontiero. Ich vermisse dich so sehr.
    
    
  Paola trat in den Flur. Fowler wartete dort auf sie, den Blick zur Wand gerichtet, auf einer Holzbank sitzend. Er stand auf, als er sie sah.
    
  - Dottora, ich...
    
  - Alles ist in Ordnung, Vater.
    
  -Das ist nicht in Ordnung. Ich weiß, was du durchmachst. Dir geht es nicht gut.
    
  "Natürlich geht es mir nicht gut. Verdammt, Fowler, ich werde nicht wieder schmerzerfüllt in seine Arme fallen. Sowas passiert nur in den Skins."
    
  Als ich mit beiden auftauchte, war er schon im Begriff zu gehen.
    
  -Dikanti, wir müssen reden. Ich mache mir große Sorgen um dich.
    
  -¿Usted también? Was gibt's Neues? Tut mir leid, aber ich habe keine Zeit zum Plaudern.
    
  Doktor Boy stand ihm im Weg. Ihr Kopf reichte bis zu seiner Brust, auf gleicher Höhe mit seiner Brust.
    
  "Er versteht es nicht, Dikanti. Ich werde sie von dem Fall abziehen. Es steht im Moment zu viel auf dem Spiel."
    
  Paola alzó la Vista. Er wird sie weiterhin anstarren und langsam, sehr langsam, mit eiskalter Stimme sprechen.
    
  "Pass auf dich auf, Carlo, denn ich sage es nur einmal: Ich werde denjenigen fassen, der Pontiero das angetan hat. Weder du noch sonst jemand hat dazu etwas zu sagen. Ist das klar?"
    
  - Es scheint, als ob er nicht ganz versteht, wer hier das Sagen hat, Dikanti.
    
  -Vielleicht. Aber mir ist klar, dass ich das tun muss. Bitte treten Sie beiseite.
    
  Der Junge öffnete den Mund, um zu antworten, wandte sich dann aber ab. Paola lenkte seine wütenden Schritte in Richtung Ausgang.
    
  Fowler sonreía.
    
  -Was ist denn so lustig, Vater?
    
  -Sie natürlich. Beleidigen Sie mich nicht. Sie denken doch nicht etwa daran, sie demnächst von dem Fall abzuziehen, oder?
    
  Der UACV-Direktor heuchelte Ehrfurcht.
    
  "Paola ist eine sehr starke und unabhängige Frau, aber sie muss sich konzentrieren. All die Wut, die du gerade empfindest, kann gebündelt und kanalisiert werden."
    
  -Regisseur... Ich höre die Worte, aber ich höre nicht die Wahrheit.
    
  "Okay. Ich gebe es zu. Ich habe Angst um sie. Er musste wissen, dass er die Kraft in sich trug, weiterzumachen. Jede andere Antwort hätte mich gezwungen, ihn aus dem Weg zu räumen. Wir haben es hier nicht mit einem normalen Menschen zu tun."
    
  - Sei nun aufrichtig.
    
  Fowler erkannte, dass hinter dem Polizisten und Verwaltungsbeamten ein Mensch steckte. Sie sah ihn so, wie er an jenem frühen Morgen gewesen war: in zerrissener Kleidung und mit gebrochenem Herzen nach dem Tod eines seiner Untergebenen. Boy mochte viel Zeit mit Selbstdarstellung verbringen, aber er hielt fast immer zu Paola. Er fühlte sich stark zu ihr hingezogen; das war offensichtlich.
    
  - Pater Fowler, ich muss Sie um einen Gefallen bitten.
    
  -Nicht wirklich.
    
  "Er spricht also?" Der Junge war überrascht.
    
  "Er sollte mich nicht danach fragen. Ich kümmere mich darum", sagte sie, sehr zu ihrem Ärger. "Ob gut oder schlecht, wir sind nur noch zu dritt. Fabio Dante, Dikanti und ich. Wir müssen uns mit der Común auseinandersetzen."
    
    
    
  UACCV-Hauptsitz
    
  Via Lamarmora, 3
    
  Donnerstag, 7. April 2005, 08:15 Uhr.
    
    
    
  "Du kannst Fowler nicht trauen, Dikanti. Er ist ein Mörder."
    
  Paola hob ihren ernsten Blick zu Caroschis Akte. Er hatte nur wenige Stunden geschlafen und war gerade noch rechtzeitig zur Morgendämmerung an seinen Schreibtisch zurückgekehrt. Das war ungewöhnlich: Paola war der Typ, der ein ausgiebiges Frühstück und einen gemächlichen Arbeitsweg liebte und dann bis tief in die Nacht hinein arbeitete. Pontiero hatte darauf bestanden, dass er so den römischen Sonnenaufgang verpasste. Der Inspektor schätzte diese Mutter nicht, denn sie feierte ihren Freund auf ganz andere Weise, aber von ihrem Büro aus war die Morgendämmerung besonders schön. Das Licht kroch träge über die Hügel Roms, während Strahlen auf jedem Gebäude, jedem Sims verweilten und die Kunst und Schönheit der Ewigen Stadt willkommen hießen. Die Formen und Farben der Körper offenbarten sich so zart, als hätte jemand an die Tür geklopft und um Erlaubnis gebeten. Doch derjenige, der ohne anzuklopfen und mit einer unerwarteten Anschuldigung eintrat, war Fabio Dante. Der Superintendent war eine halbe Stunde früher als geplant erschienen. Er hatte einen Umschlag in der Hand und Schlangen im Mund.
    
  - Dante, hast du getrunken?
    
  -Ganz und gar nicht. Ich sage ihm, dass er ein Mörder ist. Erinnerst du dich, wie ich dir geraten habe, ihm nicht zu trauen? Sein Name ließ mich erschaudern. Weißt du, eine Erinnerung, die sich tief in meine Seele eingegraben hat. Denn ich hatte ein wenig über seine angeblichen Verbindungen zum Militär recherchiert.
    
  Paola trinkt jedes Mal Kaffee, wenn sie frío ist. Ich war fasziniert.
    
  -Ist er nicht ein Soldat?
    
  -Oh, natürlich ist es das. Eine Militärkapelle. Aber das ist nicht Ihr Befehl von der Luftwaffe. Er ist von der CIA.
    
  -CIA? Das ist doch nicht dein Ernst!
    
  -Nein, Dikanti. Fowler ist nicht der Typ für Scherze. Hören Sie: Ich wurde 1951 in eine wohlhabende Familie geboren. Mein Vater arbeitet in der Pharmaindustrie oder so etwas in der Art. Ich habe Psychologie in Princeton studiert. Ich habe mit einem Notendurchschnitt von 25 und mit Auszeichnung (summa cum laude) abgeschlossen.
    
  - Magna cum laude. Meine Qualifikationen sind ximaón. Dann hast du mich angelogen. Er sagte, er sei kein besonders brillanter Schüler gewesen.
    
  "Er hat sie deswegen und in vielen anderen Dingen angelogen. Er hat sein Highschool-Diplom nicht abgeholt. Offenbar hatte er sich mit seinem Vater zerstritten und sich 1971 freiwillig gemeldet. Er meldete sich mitten im Vietnamkrieg. Er absolvierte eine fünfmonatige Ausbildung in Virginia und zehn Monate in Vietnam als Leutnant."
    
  - War er nicht etwas jung für einen Leutnant?
    
  Ist das ein Witz? Ein freiwilliger Hochschulabsolvent? Ich bin sicher, er wird darüber nachdenken, ihn zum General zu ernennen. Was damals mit seinem Kopf geschah, ist unbekannt, aber ich kehrte nach dem Krieg nicht in die Vereinigten Staaten zurück. Er studierte in einem Priesterseminar in Westdeutschland und wurde 1977 zum Priester geweiht. Danach finden sich Spuren von ihm an vielen Orten: Kambodscha, Afghanistan, Rumänien. Wir wissen, dass er in China war und überstürzt abreisen musste.
    
  Nichts davon rechtfertigt die Tatsache, dass er ein CIA-Agent ist.
    
  "Dicanti, alles ist hier." Während er sprach, zeigte er Paola Fotos, die größten davon schwarz-weiß. Darauf sah man einen erstaunlich jugendlichen Fowler, der mit der Zeit, als sich seine Gene dem heutigen annäherten, nach und nach seine Haare verlor. Er sah Fowler auf einem Haufen Erdsäcken im Dschungel, umringt von Soldaten. Er trug die Streifen eines Leutnants. Sie sah ihn in der Krankenstation neben einem lächelnden Soldaten. Er sah ihn am Tag seiner Priesterweihe, als er in Rom von demselben Papst Simon Paulo VI. die Kommunion empfangen hatte. Sie sah ihn auf einem großen Platz mit Flugzeugen im Hintergrund, bereits als Soldat gekleidet, umringt von Soldaten ...
    
  -Seit wann ist das ésta?
    
  Dante konsultiert seine Aufzeichnungen.
    
    - Wir schreiben das Jahr 1977. Seine Ordenskraft Fowler ging nach Deutschland, zur Base Aérea de Spangdahlem. Wie eine Militärkapelle .
    
  Dann passt seine Geschichte.
    
  -Fast... aber nicht ganz. In der Akte ist vermerkt, dass John Abernathy Fowler, Sohn von Marcus und Daphne Fowler, ein Leutnant der US-Luftwaffe, nach erfolgreichem Abschluss seiner Ausbildung in "Feld- und Spionageabwehrspezialitäten" befördert und entsprechend bezahlt wird. In Westdeutschland. Auf dem Höhepunkt des Krieges, die Fria.
    
  Paola machte eine mehrdeutige Geste. Er hatte es eben noch nicht deutlich gesehen.
    
  -Warte, Dikanti, das ist noch nicht das Ende. Wie ich dir schon sagte, war ich an vielen Orten. 1983 verschwindet er für mehrere Monate. Der Letzte, der etwas über ihn weiß, ist ein Priester aus Virginia.
    
  Ah, Paola gibt langsam nach. Ein Soldat, der seit Monaten in Virginia vermisst wird, führt ihn zu einem einzigen Ort: dem CIA-Hauptquartier in Langley.
    
  -Fahre fort, Dante.
    
  1984 taucht Fowler kurz in Boston wieder auf. Seine Eltern starben im Juli bei einem Autounfall. Er geht zu einem Notar und bittet ihn, sein gesamtes Vermögen unter den Armen aufzuteilen. Er unterschreibt die nötigen Papiere und geht. Laut Notar betrug der Gesamtwert des Vermögens seiner Eltern und seiner Firma 8,5 Millionen Dollar.
    
  Dikanti stieß einen unartikulierten, frustrierten Pfiff purer Verwunderung aus.
    
  -Das ist eine Menge Geld, und ich habe es 1984 bekommen.
    
  -Tja, er ist völlig neben der Spur. Schade, dass ich ihn nicht früher kennengelernt habe, nicht wahr, Dikanti?
    
  -¿Qué insinúa, Dante?
    
  "Nichts, gar nichts. Und als ob das nicht schon genug wäre, reist Fowler nach Frankreich und ausgerechnet nach Honduras. Dort wird er zum Kommandanten der Militärkapelle auf dem Stützpunkt El Avocado ernannt, wo er bereits Major ist. Und hier wird er zum Mörder."
    
  Die nächsten Fotos lassen Paola wie erstarrt zurück. Reihen von Leichen liegen in staubigen Massengräbern. Arbeiter mit Schaufeln und Masken, die den Schrecken in ihren Gesichtern kaum verbergen. Ausgegrabene Körper, die in der Sonne verrotten. Männer, Frauen und Kinder.
    
  -¿Gott, Iío, was ist das?
    
  -Und wie sieht es mit Ihren Geschichtskenntnissen aus? Ich bedaure Sie. Ich musste alles online nachschlagen. Anscheinend gab es eine sandinistische Revolution in Nicaragua. Die sogenannte nicaraguanische Konterrevolution zielte darauf ab, eine rechtsgerichtete Regierung wieder an die Macht zu bringen. Die Regierung von Ronald Reagan unterstützt Guerilla-Rebellen, die in vielen Fällen eher als Terroristen und Schläger bezeichnet werden sollten. Und warum können Sie nicht erraten, wer in dieser kurzen Zeit der honduranische Botschafter war?
    
  Paola kam in rasantem Tempo über die Runden.
    
  -John Negroponte.
    
  "Ein Preis für eine schwarzhaarige Schönheit! Der Gründer des Luftwaffenstützpunkts Avocado, an der Grenze zu Nicaragua, einem Trainingslager für Tausende von Contra-Guerillas. "Es war ein Haft- und Folterzentrum, eher ein Konzentrationslager als ein Militärstützpunkt in einem demokratischen Land." 225;tico." Diese wunderschönen und ausdrucksstarken Fotos, die ich Ihnen gezeigt habe, wurden vor zehn Jahren aufgenommen. 185 Männer, Frauen und Kinder lebten in diesen Gruben. Und man geht davon aus, dass eine unbestimmte Anzahl von Leichen, vielleicht bis zu 300, in den Bergen begraben liegt.
    
  "Mein Gott, wie schrecklich das alles ist." Der Schrecken beim Anblick dieser Fotos hielt Paola jedoch nicht davon ab, Fowler eine zweite Chance zu geben. Aber auch das beweist nichts.
    
  - Ich war völlig fassungslos... Das war doch die Kapelle eines Folterlagers, beim Himmel! An wen soll man denn die Verurteilten vor ihrem Tod richten? Weißt du das denn nicht?
    
  Dikanti blickte ihn schweigend an.
    
  - Okay, brauchen Sie etwas von mir? Ich habe reichlich Material. Die Uffizien-Akte. 1993 wurde er nach Rom vorgeladen, um im Mordfall an 32 Nonnen sieben Jahre zuvor auszusagen. Die Nonnen waren aus Nicaragua geflohen und in El Avocado gelandet. Sie wurden vergewaltigt, in einem Hubschrauber mitgenommen und schließlich mit einem Plaf, einem Fladenbrot für Nonnen, belegt. Nebenbei bemerkt: Ich gebe auch das Verschwinden von zwölf katholischen Missionaren bekannt. Die Anklage lautete, er habe von allem gewusst und diese ungeheuren Menschenrechtsverletzungen nicht verurteilt. Im Grunde bin ich genauso schuldig, als hätte ich den Hubschrauber selbst gesteuert.
    
  -Und was schreibt das Heilige Fasten vor?
    
  "Nun ja, wir hatten nicht genug Beweise, um ihn zu verurteilen. Er kämpft um seine Haare. Es ist, als ob es beiden Seiten geschadet hätte. Ich glaube, ich habe die CIA aus freiem Willen verlassen. Er strauchelte eine Zeit lang, und Ahab ging nach St. Matthew's."
    
  Paola betrachtete die Fotos eine ganze Weile.
    
  - Dante, ich möchte Ihnen eine sehr, sehr ernste Frage stellen. Behaupten Sie als Bürger des Vatikans, dass das Heilige Offizium eine vernachlässigte Institution sei?
    
  - Nein, Herr Inspektor.
    
  -Darf ich behaupten, dass sie niemanden heiratet?
    
  Nun geh, wohin du willst, Paola.
    
  - Also, Superintendent, die strenge Institution Ihres Vatikanstaates konnte keinerlei Beweise für Fowlers Schuld finden, und Sie stürmten in mein Büro, erklärten ihn für einen Mörder und baten mich, ihn nicht für schuldig zu befinden.
    
  Der zuvor erwähnte Mann stand auf, geriet in Wut und beugte sich über Dikantis Tisch.
    
  "Cheme, meine Liebe ... glaub ja nicht, ich sähe nicht den Blick in deinen Augen, wenn du diesen Möchtegernpriester anschaust. Durch einen unglücklichen Zufall sollen wir dieses verdammte Monster auf seinen Befehl hin jagen, und ich will nicht, dass er an Röcke denkt. Er hat schon seinen Kameraden verloren, und ich will nicht, dass dieser Amerikaner mir den Rücken freihält, wenn wir Karoski begegnen. Ich will, dass du weißt, wie du darauf reagieren sollst. Er scheint seinem Vater sehr ergeben zu sein ... und er steht auch auf der Seite seines Landsmanns."
    
  Paola stand auf und strich sich ruhig zweimal über die Wange. "Platz plus." Das waren zwei Ohrfeigen, die einem wirklich den Atem raubten. Dante war so überrascht und gedemütigt, dass er gar nicht wusste, wie er reagieren sollte. Er blieb wie angewurzelt stehen, den Mund offen, die Wangen hochrot.
    
  -Nun, gestatten Sie mir, Sie vorzustellen, Superintendent Dante. Wenn wir bei dieser verdammten Untersuchung gegen drei Personen feststecken, liegt das daran, dass ihre Kirche nicht will, dass bekannt wird, dass ein Monster, das Kinder vergewaltigt hat und in einem ihrer Slums kastriert wurde, die Kardinäle tötet, die er ermordet hat. Einige von ihnen müssen sich für ihren Mandamus entscheiden. Dies, und nichts anderes, ist die Ursache für Pontieros Tod. Ich erinnere ihn daran, dass Sie es waren, der uns um Hilfe gebeten hat. Offenbar ist seine Organisation hervorragend darin, Informationen über die Aktivitäten eines Priesters im Dschungel der Dritten Welt zu sammeln, aber er ist nicht so gut darin, einen Sexualstraftäter zu kontrollieren, der in den letzten zehn Jahren dutzende Male rückfällig geworden ist - und das vor den Augen seiner Vorgesetzten und in einem demokratischen Geist. Also soll er verschwinden, bevor er auf die Idee kommt, sein Problem sei Eifersucht auf Fowler. Und kommen Sie erst wieder, wenn Sie bereit sind, im Team zu arbeiten. Verstanden?
    
  Dante fasste sich wieder so weit, dass er tief durchatmete und sich umdrehte. Genau in diesem Moment betrat Fowler das Büro, und der Direktor äußerte seine Enttäuschung darüber, dass ich ihm die Fotos, die er in der Hand gehalten hatte, ins Gesicht geworfen hatte. Dante huschte davon und vergaß vor Wut sogar, die Tür zuzuschlagen.
    
  Die Inspektorin verspürte ungeheure Erleichterung über zwei Dinge: Erstens, dass sie die Gelegenheit hatte, das zu tun, was sie - wie Sie sich vielleicht denken konnten - schon mehrmals vorhatte. Und zweitens, dass ich es unter vier Augen tun konnte. Wäre eine solche Situation jemandem Anwesenden oder Außenstehenden widerfahren, hätte Dante Jem und seine Vergeltungsschläge nicht vergessen. So etwas vergisst man nicht. Es gibt Möglichkeiten, die Situation zu analysieren und sich etwas zu beruhigen. Miró de reojo a Fowler. É stand bewegungslos an der Tür und starrte auf die Fotos, die nun den Büroboden bedeckten.
    
  Paola setzte sich, nahm einen Schluck Kaffee und sagte, ohne den Blick von Karoskis Akte zu heben:
    
  "Ich glaube, Sie haben mir etwas mitzuteilen, Heiliger Vater."
    
    
    
    Instituto Saint Matthew
    
  Silver Spring, Maryland
    
    April 1997
    
    
    
  TRANSKRIPT DES INTERVIEWS NR. 11 ZWISCHEN PATIENTEN NR. 3643 UND DR. FOWLER
    
    
    D.R. FOWLER: Buenas tardes, Padre Karoski.
    
    #3643 : Na los, na los.
    
  DOKTOR FOWLER
    
  #3643: Sein Verhalten war unverschämt und ich habe ihn tatsächlich aufgefordert zu gehen.
    
  DR. FOWLER: Was genau finden Sie an ihm anstößig?
    
  #3643: Pater Conroy stellt die unveränderlichen Wahrheiten unseres Glaubens in Frage.
    
    D.R. FOWLER: Spiel ein Beispiel.
    
    #3643: Behauptet, der Teufel sei ein überbewertetes Konzept! Findet es sehr interessant zu sehen, wie dieses Konzept ihm einen Dreizack in den Hintern rammt.
    
  DOKTOR FOWLER: Glauben Sie, dass Sie dort sind, um es zu sehen?
    
  #3643: Es war eine Art zu sprechen.
    
  DOKTOR FOWLER: Sie glauben an die Hölle, nicht wahr?
    
  #3643: Mit all meiner Kraft.
    
  D.R. FOWLER: ¿Cree merecérselo?
    
  #3643: Ich bin ein Soldat Christi.
    
  DOKTOR FOWLER
    
  #3643: Seit wann?
    
  DOKTOR FOWLER
    
  #3643: Wenn er ein guter Soldat ist, ja.
    
  DOKTOR FOWLER: Pater, ich muss Ihnen ein Buch hinterlassen, das Sie, wie ich glaube, sehr nützlich finden werden. Ich habe es für den heiligen Augustinus geschrieben. Es ist ein Buch über Demut und inneren Kampf.
    
  #3643: Das würde ich gerne lesen.
    
  DOKTOR FOWLER: Glauben Sie, dass Sie nach Ihrem Tod in den Himmel kommen werden?
    
    #3643: Ich Sicher .
    
    ARZT
    
  #3643 :...
    
  DR. FOWLER: Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor den Toren des Himmels. Gott wägt Ihre guten und Ihre bösen Taten ab, und die Gläubigen werden auf der Waage ausgewogen. Er schlägt Ihnen also vor, jemanden anzurufen, um Ihre Zweifel auszuräumen. Was denken Sie?
    
  #3643: Ich Nicht Sicher .
    
  D.R. FOWLER: Erlaubt, dass er uns folgende Namen nennt: Leopold, Jamie, Lewis, Arthur ...
    
    #3643: Diese Namen sagen mir nichts.
    
    D.R. FOWLER:...Harry, Michael, Johnnie, Grant...
    
  #3643: C á fill .
    
  D.R. FOWLER:...Paul, Sammy, Patrick...
    
  #3643: Ich Ich sage ihm den Mund halten !
    
  D.R. FOWLER:...Jonathan, Aaron, Samuel...
    
    #3643: GENUG!!!
    
    
  (Im Hintergrund ist ein kurzes, undeutliches Geräusch eines Kampfes zu hören.)
    
    
  DOKTOR FOWLER: Was ich zwischen Daumen und Zeigefinger halte, ist Ihr Stock, Pater Karoski. Natürlich ist es schmerzhaft, aún má zu sein, solange Sie sich nicht beruhigen. Machen Sie die Geste mit Ihrer linken Hand, wenn Sie mich verstehen. Gut. Sagen Sie mir nun, ob Sie ruhig sind. Wir können so lange warten, wie nötig. Schon? Gut. Hier, etwas Wasser.
    
  #3643 : Danke.
    
  D.R. FOWLER: Siéntese, bitte.
    
  #3643: Mir geht es schon besser. Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist.
    
  DOKTOR FOWLER Genau wie wir beide wissen, dass die Kinder auf der von mir angegebenen Liste nicht zu seinen Gunsten sprechen sollen, wenn er vor dem Allmächtigen Vater steht.
    
  #3643 :...
    
  DOKTOR FOWLER: Sie sagen also gar nichts?
    
  #3643 : Du weißt gar nichts über die Hölle.
    
  DR. FOWLER: Ist das so? Sie irren sich: Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Jetzt schalte ich das Aufnahmegerät aus und erzähle Ihnen etwas, das Sie sicher interessieren wird.
    
    
    
  UACCV-Hauptsitz
    
  Via Lamarmora, 3
    
  Donnerstag, 7. April 2005, 08:32 Uhr.
    
    
    
  Fowler wandte den Blick von den auf dem Boden verstreuten Fotografien ab. Er hob sie nicht auf, sondern stieg elegant darüber hinweg. Paola fragte sich, ob seine Worte an sich eine einfache Antwort auf Dantes Anschuldigungen darstellten. Im Laufe der Jahre hatte Paola oft das Gefühl gehabt, vor einem Mann zu stehen, der ebenso undurchschaubar wie gelehrt, ebenso wortgewandt wie intelligent war. Fowler selbst war ein widersprüchliches Wesen, eine unentzifferbare Hieroglyphe. Doch diesmal wurde dieses Gefühl von einem leisen Stöhnen Leras begleitet, das auf ihren Lippen zitterte.
    
  Der Priester saß Paola gegenüber, seine abgenutzte schwarze Aktentasche beiseitegestellt. In seiner linken Hand trug er eine Papiertüte mit drei Kaffeekannen. Ich bot Dikanti eine an.
    
  -Cappuccino?
    
  "Ich hasse Cappuccino. Er erinnert mich an die Legende von meinem Hund", sagte Paola. "Aber ich trinke ihn trotzdem."
    
  Fowler schwieg einige Minuten. Schließlich erlaubte sich Paola, so zu tun, als läse sie Karoskis Akte, und beschloss, den Priester zur Rede zu stellen. Das sollte man sich merken.
    
  - Na und? Ist das nicht...?
    
  Und er stand da, völlig trocken. Ich hatte sein Gesicht nicht angesehen, seit Fowler sein Büro betreten hatte. Doch ich fühlte mich auch Tausende von Metern entfernt. Zögernd, zögerlich, führte er die Kaffeetasse zum Mund. Trotz der kühlen Luft bildeten sich kleine Schweißperlen auf dem kahlen Kopf des Priesters. Und seine grünen Augen verkündeten, dass es seine Pflicht sei, über unauslöschliche Schrecken nachzudenken, und dass er zurückkehren würde, um sie zu betrachten.
    
  Paola sagte nichts, denn sie erkannte, dass die scheinbare Eleganz, mit der Fowler um die Fotos herumging, nur Fassade war. Esperó. Der Priester brauchte einige Minuten, um sich zu fassen, und als er es geschafft hatte, klang seine Stimme distanziert und gedämpft.
    
  "Es ist schwer. Man glaubt, man hätte es überwunden, aber dann taucht es wieder auf, wie ein Korken, den man vergeblich in eine Flasche drücken will. Es sickert heraus, schwimmt an die Oberfläche. Und dann steht man wieder davor ..."
    
  - Reden wird dir helfen, Vater.
    
  "Du kannst mir vertrauen, Dottora... es stimmt nicht. Er hat das nie getan. Nicht alle Probleme lassen sich durch Gespräche lösen."
    
  "Ein merkwürdiger Ausdruck für einen Priester. Das Psicó-Logo sollte man verstärken. Für einen CIA-Agenten, der zum Töten ausgebildet wurde, ist er allerdings durchaus passend."
    
  Fowler unterdrückte eine traurige Grimasse.
    
  "Ich wurde nicht wie jeder andere Soldat zum Töten ausgebildet. Ich wurde im Bereich Spionageabwehr ausgebildet. Gott hat mir die Gabe der Treffsicherheit gegeben, das stimmt, aber ich habe nicht um diese Gabe gebeten. Und um Ihre Frage vorwegzunehmen: Ich habe seit 1972 niemanden mehr getötet. Ich habe elf Vietcong-Soldaten getötet, zumindest soweit ich weiß. Aber all diese Tode ereigneten sich im Kampf."
    
  - Du warst es doch, der sich als Freiwilliger gemeldet hat.
    
  "Dottora, bevor du über mich urteilst, lass mich dir meine Geschichte erzählen. Ich habe noch nie jemandem erzählt, was ich dir jetzt erzählen werde, denn ich bitte dich, meine Worte zu glauben. Nicht, dass er mir glaubt oder mir vertraut, denn das wäre zu viel verlangt. Nimm einfach meine Worte an."
    
  Paola nickte langsam.
    
  - Ich nehme an, all diese Informationen werden dem Superintendenten gemeldet. Falls es sich um die Sant'Uffizio-Akte handelt, hätten Sie eine ungefähre Vorstellung von meinem Wehrdienst. Ich habe mich 1971 freiwillig gemeldet, aufgrund gewisser... Differenzen mit meinem Vater. Ich möchte ihm nicht die Horrorgeschichte erzählen, was Krieg für mich bedeutet, denn Worte können es nicht beschreiben. Haben Sie "Apocalipsis Now" gesehen, Doktorin?
    
  - Ja, das ist schon lange her. Ich war überrascht von seiner Unhöflichkeit.
    
  Es ist eine Farce. Nichts weiter. Ein Schatten an der Wand im Vergleich zu dem, was es bedeutet. Ich habe genug Schmerz und Grausamkeit gesehen, um mehrere Leben zu füllen. All das habe ich schon vor meiner Berufung erlebt. Es war nicht mitten in der Nacht in einem Schützengraben, während feindliches Feuer auf uns niederprasselte. Es war nicht der Blick in die Gesichter von Zehn- bis Zwanzigjährigen mit Halsketten aus menschlichen Ohren. Es war ein stiller Abend im Hinterland, neben der Kapelle meines Regiments. Ich wusste nur, dass ich mein Leben Gott und seiner Schöpfung widmen musste. Und so tat ich es.
    
  -Und die CIA?
    
  -Nicht so voreilig... Ich wollte nicht zurück nach Amerika. Alle folgen meinen Eltern. Denn ich bin so weit gegangen, wie ich konnte, bis an den Rand der Stahlrohre. Jeder lernt vieles, aber manches davon kann man sich nicht vorstellen. Du bist 34 Jahre alt. Um zu verstehen, was Kommunismus für jemanden bedeutete, der in den 70er Jahren in Deutschland lebte, musste ich es selbst erleben. Wir atmen täglich die Bedrohung durch einen Atomkrieg. Hass unter meinen Landsleuten war eine Religion. Es scheint, als ob jeder von uns nur einen Schritt davon entfernt ist, dass jemand, sie oder wir, über die Mauer springt. Und dann wird alles vorbei sein, das versichere ich dir. Bevor oder nachdem jemand den Bot-Knopf drückt, wird ihn jemand drücken.
    
  Fowler unterbrach kurz, um einen Schluck Kaffee zu nehmen. Paola zündete sich eine von Pontieros Zigaretten an. Fowler griff nach der Tasche, aber Paola schüttelte den Kopf.
    
  "Das sind meine Freunde, Vater. Ich muss sie selbst rauchen."
    
  "Ach, keine Sorge. Ich tue nicht so, als ob ich ihn fangen wollte. Ich habe mich nur gefragt, warum du plötzlich zurückgekommen bist."
    
  "Vater, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich es vorziehen, wenn Sie fortfahren. Ich möchte nicht darüber reden."
    
  Der Priester klang tief betrübt und fuhr mit seiner Geschichte fort.
    
  "Natürlich möchte ich dem Militärleben verbunden bleiben. Ich schätze Kameradschaft, Disziplin und die Bedeutung eines kastrierten Lebens. Wenn man darüber nachdenkt, ist es dem Priestertum gar nicht so unähnlich: Es geht darum, sein Leben für andere Menschen hinzugeben. Ereignisse an sich sind nicht schlecht, nur Kriege sind schlecht. Ich habe um eine Versetzung als Militärgeistlicher zu einem amerikanischen Stützpunkt gebeten, und da ich Diözesanpriester bin, wird mein Bischof erfreut sein."
    
  - Was bedeutet diözesan, Pater?
    
  "Ich bin weitgehend oder weitgehend frei. Ich bin keiner Gemeinde unterstellt. Wenn ich möchte, kann ich meinen Bischof bitten, mich einer Pfarrei zuzuweisen. Aber wenn ich es für angemessen halte, kann ich meine pastorale Tätigkeit überall dort beginnen, wo ich es für richtig halte, immer mit dem Segen des Bischofs, der als formelle Zustimmung zu verstehen ist."
    
  -Ich verstehe.
    
  Auf dem gesamten Stützpunkt lebte ich mit mehreren Mitarbeitern der Behörde zusammen, die ein spezielles Spionageabwehr-Trainingsprogramm für aktive, nicht zur CIA gehörende Angehörige leiteten. Sie luden mich ein, mitzumachen - vier Stunden am Tag, fünfmal die Woche, zweimal die Woche. Das ließ sich mit meinen seelsorgerischen Pflichten vereinbaren, solange ich durch die Zeit mit Sue abgelenkt war. Also nahm ich an. Und wie sich herausstellte, war ich ein guter Schüler. Eines Abends, nach dem Unterricht, kam einer der Ausbilder auf mich zu und lud mich ein, der Kñía beizutreten. Die Behörde ruft über interne Kanäle an. Ich sagte ihm, ich sei Priester und das sei unmöglich. Er meinte, er hätte eine riesige Aufgabe vor sich mit Hunderten von katholischen Priestern auf dem Stützpunkt. Seine Vorgesetzten widmeten viele Stunden den Enseñarlu-hassenden Kommunisten. Ich widmete eine Stunde pro Woche der Erinnerung daran, dass wir alle Kinder Gottes sind.
    
  - Eine verlorene Schlacht.
    
  -Fast immer. Aber das Priestertum, Dottora, ist eine Karriere im Hintergrund.
    
  - Ich glaube, ich habe Ihnen diese Worte in einem Ihrer Interviews mit Karoski gesagt.
    
  "Es ist möglich. Wir beschränken uns darauf, kleine Punkte zu erzielen. Kleine Siege. Hin und wieder gelingt es uns, etwas Großes zu erreichen, aber diese Chancen sind selten. Wir säen kleine Samen in der Hoffnung, dass einige davon Früchte tragen. Oft sind wir es nicht, der die Früchte erntet, und das ist demotivierend."
    
  - Das muss natürlich verdorben sein, Vater.
    
  Eines Tages wanderte der König durch den Wald und sah einen armen, alten Mann, der in einem Graben wühlte. Er ging zu ihm und sah, dass er Walnussbäume pflanzte. Er fragte ihn, warum er das tue, und der alte Mann antwortete: "...". Der König sagte zu ihm: "Alter Mann, beug deinen krummen Rücken nicht über dieses Loch! Siehst du denn nicht, dass du die Früchte nicht mehr ernten kannst, wenn die Nuss reif ist?" Und der alte Mann antwortete ihm: "Wenn meine Vorfahren so gedacht hätten wie Ihr, Majestät, hätte ich nie Walnüsse gekostet."
    
  Paola lächelte, ergriffen von der absoluten Wahrheit dieser Worte.
    
    - Wir wissen, dass das eine Anekdote ist, oder? -Fortsetzung Fowler-. Dass man mit Willenskraft, Liebe zu Gott und einem kleinen Anstoß immer vorankommen kann.Johnnie Walker.
    
  Paola blinzelte leicht. Er konnte sich keinen rechtschaffenen, höflichen Priester mit einer Flasche Whiskey vorstellen, aber es war offensichtlich, dass er sein ganzes Leben lang sehr einsam gewesen war.
    
  "Als mir der Ausbilder sagte, dass denen, die vom Stützpunkt kamen, ein anderer Priester helfen könne, aber niemand den Tausenden helfen könne, die wegen des Stahltelefons gekommen waren, dann versteh das - lass uns einen wichtigen Teil davon bedenken. Tausende Christen leiden unter dem Kommunismus, beten auf der Toilette und besuchen die Messe in einem Kloster. Sie werden in der Lage sein, den Interessen meines Papstes und meiner Kirche in den Bereichen zu dienen, in denen sie sich überschneiden. Ehrlich gesagt, dachte ich damals, dass es viele Zufälle gab."
    
  - Und was denken Sie jetzt? Denn er ist wieder im aktiven Dienst.
    
  - Ich beantworte Ihre Frage gleich. Mir wurde die Möglichkeit geboten, als freier Agent zu arbeiten und Aufträge anzunehmen, die ich für gerecht hielt. Ich reiste viel. An manchen Orten war ich Priester, an anderen ein ganz normaler Bürger. Manchmal brachte ich mein Leben in Gefahr, doch es hat sich fast immer gelohnt. Ich half Menschen, die mich brauchten. Manchmal bestand diese Hilfe aus einer rechtzeitigen Nachricht, einem Umschlag, einem Brief. In anderen Fällen war es notwendig, ein Informationsnetzwerk aufzubauen oder jemandem aus einer schwierigen Lage zu helfen. Ich lernte Sprachen und fühlte mich sogar gut genug, um nach Amerika zurückzukehren. Bis zu dem, was in Honduras geschah ...
    
  "Vater, warte. Er hat das Wichtigste verpasst. Die Beerdigung seiner Eltern."
    
  Fowler machte eine Geste des Ekels.
    
  "Ich werde nicht gehen. Sichern Sie sich nur die rechtlichen Risiken, die noch bestehen werden."
    
  "Pater Fowler, Sie überraschen mich. Achtzig Millionen Dollar sind nicht die gesetzliche Höchstgrenze."
    
  "Ach, woher wissen Sie das auch? Nun ja. Lehnen Sie das Geld ab. Aber ich verschenke es nicht, wie viele denken. Ich habe es für die Gründung einer gemeinnützigen Stiftung bestimmt, die aktiv in verschiedenen Bereichen der Sozialarbeit im In- und Ausland mitwirkt. Sie ist nach Howard Eisner benannt, der Kapelle, die mich in Vietnam inspiriert hat."
    
    -Haben Sie die Eisner Foundation gegründet? - Paola war überrascht . - Wow , dann ist er aber alt.
    
  "Ich glaube ihr nicht. Ich habe ihm den Anstoß gegeben und finanzielle Mittel in ihn investiert. Tatsächlich waren es die Anwälte meiner Eltern, die ihn erschaffen haben. Gegen seinen Willen schulde ich dem Adir etwas."
    
  "Okay, Vater, erzähl mir von Honduras. Und du hast so viel Zeit, wie du brauchst."
    
  Der Priester betrachtete Dikanti neugierig. Seine Lebenseinstellung hatte sich plötzlich verändert, auf subtile, aber bedeutsame Weise. Nun war sie bereit, ihm zu vertrauen. Er fragte sich, was diese Veränderung in ihm ausgelöst haben mochte.
    
  "Ich will dich nicht mit Details langweilen, Dottore. Avocados Geschichte könnte ein ganzes Buch füllen, aber kommen wir zum Wesentlichen. Das Ziel der CIA war die Förderung der Revolution. Mein Ziel war es, den Katzen zu helfen, die unter der Unterdrückung durch die sandinistische Regierung litten. Eine Freiwilligentruppe aufzustellen und einzusetzen, um einen Guerillakrieg zu führen und die Regierung zu destabilisieren. Die Soldaten wurden unter Nicaraguas Armen rekrutiert. Die Waffen wurden von einem ehemaligen Verbündeten der Regierung verkauft, dessen Existenz kaum jemand ahnte: Osama bin Laden. Und das Kommando über die Contra ging an einen Gymnasiallehrer namens Bernie Salazar über, einen Fanatiker wie Sabr Amos Despa. Während des monatelangen Trainings begleitete ich Salazar über die Grenze und unternahm immer riskantere Aktionen. Ich half bei der Auslieferung gläubiger Menschen, aber meine Differenzen mit Salazar wurden immer ernster. Ich begann, überall Kommunisten zu sehen. Unter jedem Stein steckt ein Kommunist, сегкн éл."
    
  -Ein altes Handbuch für Psychiater besagt, dass sich bei fanatischen Drogenabhängigen sehr schnell akute Paranoia entwickelt.
    
  -Dieser Vorfall bestätigt die Richtigkeit deines Buches, Dikanti. Ich hatte einen Unfall, von dem ich nichts wusste, bis sich herausstellte, dass er vorsätzlich herbeigeführt worden war. Ich brach mir das Bein und konnte keine Ausflüge mehr unternehmen. Und die Guerillas kamen immer später zurück. Sie schliefen nicht in den Baracken des Lagers, sondern auf Lichtungen im Dschungel, in Zelten. Nachts verübten sie angebliche Brandanschläge, die, wie sich später herausstellte, mit Hinrichtungen und Enthauptungen einhergingen. Ich war bettlägerig, aber in der Nacht, als Salazar die Nonnen gefangen nahm und sie des Kommunismus beschuldigte, warnte mich jemand. Er war ein guter Junge, wie viele von denen, die mit Salazar zusammen waren, obwohl ich etwas weniger Angst vor ihm hatte als die anderen. Etwas weniger, weil du es mir in der Beichte erzählt hast. Du sollst wissen, dass ich das niemandem verraten werde, aber ich werde alles tun, was ich kann, um den Nonnen zu helfen. Wir haben alles getan, was wir konnten ...
    
  Fowlers Gesicht war totenbleich. Er musste kurz schlucken. Sein Blick fiel nicht auf Paola, sondern auf den Punkt im Fenster.
    
  "...aber das reichte nicht. Heute sind sowohl Salazar als auch El Chico tot, und jeder weiß, dass die Guerillas einen Hubschrauber gestohlen und Nonnen über einem sandinistischen Dorf abgesetzt haben. Ich brauchte drei Anläufe, um dorthin zu gelangen."
    
  -Warum hat er das getan?
    
  "Die Botschaft ließ kaum Raum für Missverständnisse. Wir werden jeden töten, der im Verdacht steht, Verbindungen zu den Sandinisten zu haben. Wer auch immer sie sind."
    
  Paola schwieg einige Augenblicke und dachte über das Gehörte nach.
    
  - Und du gibst dir selbst die Schuld, nicht wahr, Vater?
    
  "Sei anders, wenn du es nicht tust. Ich werde diese Frauen nicht retten können. Und mach dir keine Sorgen um die Kerle, die am Ende ihre eigenen Leute umgebracht haben. Ich wäre zu allem gekrochen, was Gutes bewirkt hätte, aber das war nicht das, was ich bekam. Ich war nur eine Randfigur in der Crew einer Monsterfabrik. Mein Vater ist so daran gewöhnt, dass er nicht mehr überrascht ist, wenn sich einer von denen, die wir ausgebildet, denen wir geholfen und die wir beschützt haben, gegen uns wendet."
    
  Obwohl ihm die Sonne direkt ins Gesicht schien, blinzelte Fowler nicht. Er beschränkte sich darauf, die Augen zusammenzukneifen, bis sie zu zwei dünnen grünen Flächen wurden, und starrte weiter über die Dächer.
    
  "Als ich die ersten Fotos von Massengräbern sah", fuhr der Priester fort, "erinnerte mich das Geräusch von Maschinengewehrfeuer in einer tropischen Nacht an ‚Schießtaktiken". Ich hatte mich an den Lärm gewöhnt. So sehr, dass ich eines Nachts, halb im Schlaf, zwischen den Schüssen ein paar Schmerzensschreie hörte und ihnen keine große Beachtung schenkte. Er, Sue ... oder wird mich besiegen ..." In der nächsten Nacht redete ich mir ein, es sei nur Einbildung gewesen. Hätte ich damals mit dem Lagerkommandanten gesprochen und hätte Ramos mich und Salazar sorgfältig untersucht, hätte ich viele Leben retten können. Deshalb trage ich die Verantwortung für all diese Toten, deshalb verließ ich die CIA und deshalb wurde ich vor das Heilige Offizium geladen.
    
  "Vater ... ich glaube nicht mehr an Gott. Jetzt weiß ich, dass mit dem Tod alles vorbei ist ... Ich glaube, wir kehren alle nach einer kurzen Reise durch die Eingeweide des Wurms zur Erde zurück. Aber wenn du dir wirklich die absolute Freiheit wünschst, biete ich sie dir an. Du hast die Priester gerettet, so gut du konntest, bevor sie dich in eine Falle locken konnten."
    
  Fowler erlaubte sich ein halbes Lächeln.
    
  "Danke, Dottora." Sie ahnt nicht, wie wichtig mir ihre Worte sind, obwohl sie die tiefen Tränen bedauert, die hinter einer so harschen Aussage in altem Latein stecken.
    
  - Aber Aún hat mir nicht gesagt, was seine Rückkehr veranlasst hat.
    
  -Ganz einfach. Ich habe einen Freund danach gefragt. Und ich lasse meine Freunde nie im Stich.
    
  -Denn du bist es jetzt... Spion von Gott.
    
  Fowler sonrió.
    
  - Ich könnte ihn wohl als Ass bezeichnen.
    
  Dikanti stand auf und ging zum nächsten Bücherregal.
    
  "Vater, das widerspricht meinen Prinzipien, aber wie im Fall meiner Mutter ist dies eine einmalige Erfahrung."
    
  Ich nahm ein dickes Buch über Forensik und reichte es Fowler. Donnerwetter! Die Ginflaschen waren geleert, sodass drei Lücken im Papier entstanden waren, die praktischerweise mit einer Dewar-Flasche und zwei kleinen Gläsern gefüllt waren.
    
  - Es ist erst neun Uhr morgens.
    
  -Willst du mir die Ehre erweisen oder bis zum Einbruch der Dunkelheit warten, Pater? Ich bin stolz darauf, mit dem Mann zu trinken, der die Eisner-Stiftung gegründet hat. Übrigens, Pater, weil diese Stiftung mein Stipendium für Quantico finanziert.
    
  Dann war Fowler an der Reihe, überrascht zu sein, obwohl er nichts sagte. "Schenk mir zwei gleiche Teile Whiskey ein" und schenkte ihm ein.
    
  -Auf wen trinken wir?
    
  -Für diejenigen, die gegangen sind.
    
  -Für diejenigen, die gegangen sind also.
    
  Und beide leerten ihre Gläser in einem Zug. Der Lutscher blieb ihr im Hals stecken, und für Paola, die nie Alkohol trank, war es, als würde sie mit Ammoniak getränkte Nelken schlucken. Sie wusste, dass sie den ganzen Tag Sodbrennen haben würde, aber sie war stolz darauf, mit diesem Mann angestoßen zu haben. Manche Dinge mussten einfach getan werden.
    
  "Jetzt sollten wir uns darum kümmern, den Superintendenten für das Team zurückzugewinnen. Wie Sie intuitiv verstehen, verdanken Sie dieses unerwartete Geschenk Dante", sagte Paola und überreichte ihm die Fotos. "Ich frage mich, warum er das getan hat? Hegt er einen Groll gegen Sie?"
    
  Fowler rompió a reír. Sein Lachen überraschte Paola, die noch nie einen so fröhlichen Laut gehört hatte, der auf der Bühne so herzzerreißend und traurig geklungen hatte.
    
  - Sag mir bloß nicht, dass du es nicht bemerkt hast.
    
  -Verzeih mir, Vater, aber ich verstehe dich nicht.
    
  "Dottora, gerade weil du so viel darüber verstehst, wie man Ingenieurwissenschaften umgekehrt auf menschliches Handeln anwendet, zeugt das in dieser Situation von einem eklatanten Mangel an Urteilsvermögen. Dante ist ganz offensichtlich romantisch an dir interessiert. Und aus irgendeinem absurden Grund hält er mich für seine Konkurrentin."
    
  Paola stand da, völlig versteinert, den Mund leicht geöffnet. Er bemerkte, wie ihm verdächtig heiß die Wangen wurden, und das lag nicht am Whisky. Es war das zweite Mal, dass dieser Mann sie zum Erröten gebracht hatte. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich es war, die dieses Gefühl in ihm auslöste, aber ich wollte, dass er es öfter spürte, so wie der Junge in "Estómagico Débil" unbedingt wieder auf einem Pferd in den russischen Bergen reiten will.
    
  In diesem Moment sind sie wie das Telefon, ein glücklicher Zufall, der eine peinliche Situation rettet. Dicanti contestó sofort. Seine Augen leuchteten vor Aufregung.
    
  - Ich komme gleich runter.
    
  Fowler la miró intrigado.
    
  "Beeil dich, Pater. Unter den Fotos, die die UACV-Beamten am Tatort in Robair aufgenommen haben, ist eines, das Bruder Francesco zeigt. Wir könnten etwas haben."
    
    
    
  UACCV-Hauptsitz
    
  Via Lamarmora, 3
    
  Donnerstag, 7. April 2005, 09:15 Uhr.
    
    
    
  Das Bild auf dem Bildschirm wurde unscharf. Das Foto zeigte eine Gesamtansicht aus dem Inneren der Kapelle, mit Caroski im Hintergrund als Bruder Francesco. Der Computer hatte diesen Bildausschnitt um 1600 Prozent vergrößert, und das Ergebnis war nicht sehr gut.
    
  "Es sieht nicht so aus, als ob es schlecht aussähe", sagte Fowler.
    
  "Beruhig dich, Vater", sagte der Junge und betrat mit einem Stapel Papier in den Händen das Zimmer. "Angelo ist unser forensischer Bildhauer. Er ist Experte für Genoptimierung, und ich bin zuversichtlich, dass er uns eine andere Perspektive bieten kann, nicht wahr, Angelo?"
    
  Angelo Biffi, einer der Anführer der UACV, verließ seinen Computer nur selten. Er trug eine dicke Brille, hatte fettiges Haar und sah aus wie etwa dreißig. Sein Büro war groß, aber spärlich beleuchtet und erfüllt vom Geruch nach Pizza, billigem Parfüm und angebranntem Geschirr. Ein Dutzend hochmoderner Monitore dienten als Fenster. Fowler blickte sich um und kam zu dem Schluss, dass sie wohl lieber mit ihren Computern schliefen, als nach Hause zu gehen. Angelo wirkte wie ein lebenslanger Bücherwurm, aber seine Gesichtszüge waren freundlich, und er hatte stets ein sehr angenehmes Lächeln.
    
  - Sehen Sie, Vater, wir, das heißt, die Abteilung, das heißt, ich...
    
  "Nicht ersticken, Angelo. Trink etwas Kaffee", sagte Alarg, "den, den Fowler für Dante mitgebracht hat."
    
  -Danke, Dottora. Hey, das ist Eiscreme!
    
  "Beschwert euch nicht, bald wird es heiß. Wenn ihr groß seid, könnt ihr sagen: ‚Jetzt ist es heiß im April, aber nicht so heiß wie damals, als Papa Wojtyla starb." Ich kann es mir schon vorstellen."
    
  Fowler blickte Dikanti überrascht an, die Angelo beruhigend die Hand auf die Schulter legte. Die Inspektorin versuchte, einen Witz zu machen, obwohl sie wusste, dass in ihr ein Sturm tobte. "Ich hatte kaum geschlafen, ich hatte dunkle Ringe unter den Augen wie ein Waschbär", sagte er, "und sein Gesicht war verwirrt, schmerzverzerrt, voller Wut. Man musste kein Psychologe oder Priester sein, um das zu sehen. Und trotz allem versuchte er, diesem Jungen zu helfen, sich bei diesem unbekannten Priester, der ihm ein wenig Angst machte, sicher zu fühlen. Ich liebe sie, und obwohl ich außen vor bin, bitte ich sie, darüber nachzudenken." Er hatte die Demütigung nicht vergessen, die ihm der Habí vorhin in seinem eigenen Büro angetan hatte.
    
    -Erklären Sie Ihre Methode dem Pater Fowler -Paola -. Ich bin sicher, dass Sie das interessant finden werden.
    
  Der Junge ist davon begeistert.
    
  - Achten Sie auf den Bildschirm. Ich habe eine spezielle Software zur Geninterpolation entwickelt. Wie Sie wissen, besteht jedes Bild aus farbigen Punkten, sogenannten Pixeln. Wenn ein normales Bild beispielsweise 2500 x 1750 Pixel groß ist, wir es aber in einer kleinen Ecke des Fotos platzieren möchten, erhalten wir einige kleine Farbflecken, die nicht besonders nützlich sind. Beim Vergrößern wird das Bild unscharf. Normalerweise vergrößert ein Programm ein Bild, indem es die Farbe der acht benachbarten Pixel verwendet. Das Ergebnis ist also derselbe kleine Fleck, nur größer. Aber mit meinem Programm...
    
  Paola warf Fowler einen Seitenblick zu, der sich interessiert über den Bildschirm beugte. Der Priester versuchte, Angelos Erklärung zu folgen, trotz des Schmerzes, den er nur wenige Minuten zuvor erlitten hatte. Die dort aufgenommenen Fotos anzusehen, war eine zutiefst belastende Erfahrung gewesen, die ihn sehr bewegt hatte. Man musste kein Psychiater oder Kriminologe sein, um das zu verstehen. Und trotz allem gab sie ihr Bestes, um einem Mann zu gefallen, den sie nie wiedersehen würde. Ich liebte ihn damals dafür, auch wenn es gegen seinen Willen war. Ich bat ihn, seine Gedanken zu erfahren. Er hatte die Scham, die er gerade in seinem Büro verbracht hatte, nicht vergessen.
    
  -...und durch die Untersuchung der variablen Lichtpunkte gelangt man in ein dreidimensionales Informationsprogramm, das man analysieren kann. Es basiert auf einem komplexen Logarithmus, dessen Berechnung mehrere Stunden dauert.
    
  - Verdammt, Angelo, ist das der Grund, warum du uns runtergeholt hast?
    
  -Das muss man gesehen haben...
    
  "Alles in Ordnung, Angelo. Dottora, ich vermute, dass dieser kluge Junge uns mitteilen will, dass das Programm schon seit mehreren Stunden läuft und uns nun Ergebnisse liefern wird."
    
  - Genau, Vater. Tatsächlich kommt es von hinter dem Drucker.
    
  Das Surren des Druckers, während ich in der Nähe von Dikanti war, führte zu einem Bild, das zwar leicht gealterte Gesichtszüge und etwas schattenhafte Augen zeigt, aber deutlich schärfer ist als das Originalbild.
    
  "Ausgezeichnete Arbeit, Angelo. Es ist nicht nutzlos für die Identifizierung, aber es ist ein Anfang. Schauen Sie es sich an, Pater."
    
  Der Priester betrachtete aufmerksam die Gesichtszüge auf dem Foto. Boy, Dikanti und Angelo blickten ihn erwartungsvoll an.
    
  "Ich schwöre, es ist él. Aber ohne seine Augen zu sehen, ist es schwierig. Die Form der Augenhöhlen und etwas Unbeschreibliches sagen mir, dass es él ist. Aber wenn ich ihm auf der Straße begegnen würde, würde ich ihn nicht einmal eines zweiten Blickes würdigen."
    
  - Ist das also eine neue Sackgasse?
    
  "Nicht unbedingt", bemerkte Angelo. "Ich habe ein Programm, das anhand bestimmter Daten ein 3D-Bild erzeugen kann. Ich denke, wir können aus dem, was wir haben, einige Schlüsse ziehen. Ich habe mit einem Foto eines Ingenieurs gearbeitet."
    
  - Ein Ingenieur? - Paola war überrascht.
    
  "Ja, von Ingenieur Karoski, der sich als Karmeliter ausgeben will. Was für ein Kopf du doch hast, Dikanti..."
    
  Dr. Boys Augen weiteten sich, und er gestikulierte ängstlich über Angelos Schulter. Paola begriff endlich, dass Angelo nicht über die Details des Falls informiert worden war. Sie wusste, dass der Direktor den vier UACV-Mitarbeitern, die an den Tatorten Robaira und Pontiero Beweise sammelten, verboten hatte, nach Hause zu gehen. Sie durften ihre Familien anrufen, um die Situation zu erklären, und wurden freigestellt. Boy konnte sehr streng sein, wenn er wollte, aber er war auch ein fairer Mann: Er zahlte ihnen den dreifachen Lohn für Überstunden.
    
  - Ah, ja, genau das denke ich auch. Weiter, Angelo.
    
  Natürlich musste ich Informationen auf allen Ebenen zusammentragen, damit niemand alle Puzzleteile kannte. Niemand durfte wissen, dass die Todesfälle zweier Kardinäle untersucht wurden. Das erschwerte Paolas Arbeit sichtlich und ließ sie ernsthaft daran zweifeln, ob sie selbst überhaupt bereit war.
    
  "Wie Sie sich vorstellen können, habe ich an einem Foto des Ingenieurs gearbeitet. Ich denke, in etwa dreißig Minuten werden wir ein 3D-Bild seines Fotos von 1995 haben, das wir mit dem 3D-Bild vergleichen können, das wir seit 2005 erhalten. Wenn sie in Kürze wiederkommen, kann ich ihnen eine kleine Überraschung bereiten."
    
  -Ausgezeichnet. Wenn Sie das so empfinden, Padre, Dispatch... möchte ich Sie bitten, die áramos im Besprechungsraum zu wiederholen. Nun gehen wir, Angelo.
    
  -Okay, Regisseur Boy.
    
  Die drei gingen in den Konferenzraum, der sich zwei Stockwerke höher befand. Nichts konnte mich dazu bringen, Paolas Zimmer zu betreten, und sie wurde von einem schrecklichen Gefühl überwältigt, dass bei meinem letzten Besuch noch alles in Ordnung gewesen war. #237;von Pontiero.
    
  -¿ Darf ich fragen, was Sie beide mit Superintendent Dante gemacht haben?
    
  Paola und Fowler wechselten einen kurzen Blick und schüttelten den Kopf in Richtung Sono.
    
  -Absolut nichts.
    
  - Besser. Ich hoffe, ich habe nicht mitbekommen, dass er sauer wurde, weil ihr Probleme hattet. Seid besser als beim 24. Spiel, denn ich will nicht, dass Sirin Ronda mit mir oder dem Innenminister spricht.
    
  "Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Danteá ist perfekt ins Team integriert", sagte Paola.
    
  -Und warum glaube ich es nicht? Letzte Nacht habe ich dich gerettet, Junge, für einen kurzen Moment, Dikanti. Willst du mir sagen, wer Dante ist?
    
  Paola schwieg. Ich konnte nicht mit Boy über die internen Probleme in der Gruppe sprechen. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch eine vertraute Stimme ließ mich innehalten.
    
  - Ich bin losgezogen, um Tabak zu kaufen, Herr Direktor.
    
  Dantes Lederjacke und sein grimmiges Lächeln standen an der Schwelle des Konferenzraums. Ich musterte ihn langsam und sehr aufmerksam.
    
  - Das ist das schrecklichste Laster, Dante.
    
  - Irgendwie müssen wir sterben, Regisseur.
    
  Paola stand auf und sah Dante an, während Ste neben Fowler saß, als wäre nichts geschehen. Doch ein einziger Blick der beiden genügte Paola, um zu erkennen, dass die Dinge nicht so liefen, wie sie gehofft hatte. Hätten sie sich ein paar Tage lang zivilisiert verhalten, hätte sich alles klären lassen. Ich verstehe nicht, warum ich Sie bitte, Ihren Ärger Ihrem Kollegen im Vatikan mitzuteilen. Irgendetwas stimmt nicht.
    
  "Okay", sagte Boy. "Manchmal wird die Sache echt kompliziert. Gestern haben wir einen der besten Polizisten verloren, die ich seit Jahren gesehen habe, im Dienst, und niemand weiß, dass er tot ist. Wir können ihm nicht mal ein richtiges Begräbnis geben, bis wir eine plausible Erklärung für seinen Tod haben. Deshalb will ich, dass wir gemeinsam nachdenken. Spiel das, was du kannst, Paola."
    
  - Seit wann?
    
  -Von Anfang an. Eine kurze Zusammenfassung des Falls.
    
  Paola stand auf und ging zur Tafel, um zu schreiben. Ich dachte, es wäre viel besser, mit etwas in den Händen dazustehen.
    
  Betrachten wir den Fall genauer: Victor Karoski, ein Priester mit einer Vorgeschichte sexuellen Missbrauchs, floh aus einer privaten Einrichtung mit niedrigen Sicherheitsvorkehrungen, in der er übermäßigen Dosen eines Medikaments ausgesetzt war, was zu seiner Verurteilung zum Tode führte.237 Sein Aggressionsniveau stieg dadurch erheblich. Von Juni 2000 bis Ende 2001 gibt es keine Aufzeichnungen über seine Aktivitäten. Im Jahr 2001 ersetzte er den zitierten und fiktiven Namen "Unbeschuhter Karmelit" am Eingang der Kirche Santa Maria in Traspontina, nur wenige Meter vom Petersplatz entfernt.
    
  Paola zeichnet ein paar Streifen auf die Tafel und beginnt, einen Kalender zu basteln:
    
  Freitag, 1. April, 24 Stunden vor dem Tod von Johannes Paul II.: Karoschi entführt den italienischen Kardinal Enrico Portini aus der Residenz Madri Pi. "Haben wir das Blut zweier Kardinäle in der Krypta bestätigt?", fragt er. Karoschi macht eine bejahende Geste. Er bringt Portini nach Santa Maria, foltert ihn und bringt ihn schließlich an den Ort zurück, wo er zuletzt lebend gesehen wurde: die Kapelle der Residenz. Samstag, 2. April: Portinis Leiche wird in der Nacht des Papsttodes entdeckt. Der Vatikan beschließt jedoch, die Spuren zu beseitigen, da er den Tod für die Tat eines Wahnsinnigen hält. Glücklicherweise bleibt es dabei, vor allem dank des Engagements der Verantwortlichen der Residenz. Sonntag, 3. April: Der argentinische Kardinal Emilio Robaira trifft mit einem One-Way-Ticket in Rom ein. Vermutlich wird er am Flughafen oder auf dem Weg zur Residenz der Priester von Santi Ambrogio, wo er am Sonntagabend erwartet wurde, abgeholt. Wir wissen, dass wir niemals ankommen werden. Haben wir aus den Gesprächen am Flughafen irgendetwas gelernt?
    
  "Das hat niemand überprüft. Wir haben nicht genug Personal", entschuldigte sich Boy.
    
  -Wir haben es.
    
  "Ich kann die Polizei nicht einschalten. Mir ist wichtig, dass die Sache abgeschlossen ist und damit der Wunsch des Heiligen Stuhls erfüllt wird. Wir werden sie von Anfang bis Ende durchspielen, Paola. Bestellen Sie die Bänder selbst."
    
  Dikanti machte eine Geste des Ekels, aber das war die Antwort, die ich erwartet hatte.
    
  - Weiter geht es am Sonntag, dem 3. April. Karoski entführt Robaira und bringt sie in die Krypta. Während des Verhörs wird er gefoltert, und es werden Botschaften auf seiner Leiche und am Tatort entdeckt. Die Botschaft auf der Leiche lautet: MF 16, Deviginti. Dank Pater Fowler wissen wir, dass sich die Botschaft auf eine Stelle aus dem Evangelium bezieht: "...", die sich auf die Wahl des ersten Papstes der Kirche von Cat bezieht. Dies, zusammen mit der blutigen Botschaft auf dem Boden und den schweren Verstümmelungen der Leiche, lässt vermuten, dass der Mörder es auf den Schlüssel abgesehen hat. Dienstag, der 5. April. Der Verdächtige bringt die Leiche in eine der Kirchenkapellen und ruft dann ruhig die Polizei an. Er gibt sich als Bruder Francesco Toma aus. Um die Situation noch weiter zu verschlimmern, trägt er stets die Brille des zweiten Opfers, Kardinal Robaira. Die Beamten verständigen die UACV, und Direktor Boy kontaktiert Camilo Sirin.
    
  Paola hielt kurz inne und blickte dann direkt zu Boy.
    
  "Wenn Sie ihn anrufen, kennt Sirin den Namen des Täters bereits, obwohl man in diesem Fall eher von einem Serienmörder ausgehen würde. Ich habe lange darüber nachgedacht und glaube, dass Sirin den Namen von Portinis Mörder seit Sonntagabend kennt. Er hatte wahrscheinlich Zugriff auf die VICAP-Datenbank, und der Eintrag für ‚abgetrennte Hände" führte zu einigen Fällen. Sein Netzwerk bringt den Namen von Major Fowler ins Spiel, der in der Nacht des 5. April hier eintrifft. Der ursprüngliche Plan war wohl nicht, mit uns zu rechnen, Direktor Boy. Es war Karoski, der uns absichtlich hineingezogen hat. Warum? Das ist eine der zentralen Fragen in diesem Fall."
    
  Paola Trazó ein letzter Streifen.
    
  -Mein Brief vom 6. April: Während Dante, Fowler und ich versuchen, etwas über die Verbrechen im Büro des Kriminalbeamten herauszufinden, wird der stellvertretende Inspektor Maurizio Pontiero von Victor Caroschi in der Krypta von Santa Mar de Las Vegas zu Tode geprügelt.237;in Transpontina.
    
  - Haben wir eine Mordwaffe? - fragt Dante.
    
  "Es gibt keine Fingerabdrücke, aber wir haben sie", antwortete ich. "Es gab eine Schlägerei. Karoski schnitt ihn mehrmals mit einem vermutlich sehr scharfen Küchenmesser und stach mehrmals mit einem Kronleuchter, der am Tatort gefunden wurde, auf ihn ein. Aber ich habe nicht allzu große Hoffnungen, dass die Ermittlungen weitergehen."
    
  -Warum, Regisseur?
    
  "Das ist weit entfernt von dem, was wir von unseren gewöhnlichen Freunden kennen, Dante. Wir streben danach herauszufinden, wer... Normalerweise endet unsere Arbeit mit der Gewissheit eines Namens. Aber wir müssen unser Wissen anwenden, um zu erkennen, dass die Gewissheit eines Namens unser Ausgangspunkt war. Deshalb ist diese Arbeit wichtiger denn je."
    
  "Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um dem Spender zu gratulieren. Ich fand die Chronologie hervorragend", sagte Fowler.
    
  "Extrem", kicherte Dante.
    
  Paola war von seinen Worten verletzt, aber ich beschloss, das Thema vorerst zu ignorieren.
    
  -Guter Lebenslauf, Dikanti, - herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Was ist der nächste Schritt? Ist Karoska das schon in den Sinn gekommen? Haben Sie die Ähnlichkeiten untersucht?
    
  Der Gerichtsmediziner dachte einen Moment nach, bevor er antwortete.
    
  Alle vernünftigen Menschen sind einander ähnlich, aber jeder dieser verrückten Kerle ist auf seine eigene Art und Weise so.
    
  - , abgesehen davon, dass du Tolstoi 25 gelesen hast? -preguntó Boi.
    
  -Nun, wir irren uns, wenn wir glauben, ein Serienmörder sei mit dem anderen gleich. Man kann versuchen, Gemeinsamkeiten und Parallelen zu finden, Schlüsse aus Ähnlichkeiten zu ziehen, aber letztendlich ist jeder dieser Mistkerle ein einsamer Geist, Lichtjahre von der restlichen Menschheit entfernt. Da ist nichts, ahí. Sie sind keine Menschen. Sie empfinden kein Mitgefühl. Ihre Gefühle sind erstarrt. Was ihn zum Töten treibt, was ihn glauben lässt, sein Egoismus sei wichtiger als Menschen, die Gründe, mit denen er seine Sünde rechtfertigt - all das interessiert mich nicht. Ich versuche nicht, ihn besser zu verstehen, als unbedingt nötig, um ihn zu stoppen.
    
  - Dafür müssen wir wissen, was Ihr nächster Schritt sein wird.
    
  "Offensichtlich, um wieder zu töten. Wahrscheinlich suchen Sie nach einer neuen Identität oder haben bereits eine festgelegt. Aber sie kann nicht so akribisch sein wie die von Bruder Francesco, der ihr mehrere Bücher gewidmet hat. Pater Fowler kann uns in Saint Point helfen."
    
  Der Priester schüttelt besorgt den Kopf.
    
  -Alles, was in der Datei steht, die ich Ihnen hinterlassen habe, aber da ist noch etwas, das ich in Arles haben möchte.
    
  Auf dem Nachttisch standen ein Wasserkrug und mehrere Gläser. Fowler füllte ein Glas halbvoll und legte dann einen Bleistift hinein.
    
  "Es fällt mir sehr schwer, wie él zu denken. Schauen Sie sich das Glas an. Es ist glasklar, aber wenn ich den scheinbar geraden Buchstaben lápiz tippe, erscheint mir das wie ein Zufall. Ebenso verändert sich seine monolithische Beziehung grundlegend, wie eine gerade Linie, die abbricht und an der gegenüberliegenden Stelle endet."
    
  - Dieser Zeitpunkt des Konkurses ist entscheidend.
    
  "Vielleicht. Ich beneide Sie nicht um Ihre Arbeit, Doktor. Karoski ist ein Mann, der im einen Moment Gesetzlosigkeit verabscheut und im nächsten noch größere begeht. Mir ist klar, dass wir ihn in der Nähe der Kardinäle suchen müssen. Versuchen Sie noch einmal, ihn zu töten, und ich werde es bald tun. Der Schlüssel zur Burg kommt immer näher."
    
    
  Etwas verwirrt kehrten sie zu Angelos Labor zurück. Der junge Mann traf auf Dante, der ihn kaum beachtete. Paola bemerkte sofort die Verwüstung. Dieser scheinbar attraktive Mann war im Grunde seines Herzens ein schlechter Mensch. Seine Witze waren völlig ehrlich gemeint; tatsächlich gehörten sie zu den besten, die der Leiter je gemacht hatte.
    
  Angelo erwartete sie bereits mit den versprochenen Ergebnissen. Ich drückte ein paar Tasten und zeigte ihnen auf zwei Bildschirmen 3D-Bilder von Genen, bestehend aus dünnen grünen Fäden auf schwarzem Hintergrund.
    
  -Kann man ihnen eine Textur verleihen?
    
  - Ja. Sie haben hier Haut, rudimentär, aber immerhin Haut.
    
  Der Bildschirm links zeigt ein 3D-Modell von Karoskis Kopf, wie er 1995 aussah. Der Bildschirm rechts zeigt die obere Hälfte des Kopfes, genau so, wie sie in Santa Mar in Transpontina zu sehen war.
    
  "Ich habe die untere Körperhälfte nicht modeln lassen, weil das mit Bart unmöglich ist. Meine Augen sehen auch nichts richtig. Auf dem Foto, das sie mir gegeben haben, lief ich mit hängenden Schultern."
    
  -¿ Können Sie den Handle des ersten Modells kopieren und über das aktuelle Modell einfügen?
    
  Angelo reagierte mit einer Flut von Tastaturanschlägen und Mausklicks. In weniger als zwei Minuten war Fowlers Wunsch erfüllt.
    
  -¿Dígame, Angelo, inwieweit schätzen Sie die Zuverlässigkeit Ihres zweiten Modells ein? -inquirió priest.
    
  Der junge Mann gerät sofort in Schwierigkeiten.
    
  Nun, um zu sehen... Ohne das Spiel sind geeignete Lichtverhältnisse vorhanden...
    
  - Das kommt nicht in Frage, Angelo. Das haben wir bereits besprochen. -terció Boi.
    
  Paola sprach langsam und beruhigend.
    
  "Ach komm schon, Angelo, niemand beurteilt, ob du ein gutes Modell geschaffen hast. Wenn wir wollen, dass er weiß, wie sehr wir ihm vertrauen können, dann ..."
    
  -Nun ja... von 75 bis 85 %. Nein, nicht von mir.
    
  Fowler betrachtete den Bildschirm aufmerksam. Die beiden Gesichter waren sehr unterschiedlich. Zu unterschiedlich. Meine Nase ist breit, mein Schnabel kräftig. Aber waren das die natürlichen Merkmale des Models oder nur Make-up?
    
  -Angelo, dreh bitte beide Bilder quer und mach aus den Pómules ein Medichióp. So wie ií. Das ist alles. Davor habe ich Angst.
    
  Die anderen vier blickten ihn erwartungsvoll an.
    
  - Was, Vater? Lasst uns gewinnen, um Gottes Willen.
    
  "Das ist nicht Victor Karoskis Gesicht. Solche Größenunterschiede lassen sich mit Amateur-Make-up nicht nachahmen. Ein Hollywood-Profi könnte das vielleicht mit Latexformen erreichen, aber es wäre für jeden, der genauer hinsieht, zu auffällig. Ich würde keine langfristige Beziehung eingehen."
    
  -Dann?
    
  -Dafür gibt es eine Erklärung. Karoski unterzog sich einer Fano-Behandlung und einer vollständigen Gesichtsrekonstruktion. Jetzt wissen wir, dass wir nach einem Gespenst suchen.
    
    
    
  Instituto Saint Matthew
    
  Silver Spring, Maryland
    
  Mai 1998
    
    
    
  TRANSKRIPT DES INTERVIEWS NR. 14 ZWISCHEN PATIENTEN NR. 3643 UND DR. FOWLER
    
    
    DR. FOWLER: Guten Tag, Pater Karoski. Erlauben Sie mir?
    
  #3643: Nur zu, Pater Fowler.
    
    D.R. FOWLER: Wie sehr gefällt mir das Buch?
    
    #3643: Oh, natürlich. Saint Augusta ist ja schon fertig. Das fand ich höchst interessant. Menschlicher Optimismus hat eben seine Grenzen.
    
  D.R. FOWLER: Kein Verständnis, Pater Karoski.
    
  Nun, nur Sie und ich hier können mich verstehen, Pater Fowler. Niko, der mich nicht beim Namen nennt, strebt nach einer unnötigen, vulgären Vertrautheit, die die Würde beider Gesprächspartner verletzt.
    
    D.R. FOWLER: Está hablando del Padre Conroy.
    
    #3643: Ach, dieser Mann. Er behauptet immer wieder, ich sei nur ein gewöhnlicher Patient, der Behandlung braucht. Ich bin genauso Priester wie er, und diese Würde vergisst er ständig, wenn er darauf besteht, dass ich ihn Doktor nenne.
    
  Es ist gut, dass Ihre Beziehung zu Conroy rein psychologischer und geduldiger Natur ist. Sie brauchen Hilfe, um einige der Schwächen Ihrer labilen Psyche zu überwinden.
    
  #3643: ¿Misshandelt? ¿Misshandelt, kemén? Willst du etwa auch die Liebe zu meiner heiligen Mutter auf die Probe stellen? Ich bete, dass er nicht denselben Weg geht wie Pater Conroy. Er behauptete sogar, mir Tonaufnahmen vorspielen zu wollen, die meine Zweifel ausräumen würden.
    
  DR. FOWLER : Unas cintas.
    
  #3643: Das hat er gesagt.
    
  ARZT: Kümmere dich nicht um deine eigene Gesundheit. Sprich mit Pater Conroy darüber.
    
  #3643: Wie Sie wünschen. Aber ich habe keinerlei Angst.
    
  DOKTOR FOWLER: Hören Sie, Heiliger Vater, ich möchte diese kurze Fragerunde nutzen, denn etwas, das Sie vorhin gesagt haben, hat mich sehr interessiert. Es ging um den Optimismus des heiligen Augustus im Beichtstuhl. Was meinen Sie damit?
    
  Und obwohl ich in euren Augen lächerlich aussehe, werde ich mich euch in Barmherzigkeit zuwenden."
    
  DOKTOR FOWLER Vertraut er Ihnen nicht auf die unendliche Güte und Barmherzigkeit Gottes?
    
  #3643: Ein barmherziger Gott ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, Pater Fowler.
    
    D.R. FOWLER: San Agustín lebt im Siglo IV.
    
    Der heilige Augustus war von seiner sündigen Vergangenheit entsetzt und begann, optimistische Lügen zu verfassen.
    
  DOKTOR FOWLER Möge Gott uns vergeben.
    
  #3643: Nicht immer. Diejenigen, die zur Beichte gehen, sind wie diejenigen, die ein Auto waschen... igitt, mir wird schlecht davon.
    
  DOKTOR FOWLER: Was empfinden Sie, wenn Sie eine Beichte entgegennehmen? Ekel?
    
  #3643: Ekel. Oft musste ich mich im Beichtstuhl übergeben vor Ekel vor dem Mann hinter den Gitterstäben. Lügen. Unzucht. Ehebruch. Pornografie. Gewalt. Diebstahl. Sie alle, verstrickt in dieser engen Gewohnheit, sich den Arsch mit Schweinefleisch vollzustopfen. Lass alles raus, schütte mir alles aus...!
    
  DOKTOR FOWLER: Sie berichten Gott davon. Wir sind lediglich Übermittler. Wenn wir die Stola anlegen, werden wir zu Christus.
    
  #3643: Sie geben alles auf. Sie kommen schmutzig und denken, sie gehen sauber. "Beug dich, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich habe zehntausend Dollar von meinem Partner gestohlen, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich habe meine kleine Schwester vergewaltigt. Ich habe Fotos von meinem Sohn gemacht und sie online gestellt." "Beug dich, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich biete meinem Mann Essen an, damit er die Ehe nicht mehr ausnutzt, weil ich seinen Geruch nach Zwiebeln und Schweiß nicht mehr ertragen kann."
    
  FOWLER: Aber, Pater Karoski, die Beichte ist etwas Wunderbares, wenn Reue vorhanden ist und die Möglichkeit besteht, Wiedergutmachung zu leisten.
    
  #3643: Etwas, das nie passiert. Sie laden ihre Sünden immer, immer wieder auf mich ab. Sie lassen mich vor dem unbewegten Angesicht Gottes stehen. Ich bin es, der zwischen seinen Ungerechtigkeiten und Alt-Simos Rache steht.
    
  DOKTOR FOWLER: Sehen Sie Gott wirklich als ein Wesen der Rache?
    
  #3643: "Sein Herz ist hart wie Feuerstein."
    
  Hart wie der unterste Stein eines Mühlsteins.
    
  Vor Seiner Majestät fürchten sie die Wellen.
    
  Die Meereswellen ziehen sich zurück.
    
  Das Schwert, das ihn berührt, dringt nicht ein.
    
  Kein Speer, kein Pfeil, kein Hirsch.
    
  Er blickt alle mit Stolz an.
    
  Denn er ist der König der Grausamen!
    
  DOKTOR FOWLER: Ich muss zugeben, Pater, ich bin überrascht von Ihren Bibelkenntnissen im Allgemeinen und Ihrem Wissen über das Alte Testament im Besonderen. Doch das Buch Hiob ist angesichts der Wahrheit des Evangeliums Jesu Christi überholt.
    
  Jesus Christus ist der Sohn, aber der Vater ist der Richter. Und der Vater hat ein steinernes Gesicht.
    
  DOKTOR FOWLER: Da das Ahí Da zwangsläufig sterblich ist, Pater Karoski. Und wenn Sie sich Conroys Tonbänder anhören, seien Sie versichert, dass sie geschehen werden.
    
    
    
  Hotel Rafael
    
  Langer Februar, 2
    
  Donnerstag, 7. April 2005, 14:25 Uhr.
    
    
    
  -Residenz des Heiligen Ambrogio.
    
  "Guten Tag. Ich möchte mit Kardinal Robaira sprechen", sagte der junge Journalist in gebrochenem Italienisch.
    
  Die Stimme am anderen Ende der Leitung wird unregelmäßig.
    
  -¿ Darf ich im Namen von quién fragen?
    
  Es war nicht viel, die Tonhöhe variierte kaum um eine Oktave. Aber es reichte aus, um den Journalisten aufmerksam zu machen.
    
  Andrea Otero arbeitete vier Jahre lang bei El Globo. Vier Jahre, in denen man drittklassige Redaktionen besuchte, drittklassige Charaktere interviewte und drittklassige Artikel schrieb. Von 22 Uhr bis Mitternacht, bis ich endlich ins Büro kam und den Job bekam. Man fängt in einer Kultur an, in der der Chefredakteur Jema einen ernst nimmt. Ich bleibe in einer Gesellschaft, in der ihr Chefredakteur ihr nie vertraute. Und jetzt war er bei The International, wo sein Chefredakteur ihm die Aufgabe nicht zutraute. Aber sie war es. Es waren nicht nur Notizen. Weder Curr noch Culum. Da war auch Humor, Intuition, ein Gespür für die Dinge und 237 Jahre. Und wenn Andrea Otero diese Eigenschaften wirklich besessen hätte und nur zehn Prozent dessen, was sie glaubte zu haben, wäre sie eine Journalistin geworden, die den Pulitzer-Preis verdient hätte. An Selbstvertrauen mangelte es ihr nicht, nicht einmal ihre 1,98 Meter Größe, ihre engelsgleichen Gesichtszüge, ihr glattes Haar und ihre blauen Augen konnten ihr etwas anhaben. Sie alle offenbarten eine intelligente und entschlossene Frau. Deshalb ergriff Andrea die Chance, das Angebot ihres Chefs von seinem Nachfolger anzunehmen, als die Firma - die eigentlich die Trauerfeierlichkeiten nach dem Tod des Papstes abdecken sollte - auf dem Weg zum Flughafen einen Autounfall hatte und sie sich beide Beine brach. Sie schnappte sich ihr Gepäck und stieg mit aller Kraft ins Flugzeug.
    
  Zum Glück wohnten wir nur wenige Läden von lo más mono entfernt, in der Nähe der Piazza Navona, nur dreißig Meter vom Hotel. Und Andrea Otero erwarb (natürlich auf Kosten des Peró Dico) eine luxuriöse Garderobe, Unterwäsche und ein billiges Telefon, mit dem sie in der Residenz Santo Ambrogio anrief, um ein Gespräch mit dem päpstlichen Kardinal Robaira zu vereinbaren. Aber...
    
  - Ich bin Andrea Otero von der Zeitung Globo. Der Kardinal hat mir für diesen Donnerstag ein Interview zugesagt. Leider werden Sie seine unangenehme Frage nicht beantworten. Wären Sie so freundlich, mich zu seinem Zimmer zu begleiten?
    
  - Señorita Otero, leider können wir Sie nicht in Ihr Zimmer bringen, da der Kardinal nicht kommen wird.
    
  -Und wann werden Sie eintreffen?
    
  -Tja, er kommt einfach nicht.
    
  -Mal sehen, heißt es "Er kommt nicht" oder "Er kommt nicht"?
    
  - Ich werde nicht kommen, weil er nicht kommen wird.
    
  -Planen Sie, woanders zu übernachten?
    
  - Ich glaube nicht. Ich meine, ich glaube schon.
    
  -Mit wem spreche ich?
    
  - Ich muss auflegen.
    
  Der abgebrochene Tonfall ließ zwei Dinge erahnen: einen Kommunikationsabbruch und einen äußerst nervösen Gesprächspartner. Und dass er log. Andrea war sich dessen sicher. Sie war eine zu gute Lügnerin, als dass sie ihresgleichen nicht erkennen würde.
    
  Es gab keine Zeit zu verlieren. Er hätte keine zehn Minuten gebraucht, um das Büro des Kardinals in Buenos Aires zu erreichen. Es war fast Viertel vor zehn Uhr morgens, eine angemessene Zeit für einen Besuch. Er freute sich über die horrende Rechnung, die ihm bevorstand. Da sie ihm ohnehin nur ein kümmerliches Gehalt zahlten, ließen sie ihn wenigstens bei den Spesen im Stich.
    
  Das Telefon summte eine Minute lang, dann wurde die Verbindung unterbrochen.
    
  Es war seltsam, dass niemand da war. Ich versuche es noch einmal.
    
  Nichts.
    
  Versuchen Sie es einfach mit einer Telefonzentrale. Sofort meldete sich eine Frauenstimme.
    
  -Erzbistum, guten Tag.
    
  "Mit Kardinal Robair", sagte er auf Spanisch.
    
    -Ay señorita, marchó.
    
  -¿Marchó dónde?
    
    - Schließlich ist sie ja eine Orita. Rom .
    
  -¿Sabe dónde se hospeda?
    
    "Ich weiß es nicht, Orita. Ich bringe ihn zu Pater Seraphim, seinem Sekretär."
    
  -Danke schön.
    
  Ich liebe die Beatles, solange sie mich in Atem halten. Was durchaus angebracht ist. Andrea hat sich ausnahmsweise mal zu einer kleinen Notlüge entschlossen. Der Kardinal hat Familie in Spanien. Mal sehen, ob er sauer wird.
    
  -Hallo?
    
  -Hallo, ich möchte mit dem Kardinal sprechen. Ich bin seine Nichte, Asunsi Españvolna.
    
  "Asunsi, es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Ich bin Pater Seraphim, der Sekretär des Kardinals. Seine Eminenz hat Sie mir gegenüber nie erwähnt. Ist sie die Tochter von Angustias oder Remedios?"
    
  Es klang wie eine Lüge. Andrea Cruzós Finger. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich irrte, lag bei fünfzig Prozent. Andrea war außerdem ein Experte für kleine Details. Seine Liste an Fauxpas war länger als seine eigenen (und schlanken) Beine.
    
  -Durch Medikamente.
    
  "Das ist natürlich dumm. Jetzt erinnere ich mich, dass Angustias keine Kinder hat. Leider ist der Kardinal nicht da."
    
  -¿Kuá can I talk to él?
    
  Es entstand eine Pause. Die Stimme des Priesters klang besorgt. Andrea konnte ihn fast am anderen Ende der Leitung sehen, wie er den Telefonhörer umklammerte und am Kabel herumspielte.
    
  - Worüber reden wir eigentlich?
    
  "Weißt du, ich lebe schon lange in Rom, und du hast mir versprochen, dass du mich zum ersten Mal besuchen kommen würdest."
    
  Die Stimme klang vorsichtig. Er sprach langsam, als hätte er Angst, einen Fehler zu machen.
    
  -Ich bin nach Soroba gefahren, um einige Angelegenheiten in dieser Diözese zu erledigen. Ich werde daher nicht an der Cánclave teilnehmen können.
    
  - Aber wenn mir die Telefonzentrale mitteilte, dass der Kardinal nach Rom abgereist sei.
    
  Vater Seraphim gab eine verworrene und eindeutig falsche Antwort.
    
  "Ah, nun ja, die junge Frau an der Telefonzentrale ist neu und kennt sich im Erzbistum noch nicht so gut aus. Bitte entschuldigen Sie mich."
    
  -Entschuldigung. Soll ich meinen Onkel bitten, ihn anzurufen?
    
  -Selbstverständlich. Könnten Sie mir Ihre Telefonnummer geben, Asunsi? Sie sollte auf der Tagesordnung des Kardinals stehen. Ich könnte Sie kontaktieren, falls nötig.
    
  - Oh, er hat es schon. Entschuldigung, der Name meines Mannes ist Adiós.
    
  Ich ließ die Sekretärin mit einem Wort auf den Lippen zurück. Jetzt war sie sich sicher, dass etwas nicht stimmte. Aber Sie müssen es bestätigen. Zum Glück gab es im Hotel Internet. Es dauerte sechs Minuten, die Telefonnummern von drei großen Unternehmen in Argentinien zu finden. Das erste war ein Glücksgriff.
    
  -Aerolíneas Argentinas.
    
  Er versuchte, seinen Madrider Akzent nachzuahmen oder ihn zumindest in einen passablen argentinischen Akzent umzuwandeln. Er war gar nicht so schlecht. Viel schlechter sprach er Italienisch.
    
  -Guten Tag. Ich rufe ihn vom Erzbistum aus an. Mit wem darf ich sprechen?
    
  - Ich bin Verona.
    
  "Verona, mein Name ist Asunción." Er rief an, um die Rückkehr von Kardinal Robaira nach Buenos Aires zu bestätigen.
    
  - An welchem Datum?
    
  - Rückkehr am 19. des nächsten Monats.
    
  -Und Ihr vollständiger Name?
    
  -Emilio Robaira
    
  Bitte haben Sie einen Moment Geduld, während wir alles überprüfen.
    
  Andrea beißt nervös auf die Schüssel, die sie in der Hand hält, überprüft den Zustand ihrer Haare im Schlafzimmerspiegel, legt sich aufs Bett, schüttelt den Kopf und sagt: 243; nervöse Zehen.
    
  - Hallo? Hört mal, meine Freunde haben mir erzählt, dass ihr ein offenes One-Way-Ticket gekauft habt. Der Kardinal ist ja schon gereist, deshalb könnt ihr die Tour nach der aktuellen April-Aktion mit zehn Prozent Rabatt buchen. Habt ihr zufällig noch ein reguläres Vielfliegerticket da?
    
  - Einen Moment lang verstehe ich es auf Tschechisch.
    
  Er legte auf und unterdrückte ein Lachen. Doch die Heiterkeit wich sogleich einem freudigen Triumphgefühl. Kardinal Robaira war in ein Flugzeug nach Rom gestiegen. Aber er war nicht erschienen. Vielleicht hatte er beschlossen, woanders zu übernachten. Aber warum lag er dann in der Residenz und im Büro des Kardinals?
    
  "Entweder bin ich verrückt, oder hier steckt eine gute Geschichte dahinter. Eine dumme Geschichte", sagte sie zu ihrem Spiegelbild.
    
  Es fehlten einige Tage, um zu entscheiden, wer auf dem Stuhl Petri sitzen sollte. Und der aussichtsreiche Kandidat der Kirche der Armen, ein Vertreter der Dritten Welt, ein Mann, der schamlos mit der Befreiungstheologie Nr. 26 geliebäugelt hatte, war nicht präsent.
    
    
    
    Domus Sancta Marthae
    
  Piazza Santa Marta, 1
    
    Donnerstag, 7. April 2005, 16:14 Uhr.
    
    
    
  Bevor Paola das Gebäude betrat, staunte sie über die vielen Autos, die an der Tankstelle gegenüber warteten. Dante erklärte, dass alles 30 Prozent günstiger sei als in Italien, da der Vatikan keine Steuern erhebe. Man benötigte eine spezielle Karte, um an einer der sieben Tankstellen der Stadt zu tanken, und die Schlangen waren endlos lang. Sie mussten einige Minuten draußen warten, während die Schweizergarde, die den Eingang der Domus Sancta Marthae bewachte, jemanden im Inneren auf die drei aufmerksam machte. Paola hatte Zeit, über die Ereignisse nachzudenken, die ihrer Mutter und Anna widerfahren waren. Nur zwei Stunden zuvor, noch im Hauptquartier der UACV, hatte Paola Dante beiseite genommen, sobald er es geschafft hatte, Boy loszuwerden.
    
  -Herr Schulamt, ich möchte mit Ihnen sprechen.
    
  Dante wich Paolas Blick aus, folgte der Gerichtsmedizinerin aber in ihr Büro.
    
  - Was willst du mir sagen, Dikanti? Ií I á, wir sitzen alle im selben Boot, okay?
    
  "Das habe ich schon herausgefunden. Mir ist auch aufgefallen, dass er mich, genau wie Boy, Vormund nennt, nicht Treuhänder. Weil er unter dem Leiter steht. Seine Minderwertigkeitsgefühle stören mich überhaupt nicht, solange sie meine Aufgaben nicht beeinträchtigen. Genau wie bei deinem vorherigen Problem mit den Fotos."
    
  Dante errötete.
    
  - Wenn ich... was ich dir sagen möchte. Es ist nichts Persönliches.
    
  Könnten Sie mir bitte Informationen zu Fowler geben? Er hat das bereits getan. Ist Ihnen meine Position klar, oder sollte ich sie genauer erläutern?
    
  "Ich habe genug von Ihrer Klarheit, Disponent", sagte er schuldbewusst und fuhr sich mit der Hand über die Wangen. "Ich habe mir diese verdammten Füllungen ziehen lassen. Was ich nicht weiß, ist, ob Sie sich nicht den Arm gebrochen haben."
    
  - Ich auch, denn du hast ein sehr strenges Gesicht, Dante.
    
  - Ich bin in jeder Hinsicht ein cooler Typ.
    
  "Ich habe kein Interesse daran, irgendjemanden von ihnen kennenzulernen. Ich hoffe, das ist auch klar."
    
  - Handelt es sich hier um eine Verweigerung seitens einer Frau, einer Disponentin?
    
  Paola war wieder sehr nervös.
    
  -¿Sómo ist keine Frau?
    
  -Von denen, die als S - I geschrieben werden.
    
  -Das "Nein" wird "N-O" geschrieben, du verdammter Macho.
    
  - Beruhige dich, Rika, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.
    
  Die Kriminelle verfluchte sich innerlich. Ich tappte in Dantes Falle und ließ mich von ihm mit meinen Gefühlen manipulieren. Aber mir ging es schon wieder gut. Nimm einen förmlichen Ton an, damit dein Gegenüber deine Verachtung bemerkt. Ich beschloss, es Boy gleichzutun, der solche Konfrontationen hervorragend meisterte.
    
  "Okay, nachdem wir das nun geklärt haben, möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich mit unserem nordamerikanischen Ansprechpartner, Pater Fowler, gesprochen habe. Ich habe ihm meine Bedenken hinsichtlich seiner bisherigen Leistungen mitgeteilt. Pater Fowler hat einige sehr überzeugende Argumente vorgebracht, die meiner Meinung nach mein Vertrauen in ihn rechtfertigen. Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, Informationen über Pater Fowler zu sammeln. Das war für ihn eine Kleinigkeit."
    
  Dante war von Paolas harschem Tonfall schockiert. Er sagte nichts. "Du musst dir darüber im Klaren sein, dass du das Spiel verloren hast."
    
  "Als Leiter der Ermittlungen muss ich Sie formell fragen, ob Sie bereit sind, uns bei der Festnahme von Victor Karoski uneingeschränkt zu unterstützen."
    
  "Natürlich, Disponent", stieß Dante die Worte wie glühende Nägel in seinen Mund.
    
  - Schließlich bleibt mir nur noch, ihn nach dem Grund für seinen Wunsch nach Rückkehr zu fragen.
    
  "Ich rief an, um mich bei meinen Vorgesetzten zu beschweren, aber man ließ mir keine Wahl. Mir wurde befohlen, persönliche Differenzen beiseite zu legen."
    
  Paola wurde bei diesem letzten Satz misstrauisch. Fowler hatte zwar bestritten, dass Dante etwas gegen ihn hegte, doch die Worte des Polizeichefs überzeugten ihn vom Gegenteil. Der Gerichtsmediziner hatte bereits angemerkt, dass sie sich offenbar kannten, trotz ihres zuvor widersprüchlichen Verhaltens. Ich beschloss, Dante direkt darauf anzusprechen.
    
  -¿Conocía usted al Padre Anthony Fowler?
    
  "Nein, Disponent", sagte Dante mit fester und selbstsicherer Stimme.
    
  - Es war sehr freundlich von Ihnen, mir Ihre Akte zu geben.
    
  - Im Wachsamkeitskorps sind wir sehr gut organisiert.
    
  Paola beschloss, ihn zu verlassen, ahí. Als sie im Begriff war zu gehen, sagte Dante drei Sätze zu ihr, die ihr sehr schmeichelten.
    
  "Nur eine Sache noch, Disponent. Falls er mich nochmal zur Ordnung rufen muss, ist mir alles lieber, was mit einer Ohrfeige zu tun hat. Ich bin nicht gut in Formalitäten."
    
  Paola bat Dante, persönlich nachzufragen, wo die Kardinäle untergebracht sein würden. Und das taten sie auch. In der Domus Sancta Marthae, dem Haus der Heiligen Martha, westlich des Petersdoms, jedoch innerhalb der Mauern des Vatikans.
    
  Von außen wirkte das Gebäude schlicht und elegant, ohne Stuck, Ornamente oder Statuen. Verglichen mit den umgebenden Wundern fiel die Domus so unscheinbar auf wie ein Golfball im Schnee. Anders wäre es gewesen, hätte ein zufälliger Tourist (und im abgesperrten Bereich des Vatikans gab es keine) dem Bauwerk einen zweiten Blick zugeworfen.
    
  Als sie jedoch die Erlaubnis erhielten und die Schweizergarde sie problemlos einließ, stellte Paola fest, dass das Äußere ganz anders aussah als ihres. Es ähnelte einem modernen Hotel in Simo, mit Marmorböden und Jatoba-Holzvertäfelung. Ein leichter Lavendelduft lag in der Luft. Während sie warteten, beobachtete der Gerichtsmediziner ihren Weggang. An den Wänden hingen Gemälde, die Paola Crió als Werke der großen italienischen und niederländischen Meister des 16. Jahrhunderts erkannte. Und keines davon wirkte wie eine Reproduktion.
    
  "Oh mein Gott", sagte Paola überrascht und versuchte, ihren heftigen Taco-Erbrechen zu unterdrücken. "Das habe ich von ihm bekommen, als ich ruhig war."
    
  "Ich kenne die Auswirkungen", sagte Fowler nachdenklich.
    
  Der Gerichtsmediziner merkt an, dass Fowlers persönliche Umstände nicht angenehm waren, als er zu Gast im Haus war.
    
  "Es ist ein echter Schock im Vergleich zu den übrigen Vatikangebäuden, zumindest denen, die ich kenne. Neue wie alte."
    
  - Kennen Sie die Geschichte dieses Hauses, mein Herr? Wie Sie wissen, gab es 1978 zwei aufeinanderfolgende Cónkeyas, die nur zwei Monate auseinander lagen.
    
  "Ich war noch sehr klein, aber ich trage in meiner Erinnerung die unveränderlichen Gene dieser Kinder", sagte Paola und tauchte für einen Moment in die Vergangenheit ein.
    
    
  Wackelpudding vom Petersplatz. Mama und Papa aus Limon und Paola mit Schokolade und Erdbeeren. Pilger singen, und die Stimmung ist fröhlich. Papas Hand, stark und rau. Ich liebe es, seine Finger zu halten und mit ihm durch den Abend zu laufen. Wir schauen in den Kamin und sehen weißen Rauch. Papa hebt mich hoch und lacht, und sein Lachen ist das Schönste auf der Welt. Mein Eis fällt herunter, und ich weine, aber Papa freut sich und verspricht, mir ein neues zu kaufen. "Wir werden es auf das Wohl des Bischofs von Rom essen", sagt er.
    
    
  Bald werden zwei Päpste gewählt, da Paul VI.s Nachfolger, Johannes Paul I., plötzlich im Alter von 33 Jahren starb. Es gab einen zweiten Schlüssel, in dessen Folge ich, Johannes Paul II., gewählt wurde. Während dieser kurzen Zeit lebten die Kardinäle in den winzigen Zellen rund um die Sixtinische Kapelle. Ohne jeglichen Komfort und ohne Klimaanlage, und da der römische Sommer eisig kalt war, erlitten einige der älteren Kardinäle eine wahre Tortur. Einer von ihnen musste dringend ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Nachdem Wojtyła die Fischersandale angezogen hatte, schwor er sich, alles so zu lassen, wie es war, um sicherzustellen, dass sich so etwas nach seinem Tod nicht wiederholt. Und das Ergebnis ist dieses Gebäude. Dottora, hörst du mir zu?
    
  Paola kehrt mit einer schuldbewussten Geste von ihrem Enso zurück.
    
  "Tut mir leid, ich habe mich in meinen Erinnerungen verloren. Das wird nicht wieder vorkommen."
    
  In diesem Moment kehrt Dante zurück, nachdem er vorausgegangen ist, um den Verantwortlichen für Domus zu finden. Paola hingegen nicht, da sie dem Priester aus dem Weg geht. Nehmen wir also an, sie versucht, einer Konfrontation zu entgehen. Beide sprachen mit gespielter Normalität miteinander, doch ich bezweifle nun ernsthaft, dass Fowler ihr die Wahrheit gesagt hätte, als er andeutete, die Rivalität beschränke sich auf Dantes Eifersucht. Selbst wenn das Team zusammenhielte, blieb den Podí vorerst nichts anderes übrig, als sich der Farce anzuschließen und das Problem zu ignorieren. Etwas, worin Paola noch nie besonders gut war.
    
  Die Leiterin traf in Begleitung einer kleinen, lächelnden, verschwitzten Ordensfrau in schwarzem Kostüm ein. Sie stellte sich als Schwester Helena Tobina aus Polen vor. Sie war die Leiterin des Zentrums und beschrieb detailliert die bereits durchgeführten Renovierungsarbeiten. Diese waren in mehreren Phasen abgeschlossen worden, die letzte im Jahr 2003. Sie stiegen eine breite Treppe mit glänzenden Stufen hinauf. Das Gebäude war in mehrere Etagen unterteilt, die durch lange, mit dicken Teppichen ausgelegte Flure miteinander verbunden waren. Die Zimmer befanden sich an den Seiten.
    
  "Es gibt einhundertsechs Suiten und vierundzwanzig Einzelzimmer", erklärte die Krankenschwester und stieg in den ersten Stock hinauf. "Die Möbel stammen aus mehreren Jahrhunderten und bestehen aus wertvollen Stücken, die von italienischen oder deutschen Familien gestiftet wurden."
    
  Die Nonne öffnete die Tür zu einem der Zimmer. Es war ein geräumiges Zimmer von etwa zwanzig Quadratmetern mit Parkettboden und einem schönen Teppich. Auch das Bett war aus Holz und hatte ein kunstvoll geschnitztes Kopfteil. Ein Einbauschrank, ein Schreibtisch und ein komplett ausgestattetes Badezimmer vervollständigten die Einrichtung.
    
  "Dies ist die Residenz eines der sechs Kardinäle, die zunächst nicht eingetroffen sind. Die anderen einhundertneun haben ihre Zimmer bereits bezogen", stellte die Schwester klar.
    
  Der Inspektor ist der Ansicht, dass mindestens zwei der vermissten Personen nicht hätten auftauchen dürfen, Jem und seine Schwester.
    
  "Ist es hier sicher für die Kardinäle, Schwester Helena?", fragte Paola vorsichtig. Ich wusste es nicht, bis die Nonne von der Gefahr erfuhr, die den Purpurnen drohte.
    
  "Sehr sicher, mein Kind, sehr sicher. Das Gebäude ist barrierefrei zugänglich und wird ständig von zwei Schweizergardisten bewacht. Wir haben veranlasst, dass die Schalldämmung und die Fernseher aus den Zimmern entfernt werden."
    
  Paola geht über das Erlaubte hinaus.
    
  "Die Kardinäle sind während des Konzils von der Außenwelt abgeschnitten. Kein Telefon, kein Fernsehen, keine Computer, kein Internet. Jeglicher Kontakt zur Außenwelt ist unter Androhung der Exkommunikation verboten", erklärte Fowler. "Diese Anordnungen wurden von Johannes Paul II. vor seinem Tod erlassen."
    
  - Aber es wäre unmöglich, sie vollständig zu isolieren, nicht wahr, Dante?
    
  Superintendent Sakō Grupa. Er prahlte gern mit den Erfolgen seiner Organisation, als hätte er sie persönlich erzielt.
    
  -Sehen Sie, Forscher, wir verfügen über die neueste Technologie auf dem Gebiet der Signalinhibitoren.
    
  - Ich bin mit dem Spionagejargon nicht vertraut. Können Sie mir das erklären?
    
  "Wir haben elektrische Geräte, die zwei elektromagnetische Felder erzeugen. Eines hier und eines in der Sixtinischen Kapelle. Sie wirken praktisch wie zwei unsichtbare Schirme. Kein Gerät, das Kontakt zur Außenwelt benötigt, kann darunter funktionieren. Weder ein Richtmikrofon noch eine Musikanlage noch ein E-Spiá-Gerät. Überprüfen Sie sein Handy und sein anderes Handy."
    
  Paola tat dies und sah, dass du wirklich keine Deckung hattest. Sie gingen hinaus in den Flur. Nada, no había señal.
    
  -Und was ist mit dem Essen?
    
  "Es wird direkt hier in der Küche zubereitet", sagte Schwester Helena stolz. Das Team besteht aus zehn Nonnen, die nacheinander die verschiedenen Dienste im Domus Sancta Marthae übernehmen. Das Empfangspersonal bleibt über Nacht im Haus, falls ein Notfall eintritt. Niemand außer einem Kardinal darf das Haus betreten.
    
  Paola öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen, doch sie blieb mitten drin stecken. Ich unterbrach sie mit einem furchtbaren Schrei aus dem obersten Stockwerk.
    
    
    
  Domus Sancta Marthae
    
  Piazza Santa Marta, 1
    
  Donnerstag, 7. April 2005, 16:31 Uhr.
    
    
    
  Es war ungemein schwierig gewesen, sein Vertrauen zu gewinnen, um das Zimmer betreten zu dürfen, in dem er sich aufhielt. Nun hatte der Kardinal Zeit, diesen Fehler zu bereuen, und sein Bedauern würde in traurigen Lettern festgehalten werden. Karoski fügte sich mit einem Messer einen weiteren Schnitt in die nackte Brust zu.
    
  -Beruhigt euch, Eure Eminenz. Es ist ohnehin weniger nötig als nötig.
    
  Der fünfte Teil wird bei jedem Schritt besprochen, Mís debiles. Das Blut, das die Bettdecke durchnässte und wie Kleister auf den Perserteppich tropfte, raubte ihm die Kraft. Doch in einem Augenblick verlor ich das Bewusstsein. Cintió alle Schläge und alle Schnitte.
    
  Karoski beendete seine Arbeit an der Brust. "Mit dem Stolz eines Handwerkers betrachten wir, was Sie geschrieben haben. Ich bin stets am Puls der Zeit und nutze den Augenblick. Es war wichtig, eine Erinnerung zu schaffen. Leider kann nicht jeder eine digitale Videokamera bedienen, aber diese Einwegkamera, die rein mechanisch funktioniert, ist perfekt." Er strich mit dem Daumen über den Film, um ein weiteres Foto zu machen, und verspottete Kardinal Cardoso.
    
  - Seid gegrüßt, Eure Eminenz. Ach, natürlich geht das nicht. Macht ihn frei, denn ich brauche seine "Gabe der Zungenrede".
    
  Karoski lachte allein über seinen eigenen schrecklichen Witz. Ich legte das Messer beiseite und zeigte es dem Kardinal, wobei ich ihm spöttisch die Zunge herausstreckte. Und da beging er seinen ersten Fehler. Beginnen Sie, den Knebel zu lösen. Purple war entsetzt, aber nicht so verängstigt wie die anderen Vampire. Er sammelte seine letzten Kräfte und stieß einen markerschütternden Schrei aus, der durch die Hallen der Domus Sancta Marthae hallte.
    
    
    
    Domus Sancta Marthae
    
  Piazza Santa Marta, 1
    
    Donnerstag, 7. April 2005, 16:31 Uhr.
    
    
    
  Als sie den Schrei hörte, reagierte Paola sofort. Ich bedeutete der Nonne, stehen zu bleiben, und ging vorbei - er schießt auf euch drei gleichzeitig und zieht seine Pistole. Fowler und Dante folgten ihm die Treppe hinunter, ihre Beine stießen beinahe zusammen, als sie mit voller Geschwindigkeit die Stufen hinaufstürmten. Oben angekommen, blieben sie verwirrt stehen. Sie standen mitten in einem langen Korridor voller Türen.
    
  "Wo war das?", fragte Fowler.
    
  "Verdammt, ich mag ihn, ganz besonders. Geht nicht weg, meine Herren", sagte Paola. "Er könnte ein Mistkerl sein, und zwar ein sehr gefährlicher."
    
  Paola wählte die linke Seite, gegenüber dem Aufzug. Glaubt mir, in Zimmer 56 war ein Geräusch. Er hielt das Messer ans Holz, aber Dante bedeutete ihm, zurückzutreten. Der bullige Hausmeister gab Fowler ein Zeichen, und beide rammten die Tür, die sich mühelos öffnete. Zwei Polizisten stürmten herein, Dante zielte von vorn, Paola von der Seite. Fowler stand mit verschränkten Armen im Türrahmen.
    
  Der Kardinal lag auf dem Bett. Er war verängstigt, zu Tode erschrocken, aber unverletzt. Ich blickte sie entsetzt an, die Hände erhoben.
    
  -Bitte zwing mich nicht dazu, es mir zu geben.
    
  Dante blickt sich um und senkt seine Pistole.
    
  -Wo war es?
    
  "Ich glaube im Nebenzimmer", sagte er und zeigte mit dem Finger, senkte aber die Hand nicht.
    
  Sie traten wieder in den Korridor. Paola stellte sich neben Tür 57, während Dante und Fowler wie ein menschlicher Rammbock gegen das Schloss hämmerten. Beim ersten Mal trafen beide Schultern kräftig, doch das Schloss rührte sich nicht. Beim zweiten Mal gab es ein lautes Krachen.
    
  Der Kardinal lag auf dem Bett. Es war stickig und leblos, doch das Zimmer war leer. Dante bekreuzigte sich zweimal und blickte ins Zimmer. Meneos Kopf. In diesem Moment ertönte ein weiterer Schrei.
    
  - Hilfe! Hilfe!
    
  Die drei eilten aus dem Zimmer. Am Ende des Korridors, nahe dem Aufzug, lag der Kardinal mit zusammengeknüllten Roben auf dem Boden. Sie eilten zum Aufzug. Paola erreichte ihn als Erste und kniete neben ihm nieder, doch der Kardinal war bereits wieder aufgestanden.
    
  "Kardinal Shaw!", rief Fowler und erkannte seinen Landsmann.
    
  "Mir geht"s gut, mir geht"s gut. Er hat mich dazu gedrängt. Er ist wegen Aí gegangen", sagte er und öffnete eine vertraute Tür, die sich von der in den Zimmern unterschied.
    
  - Was immer du dir für mich wünschst, Vater.
    
  "Beruhigt euch, mir geht es gut. Fangt diesen falschen Mönch", sagte Kardinal Shaw.
    
  -Geh zurück in dein Zimmer und schließ die Tür! -le gritó Fowler.
    
  Die drei gingen durch die Tür am Ende des Flurs und auf die Diensttreppe. Der Geruch von Feuchtigkeit und verrottender Farbe drang von den Wänden herüber. Das Treppenhaus war schlecht beleuchtet.
    
  Perfekt für einen Hinterhalt, dachte Paola. Karoska hat eine Pontiero-Pistole. Er könnte uns an jeder Ecke erwarten und mindestens zwei von uns den Kopf wegpusten, bevor wir es überhaupt merken.
    
  Und dennoch stiegen sie rasch die Stufen hinab, nicht ohne über etwas zu stolpern. Sie folgten der Treppe zum Sótano, unterhalb des Straßenniveaus, doch die Tür zum Allí war schwer verriegelt.
    
  -Er ist nicht hierher gekommen.
    
  Sie folgten seinen Spuren. Im Stockwerk darüber hörten sie ein Geräusch. Sie gingen durch die Tür und direkt in die Küche. Dante überholte den Gerichtsmediziner und trat als Erster ein, den Finger am Abzug und die Kanone nach vorn gerichtet. Die drei Nonnen hörten auf, mit den Töpfen zu hantieren, und starrten sie mit tellergroßen Augen an.
    
  "Ist hier jemand vorbeigekommen?", rief Paola.
    
  Sie antworteten nicht. Sie starrten weiterhin mit stechenden Augen geradeaus. Einer von ihnen fluchte sogar weiter auf ihre schmollende Lippe und ignorierte sie dabei völlig.
    
  - Was wäre, wenn hier jemand vorbeikäme! Ein Mönch! - wiederholte der Gerichtsmediziner.
    
  Die Nonnen zuckten mit den Achseln. Fowler legte ihr die Hand auf die Schulter.
    
  -Dégelas. Sie sprechen kein Italienisch.
    
  Dante ging bis zum Ende der Küche und stieß auf eine etwa zwei Meter breite Glastür. "Sieht sehr einladend aus. Ich versuche, sie zu öffnen, aber es gelingt mir nicht." Er öffnete die Tür für eine der Nonnen und zeigte ihr dabei seinen Vatikanischen Ausweis. Die Nonne trat an den Aufseher heran und steckte den Schlüssel in eine in der Wand versteckte Schublade. Die Tür schwang mit einem Knall auf. Er stand nun auf einer Seitenstraße, der Plaza de Santa Marta. Vor ihnen lag der San Carlos Palast.
    
  - Verdammt! Hat die Nonne nicht gesagt, dass Domusó Zugang zu ihm hat?
    
  "Nun ja, sehen Sie, die Leitstellendisponenten. Es gibt zwei von ihnen", sagte Dante.
    
  - Kehren wir zu unseren Schritten zurück.
    
  Sie rannten die Treppe hinauf, beginnend mit der Weste, und erreichten das oberste Stockwerk. Dort fanden sie einige Stufen, die zum Dach führten. Doch als sie die Tür erreichten, war diese für Cal und seinen Gesang verschlossen.
    
  -Hier konnte auch niemand mehr rauskommen.
    
  Niedergeschlagen setzten sie sich alle zusammen auf die schmutzige, schmale Treppe, die zum Dach führte, und atmeten wie Blasebälge.
    
  "Er hat sich in einem der Zimmer versteckt?", sagte Fowler.
    
  "Ich glaube nicht. Er ist wahrscheinlich entkommen", sagte Dante.
    
  - Aber warum von Gott?
    
  "Natürlich war es die Küche, dank der Aufsicht der Nonnen. Anders lässt es sich nicht erklären. Alle Türen sind verschlossen oder gesichert, auch der Haupteingang. Aus den Fenstern zu springen ist unmöglich; das Risiko ist viel zu groß. Wachleute patrouillieren alle paar Minuten - und wir stehen im Mittelpunkt, um Himmels willen!"
    
  Paola war wütend. Wenn ich nicht so erschöpft vom Treppenrennen gewesen wäre, hätte ich sie gegen die Wände treten lassen.
    
  -Dante, bitte um Hilfe. Lass den Platz absperren.
    
  Der Hausmeister schüttelte verzweifelt den Kopf. Er legte die Hand an die Stirn, der Schweiß rann ihm in kleinen Tropfen auf seine stets präsente Lederwindjacke. Sein sonst akkurat gekämmtes Haar war schmutzig und kraus.
    
  -Sómo will, dass ich anrufe, Schöne? Nichts funktioniert in diesem verdammten Gebäude. Keine Überwachungskameras in den Fluren, keine Telefone, keine Mikrofone, keine Funkgeräte. Nichts Komplizierteres als eine verdammte Glühbirne, nichts, was Wellen oder Einsen und Nullen zum Funktionieren braucht. Es ist, als würde ich keine Brieftaube schicken...
    
  "Wenn ich unten ankomme, bin ich schon weit weg. Ein Mönch erregt im Vatikan keine Aufmerksamkeit, Dikanti", sagte Fowler.
    
  "Kann mir irgendjemand erklären, warum Sie aus diesem Zimmer gerannt sind? Es ist der dritte Stock, die Fenster waren geschlossen, und wir mussten die verdammte Tür aufbrechen. Alle Eingänge zum Gebäude waren bewacht oder verschlossen", sagte er und schlug mehrmals mit der flachen Hand gegen die Dachbodentür, was einen dumpfen Knall und eine Staubwolke verursachte.
    
  "Wir sind so nah dran", sagte Dante.
    
  - Verdammt. Verdammt, verdammt und verdammt. ¡Ле TENíхозяева!
    
  Es war Fowler, der die schreckliche Wahrheit aussprach, und seine Worte hallten in Paolas Ohren wider wie eine Schaufel, die über den Buchstaben l kratzt.
    
  - Jetzt haben wir einen weiteren Toten, Dottora.
    
    
    
    Domus Sancta Marthae
    
  Piazza Santa Marta, 1
    
    Donnerstag, 7. April 2005, 16:31 Uhr.
    
    
    
  "Wir müssen mit Vorsicht vorgehen", sagte Dante.
    
  Paola war außer sich vor Wut. Wäre Sirin in diesem Moment vor ihr gestanden, hätte sie sich nicht beherrschen können. Ich glaube, es war das dritte Mal, dass ich Puñetasasos am liebsten die Zähne ausgerissen hätte, wirklich, um zu testen, ob Aún seine ruhige Miene und seine monotone Stimme beibehalten sollte.
    
  Nachdem ich auf dem Dach auf einen sturen Kerl gestoßen war, stieg ich geduckt die Treppe hinunter. Dante musste den Platz überqueren, um den widerlichen Mann dazu zu bringen, die Kontrolle zu übernehmen und mit Sirin zu sprechen, damit dieser Verstärkung anforderte und den Tatort untersuchen ließ. Die Antwort des Generals lautete, dass man auf das UACV-Dokument zugreifen könne und dies in Zivilkleidung tun müsse. Die benötigten Werkzeuge sollten in einem normalen Koffer transportiert werden.
    
  - Wir können nicht zulassen, dass das alles über das hinausgeht. Entiéndalo, Dikanti.
    
  - Ich verstehe überhaupt nichts. Wir müssen den Mörder fassen! Wir müssen das Gebäude durchsuchen, herausfinden, wer reingekommen ist, Beweise sammeln ...
    
  Dante sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Fowler schüttelte den Kopf, unfähig, sich einzumischen. Paola wusste, dass sie zugelassen hatte, dass diese Angelegenheit in ihre Seele sickerte und ihren Frieden vergiftete. Er versuchte stets, übermäßig rational zu sein, weil er um die Sensibilität seines Wesens wusste. Wenn etwas in sie eindrang, schlug ihre Hingabe in Besessenheit um. In diesem Moment bemerkte ich, dass die Wut, die vom Esprit ausging, wie ein Tropfen Säure war, der in regelmäßigen Abständen auf ein Stück rohes Fleisch fiel.
    
  Sie befanden sich im Flur im dritten Stock, wo alles geschehen war. Zimmer 55 war bereits leer. Sein Bewohner, der Mann, der die Durchsuchung von Zimmer 56 angeordnet hatte, war der belgische Kardinal Petfried Haniels, zwischen 73 und 241 Jahre alt. Ich war sehr bestürzt über das Geschehene. Die Wohnung im Studentenwohnheim befand sich im obersten Stockwerk, wo er vorübergehend untergebracht war.
    
  "Zum Glück befand sich der älteste Kardinal in der Kapelle und nahm an der Nachmittagsmeditation teil. Nur fünf hörten die Schreie, und ihnen war bereits mitgeteilt worden, dass ein Wahnsinniger eingetreten sei und durch die Gänge heulend umherirrte", sagte Dante.
    
  -¿Y ya está? ¿ Ist das Kontrolle daños? - Paola war empört. ¿Sorgen, dass nicht einmal die Kardinäle selbst wissen, dass sie einen der Ihren getötet haben?
    
  -Es ist eine Faresnica. Wir werden sagen, er sei krank geworden und mit Gastroenteritis ins Gemelli-Krankenhaus eingeliefert worden.
    
  Und damit ist alles entschieden - Replika, Ikone.
    
  -Nun, da ist eine Sache, Sir. Sie dürfen ohne meine Erlaubnis mit keinem der Kardinäle sprechen, und der Tatort muss auf den Raum beschränkt bleiben.
    
  "Das kann doch nicht sein Ernst sein. Wir müssen nach Fingerabdrücken an Türen, an Zugangspunkten, in den Fluren suchen... Das kann doch nicht sein Ernst sein."
    
  "Was willst du, Bambina? Eine ganze Reihe von Streifenwagen vor dem Tor? Tausende Blitzlichter von Fotogalerien? Natürlich ist es am besten, es von den Dächern zu schreien, um den Kerl zu schnappen", sagte Dante mit autoritärer Miene. "Oder will er einfach nur mit seinem Bachelor-Abschluss aus Quantico vor den Kameras wedeln? Wenn du so gut darin bist, dann zeig es doch!"
    
  Paola lässt sich nicht provozieren. Dante unterstützte die These von der Vorherrschaft des Okkulten voll und ganz. Du hast die Wahl: Entweder du verlierst die Zeit und prallst gegen diese gewaltige, jahrhundertealte Mauer, oder du gibst nach und versuchst, so viele Ressourcen wie möglich zu sichern.
    
  "Ruf Sirin an. Bitte richte dies deinem besten Freund aus. Und dass seine Männer Wache halten, falls der Karmeliter im Vatikan auftaucht."
    
  Fowler räusperte sich, um Paolas Aufmerksamkeit zu erregen. Ich zog sie beiseite und sprach leise mit ihr, ihre Lippen ganz nah an meine. Paola spürte seinen Atem, der ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte, und war froh, ihre Jacke anzuziehen, damit niemand etwas bemerkte. Ich erinnerte mich an ihre feste Berührung, als sie wie von Sinnen in die Menge gestürmt war und er sie gepackt, an sich gezogen und festgehalten hatte. Und sie an die Vernunft gefesselt hatte. Sie sehnte sich danach, ihn wieder zu umarmen, aber in dieser Situation war ihr Wunsch völlig unangebracht. Alles war ziemlich kompliziert.
    
  "Zweifellos wurden diese Befehle bereits erteilt und werden jetzt ausgeführt, Doktor. Und Olvi will die Polizeiaktion, weil er im Vatikan keine Djemaas bekommen wird. Wir müssen akzeptieren, dass wir mit den Karten spielen, die uns das Schicksal zugeteilt hat, egal wie schlecht die Éstas auch sein mögen. In dieser Situation trifft das alte Sprichwort über mein Land sehr zu: Der König ist 27."
    
  Paola verstand sofort, worauf er hinauswollte.
    
  "Wir sagen diesen Satz auch in Rom. Du hast einen Grund, Pater... zum ersten Mal in diesem Fall haben wir einen Zeugen. Das ist etwas."
    
  Fowler hat noch mehr gehört.
    
  "Sprich mit Dante. Sei diesmal der Diplomat. Lass ihn uns bis Shaw in Ruhe lassen. Quiz, lass uns eine plausible Beschreibung finden."
    
  Aber ohne einen Kriminologen...
    
  "Das kommt später, Doktor. Wenn Kardinal Shaw ihn gesehen hat, bekommen wir ein roboterhaftes Porträt. Aber was mir wichtig ist, ist der Zugang zu seiner Aussage."
    
  - Sein Name kommt mir bekannt vor. Ist das Shaw, der in Karoskis Berichten auftaucht?
    
  -Ganz genau. Er ist ein zäher und intelligenter Mann. Ich hoffe, Sie können uns mit einer Beschreibung weiterhelfen. Nennen Sie bitte nicht den Namen des Verdächtigen: Wir werden sehen, ob Sie ihn wiedererkennen.
    
  Paola nickt und kehrt mit Dante zurück.
    
  -Was, habt ihr beiden Turteltauben jetzt mit den Geheimnissen abgeschlossen?
    
  Der Strafverteidiger beschloss, den Kommentar zu ignorieren.
    
  "Pater Fowler riet mir, mich zu beruhigen, und ich denke, ich werde seinem Rat folgen."
    
  Dante musterte ihn misstrauisch, überrascht von seiner Haltung. Diese Frau schien ihn sehr anzusprechen.
    
  - Das ist sehr klug von Ihnen, Disponent.
    
    - Noi abbiamo dato nella croce 28, ¿verdad, Dante?
    
    "Das ist eine Sichtweise. Etwas ganz anderes ist es, sich bewusst zu machen, dass man in einem fremden Land zu Gast ist. Diese Mutter hat ihren Willen durchgesetzt. Jetzt liegt es an uns. Es ist nichts Persönliches."
    
  Paola holte tief Luft.
    
  - Schon gut, Dante. Ich muss mit Kardinal Shaw sprechen.
    
  - Er erholt sich in seinem Zimmer von dem erlittenen Schock. Dementiert.
    
  -Schulrat. Tun Sie diesmal das Richtige. Quiz: Wie kriegen wir ihn?
    
  Der Polizist knackte mit seinem Stierhals, erst nach links, dann nach rechts. Es war deutlich, dass er darüber nachdachte.
    
  - Okay, Disponent. Unter einer Bedingung.
    
  -¿Cuáeto?
    
  - Er soll einfachere Worte verwenden.
    
  - Geh und geh ins Bett.
    
  Paola drehte sich um und begegnete Fowlers missbilligendem Blick, der das Gespräch aus der Ferne beobachtet hatte. Dann wandte er sich wieder Dante zu.
    
  -Bitte.
    
  -Por favor qué, ispettora?
    
  Dieses Schwein hatte sogar Freude an seiner Demütigung. Nun ja, egal, aí desyatía.
    
  -Bitte, Superintendent Dante, ich bitte um Ihre Erlaubnis, mit Kardinal Shaw zu sprechen.
    
  Dante lächelte offen. "Du hattest eine wundervolle Zeit." Doch plötzlich wurde er sehr ernst.
    
  "Fünf Minuten, fünf Fragen. Nur ich. Ich spiele das auch, Dikanti."
    
  Zwei Mitglieder der Wachsamkeit, beide in schwarzen Anzügen und Krawatten, verließen den Aufzug und stellten sich zu beiden Seiten von Tür 56 auf, wo ich mich befand. Bewachen Sie den Eingang, bis der UACV-Inspektor eintrifft. Nutzen Sie die Wartezeit, um den Zeugen zu befragen.
    
  - Wo ist Shaws Zimmer?
    
  Ich befand mich auf derselben Etage. Dante führte sie zu Zimmer 42, dem letzten Zimmer vor der Tür zum Diensttreppenhaus. Der Hausmeister klingelte leise mit nur zwei Fingern.
    
  Ich stellte ihnen Schwester Helena vor, die ihr Lächeln verloren hatte. Erleichterung huschte über sein Gesicht beim Anblick der beiden.
    
  -Zum Glück ist dir nichts passiert. Konnten sie den Schlafwandler fangen, wenn sie ihn die Treppe hinunter jagten?
    
  "Leider nein, Schwester", antwortete Paola. "Wir glauben, sie ist durch die Küche entkommen."
    
  - Oh Gott, Iíili, ¿ hinter dem Eingang zum Mercancías? Heilige Jungfrau der Ölberge, welch ein Desaster.
    
  - Schwester, hast du uns nicht gesagt, dass du Zugriff darauf hast?
    
  - Da ist eine, die Haustür. Es ist keine Einfahrt, sondern ein Carport. Sie ist dickwandig und hat einen Spezialschlüssel.
    
  Paola begann zu begreifen, dass sie und ihre Schwester Helena nicht dasselbe Italienisch sprachen. Er nahm Substantive sehr persönlich.
    
  -¿ Ace... das heißt, der Angreifer könnte durch die Akhí-Schwester eingedrungen sein?
    
  Die Nonne schüttelte den Kopf.
    
  "Der Schlüssel ist unsere Schwester, die Ek Noma, und ich habe ihn. Und sie spricht Polnisch, genau wie viele der Schwestern, die hier arbeiten."
    
  Der Gerichtsmediziner kam zu dem Schluss, dass die Schwester Esonoma diejenige gewesen sein musste, die Dantes Tür geöffnet hatte. Es gab zwei Schlüssel. Das Rätsel wurde dadurch noch undurchsichtiger.
    
  -Können wir zum Kardinal gehen?
    
  Schwester Helena schüttelt schroff den Kopf.
    
  -Unmöglich, Dottora. Es ist... wie man so sagt... nervös. In einem nervösen Zustand.
    
  "So sei es", sagte Dante, "für eine Minute."
    
  Die Nonne wurde ernst.
    
  - Zaden. Nein und nein.
    
  Es schien, als wolle er lieber in seiner Muttersprache eine negative Antwort geben. Ich hatte die Tür bereits geschlossen, als Fowler gegen den Rahmen trat und sie so am vollständigen Schließen hinderte. Er sprach zögernd mit ihr und überlegte sich seine Worte genau.
    
  - Sprawia przyjemno, potrzebujemy eby widzie kardynalny Shaw, siostra Helena.
    
  Die Nonne öffnete ihre Augen wie Teller.
    
    - Wasz jzyk polski nie jest dobry 29.
    
    "Ich weiß. Ich bin verpflichtet, ihren wunderbaren Vater oft zu besuchen. Aber ich war seit meiner Geburt nicht mehr dort." Solidarität 30.
    
  Die fromme Frau senkte den Kopf, doch es war deutlich, dass der Priester ihr Vertrauen gewonnen hatte. Daraufhin öffneten die Regañadientes die Tür ganz und traten beiseite.
    
  "Seit wann sprichst du Polnisch?", flüsterte Paola ihr zu, als sie eintraten.
    
  "Ich habe nur vage Vorstellungen, Doktor. Wissen Sie, Reisen erweitert den Horizont."
    
  Dikanti starrte ihn einen Moment lang fassungslos an, bevor sie ihre volle Aufmerksamkeit dem Mann im Bett zuwandte. Das Zimmer war nur schwach beleuchtet, die Jalousien waren fast heruntergelassen. Kardinal Shaw wischte mit einem nassen Handtuch über den Boden, das im Dämmerlicht kaum zu erkennen war. Als sie sich dem Fußende des Bettes näherten, stützte sich der Mann in den violetten Haaren auf einen Ellbogen, schnaubte, und das Handtuch glitt ihm vom Gesicht. Er war ein Mann mit markanten Gesichtszügen und stämmiger Statur. Sein schneeweißes Haar klebte ihm an der Stirn, wo das Handtuch durchnässt war.
    
  -Verzeiht mir, ich...
    
  Dante beugte sich vor, um den Ring des Kardinals zu küssen, aber der Kardinal hielt ihn davon ab.
    
  - Nein, bitte. Nicht jetzt.
    
  Der Inspektor tat etwas Unerwartetes, etwas Unnötiges. Er musste protestieren, bevor er sprechen konnte.
    
  -Kardinal Shaw, wir bedauern die Störung, aber wir müssen Ihnen einige Fragen stellen. Fühlen Sie sich in der Lage, uns diese zu beantworten?
    
  "Natürlich, meine Kinder, natürlich." Ich lenkte ihn kurz ab. Es war schrecklich, in einem heiligen Ort ausgeraubt zu werden. Ich habe in wenigen Minuten einen Termin, um etwas zu erledigen. Bitte fassen Sie sich kurz.
    
  Dante blickte Schwester Helena an und dann Shaw. Éste comprendió. Ohne Zeugen.
    
  Schwester Helena, könnten Sie bitte Kardinal Paulich Bescheid geben, dass ich mich etwas verspäten werde?
    
  Die Nonne verließ den Raum und stieß Flüche aus, die für eine fromme Frau sicherlich nicht typisch waren.
    
  "Was ist in all dieser Zeit geschehen?", fragt Dante.
    
  Ich ging gerade in mein Zimmer, um mein Tagebuch zu holen, als ich einen furchtbaren Schrei hörte. Ich war wie gelähmt für ein paar Sekunden und versuchte wohl herauszufinden, ob ich mir das nur eingebildet hatte. Ich hörte Leute die Treppe hocheilen und dann ein Knarren. "Gehen Sie bitte auf den Flur." Ein Karmelitermönch wohnte in der Nähe der Aufzugstür, versteckt in einer kleinen Nische in der Wand. Ich sah ihn an, und er drehte sich um und sah mich ebenfalls an. Heilige Mutter Gottes, so viel Hass lag in seinen Augen. In diesem Moment gab es wieder ein Knacken, und der Karmeliter rammte mich. Ich fiel zu Boden und schrie. Den Rest kennt ihr ja schon.
    
  "Konntest du sein Gesicht deutlich sehen?", hakte Paola nach.
    
  "Er war fast vollständig von einem dichten Bart bedeckt. Ich erinnere mich nicht mehr an viel."
    
  Könnten Sie uns sein Gesicht und seine Statur beschreiben?
    
  "Ich glaube nicht. Ich habe ihn nur eine Sekunde lang gesehen, und meine Sehkraft ist nicht mehr so gut wie früher. Ich erinnere mich aber, dass er weiße Haare hatte und Geschäftsführer war. Mir war aber sofort klar, dass er kein Mönch war."
    
  -Was hat Euch zu dieser Annahme veranlasst, Eminenz? -inquirió Fowler.
    
  - Sein Verhalten natürlich. Wie angewurzelt an der Aufzugstür, ganz und gar nicht wie ein Diener Gottes.
    
  In diesem Moment kehrte Schwester Helena zurück und kicherte nervös.
    
  "Kardinal Shaw, Kardinal Paulich sagt, die Kommission erwarte ihn so bald wie möglich, um mit den Vorbereitungen für die Noventialmessen zu beginnen. Ich habe einen Konferenzraum im ersten Stock für Sie vorbereitet."
    
  "Danke, Schwester. Adele, du solltest bei Antoon sein, weil du etwas brauchst. Wales wird in fünf Minuten bei dir sein."
    
  Dante erkannte, dass Shaw das Wiedersehen beenden wollte.
    
  -Vielen Dank für alles, Eure Eminenz. Wir müssen gehen.
    
  "Sie können sich nicht vorstellen, wie leid es mir tut. In jeder Kirche Roms und von Tausenden auf der ganzen Welt werden Novendialen gefeiert, in denen für die Seele unseres Heiligen Vaters gebetet wird. Dies ist eine bewährte Praxis, und ich werde sie nicht wegen einer bloßen Kleinigkeit verschieben."
    
  Paola wollte gerade etwas sagen, doch Fowler drückte ihr unauffällig den Ellbogen, und der Gerichtsmediziner verschluckte seine Frage. Auch er winkte dem Lila zum Abschied. Als sie den Raum verlassen wollten, stellte der Kardinal ihnen eine Frage, die mich sehr interessierte.
    
  - Hat dieser Mann etwas mit den Verschwinden zu tun?
    
  Dante drehte sich sehr langsam um, und ich antwortete mit Worten, in denen das Almíbar mit all seinen Vokalen und Konsonanten hervortrat.
    
  "Von ninú modo, Eure Eminenz, er ist nur ein Provokateur. Wahrscheinlich einer von denen, die sich gegen die Globalisierung engagieren. Die kleiden sich normalerweise, um Aufmerksamkeit zu erregen, das wissen Sie doch."
    
  Der Kardinal fasste sich ein wenig wieder, bevor er sich auf dem Bett aufsetzte. Er wandte sich der Nonne zu.
    
  "Unter einigen meiner Kardinalsbrüder kursieren Gerüchte, dass zwei der prominentesten Persönlichkeiten der Kurie nicht an der Konklave teilnehmen werden. Ich hoffe, es geht Ihnen beiden gut."
    
  "Was gibt es, Eure Eminenz?", fragte Paola erschrocken. Er hatte in seinem Leben noch nie eine so sanfte, liebliche und demütige Stimme gehört wie die, mit der Dante seine letzte Frage gestellt hatte.
    
  "Ach, meine Kinder, in meinem Alter vergisst man vieles. Ich esse Kwai und flüstere Kwai zwischen Kaffee und Dessert. Aber ich kann euch versichern, dass ich nicht der Einzige bin, der das weiß."
    
  "Eure Eminenz, dies ist natürlich nur ein haltloses Gerücht. Wenn Ihr uns entschuldigt, müssen wir uns auf die Suche nach dem Unruhestifter machen."
    
  "Ich hoffe, Sie finden ihn bald. Es gibt zu viele Unruhen im Vatikan, und vielleicht ist es an der Zeit, unsere Sicherheitspolitik zu überdenken."
    
  Shaws abendliche Drohung, die ebenso von Azúcar durchdrungen war wie Dantes Frage, blieb keinem der drei verborgen. Selbst Paola erstarrte beim Anblick des Tons, und er ekelte jedes Mitglied an, dem ich begegnete.
    
  Schwester Helena verließ mit ihnen das Zimmer und ging den Flur entlang. Ein recht stämmiger Kardinal, zweifellos Pavlich, mit dem Schwester Helena die Treppe hinuntergegangen war, erwartete ihn dort.
    
  Sobald Paola sah, dass Schwester Elena die Treppe hinunter verschwunden war, wandte sie sich mit bitterem Gesichtsausdruck an Dante.
    
  "Es scheint, als ob Ihre Kontrolle über das Haus nicht so gut funktioniert, wie Sie denken, Herr Hausmeister."
    
  "Ich schwöre, ich verstehe es nicht", sagte Dante, und Reue stand ihm ins Gesicht geschrieben. "Hoffen wir wenigstens, dass sie den wahren Grund nicht kennen. Natürlich scheint das unmöglich. Und außerdem könnte sogar Shaw der PR-Mann sein, der die roten Sandalen trägt."
    
  "Wie wir alle, die wir Kriminelle sind, wissen wir, dass hier etwas Seltsames vor sich geht", sagte der Gerichtsmediziner. "Ehrlich gesagt, würde ich mir wünschen, dass das verdammte Ding direkt vor ihren Augen explodiert, damit die Polizisten endlich ihrer Arbeit nachgehen können."
    
  Dante wollte gerade wütend protestieren, als jemand auf dem Treppenabsatz des Mármol erschien. Carlo Boy xabí beschloss, jemanden zu schicken, den er für einen besseren und zurückhaltenderen UACV-Mitarbeiter hielt.
    
  Guten Tag allerseits.
    
  "Guten Tag, Direktor Boy", antwortete Paola.
    
  Es ist an der Zeit, sich mit der neuen Szene in Karoski auseinanderzusetzen.
    
    
    
  FBI-Akademie
    
  Quantico, Virginia
    
  22. August 1999
    
    
    
  - Kommt herein, kommt herein. Ich nehme an, ihr wisst, wer ich bin, nicht wahr?
    
  Für Paola war die Begegnung mit Robert Weber wie eine Einladung zum Kaffee von Ramses II., einem ägyptischen Professor. Wir betraten einen Konferenzraum, in dem der renommierte Kriminalist gerade vier Kursteilnehmer beurteilte. Er war seit zehn Jahren im Ruhestand, doch sein selbstsicherer Gang flößte den FBI-Mitarbeitern Respekt ein. Dieser Mann hatte die Forensik revolutioniert, indem er ein neues Instrument zur Verbrechensbekämpfung entwickelte: das psychologische Profiling. In dem Elitekurs des FBI zur Ausbildung neuer Talente aus aller Welt war er stets für die Beurteilungen zuständig. Die Teilnehmer waren begeistert, weil sie ihrem Idol persönlich begegnen konnten.
    
  - Natürlich kenne ich ihn, sie... Ich muss es ihm sagen...
    
  "Ja, ich weiß, es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen und so weiter. Wenn ich jedes Mal eine schlechte Note bekommen würde, wenn mir das jemand sagt, wäre ich jetzt ein reicher Mann."
    
  Der Gerichtsmediziner vergrub sein Gesicht in einem dicken Ordner. Paola griff in ihre Hosentasche und zog ein zerknittertes Stück Papier heraus, das ich Weber reichte.
    
  - Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen, Sir.
    
  Weber sah sich das Papier an und dann noch einmal. Es war ein Ein-Dollar-Schein. Ich griff danach, nahm ihn, glättete ihn und steckte ihn in meine Jackentasche.
    
  "Zerknüllen Sie die Geldscheine nicht, Dikanti. Sie gehören dem Finanzministerium der Vereinigten Staaten und stammen aus Amerika", sagte er, lächelte aber erfreut über die prompte Antwort der jungen Frau.
    
  - Behalten Sie das im Hinterkopf, Sir.
    
  Webers Gesichtsausdruck verhärtete sich. Dies war der Moment der Wahrheit, und jedes Wort, das ich als Nächstes sagte, war wie ein Schlag für die junge Frau.
    
  "Du bist ein Idiot, Dikanti. Berühre nur ein bisschen bei den Sporttests und den Geschicklichkeitstests. Und er hat kein Auto. Er bricht sofort zusammen. Er macht viel zu schnell dicht, wenn er mit Widrigkeiten zu kämpfen hat."
    
  Paola war zutiefst traurig. Es ist schwer zu ertragen, wenn einem eine lebende Legende die Hautfarbe raubt. Noch schlimmer ist es, wenn seine heisere Stimme keinerlei Mitgefühl erkennen lässt.
    
  - Du denkst nicht nach. Sie ist gut, aber sie muss ihr Innerstes offenbaren. Und dafür muss er erfinden. Erfinde, Dikanti. Befolge die Anweisungen nicht sklavisch. Improvisiere und glaube daran. Und das hier soll mein Diplom sein. Hier sind seine neuesten Notizen. Zieh ihr den BH an, wenn sie das Büro verlässt.
    
  Paola nahm mit zitternden Händen Webers Umschlag entgegen und öffnete die Tür, dankbar, allen entkommen zu sein.
    
  - Eines weiß ich, Dikanti. Ist ¿Cuál das wahre Motiv des Serienmörders?
    
  - Seine Mordlust. Die er nicht zügeln kann.
    
  leugnet es angewidert.
    
  - Er ist nicht weit von seinem Ziel entfernt, aber er ist nicht aá akhí. Er denkt wieder wie ein Buch, onñorita. Kannst du die Mordlust verstehen?
    
  - Nein, es ist... oder.
    
  "Manchmal muss man psychiatrische Abhandlungen beiseitelassen. Das wahre Motiv ist der Körper. Analysieren Sie sein Werk und lernen Sie den Künstler kennen. Das sollte das Erste sein, woran er denkt, wenn er an einem Tatort eintrifft."
    
    
  Dikanti rannte in sein Zimmer und schloss sich im Badezimmer ein. Als ich mich wieder gefasst hatte, öffnete ich den Umschlag. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was er darin gesehen hatte.
    
  Er erzielte in allen Fächern Bestnoten und lernte wertvolle Lektionen. Nichts ist, wie es scheint.
    
    
    
  Domus Sancta Marthae
    
  Piazza Santa Marta, 1
    
  Donnerstag, 7. April 2005, 17:10 Uhr.
    
    
    
  Weniger als eine Stunde später floh der Mörder aus dem Zimmer. Paola spürte seine Anwesenheit, wie jemanden, der unsichtbaren, stählernen Rauch einatmete. Er sprach stets rational über Serienmörder, mit seiner lebhaften Stimme. Das muss er auch getan haben, wenn er seine Meinungen (meist) per E-Mail äußerte.
    
  Es war völlig falsch, den Raum so zu betreten und darauf zu achten, nicht ins Blut zu treten. Ich tue das nicht, um den Tatort nicht zu entweihen. Der Hauptgrund, warum ich nicht hineingetreten bin, war, dass das verfluchte Blut meine guten Schuhe für immer ruiniert hätte.
    
  Und auch in Bezug auf die Seele.
    
    
  Vor fast drei Jahren kam heraus, dass Direktor Boy den Tatort nicht persönlich untersucht hatte. Paola vermutete, Boy gehe so weit, um sich bei den vatikanischen Behörden einzuschmeicheln. Natürlich konnte er bei seinen italienischen Vorgesetzten keine politischen Fortschritte erzielen, denn die ganze Sache musste geheim bleiben.
    
  Er betrat als Erster den Raum, zusammen mit Paola Detrás. Die Demiás warteten im Flur, starrten geradeaus und verfielen in finstere Gedanken. Die Gerichtsmedizinerin hörte, wie Dante und Fowler ein paar Worte wechselten - sie schworen sogar, dass einige davon in einem sehr unhöflichen Tonfall gefallen seien -, doch sie versuchte, ihre ganze Aufmerksamkeit auf das zu richten, was sich im Raum befand, nicht auf das, was draußen zurückblieb.
    
  Paola blieb an der Tür zurück und überließ Boy seiner Aufgabe. Zuerst sollte er forensische Fotos machen: eines aus jeder Ecke des Raumes, eines senkrecht zur Decke, eines aus jedem möglichen Winkel und eines von jedem Objekt, das der Ermittler für wichtig halten könnte. Kurz gesagt, mehr als sechzig Blitze, die den Tatort in unwirkliche, weißliche, flackernde Farbtöne tauchten. Paola behielt auch die Kontrolle über Lärm und grelles Licht.
    
  Atme tief durch und versuche, den Blutgeruch und den unangenehmen Nachgeschmack in deinem Hals zu ignorieren. Schließe die Augen und zähle im Kopf ganz langsam von hundert bis null, versuche, deinen Herzschlag dem Rhythmus des Countdowns anzupassen. Der kraftvolle Galopp bei hundert war nur noch ein gemächlicher Trab bei fünfzig und ein dumpfer, präziser Trommelschlag bei null.
    
  Öffne deine Augen.
    
  Auf dem Bett lag Kardinal Geraldo Cardoso, im Alter zwischen 71 und 241 Jahren. Er war mit zwei fest verknoteten Handtüchern an das reich verzierte Kopfteil des Bettes gefesselt. Er trug die gestärkte Kutte eines Kardinalsgeistlichen und hatte einen boshaft-spöttischen Gesichtsausdruck.
    
  Paola wiederholte langsam Webers Mantra: "Wenn du einen Künstler kennenlernen willst, sieh dir seine Werke an." Ich wiederholte es immer und immer wieder, bewegte dabei stumm meine Lippen, bis die Bedeutung der Worte aus seinem Mund verschwand, aber ich prägte sie ihm ein, wie jemand, der einen Stempel mit Tinte befeuchtet und ihn nach dem Stempeln auf Papier trocknen lässt.
    
    
  "Los geht"s", sagte Paola laut und holte ein Diktiergerät aus ihrer Tasche.
    
  Der Junge warf ihr nicht einmal einen Blick zu. Ich hingegen war damit beschäftigt, Spuren zu sammeln und die Blutspritzermuster zu studieren.
    
  Die Gerichtsmedizinerin begann, wie schon beim letzten Mal in Quantico, in ihr Diktiergerät zu diktieren. Beobachtung und unmittelbare Schlussfolgerung. Die daraus resultierenden Erkenntnisse ähneln stark einer Rekonstruktion des Geschehensablaufs.
    
    
  Beobachtung
    
  Schlussfolgerung: Karoski wurde mithilfe des Algún-Tricks in den Roomón eingeführt und schnell und stillschweigend zum Opfer gemacht.
    
  Beobachtung: Auf dem Boden liegt ein blutiges Handtuch. Sie sieht zusammengekauert aus.
    
  Schlussfolgerung: Aller Wahrscheinlichkeit nach führte Karoski einen Knebel ein und entfernte ihn wieder, um seine grausame Tat des Herausschneidens der Zunge fortzusetzen.
    
  Sehen Sie: Wir hören einen Alarm.
    
  Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass Cardoso, nachdem ihm der Knebel entfernt worden war, einen Weg fand zu schreien. Dann schnitt er sich als Letztes die Zunge ab, bevor er sich den Augen zuwandte.
    
  Feststellung: Beide Augen sind unversehrt, die Kehle ist aufgeschlitzt. Der Schnitt ist unregelmäßig und blutüberströmt. Die Hände sind unversehrt.
    
  Das Karoski-Ritual beginnt in diesem Fall mit der Folterung des Leichnams, gefolgt von der rituellen Sektion. Zunge, Augen und Hände werden entfernt.
    
    
  Paola öffnete die Schlafzimmertür und bat Fowler, kurz hereinzukommen. Fowler verzog das Gesicht, als er den furchterregenden Hintern sah, wandte den Blick aber nicht ab. Die Gerichtsmedizinerin spulte das Tonband zurück, und beide hörten sich den letzten Eintrag an.
    
  - Glauben Sie, dass die Reihenfolge, in der Sie das Ritual durchführen, eine besondere Bedeutung hat?
    
  "Ich weiß nicht, Doktor. Die Sprache ist das Wichtigste an einem Priester: Die Sakramente werden mit seiner Stimme gefeiert. Die Augen bestimmen in keiner Weise den priesterlichen Dienst, da sie an keiner seiner Funktionen direkt beteiligt sind. Die Hände hingegen schon, und sie sind heilig, da sie während der Eucharistie den Leib Christi berühren. Die Hände eines Priesters sind immer heilig, was auch immer er tut."
    
  -Wie meinst du das?
    
  "Selbst ein Monster wie Karoski hat noch heilige Hände. Ihre Fähigkeit, Sakramente zu spenden, ist der von Heiligen und reinen Priestern ebenbürtig. Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand, aber es ist wahr."
    
  Paola schauderte. Der Gedanke, dass ein so jämmerliches Geschöpf direkten Kontakt zu Gott haben konnte, erschien ihr abstoßend und entsetzlich. Sie versuchte sich daran zu erinnern, dass dies einer der Gründe gewesen war, warum sie Gott abgeschworen und sich selbst als unerträgliche Tyrannin in ihrem eigenen himmlischen Firmament betrachtet hatte. Doch die Auseinandersetzung mit dem Grauen, mit der Verderbtheit von Leuten wie Caroschi, die doch angeblich Gottes Werk verrichteten, hatte eine ganz andere Wirkung auf sie. Cintió hatte sie verraten, was sie - sie - zwangsläufig spüren musste, und für einen kurzen Moment versetzte sie sich in ihre Lage. "Erinnere mich daran, Maurizio, dass ich so etwas nie tun würde, und bedauere, dass ich nicht da war, um zu versuchen, diesem verdammten Wahnsinn einen Sinn zu geben."
    
  Mein Gott.
    
  Fowler zuckte mit den Achseln, unsicher, was er sagen sollte. Ich drehte mich um und verließ den Raum. Paola schaltete das Aufnahmegerät wieder ein.
    
    
  Beobachtung: Víctimaá trägt einen offenen Talar-Anzug. Darunter trägt er etwas, das einem Tanktop ähnelt, und... Das Hemd ist zerrissen, vermutlich durch einen scharfen Gegenstand. Mehrere Schnitte auf seiner Brust bilden die Worte "EGO, I JUSTIFY YOU".
    
  Das Carosca-Ritual beginnt in diesem Fall mit der Folter des Körpers, gefolgt von der rituellen Zerstückelung. Zunge, Augen und Hände werden entfernt. Die Worte "Ich gehe, um dich zu rechtfertigen" finden sich auch in Portini-Segas-Szenen auf Fotografien, die von Dante und Robaira präsentiert wurden. Die Abweichung in diesem Fall ist eine zusätzliche.
    
  Beobachtung: An den Wänden befinden sich zahlreiche Spritzer und Flecken. Außerdem ist in der Nähe des Bettes ein teilweiser Fußabdruck auf dem Boden zu sehen. Es sieht aus wie Blut.
    
  Fazit: Alles an diesem Tatort ist völlig überflüssig. Wir können nicht schlussfolgern, dass sich sein Stil weiterentwickelt oder er sich der Umgebung angepasst hat. Seine Vorgehensweise ist seltsam, und...
    
    
  Der Gerichtsmediziner drückt den ""-Knopf des Bots. Alle waren an etwas gewöhnt, das nicht passte, an etwas, das furchtbar falsch war.
    
  - Wie geht es Ihnen, Herr Regisseur?
    
  "Schlimm. Wirklich schlimm. Ich habe Fingerabdrücke von der Tür, dem Nachttisch und dem Kopfteil des Bettes genommen, aber nicht viel gefunden. Es gibt mehrere Fingerabdruckgruppen, aber ich glaube, eine davon stimmt mit Karoskis überein."
    
  Ich hielt damals eine Plastikmine in der Hand, auf der ein ziemlich deutlicher Fingerabdruck zu sehen war - der, den ich gerade vom Kopfteil des Bettes abgenommen hatte. Er verglich ihn im Licht mit dem Abdruck, den Fowler von Karoskis Karte geliefert hatte (den Fowler selbst nach seiner Flucht in seiner Zelle angefertigt hatte, da die Abnahme von Fingerabdrücken bei Patienten im St. Matthew's Hospital nicht routinemäßig durchgeführt wurde).
    
  -Dies ist ein erster Eindruck, aber ich glaube, es gibt einige Ähnlichkeiten. Diese aufsteigende Gabelung ist recht charakteristisch für ística und ésta cola deltica... -decíBoi, más für sí ist dasselbe wie für Paola.
    
  Paola wusste, dass Boys Aussage, ein Fingerabdruck sei gut, der Wahrheit entsprach. Boy war als Spezialist für Fingerabdrücke und Grafiker berühmt geworden. Ich habe alles miterlebt - ich bedauere es -, den langsamen Verfall, der aus einem angesehenen Gerichtsmediziner ein Grabmal machte.
    
  Ist das für mich in Ordnung, Doktor?
    
  - Nichts. Keine Haare, keine Fasern, nichts. Dieser Mann ist wirklich ein Geist. Hätte er angefangen, Handschuhe anzuziehen, hätte ich gedacht, Cardoso hätte ihn mit einem Ritualexpander getötet.
    
  "Dieses kaputte Rohr hat nichts Spirituelles an sich, Doktor."
    
  Der Direktor betrachtete das CAD-System mit unverhohlener Bewunderung, vielleicht dachte er über die Worte seines Untergebenen nach oder zog seine eigenen Schlüsse. Schließlich antwortete ich ihm:
    
  - Nein, nicht wirklich, wirklich nicht.
    
    
  Paola verließ den Raum und überließ Boy seiner Arbeit. "Aber sei gewiss, dass ich so gut wie nichts finden werde." Karoschi war ungemein clever und hatte trotz seiner Eile nichts zurückgelassen. Ein nagender Verdacht lastete auf ihm. Sieh dich um. Camilo Sirin traf ein, begleitet von einem anderen Mann. Er war klein, hager und schmächtig, aber mit einem Blick so scharf wie seine Nase. Sirin trat an ihn heran und stellte ihn als Magistrat Gianluigi Varone, den obersten Richter des Vatikans, vor. Paola mochte diesen Mann nicht: Er ähnelte einem grauen, massigen Geier im Anzug.
    
  Der Richter entwarf ein Protokoll für die Entfernung des Katakombens, die unter strengster Geheimhaltung durchgeführt wurde. Die beiden Agenten des Wachkorps, die zuvor die Tür bewacht hatten, wechselten ihre Kleidung. Beide trugen schwarze Overalls und Latexhandschuhe. Sie sollten den Raum reinigen und versiegeln, nachdem Boy und sein Team gegangen waren. Fowler saß auf einer kleinen Bank am Ende des Korridors und las leise in seinem Tagebuch. Als Paola sah, dass Sirin und der Magistrat frei waren, ging sie auf den Priester zu und setzte sich neben ihn. Fowler konnte sich des Gefühls nicht erwehren.
    
  -Nun, Doktor. Jetzt kennen Sie mehrere Kardinäle.
    
  Paola lachte traurig. Alles hatte sich in nur sechsunddreißig Stunden verändert, seit sie beide gemeinsam vor der Tür des Flugbegleiterbüros gewartet hatten. Doch sie waren noch weit davon entfernt, Karoski einzuholen.
    
  "Ich glaubte, dass schwarze Witze das Vorrecht von Superintendent Dante seien."
    
  - Oh, und das stimmt, Dottora. Ich besuche ihn.
    
  Paola öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie wollte Fowler erzählen, was ihr bezüglich des Karoska-Rituals durch den Kopf ging, aber er wusste nicht, dass sie sich deswegen so große Sorgen machte. Ich beschloss, abzuwarten, bis ich genug darüber nachgedacht hatte.
    
  Da Paola mich von Zeit zu Zeit verbittert und verspätet kontrollieren wird, wäre diese Entscheidung ein großer Fehler.
    
    
    
    Domus Sancta Marthae
    
  Piazza Santa Marta, 1
    
    Donnerstag, 7. April 2005, 16:31 Uhr.
    
    
    
  Dante und Paola bestiegen den Wagen, der nach Tra-Boy fuhr. Der Direktor ließ sie in der Leichenhalle zurück, bevor er sich auf den Weg zur UACV machte, um in jedem Fall die Tatwaffe zu ermitteln. Fowler wollte gerade in sein Zimmer im Obergeschoss gehen, als ihn eine Stimme von den Türen der Domus Sancta Marthae rief.
    
  -¡Padre Fowler!
    
  Der Priester drehte sich um. Es war Kardinal Shaw. Er gab ein Zeichen, und Fowler trat näher.
    
  Eure Eminenz. Ich hoffe, es geht ihm besser.
    
  Der Kardinal lächelte sie liebevoll an.
    
  "Wir nehmen die Prüfungen, die der Herr uns schickt, demütig an. Lieber Fowler, ich möchte Ihnen persönlich für Ihre rechtzeitige Rettung danken."
    
  - Eure Gnaden, als wir ankamen, waren Sie bereits in Sicherheit.
    
  Wer weiß, was ich an jenem Montag hätte tun können, wäre ich zurückgekehrt? Ich bin Ihnen sehr dankbar. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass die Kurie erfährt, welch ein guter Soldat Sie sind.
    
  - Das ist wirklich nicht nötig, Eure Eminenz.
    
  "Mein Kind, man weiß nie, welchen Gefallen man mal brauchen könnte. Irgendjemand wird alles ruinieren. Es ist wichtig, sich Pluspunkte zu sichern, das weißt du doch."
    
    Fowler le miró, undurchschaubar.
    
  " Natürlich , mein Sohn , ich ... ", fuhr Shaw fort. "Die Dankbarkeit der Kurie kann vollkommen sein. Wir könnten sogar hier im Vatikan unsere Anwesenheit kundtun. Camilo Sirin scheint seine Reaktionsfähigkeit zu verlieren. Vielleicht wird sein Platz von jemandem eingenommen, der dafür sorgt, dass der Skandal vollständig beseitigt wird. Dass er verschwindet."
    
  Fowler begann es zu begreifen.
    
  -Seine Eminenz bittet mich, auf den Algúndossier zu verzichten?
    
  Der Kardinal machte eine ziemlich kindische und unangebrachte Geste der Komplizenschaft, insbesondere angesichts des Gesprächsthemas. "Vertrau mir, du bekommst, was du willst."
    
  "Ganz genau, mein Kind, ganz genau. Gläubige sollten einander nicht beleidigen."
    
  Der Priester lächelte hämisch.
    
  -Wow, das ist ein Blake-Zitat 31. Jemás había ilií lässt den Kardinal "Die Gleichnisse der Hölle" lesen.
    
  Die Stimme des Brauers und die Stärke stiegen an. Ihm gefiel der Ton des Priesters nicht.
    
  - Die Wege des Herrn sind unergründlich.
    
  "Die Wege des Herrn sind das Gegenteil der Wege des Feindes, Eure Eminenz. Das habe ich in der Schule von meinen Eltern gelernt. Und es ist nach wie vor gültig."
    
  - Die Instrumente eines Chirurgen werden manchmal schmutzig. Und du bist wie ein gut geschärftes Skalpell, mein Sohn. Sagen wir, dass sé für más of one interés in éste case steht.
    
  "Ich bin ein einfacher Priester", sagte Fowler und tat so, als freue er sich sehr darüber.
    
  "Ich habe keinen Zweifel. Aber in bestimmten Kreisen spricht man über seine... Fähigkeiten."
    
  - Und diese Artikel erwähnen auch nicht mein Problem mit den Behörden, Eure Eminenz?
    
  "Das trifft auch teilweise zu. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass du zum gegebenen Zeitpunkt angemessen handeln wirst. Lass den guten Namen deiner Kirche nicht aus den Schlagzeilen verschwinden, mein Sohn."
    
  Der Priester antwortete mit kaltem, verächtlichem Schweigen. Der Kardinal klopfte ihm herablassend auf das Skapulier seiner makellosen Soutane und senkte die Stimme zu einem Flüstern.
    
  - In unserer Zeit, wo alles vorbei ist, wer hat schon ein Geheimnis außer einem anderen? Vielleicht, wenn sein Name in anderen Artikeln aufgetaucht wäre. Zum Beispiel in den Zitaten aus Sant"Uffizio. Eines Tages, Messe.
    
  Und wortlos drehte er sich um und betrat wieder die Domus Sancta Marthae. Fowler stieg in den Wagen, wo seine Kameraden mit laufendem Motor auf ihn warteten.
    
  "Alles in Ordnung, Vater?" Das ist keine gute Stimmung - er interessiert sich für Dikanti.
    
  -Absolut richtig, Herr Doktor.
    
  Paola musterte ihn aufmerksam. Die Lüge war offensichtlich: Fowler war kreidebleich. Ich war damals noch nicht einmal zehn Jahre alt und sah älter aus.
    
    - Was hat Cardenal Shaw gefragt?
    
    Fowler versucht Paola ein unbeschwertes Lächeln aufzusetzen, was die Sache nur noch schlimmer macht.
    
  - Eure Eminenz? Ach, nichts. Dann gib die Erinnerungen doch einfach einem Freund, den du kennst.
    
    
    
  Städtische Leichenhalle
    
  Freitag, 8. April 2005, 1:25 Uhr
    
    
    
  - Es ist bei uns zur Gewohnheit geworden, sie früh am Morgen zu empfangen, Dottora Dikanti.
    
  Paola wiederholt etwas zwischen Abkürzung und Abwesenheit. Fowler, Dante und der Gerichtsmediziner standen auf der einen Seite des Obduktionstisches. Sie stand ihnen gegenüber. Alle vier trugen die für diesen Ort typischen blauen Kittel und Latexhandschuhe. Die dritte Begegnung mit dem Tuzi innerhalb so kurzer Zeit erinnerte ihn an die junge Frau und was er ihr angetan hatte. Irgendetwas mit der Wiederholung der Hölle. Darum geht es in Mo: um Wiederholung. Sie mögen die Hölle damals nicht vor Augen gehabt haben, aber sie betrachteten sicherlich die Beweise für ihre Existenz.
    
  Der Anblick Cardosos, der auf dem Tisch lag, erfüllte mich mit Furcht. Von dem Blut, das ihn stundenlang bedeckt hatte, war seine Wunde weiß und wies schreckliche, vertrocknete Wunden auf. Der Kardinal war ein hagerer Mann, und nach dem Blutvergießen wirkte sein Gesicht grimmig und anklagend.
    
  "Was wissen wir über él, Dante?", fragte Dikanti.
    
  Der Schulrat hatte ein kleines Notizbuch dabei, das er immer in seiner Jackentasche trug.
    
  Geraldo Claudio Cardoso, geboren 1934, seit 2001 Kardinal, war ein bekannter Verfechter der Arbeiterrechte und setzte sich stets für die Armen und Obdachlosen ein. Bevor er Kardinal wurde, erwarb er sich im Bistum San Joseph hohes Ansehen. In Suramea Rica gibt es viele bedeutende Fabriken - hier, in Dante, sind zwei weltbekannte Automarken ansässig. Er vermittelte stets zwischen Arbeitern und Unternehmen. Die Arbeiter liebten ihn und nannten ihn den "Bischof der Gewerkschaften". Er war Mitglied mehrerer Kongregationen der Römischen Kurie.
    
  Wieder schwieg selbst der Leichenbeschauer. Als er Robaira nackt und lächelnd sah, verspottete er Pontieros Zügellosigkeit. Wenige Stunden später lag ein verhöhnter Mann auf seinem Schreibtisch. Und im nächsten Augenblick ein weiterer der Purpurroten. Ein Mann, der, zumindest auf dem Papier, viel Gutes getan hatte. Er fragte sich, ob es Übereinstimmungen zwischen der offiziellen und der inoffiziellen Biografie geben würde, doch schließlich war es Fowler, der die Frage an Dante richtete.
    
  -Herr Schulamt, gibt es außer einer Pressemitteilung noch etwas anderes?
    
  - Pater Fowler, irren Sie sich nicht, wenn Sie denken, dass alle Angehörigen unserer Heiligen Mutter Kirche ein Doppelleben führen.
    
    -Procuraré recordarlo -Fowler hat den Rostro starr gehalten-. Jetzt antworten Sie mir bitte.
    
  Dante tat so, als ob er nachdachte, während ich seinen Hals abwechselnd links und rechts drückte - seine typische Geste. Paola hatte das Gefühl, sie wüsste entweder die Antwort oder bereitete sich auf die Frage vor.
    
  "Ich habe ein paar Anrufe getätigt. Fast alle bestätigen die offizielle Version. Er hatte ein paar kleinere Ausrutscher, die offenbar keine Folgen hatten. Ich war in meiner Jugend, bevor ich Priester wurde, cannabisabhängig. Er hatte während seines Studiums einige fragwürdige politische Verbindungen, aber nichts Ungewöhnliches. Selbst als Kardinal traf er sich oft mit einigen seiner Kurienkollegen, da er ein Anhänger einer in der Kurie wenig bekannten Gruppe war: den Charismatikern. Alles in allem war er ein guter Kerl."
    
  "Wie die anderen beiden", sagte Fowler.
    
  - Es sieht so aus.
    
  "Was können Sie uns über die Mordwaffe sagen, Doktor?", hakte Paola nach.
    
  Der Gerichtsmediziner übte Druck auf den Hals des Opfers aus und schnitt ihr dann in die Brust.
    
  "Es ist ein scharfer Gegenstand mit glatten Kanten, wahrscheinlich kein besonders großes Küchenmesser, aber es ist sehr scharf. In früheren Fällen blieb ich bei meiner Meinung, aber nachdem ich die Schnittspuren gesehen habe, glaube ich, dass wir alle drei Male dasselbe Werkzeug benutzt haben."
    
  Paola Tomó, bitte beachten Sie dies.
    
  - Dottora -dijo Fowler-. Glauben Sie, dass Karoski während Wojtylas Beerdigung etwas unternehmen wird?
    
  -Keine Ahnung. Die Sicherheitsvorkehrungen rund um die Domus Sancta Marthae werden zweifellos verschärft werden...
    
  "Natürlich", prahlt Dante, "die sind so gut gesichert, dass ich ohne einen Blick auf die Uhr nicht einmal wüsste, aus welchem Haus sie kommen."
    
  -...obwohl die Sicherheitsvorkehrungen zuvor hoch waren und wenig Sinn ergaben. Karoski bewies bemerkenswertes Können und unglaublichen Mut. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, ob es sich lohnt, es zu versuchen, obwohl ich es bezweifle. In hundert Fällen konnte er sein Ritual nicht vollenden oder uns eine blutige Botschaft hinterlassen, wie in den beiden anderen Fällen.
    
  "Das heißt, wir haben die Spur verloren", beklagte sich Fowler.
    
  -Ja, aber gleichzeitig sollte ihn diese Situation nervös und angreifbar machen. Aber bei éste cabró weiß man nie.
    
  "Wir müssen sehr wachsam sein, um die Kardinäle zu schützen", sagte Dante.
    
  "Nicht nur um sie zu beschützen, sondern auch um Ihn zu suchen. Selbst wenn ich nichts unternehme, soll er uns nur ansehen und lachen. Er kann mit meinem Hals spielen."
    
    
    
  Petersplatz
    
  Freitag, 8. April 2005, 10:15 Uhr.
    
    
    
  Die Beerdigung von Johannes Paul II. war von einer ermüdenden Normalität geprägt. Normal kann nur die Beerdigung einer religiösen Persönlichkeit sein, an der einige der wichtigsten Staatsoberhäupter und gekrönten Häupter der Welt teilnahmen - einer Persönlichkeit, deren Andenken mehr als eine Milliarde Menschen prägt. Doch sie waren nicht die Einzigen. Hunderttausende Menschen drängten sich auf dem Petersplatz, und jedes einzelne Gesicht spiegelte die Geschichte wider, die in seinen Augen wie ein Feuer im Kamin loderte. Einige dieser Gesichter werden jedoch in unserer Geschichte von enormer Bedeutung sein.
    
    
  Einer von ihnen war Andrea Otero. Er hatte Robair nirgends gesehen. Die Journalistin entdeckte drei Dinge auf dem Dach, wo sie und ihre Kollegen von Televisión Alemán saßen. Erstens: Wenn man durch ein Prisma schaut, bekommt man nach einer halben Stunde furchtbare Kopfschmerzen. Zweitens: Die Hinterköpfe aller Kardinäle sehen gleich aus. Und drei - sagen wir, einhundertzwölf violette - sitzen auf diesen Stühlen. Ich habe das mehrmals überprüft. Und die Wählerliste, die Sie auf Ihrem Schoß haben, gibt an, dass es einhundertfünfzehn sein sollten.
    
    
  Camilo Sirin hätte nichts empfunden, wenn er gewusst hätte, was Andrea Otero dachte, doch er hatte seine eigenen (und ernsten) Probleme. Victor Karoschi, ein Serienmörder von Kardinälen, war eines davon. Obwohl Karoschi Sirin während der Beerdigung keine Schwierigkeiten bereitete, wurde er von einem unbekannten Angreifer erschossen, der mitten in den Valentinstagsfeierlichkeiten in das vatikanische Büro eingedrungen war. Die Trauer, die Sirin beim Gedanken an die Anschläge vom 11. September für einen Moment überkam, war nicht weniger intensiv als die der Piloten der drei Kampfjets, die ihn verfolgt hatten. Glücklicherweise kam wenige Minuten später Erleichterung, als sich herausstellte, dass der Pilot des unbekannten Flugzeugs ein Mazedonier war, der sich geirrt hatte. Diese Episode brachte Sirins Nerven in eine Zwickmühle. Einer seiner engsten Untergebenen bemerkte später, dass es das erste Mal seit fünfzehn seiner Befehle gewesen sei, dass Sirin seine Stimme erhoben habe.
    
    
  Ein weiterer Untergebener Sirins, Fabio Dante, war unter den Ersten. Verdammt, denn die Leute bekamen Angst, als der Trauerzug mit Papst Wojtyła vorbeizog, und viele riefen ihm ins Ohr: "Heiliger Subito! 33!" Ich versuchte verzweifelt, über die Plakate und Köpfe hinwegzuspähen und nach dem Karmelitermönch mit dem Vollbart Ausschau zu halten. Nicht, dass ich froh war, dass die Beerdigung vorbei war, aber fast.
    
    
  Pater Fowler war einer von vielen Priestern, die den Gemeindemitgliedern die Kommunion austeilten, und einmal glaubte ich es, als ich Karoskas Antlitz im Gesicht des Mannes sah, der im Begriff war, den Leib Christi aus seinen Händen zu empfangen. Während Hunderte von Menschen vor ihm herzogen, um Gott zu empfangen, betete Fowler aus zwei Gründen: zum einen wegen des Grundes, warum er nach Rom gekommen war, und zum anderen, um den Allmächtigen um Erleuchtung und Kraft angesichts dessen zu bitten, was er in der Ewigen Stadt gesehen hatte.
    
    
  Paola ahnte nicht, dass Fowler den Schöpfer um Hilfe bat, hauptsächlich ihretwegen, und beobachtete von den Stufen des Petersdoms aus aufmerksam die Gesichter der Menge. Er saß in einer Ecke, betete aber nicht. Das tat er nie. Auch betrachtete er die Menschen nicht besonders aufmerksam, denn nach einer Weile erschienen ihm alle Gesichter gleich. Ich konnte nur noch über die Motive des Monsters grübeln.
    
    
  Dr. Boy sitzt mit Angelo, dem forensischen Wissenschaftler der UACV, vor mehreren Fernsehmonitoren. Sie sehen live die himmlischen Hügel, die sich einst über dem Platz erhoben, bevor sie für eine Reality-TV-Show vorgesehen waren. Jeder von ihnen hat seine eigene Jagd veranstaltet, was ihnen Kopfschmerzen bereitet hat, ähnlich wie Andrea Otero. Von "dem Ingenieur", wie ich ihn in seiner seligen Unwissenheit unter dem Spitznamen Angelo verfolgte, ist nichts mehr übrig.
    
    
  Auf der Esplanade kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Agenten des Secret Service von George Bush und Mitgliedern der Bürgerwehr, als diese den Passanten auf dem Platz den Durchgang verweigerten. Selbst wenn diese Behauptung stimmt, hätte ich mir gewünscht, dass die Agenten des Secret Service sich in dieser Situation herausgehalten hätten, wenn ich ihre Arbeit verstanden hätte. Niemand in Ninja hatte ihnen jemals so kategorisch die Erlaubnis verweigert. Den Bürgerwehren wurde der Zutritt verweigert. Und egal, wie sehr sie darauf bestanden, sie blieben draußen.
    
    
  Victor Karoski nahm mit tiefer Andacht an der Beerdigung von Johannes Paul II. teil und betete laut. An den passenden Stellen sang er mit schöner, tiefer Stimme. Vertiós Gesichtsausdruck war sehr aufrichtig. Er schmiedete Zukunftspläne.
    
  Niemand beachtete ól.
    
    
    
  Pressezentrum des Vatikans
    
  Freitag, 8. April 2005, 18:25 Uhr.
    
    
    
  Andrea Otero erschien mit heraushängender Zunge zur Pressekonferenz. Nicht nur wegen der Hitze, sondern auch, weil er den Pressewagen am Hotel stehen gelassen hatte und den verdutzten Taxifahrer bitten musste, umzudrehen und ihn abzuholen. Das Missgeschick war nicht weiter schlimm, da ich das Hotel bereits eine Stunde vor dem Mittagessen verlassen hatte. Ich wollte früher ankommen, um mit dem Vatikansprecher Joaquín Balcells über Kardinal Robairas "Schwitzen" zu sprechen. Alle seine Versuche, ihn zu erreichen, waren erfolglos geblieben.
    
  Das Pressezentrum befand sich in einem Anbau des großen Auditoriums, das während der Amtszeit von Johannes Paul II. erbaut worden war. Das moderne Gebäude, das für über sechstausend Personen ausgelegt war, war stets bis auf den letzten Platz gefüllt und diente als Audienzsaal des Heiligen Vaters. Der Eingang führte direkt zur Straße und lag in der Nähe des Uffizienpalastes.
    
  Der Saal im Sí war für 185 Personen ausgelegt. Andrea dachte, sie würde einen guten Platz finden, wenn sie 15 Minuten früher da wäre, aber es war klar, dass ich, einer der 300 Journalisten, dieselbe Idee hatte. Es war daher nicht verwunderlich, dass der Saal trotzdem klein war. 3.042 Medienvertreter aus 90 Ländern waren akkreditiert, um über die Beerdigung und das Bestattungsinstitut zu berichten, die an diesem Tag stattfanden. Mehr als zwei Milliarden Menschen, die Hälfte davon Katzen, wurden noch in derselben Nacht in die Geborgenheit der Wohnzimmer ihres verstorbenen Papstes entlassen. Und hier bin ich. Ich, Andrea Otero Ha - wenn ihr sie doch nur jetzt sehen könntet, ihre Kommilitonen aus dem Journalismus-Studiengang.
    
  Ich war auf einer Pressekonferenz, wo die Vorgänge in der Cínclave erklärt werden sollten, aber es gab keinen Sitzplatz. Er lehnte sich so gut es ging gegen die Tür. Es war der einzige Weg hinein, denn wenn Balcells eintraf, konnte ich ihn ansprechen.
    
  Erzähle ruhig deine Notizen über den Pressesprecher. Er war ein Gentleman, der zum Journalisten geworden war. Ein Numerarier des Opus Dei, geboren in Cartagena und, wie man hört, ein seriöser und sehr anständiger Mann. Er stand kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag, und inoffizielle Quellen (denen Andrea nur schwer traut) loben ihn als eine der einflussreichsten Personen im Vatikan. Er sollte Informationen vom Papst persönlich entgegennehmen und sie dem großen Papst präsentieren. Wenn man etwas als geheim einstuft, bleibt es geheim, wie man es will. Bei den Bulkells gibt es keine Leaks. Sein Lebenslauf war beeindruckend. Andrea Leios Auszeichnungen und Medaillen, die ihr verliehen wurden. Kommandantin von diesem, Kommandantin von jenem, Großkreuz von jenem... Die Insignien füllten zwei Seiten, die Auszeichnung die erste. Es sieht nicht so aus, als würde ich mich zum Beißen verleiten lassen.
    
  Aber ich habe verdammt nochmal starke Zähne.
    
  Sie war gerade damit beschäftigt, ihre eigenen Gedanken über den immer lauter werdenden Stimmenlärm hinweg zu hören, als der Raum in einer furchtbaren Kakophonie explodierte.
    
  Zuerst war da nur einer, wie ein einzelner Tropfen, der einen Nieselregen ankündigte. Dann drei oder vier. Danach war laute Musik mit verschiedenen Klängen und Tönen zu hören.
    
  Es schien, als würden Dutzende widerlicher Geräusche gleichzeitig ertönen. Ein Penis hält insgesamt vierzig Sekunden. Alle Journalisten blickten von ihren Bildschirmen auf und schüttelten die Köpfe. Mehrere laute Beschwerden waren zu hören.
    
  "Leute, ich bin eine Viertelstunde zu spät. Das gibt uns keine Zeit mehr zum Bearbeiten."
    
  Andrea hörte ein paar Meter entfernt eine spanische Stimme. Sie stupste sie an und stellte fest, dass es ein Mädchen mit gebräunter Haut und zarten Gesichtszügen war. An ihrem Akzent erkannte er, dass sie Mexikanerin war.
    
  -Hallo, was ist los? Ich bin Andrea Otero von El Globo. Hey, können Sie mir sagen, warum mir all diese Schimpfwörter auf einmal herausgerutscht sind?
    
  Die Mexikanerin lächelt und zeigt mit ihrem Handy.
    
  Schaut euch die Pressemitteilung des Vatikans an. Die schicken uns jedes Mal eine SMS, wenn es wichtige Neuigkeiten gibt. Das hier ist die Moderna-Pressemitteilung, von der sie uns erzählt haben, und sie gehört zu den meistgelesenen Artikeln weltweit. Das Einzige, was nervt, ist, dass es nervt, wenn wir alle zusammen sind. Das ist die letzte Warnung, dass Schwester Balcells verschoben wird.
    
  Andrea fand die Maßnahme klug. Die Informationsverwaltung für Tausende von Journalisten kann nicht einfach sein.
    
  -Sag mir nicht, du hättest keinen Mobilfunkvertrag abgeschlossen - das ist extrañó Mexican.
    
  - Nun ja... nein, nicht von Gott. Niemand hat mich vor irgendetwas gewarnt.
    
  - Keine Sorge. Siehst du das Mädchen aus Ahí?
    
  - Blond?
    
  "Nein, der Mann in der grauen Jacke mit der Mappe in der Hand. Gehen Sie zu ihr und sagen Sie ihr, sie soll Sie auf ihrem Handy registrieren. Ich trage Sie in weniger als einer halben Stunde in deren Datenbank ein."
    
  Andrea tat genau das. Ich ging auf das Mädchen zu und gab ihr alle ihre Daten. Das Mädchen bat ihn um seine Kreditkarte und trug sein Kennzeichen in ihr elektronisches Tagebuch ein.
    
  "Es ist an das Kraftwerk angeschlossen", sagte er und deutete mit einem müden Lächeln auf den Techniker. "In welcher Sprache möchten Sie Nachrichten aus dem Vatikan erhalten?"
    
  -In Spainñpr.
    
  - Traditionelles Spanisch oder spanische Varianten des Englischen?
    
  "Fürs Leben", sagte er auf Spanisch.
    
  - Skuzi? - Das ist das Extrañó andere, in perfektem (und bärenhaftem) Italienisch.
    
  -Entschuldigen Sie. Auf Spanisch, altmodisch, bitte.
    
  - Ich werde in etwa fünfzig Minuten vom Dienst entlassen. Falls Sie benötigen, dass ich diesen Ausdruck unterschreibe, senden wir Ihnen die Informationen freundlicherweise zu.
    
  Die Journalistin kritzelte ihren Namen unten auf das Blatt Papier, das das Mädchen aus ihrer Mappe gezogen hatte, warf nur einen flüchtigen Blick darauf, verabschiedete sich und bedankte sich.
    
  Ich kehrte zu seiner Website zurück und versuchte, etwas über Balkell zu lesen, doch da machte das Gerücht die Runde, ein Vertreter sei eingetroffen. Andrea wandte sich wieder der Eingangstür zu, aber der Retter kam durch eine kleine Tür herein, die hinter der Plattform verborgen war, auf die er nun geklettert war. Mit einer ruhigen Geste tat er so, als würde er seine Notizen durchsehen, um den Kameraleuten von Cá Mara Zeit zu geben, ihn ins Bild zu bringen und den Journalisten, Platz zu nehmen.
    
  Andrea verfluchte ihr Pech und schlich zum Rednerpult, wo die Pressesprecherin hinter dem Pult wartete. Ich schaffte es gerade noch, sie zu erreichen. Während sich die anderen Poñeros setzten, ging Andrea auf Bulkell zu.
    
  - Etoñor Balcells, ich bin Andrea Otero von Globo. Ich habe die ganze Woche versucht, ihn zu erreichen, aber leider ohne Erfolg...
    
  -Nachher.
    
  Die Pressesprecherin beachtete sie nicht einmal.
    
  - Aber falls Sie, Balkells, das nicht verstehen, muss ich einige Informationen vergleichen...
    
  - Ich sagte ihr, dass sie danach sterben würde. Fangen wir an.
    
  Andrea war in Nita. Als sie zu ihm aufblickte, geriet sie in Wut. Sie war es nur allzu gewohnt, Männer mit dem grellen Licht ihrer beiden blauen Scheinwerfer zu bezwingen.
    
  "Aber Buñor Balcells, ich erinnere Sie daran, dass ich für eine große spanische Tageszeitung arbeite ..." Die Journalistin versuchte, sich Vorteile zu verschaffen, indem sie ihren Kollegen, der das spanische Medium vertrat, ins Spiel brachte, aber ich ließ mich nicht darauf ein. Gar nicht. Der andere sah sie zum ersten Mal an, und in seinen Augen lag Eis.
    
  -Wann hast du mir deinen Namen gesagt?
    
  -Andrea Otero.
    
  - Wie so?
    
  -Aus aller Welt.
    
  -¿Y dónde está Paloma?
    
  Paloma, die offizielle Korrespondentin für Vatikanangelegenheiten. Diejenige, die - rein zufällig - ein paar Kilometer von Spanien entfernt einen kleinen Autounfall hatte, nur um Andrea ihren Platz zu überlassen. Schade, dass Bulkels nach ihr gefragt hat, wirklich schade.
    
  -Nun ja... er ist nicht gekommen, er hatte ein Problem...
    
  Balkells runzelte die Stirn, denn nur der Älteste der Numeraria des Opus Dei ist körperlich in der Lage, die Stirn zu runzeln. Andrea wich überrascht etwas zurück.
    
  "Junge Dame, bitte achten Sie auf die Leute, die Ihnen unsympathisch sind", sagte Balkells und ging auf die dicht gedrängten Stuhlreihen zu. Das sind seine Kollegen von CNN, BBC, Reuters und Hunderten anderer Medien. Einige von ihnen waren schon akkreditierte Journalisten im Vatikan, bevor Sie überhaupt geboren waren. Und sie alle warten auf den Beginn der Pressekonferenz. Tun Sie mir einen Gefallen und nehmen Sie jetzt Platz.
    
  Andrea wandte sich verlegen ab, die Wangen eingefallen. Die Reporter in der ersten Reihe lächelten nur. Manche von ihnen wirkten so alt wie die Bernini-Kolonnade. Als er versuchte, nach hinten in den Raum zurückzukehren, wo er den Koffer mit seinem Computer gelassen hatte, hörte er Bulkels, wie er sich auf Italienisch mit jemandem in der ersten Reihe unterhielt. Hinter ihm ertönte ein leises, fast unmenschliches Lachen. Sie wusste genau, dass der Witz auf ihre Kosten ging. Blicke wandten sich ihr zu, und Andrea errötete bis über beide Ohren. Mit gesenktem Kopf und ausgestreckten Armen versuchte ich, mich durch den schmalen Gang zur Tür zu drängen, und fühlte mich wie in einem Meer von Körpern. Als ich endlich seinen Platz erreichte, würde er nicht einfach seinen Port nehmen und sich umdrehen, sondern aus der Tür schlüpfen. Das Mädchen, das die Daten genommen hatte, hielt kurz ihre Hand fest und warnte:
    
  Denken Sie daran: Wenn Sie den Raum verlassen, können Sie erst nach Ende der Pressekonferenz wieder hinein. Die Tür wird sich schließen. Sie kennen die Regeln.
    
  Genau wie im Theater, dachte Andrea. Exakt wie im Theater.
    
  Er befreite sich aus dem Griff des Mädchens und ging wortlos. Die Tür schloss sich hinter ihr mit einem Geräusch, das Andreas Angst zwar nicht vertreiben konnte, sie aber zumindest etwas linderte. Sie brauchte dringend eine Zigarette und kramte hektisch in den Taschen ihrer eleganten Windjacke, bis ihre Finger eine Schachtel Pfefferminzbonbons fanden, die ihr in der Abwesenheit ihres nikotinsüchtigen Freundes Trost spendeten. Schreib auf, dass du ihn letzte Woche verlassen hast.
    
  Das ist ein verdammt schlechter Zeitpunkt zum Gehen.
    
  Holt eine Schachtel Pfefferminzbonbons hervor und trinkt drei. Man sollte wissen, dass das ein Mythos neueren Datums ist, aber wenigstens sollte man seinen Mund beschäftigen. Dem Affen wird es allerdings nicht viel nützen.
    
  Andrea Otero wird sich in Zukunft noch oft an diesen Moment erinnern. Sie wird sich erinnern, wie sie an der Tür stand, sich an den Rahmen lehnte, versuchte, sich zu beruhigen und sich selbst verfluchte, weil sie so stur gewesen war und sich wie ein Teenager so geschämt hatte.
    
  Aber wegen dieses Details erinnere ich mich nicht an ihn. Ich werde es tun, weil die schreckliche Entdeckung, die sie beinahe das Leben kostete und sie schließlich mit dem Mann zusammenbrachte, der ihr Leben verändern sollte, geschah, weil sie beschloss, die Wirkung der Pfefferminzbonbons abzuwarten. Sie lösten sich in seinem Mund auf, bevor er weglief. Nur um sich ein wenig zu beruhigen. Wie lange braucht ein Pfefferminzbonbon, um sich aufzulösen? Nicht lange. Für Andrea fühlte es sich jedoch wie eine Ewigkeit an, denn ihr ganzer Körper schrie danach, ins Hotelzimmer zurückzukehren und unter das Bett zu kriechen. Aber sie zwang sich dazu, obwohl sie es nur tat, um nicht mit ansehen zu müssen, wie sie, zwischen ihren Beinen von einem Schwanz gepeitscht, davonlief.
    
  Doch diese drei Pfefferminzbonbons veränderten sein Leben (und höchstwahrscheinlich auch die Geschichte der westlichen Welt, aber man weiß ja nie, nicht wahr?), einfach aus dem Wunsch heraus, am richtigen Ort zu sein.
    
  Es war kaum noch ein Hauch von Minze im Geschmack, als der Bote um die Straßenecke bog. Er trug einen orangefarbenen Overall, eine passende Mütze, hatte Sake in der Hand und war in Eile. Er ging direkt auf sie zu.
    
  -Entschuldigung, ist das das Pressezentrum?
    
  -Sí, aquí es.
    
  - Ich habe eine dringende Lieferung für folgende Personen: Michael Williams von CNN, Berti Hegrend von RTL...
    
  Andrea unterbrach ihn mit Gasts Stimme: "Oh."
    
  "Keine Sorge, Kumpel. Die Pressekonferenz hat bereits begonnen. Ich muss noch eine Stunde warten."
    
  Der Bote blickte sie mit einem fassungslos verblüfften Gesichtsausdruck an.
    
  -Aber das kann nicht sein. Mir wurde gesagt, dass...
    
  Die Journalistin findet eine Art perverse Befriedigung darin, ihre Probleme auf jemand anderen abzuwälzen.
    
  -Du weißt doch, das sind die Regeln.
    
  Der Bote fuhr sich verzweifelt mit der Hand übers Gesicht.
    
  "Sie versteht es nicht, Onañorita. Ich hatte diesen Monat schon mehrere Verzögerungen. Expresslieferungen müssen innerhalb einer Stunde nach Eingang erfolgen, sonst werden sie nicht berechnet. Das sind zehn Briefumschläge à dreißig Euro. Wenn ich Ihre Bestellung an meine Agentur verliere, könnte ich meinen Weg zum Vatikan verlieren und wahrscheinlich gefeuert werden."
    
  Andrea wurde sofort milder. Er war ein guter Mann. Impulsiv, unbedacht und launisch, das musste man zugeben. Manchmal gewinne ich ihre Unterstützung mit Lügen (und einer gehörigen Portion Glück), okay. Aber er war ein guter Mann. Er bemerkte den Namen des Kuriers auf dem Ausweis, der an dessen Overall befestigt war. Das war eine weitere von Andreas Eigenheiten. Er nannte die Leute immer beim Vornamen.
    
  "Hör zu, Giuseppe, es tut mir wirklich leid, aber selbst wenn ich wollte, könnte ich dir die Tür nicht öffnen. Die Tür lässt sich nur von innen öffnen. Wenn sie gesichert ist, gibt es weder Türklinke noch Schloss."
    
  Der andere stieß einen verzweifelten Schrei aus. Er griff in die Krüge, eine Hand links und eine rechts von seinen hervorquellenden Gedärmen, die selbst unter seinem Overall deutlich zu sehen waren. Ich versuchte nachzudenken. Ich sah zu Andrea auf. Andrea dachte, er starrte auf ihre Brüste - wie eine Frau, die diese unangenehme Erfahrung fast täglich seit der Pubertät machte -, doch dann bemerkte sie, dass er auf ihren Ausweis starrte, den sie um den Hals trug.
    
  - Hey, ich hab's verstanden. Ich lasse dir die Umschläge da, dann ist alles erledigt.
    
  Auf dem Ausweis prangte das Wappen des Vatikans, und die Gesandte muss wohl gedacht haben, sie hätte die ganze Zeit gearbeitet.
    
  -Mire, Giuseppe...
    
  "Nichts über Giuseppe, Herr Beppo", sagte der andere und durchwühlte seine Tasche.
    
  - Beppo, ich kann wirklich nicht...
    
  "Hör zu, du musst mir diesen Gefallen tun. Mach dir keine Sorgen ums Unterschreiben, ich nehme die Lieferungen bereits entgegen. Ich fertige für jede Sendung eine separate Skizze an, und alles ist vorbereitet. Versprich mir, ihn so zu zähmen, dass er dir die Umschläge bringt, sobald die Türen geöffnet werden."
    
  -Genau das...
    
  Beppo hatte jedoch bereits zehn von Marras' Briefumschlägen in seine Hand genommen.
    
  "Jedes Exemplar trägt den Namen des Journalisten, für den es bestimmt ist. Der Kunde war zuversichtlich, dass wir alle da sein würden, keine Sorge. Nun, ich muss jetzt los, da ich noch eine Lieferung nach Corpus und eine weitere nach Via Lamarmora ausliefern muss. Adi, und vielen Dank, du Schöne."
    
  Und bevor Andrea etwas erwidern konnte, drehte sich der neugierige Mann um und ging.
    
  Andrea stand auf und betrachtete die zehn Umschläge etwas verwirrt. Sie waren an Korrespondenten von zehn der größten Medienunternehmen der Welt adressiert. Andrea kannte vier von ihnen und erkannte mindestens zwei in der Redaktion wieder.
    
  Die Umschläge waren halb so groß wie ein Blatt Papier und bis auf den Betreff identisch. Was seinen journalistischen Instinkt weckte und alle Alarmglocken schrillen ließ, war der Satz, der in allen Umschlägen wiederzufinden war. Handschriftlich in der oberen linken Ecke.
    
    
  EXKLUSIV - JETZT ANSEHEN
    
    
  Das war für Andrea mindestens fünf Sekunden lang ein moralisches Dilemma. Ich löste es mit einem Pfefferminzbonbon. Ich schaute nach links und rechts. Die Straße war menschenleer; es gab keine Zeugen für ein mögliches Postverbrechen. Ich wählte willkürlich einen der Umschläge aus und öffnete ihn vorsichtig.
    
  Einfache Neugier.
    
  Im Umschlag befanden sich zwei Gegenstände. Der eine war eine Blusens-DVD, auf deren Cover derselbe Satz mit Permanentmarker geschrieben stand. Der andere war eine englischsprachige Notiz.
    
    
  "Der Inhalt dieser CD ist von größter Wichtigkeit. Es handelt sich wahrscheinlich um die wichtigste Nachricht des Freitags und die Quizshow des Jahrhunderts. Jemand wird versuchen, sie zum Schweigen zu bringen. Sehen Sie sich die CD so schnell wie möglich an und verbreiten Sie ihren Inhalt so schnell wie möglich. Pater Viktor Karoski"
    
    
  Andrea bezweifelte, dass es ein Scherz war. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, das herauszufinden! Nachdem ich den Anschluss aus dem Koffer entfernt hatte, schaltete ich ihn ein und legte die DVD ins Laufwerk. Das Betriebssystem fluchte in allen mir bekannten Sprachen - Spanisch, Englisch und holprigem Italienisch mit Anweisungen - und als es endlich hochfuhr, war es überzeugt, die DVD sei unbrauchbar.
    
  Er sah nur die ersten vierzig Sekunden, bevor ihm übel wurde.
    
    
    
  UACCV-Hauptsitz
    
  Via Lamarmora, 3
    
  Samstag, 9. April 2005, 01:05 Uhr.
    
    
    
  Paola suchte überall nach Fowler. Es überraschte mich nicht, ihn - immer noch - unten zu finden, die Pistole in der Hand, seine Priesterjacke ordentlich zusammengefaltet auf einem Stuhl, sein Ständer auf dem Regal des Kommandoturms, die Ärmel hochgekrempelt. Ich trug Gehörschutz, während Paola wartete, bis ich das Magazin leergeschossen hatte, bevor er näher kam. Er war fasziniert von meiner konzentrierten Haltung, der perfekten Schussposition. Seine Arme waren unglaublich kräftig, obwohl er schon ein halbes Jahrhundert alt war. Der Lauf der Pistole zeigte nach vorn, ohne nach jedem Schuss tausend Meter abzuweichen, als wäre er in Stein gemeißelt.
    
  Die Gerichtsmedizinerin beobachtete, wie er nicht nur ein, sondern drei Magazine leerte. Langsam und bedächtig zog er, die Augen zusammengekniffen, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Schließlich begriff er, dass sie sich im Trainingsraum befand. Dieser bestand aus fünf durch dicke Baumstämme voneinander getrennten Kabinen, an denen teilweise Stahlseile befestigt waren. An den Seilen hingen Zielscheiben, die mithilfe eines Flaschenzugsystems auf eine Höhe von maximal vierzig Metern hochgezogen werden konnten.
    
  Gute Nacht, Doktor.
    
  -Eine zusätzliche Stunde für die Öffentlichkeitsarbeit, nicht wahr?
    
  "Ich möchte nicht in ein Hotel. Du solltest wissen, dass ich heute Nacht nicht schlafen kann."
    
  Paola ließ sich nicht beirren. Er versteht das vollkommen. Bei der Beerdigung einfach nur dazustehen und nichts zu tun, war furchtbar. Mit diesem Wesen ist eine schlaflose Nacht garantiert. Er brennt darauf, endlich etwas zu tun.
    
  -¿Dónde está, mein lieber Freund, Superintendent?
    
  "Oh, ich habe einen dringenden Anruf bekommen. Wir waren gerade dabei, Cardosos Autopsiebericht durchzugehen, als er plötzlich wegrannte und mich sprachlos zurückließ."
    
  -Das ist sehr typisch für él.
    
  - Ja. Aber reden wir nicht darüber... Mal sehen, welche Art von Übung du bekommen hast, Vater.
    
  Der Gerichtsmediziner klickte auf den Bot, der auf eine Zielscheibe mit der schwarzen Silhouette eines Mannes zoomte. Der Affe hatte zehn weiße Wirbel auf der Brust. Er kam zu spät, weil Fowler aus fast einem Kilometer Entfernung ins Schwarze getroffen hatte. Es überraschte mich überhaupt nicht, dass fast alle Löcher innerhalb der Zielscheibe lagen. Ihn überraschte, dass eines danebengegangen war. Ich war enttäuscht, dass er nicht alle Ziele getroffen hatte, wie die Protagonisten eines Actionfilms.
    
  Aber er ist kein Held. Er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Er ist intelligent, gebildet und ein sehr guter Schütze. Im alternativen Modus macht ihn ein schlechter Schuss menschlich.
    
  Fowler folgte ihrem Blick und lachte vergnügt über seinen eigenen Fauxpas.
    
  "Ich habe etwas an Ansehen eingebüßt, aber das Schießen macht mir wirklich Spaß. Es ist ein außergewöhnlicher Sport."
    
  -Im Moment ist es nur ein Sport.
    
    -Aún no confía en mí, ¿verdad dottora ?
    
    Paola antwortete nicht. Sie mochte es, Fowler in allem zu sehen - ohne BH, schlicht in einem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und schwarzer Hose. Doch die Fotos von "Avocado", die Dante ihm zeigte, trafen ihn immer wieder wie ein Schlag, wie betrunkene Affen im Rausch.
    
  -Nein, Vater. Nicht ganz. Aber ich möchte dir vertrauen. Ist das genug für dich?
    
  Das sollte genügen.
    
  - Woher hast du die Waffen? Die Waffenkammer ist für éstas horas geschlossen.
    
  - Ah, Regisseur Boy hat es mir geliehen. Es gehört ihm. Er sagte mir, er habe es schon lange nicht mehr benutzt.
    
  "Leider stimmt es. Ich hätte diesen Mann vor drei Jahren kennenlernen sollen. Er war ein hervorragender Fachmann, ein großartiger Wissenschaftler und Physiker. Das ist er immer noch, aber früher blitzte in seinen Augen Neugierde auf, und dieses Leuchten ist nun erloschen. Es wurde durch die Angst eines Büroangestellten ersetzt."
    
  -Ist in Ihrer Stimme Bitterkeit oder Nostalgie zu hören, Doktor?
    
  -Ein bisschen von beidem.
    
  -Wie lange werde ich ihn vergessen?
    
  Paola tat überrascht.
    
  -¿Sómo spricht?
    
  "Ach, komm schon, nichts für ungut. Ich habe gesehen, wie er Abstand zwischen euch beiden schafft. Der Junge hält den Abstand perfekt ein."
    
  - Leider ist das etwas, was er sehr gut kann.
    
  Der Gerichtsmediziner zögerte einen Moment, bevor er fortfuhr. Ich spürte wieder dieses Gefühl der Leere in einem magischen Land, das mich manchmal überkommt, wenn ich Fowler ansehe. Das Gefühl von Montana und Russland. "¿Debídoverat' él?", fragte Pensó mit einem traurigen, verblassten Gesicht, der schließlich Priester war und es gewohnt war, die Gemeinheit der Menschen zu sehen. Genau wie sie, übrigens.
    
  "Mein Freund und ich hatten eine kurze Affäre. Ich weiß nicht, ob er mich irgendwann nicht mehr mochte oder ob ich ihm einfach nur im Weg stand."
    
  - Aber Sie bevorzugen die zweite Option.
    
  -Ich mag Enga i#241;arme. In dieser und in vielerlei anderer Hinsicht. Ich sage mir immer, dass ich bei meiner Mutter lebe, um sie zu beschützen, aber in Wirklichkeit bin ich es, die Schutz braucht. Vielleicht verliebe ich mich deshalb in starke, aber unvollkommene Menschen. Menschen, mit denen ich nicht zusammen sein kann.
    
  Fowler reagierte nicht. Es war völlig klar. Sie standen beide sehr nah beieinander. Minuten vergingen in Stille.
    
  Paola war in Pater Fowlers grüne Augen vertieft und wusste genau, was er dachte. Im Hintergrund glaubte ich ein anhaltendes Geräusch zu hören, ignorierte es aber. Es musste der Priester sein, der ihn daran erinnerte.
    
  - Es wäre besser, wenn Sie den Anruf entgegennehmen würden, Doktor.
    
  Und dann merkte Paola Keió, dass dieses nervtötende Geräusch ihre eigene widerliche Stimme war, die bereits wütend klang. Ich nahm den Anruf entgegen, und für einen Moment war er außer sich vor Wut. Er legte auf, ohne sich zu verabschieden.
    
  "Komm schon, Vater. Es war das Labor. Heute Nachmittag hat jemand ein Paket per Kurier geschickt. Auf der Adresse stand der Name Maurizio Pontiero."
    
    
    
  UACCV-Hauptsitz
    
  Via Lamarmora, 3
    
  Samstag, 9. April 2005, 01:25 Uhr
    
    
    
  -Das Paket ist vor fast vier Stunden angekommen. Können wir das wissen, weil vorher niemand wusste, was darin war?
    
  Boy sah sie geduldig, aber müde an. Es war zu spät, die Dummheit seiner Untergebenen zu tolerieren. Dennoch beherrschte er sich, bis er die Pistole aufhob, die Fowler ihm gerade zurückgegeben hatte.
    
  "Der Umschlag war an dich adressiert, Paola, und als ich ankam, warst du in der Leichenhalle. Die Empfangsdame hat ihn mit ihrer Post abgegeben, und ich habe mir Zeit gelassen, ihn durchzusehen. Als ich wusste, wer ihn geschickt hatte, habe ich alle in Bewegung gesetzt, und das hat gedauert. Als Erstes musste ich den Kampfmittelräumdienst rufen. Sie haben nichts Verdächtiges im Umschlag gefunden. Sobald ich weiß, was los ist, rufe ich dich und Dante an, aber der Leiter der Leichenhalle ist nirgends zu finden. Und Sirin meldet sich auch nicht."
    
  -Schlafen. Mein Gott, ist das früh.
    
  Sie befanden sich im Fingerabdruckraum, einem beengten Raum voller Glühbirnen. Der Geruch von Fingerabdruckpulver hing überall in der Luft. Manche mochten den Duft - einer schwor sogar, er habe ihn vor dem Treffen mit seiner Freundin gerochen, weil sie eine aphrodisierende Wirkung habe -, aber Paola mochte ihn nicht. Er war unangenehm. Der Geruch löste bei ihr Niesreiz aus, und die Flecken klebten an ihrer dunklen Kleidung, sodass sie mehrmals gewaschen werden mussten, um sie zu entfernen.
    
  - Wir wissen also mit Sicherheit, dass diese Nachricht von Karoskis Mann gesendet wurde?
    
  Fowler studierte den Brief, adressiert an Nummer 243. Halten Sie den Umschlag leicht gespreizt. Paola vermutet, dass sie Schwierigkeiten haben könnte, Dinge aus der Nähe zu erkennen. Ich werde wohl bald eine Lesebrille brauchen. Er fragt sich, was er dieses Jahr wohl machen wird.
    
  "Das ist natürlich Ihr Graf." Und der makabre Witz mit dem Namen des jungen Inspektors scheint ebenfalls typisch für Karoski zu sein.
    
  Paola nahm Fowler den Umschlag aus der Hand. Ich legte ihn auf den großen Tisch im Wohnzimmer. Die Tischplatte war komplett aus Glas und hinterleuchtet. Der Inhalt des Umschlags lag in einfachen, durchsichtigen Plastiktüten auf dem Tisch. Boy señaló first bag.
    
  "Dieser Zettel trägt seine Handschrift. Er ist an dich adressiert, Dikanti."
    
  Der Inspektor hielt ein Päckchen hoch, das eine in Italienisch verfasste Notiz enthielt. Der Inhalt wurde laut vorgelesen: in plastico.
    
    
  Liebe Paola:
    
  Ich vermisse dich so sehr! Ich bin in MC 9, 48. Hier ist es sehr warm und entspannt. Ich hoffe, du kannst uns bald besuchen kommen. In der Zwischenzeit sende ich dir meine besten Wünsche für meinen Urlaub. Liebe Grüße, Maurizio.
    
    
  Paola konnte ihr Zittern nicht unterdrücken, eine Mischung aus Wut und Entsetzen. Versuche, deine Grimassen zu unterdrücken, zwinge dich, wenn nötig, sie zu verbergen. Ich würde nicht vor Boy weinen. Vielleicht vor Fowler, aber nicht vor Boy. Niemals vor Boy.
    
  -¿Padre Fowler?
    
  -Markus Kapitel 9, Vers 48. "Wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt."
    
  -Hölle.
    
  -Genau.
    
  - Verdammter Hurensohn.
    
  "Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass er vor wenigen Stunden verfolgt wurde. Es ist durchaus möglich, dass die Notiz früher geschrieben wurde. Die Aufzeichnung stammt von gestern, dem gleichen Datum wie die Archivierung im Inneren."
    
  -Kennen wir das Modell der Kamera oder des Computers, mit dem die Aufnahme gemacht wurde?
    
  "Das von Ihnen verwendete Programm speichert diese Daten nicht auf der Festplatte. Es handelt sich um die Uhrzeit, das Programm und die Version des Betriebssystems. Keine einfache Seriennummer und auch nichts, was zur Identifizierung des sendenden Geräts beitragen könnte."
    
  -¿ Spuren?
    
  -Zwei Teile. Beide von Karoski. Aber das hätte ich nicht wissen müssen. Es hätte genügt, mir den Inhalt anzusehen.
    
  -Na, worauf wartest du noch? Leg die DVD ein, Junge.
    
  - Pater Fowler, würden Sie uns einen Moment entschuldigen?
    
  Der Priester erfasste die Situation sofort. "Schauen Sie Paola in die Augen." Sie winkte leicht, um ihm zu versichern, dass alles in Ordnung sei.
    
  - Nein, nein. ¿Café für drei, dottora Dikanti?
    
  -Mío mit zwei Stückchen, bitte.
    
  Boy wartete, bis Fowler den Raum verlassen hatte, bevor er Paolas Hand ergriff. Paola mochte die Berührung nicht, zu fleischig und sanft. Er hatte schon oft geseufzt, als er diese Hände wieder auf seinem Körper spürte; er hasste seinen Vater, dessen Verachtung und Gleichgültigkeit, doch in diesem Moment war kein Funken dieses Feuers mehr übrig. Es war innerhalb eines Jahres erloschen. Nur ihr Stolz war geblieben, worüber der Inspektor hocherfreut war. Und natürlich war sie nicht bereit, seiner emotionalen Erpressung nachzugeben. Ich schüttle ihm die Hand, und der Direktor zieht sie zurück.
    
  - Paola, ich möchte dich warnen. Was du gleich sehen wirst, wird sehr schwierig für dich sein.
    
  Die Gerichtsmedizinerin schenkte ihm ein hartes, humorloses Lächeln und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich möchte meine Hände so weit wie möglich von seiner Berührung fernhalten. Nur für alle Fälle."
    
  - Was, wenn du mir wieder einen Streich spielst? Ich bin Gaddafi ja gewohnt, Carlo.
    
  -Nicht von deinen Freunden.
    
  Das Lächeln auf Paolas Gesicht zittert wie ein Lappen im Wind, aber ihr ánimo wankt keine Sekunde.
    
  - Schalten Sie das Video ein, Regisseur Boy.
    
  -Wie soll es sein? Es könnte völlig anders sein.
    
  "Ich bin keine Muse, mit der du nach Belieben verfahren kannst. Du hast mich zurückgewiesen, weil ich eine Gefahr für deine Karriere war. Du wolltest lieber zum Unglück deiner Frau zurückkehren. Nun ziehe ich mein eigenes Unglück vor."
    
  -Warum jetzt, Paola? Warum jetzt, nach all der Zeit?
    
  -Weil ich vorher nicht die Kraft dazu hatte. Aber jetzt habe ich sie.
    
  Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. Ich begann es zu verstehen.
    
  "Ich werde ihn nie haben können, Paola. Obwohl ich ihn mir wünschen würde."
    
  "Vielleicht hast du einen Grund. Aber das ist meine Entscheidung. Du hast deine Entscheidung schon vor langer Zeit getroffen. Du ziehst es vor, Dantes obszönen Blicken nachzugeben."
    
  Boy verzog angewidert das Gesicht bei dem Vergleich. Paola freute sich, ihn zu sehen, denn der Regisseur war außer sich vor Wut. Sie war zwar etwas hart mit ihm gewesen, aber ihr Chef hatte es verdient, nachdem er sie all die Monate so mies behandelt hatte.
    
  - Wie Sie wünschen, Dottora Dikanti. Ich werde wieder IróNicos Chef sein, und Sie werden eine hübsche Schriftstellerin sein.
    
  - Danke, Carlo. So ist es besser.
    
  Der Junge lächelte, traurig und enttäuscht.
    
  -Okay, dann schauen wir uns die Akte an.
    
  Als hätte ich einen sechsten Sinn (und Paola war sich da schon sicher, dass ich einen hatte), kam Pater Fowler mit einem Tablett voller Getränke, die ich dem Café hätte weitergeben können, wenn ich diesen Aufguss hätte probieren können.
    
  - Das gibt es hier. Kaffeevergiftung durch Quinoa und Kaffee. ¿ Ich nehme an, wir können die Sitzung jetzt fortsetzen?
    
  "Natürlich, Vater", antwortete ich. Junge. Fowler sah sie sich an. Junge wirkte traurig, aber ich bemerkte auch keine Erleichterung in seiner Stimme. Und Paola sah, dass sie sehr stark war. Weniger unsicher.
    
  Der Direktor zog Lótex-Handschuhe an und nahm die CD aus der Tasche. Die Laborangestellten brachten ihm einen Rollwagen aus dem Pausenraum. Auf dem Nachttisch standen ein 27-Zoll-Fernseher und ein billiger DVD-Player. Ich hätte mir die Aufnahmen gern selbst angesehen, denn die Wände des Konferenzraums waren aus Glas, und es war, als würde ich sie jedem Vorbeigehenden zeigen. Inzwischen hatten sich Gerüchte über den Fall, dem Boy und Dikanti nachgingen, im ganzen Gebäude verbreitet, doch keiner von ihnen kam der Wahrheit auch nur annähernd nahe. Niemals.
    
  Die Schallplatte begann zu spielen. Das Spiel startete sofort, ohne Pop-ups oder Ähnliches. Der Stil war schlampig, die Farben übersättigt und die Beleuchtung erbärmlich. Boy hatte die Helligkeit des Fernsehers schon fast auf Maximum gestellt.
    
  Gute Nacht, ihr Seelen der Welt.
    
  Paola seufzte, als sie Karoskas Stimme hörte, jene Stimme, die sie nach Pontieros Tod mit jenem Anruf gequält hatte. Doch auf dem Bildschirm war nichts zu sehen.
    
  "Dies ist eine Aufzeichnung darüber, wie ich die heiligen Männer der Kirche auslöschen und das Werk der Finsternis vollbringen werde. Mein Name ist Victor Karoski, ein abtrünniger Priester des römischen Kultes. Während des Missbrauchs in meiner Kindheit wurde ich durch die List und das Einverständnis meiner ehemaligen Vorgesetzten geschützt. Durch diese Riten wurde ich persönlich von Luzifer auserwählt, diese Aufgabe zu erfüllen, während unser Feind, der Zimmermann, seine Franchisenehmer für das Mud-Ball-Franchise auswählt."
    
  Der Bildschirm verblasst von pechschwarz zu einem schwachen Licht. Das Bild zeigt einen blutüberströmten, barhäuptigen Mann, der an etwas gefesselt ist, das wie die Säulen der Krypta von Santa María in Transpontina aussieht. Dikanti erkannte ihn kaum als Kardinal Portini, den Ersten Vizekönig. Der Mann, den Sie sahen, war unsichtbar, denn die Wachsamkeit hatte ihn zu Asche verbrannt. Portinis Juwel zittert leicht, und alles, was Karoschi sieht, ist die Spitze eines Messers, die in das Fleisch der linken Hand des Kardinals ragt.
    
  "Das ist Kardinal Portini, zu müde zum Schreien. Portini hat der Welt viel Gutes getan, und mein Herr ist angewidert von seinem widerlichen Fleisch. Nun wollen wir sehen, wie er sein elendes Dasein beendete."
    
  Das Messer wurde ihr an die Kehle gedrückt und mit einem Hieb durchgeschnitten. Das Hemd färbte sich wieder schwarz und wurde dann an ein neues, an derselben Stelle geknotetes Hemd genäht. Es war Robaira, und ich hatte furchtbare Angst.
    
  "Hier spricht Kardinal Robair, voller Furcht. Trage ein großes Licht in dir. Die Zeit ist gekommen, dieses Licht zu seinem Schöpfer zurückzubringen."
    
  Diesmal musste Paola wegschauen. Maras Blick verriet, dass das Messer Robairas Augenhöhlen ausgeblutet hatte. Ein einzelner Tropfen Blut spritzte auf das Visier. Dies war der schreckliche Aspekt, den der Gerichtsmediziner in dem Chaos sah, und Cinti drehte sich zu ihm um. Er war ein Magier. Das Bild veränderte sich, als sie mich sah, und enthüllte, was sie zu sehen fürchtete.
    
  - É ste - Unterinspektor Pontiero, ein Anhänger des Fischers. Sie haben ihn in meine Búskvedá gesperrt, doch nichts kann der Macht des Vaters der Finsternis widerstehen. Nun verblutet der Unterinspektor langsam.
    
  Pontiero blickte Siamara direkt an, doch sein Gesichtsausdruck war nicht sein eigener. Er knirschte mit den Zähnen, aber die Macht in seinen Augen verblasste nicht. Langsam schnitt das Messer ihr die Kehle durch, und Paola wandte den Blick erneut ab.
    
  - É ste - Kardinal Cardoso, Freund der Enterbten, Läuse und Flöhe. Seine Liebe war mir so widerlich wie die verfaulten Eingeweide eines Schafes. Auch er starb.
    
  Moment mal, alle waren völlig durcheinander. Anstatt sich mit Genen zu beschäftigen, betrachteten sie mehrere Fotos von Kardinal Cardoso auf seinem Trauerbett. Drei der Fotos hatten einen grünlichen Schimmer, zwei zeigten die Jungfrau Maria. Das Blut war unnatürlich dunkel. Alle drei Fotos wurden jeweils etwa fünfzehn Sekunden lang auf dem Bildschirm gezeigt.
    
  "Nun werde ich einen weiteren heiligen Mann töten, den heiligsten von allen. Jemand wird versuchen, mich aufzuhalten, aber sein Ende wird dasselbe sein wie das derer, die ihr vor euren Augen sterben saht. Die Kirche, die Feiglinge, hat euch dies verschwiegen. Ich kann das nicht mehr. Gute Nacht, ihr Seelen der Welt."
    
  Die DVD stoppte mit einem Brummen, und Boy schaltete den Fernseher aus. Paola war kreidebleich. Fowler knirschte wütend mit den Zähnen. Die drei schwiegen mehrere Minuten lang. Er musste sich von der blutigen Brutalität erholen, die er miterlebt hatte. Paola, die als Einzige von der Aufnahme betroffen war, sprach als Erste.
    
  - Fotos. Was sind die Fotografen? Warum kein Video?
    
    -Porque no podía -dijo Fowler-. Denn es gibt nichts Komplexeres als eine Glühbirne. Das sagte Dante.
    
  - Und Karoski weiß das.
    
  -Was erzählen sie mir da über ein kleines Spiel namens Pozuón Diabolica?
    
  Der Gerichtsmediziner spürte, dass wieder etwas nicht stimmte. Dieser Gott schickte ihn in völlig unterschiedliche Richtungen. Ich brauchte eine ruhige Nacht bei Sue, Ruhe und einen ruhigen Ort zum Nachdenken. Karoskis Worte, die Hinweise in den Leichen - sie alle hatten einen gemeinsamen Nenner. Wenn ich ihn fände, könnte ich das Knäuel entwirren. Aber bis dahin fehlte mir die Zeit.
    
  Und natürlich, zum Teufel mit meiner Nacht mit Sue
    
  "Caroscas historische Pakt mit dem Teufel sind nicht das, was mir Sorgen bereitet", bemerkt Boy und ahnt Paolas Gedanken voraus. "Das Schlimmste ist, dass wir versuchen, ihn aufzuhalten, bevor er einen weiteren Kardinal tötet. Und die Zeit drängt."
    
  "Aber was können wir tun?", fragte Fowler. Er hatte sich bei der Beerdigung von Johannes Paul II. nicht das Leben genommen. Nun stehen die Kardinäle unter größerem Schutz als je zuvor, das Kloster Sancta Martha ist für Besucher geschlossen, ebenso wie der Vatikan.
    
  Dikanti biss sich auf die Lippe. "Ich habe es satt, nach den Regeln dieses Psychopathen zu spielen. Aber jetzt hat Karoski einen weiteren Fehler begangen: Er hat eine Spur hinterlassen, der sie folgen können."
    
  - Wer hat das getan, Regisseur?
    
  "Ich habe bereits zwei Mitarbeiter mit der Nachforschung beauftragt. Er kam über einen Boten. Die Spedition war Tevere Express, ein lokales Lieferunternehmen im Vatikan. Wir konnten den Routenleiter nicht erreichen, aber die Überwachungskameras vor dem Gebäude haben den Bildsensor des Kuriermotorrads aufgezeichnet. Die Gedenktafel ist auf den Namen von Giuseppe Bastina aus den Jahren 1943 bis 1941 registriert. Er wohnt im Viertel Castro Pretorio in der Via Palestra."
    
  -¿ Du hast kein Telefon?
    
  -Die Telefonnummer ist im Tréfico-Bericht nicht aufgeführt, und es gibt keine Telefonnummern auf seinen Namen in Información Telefónica.
    
    - Der Quiz stellt den Namen ihrer Frau dar - verantwortlich für Fowler.
    
    -Viktorinaás. Aber vorerst ist dies unsere beste Spur, da ein Spaziergang unerlässlich ist. Kommst du mit, Vater?
    
  -Nach Ihnen,
    
    
    
  Die Wohnung der Familie Bastin
    
  Via Palestra, 31
    
  02:12
    
    
    
  -¿Giuseppe Bastina?
    
  "Ja, ich bin"s", sagte der Bote. "Bieten Sie einem neugierigen Mädchen in Höschen, das ein kaum neun oder zehn Monate altes Kind hält, etwas an." Zu dieser frühen Stunde war es nichts Ungewöhnliches, dass sie vom Klingeln an der Tür geweckt wurden.
    
  "Ich bin Inspektorin Paola Dikanti und ich bin Pater Fowler. Keine Sorge, Sie sind nicht in Schwierigkeiten und niemandem ist etwas passiert. Wir möchten Ihnen einige sehr dringende Fragen stellen."
    
  Sie befanden sich im Treppenhaus eines bescheidenen, aber sehr gepflegten Hauses. Eine Fußmatte mit einem lächelnden Frosch begrüßte die Besucher. Paola beschloss, dass sie das auch nichts anging, und das zu Recht. Bastina war von seiner Anwesenheit sehr verärgert.
    
  -Können Sie es kaum erwarten, das Auto zu bekommen? Das Team muss los, Sie wissen ja, sie haben einen Zeitplan.
    
  Paola und Fowler schüttelten die Köpfe.
    
    -Einen Moment bitte, Sir. Wissen Sie, Sie haben heute Abend spät eine Lieferung zugestellt. Einen Briefumschlag in der Via Lamarmora. Können Sie sich daran erinnern?
    
  "Natürlich erinnere ich mich, hören Sie. Was meinen Sie dazu? Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis", sagte der Mann und tippte sich mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand an die Schläfe. Die linke Seite war noch immer voller Kinder, doch glücklicherweise weinte sie nicht.
    
  Könnten Sie uns bitte sagen, woher ich den Umschlag habe? Das ist sehr wichtig, es handelt sich um eine Mordermittlung.
    
  - Wie immer riefen sie die Agentur an. Sie baten mich, zur Poststelle des Vatikans zu gehen und sicherzustellen, dass sich ein paar Umschläge auf dem Schreibtisch neben dem Bettel befanden.
    
  Paola war schockiert.
    
  -¿Más from the envelope?
    
  "Ja, es waren zwölf Umschläge. Der Auftraggeber bat mich, zuerst zehn Umschläge an das Pressebüro des Vatikans zu liefern. Dann einen weiteren an die Vigilanz und einen an Sie."
    
  "Hat Ihnen denn niemand Briefe zugestellt? Soll ich sie einfach abholen?", fragte Fowler verärgert.
    
  -Ja, um diese Uhrzeit ist niemand im Postamt, aber die Außentür bleibt bis neun Uhr offen. Falls jemand etwas in die internationalen Briefkästen einwerfen möchte.
    
  -Und wann erfolgt die Zahlung?
    
  - Sie legten einen kleinen Umschlag auf den Demás. Dieser Umschlag enthielt dreihundertsiebzig Euro, 360 für die Gebühr des Rettungsdienstes und 10 Trinkgeld.
    
  Paola blickte verzweifelt zum Himmel auf. Karoski hatte an alles gedacht. Wieder eine endlose Sackgasse.
    
  -Hast du jemanden gesehen?
    
  -An niemanden.
    
  Und was hat er dann getan?
    
  -Was glaubst du, was ich getan habe? Bis zum Pressezentrum gehen und dann den Umschlag dem Wachhabenden zurückgeben.
    
  - An wen waren die Umschläge der Nachrichtenredaktion adressiert?
    
  - Sie waren an mehrere Journalisten gerichtet. Alles Ausländer.
    
  Und ich habe sie unter uns aufgeteilt.
    
  "Hey, warum so viele Fragen? Ich bin ein ernsthafter Arbeiter. Ich hoffe, das ist nicht alles, denn ich werde heute einen Fehler machen. Ich muss wirklich arbeiten, bitte. Mein Sohn muss essen, und meine Frau ist schwanger", erklärte er unter den verwunderten Blicken seiner Besucher.
    
  "Hör zu, das hat nichts mit dir zu tun, aber es ist auch kein Witz. Wir werden das Geschehene gewinnen, Punkt. Oder, falls ich dir nicht versprechen kann, dass jeder Polizist im Verkehr den Namen seiner Mutter auswendig kennt, dann sie - oder Bastina."
    
  Bastina ist sehr verängstigt und das Baby fängt bei Paolas Tonfall an zu weinen.
    
  -Okay, okay. Erschreckt das Kind nicht. Hat es denn wirklich kein Herz?
    
  Paola war müde und sehr gereizt. Es tat mir leid, mit diesem Mann in seinem eigenen Haus zu sprechen, aber ich hatte in dieser Untersuchung noch niemanden so hartnäckig erlebt.
    
  - Entschuldigung, ich bin's, Bastina. Bitte, gib uns Kummer. Es geht um Leben und Tod, meine Liebe.
    
  Der Bote senkte den Ton. Mit der freien Hand kratzte er sich den dichten Bart und streichelte ihn sanft, um das Baby zum Schweigen zu bringen. Das Baby entspannte sich allmählich, und auch der Vater beruhigte sich.
    
  "Ich habe die Umschläge dem Mitarbeiter in der Redaktion gegeben, okay? Die Türen zum Raum waren schon verschlossen, und ich hätte eine Stunde warten müssen, um sie abzugeben. Und Sonderlieferungen müssen innerhalb einer Stunde nach Erhalt erfolgen, sonst werden sie nicht bezahlt. Ich habe echt Ärger auf der Arbeit, wisst ihr das? Wenn jemand herausfindet, dass ich das getan habe, könnte er seinen Job verlieren."
    
  "Wegen uns wird es niemand herausfinden", sagte Bastina. "Kré liebt mich."
    
  Bastina sah sie an und nickte.
    
  - Ich glaube ihr, Disponentin.
    
  - Kennt sie den Namen des Wärters?
    
  -Nein, ich weiß es nicht. Nehmen Sie die Karte mit dem vatikanischen Wappen und dem blauen Streifen oben. Und schalten Sie die Presse ein.
    
  Fowler ging mit Paola ein paar Meter den Flur entlang und flüsterte ihr dann wieder auf die besondere Art zu, die sie so mochte. Versuche, dich auf seine Worte zu konzentrieren, nicht auf die Empfindungen, die seine Nähe in dir auslöst. Es war nicht einfach.
    
  "Dottora, diese Karte mit dem Mann darauf gehört nicht zum vatikanischen Personal. Es handelt sich um eine Presseakkreditierung. Die Unterlagen haben die vorgesehenen Empfänger nie erreicht. Was ist passiert?"
    
  Paola versuchte einen Moment lang, sich in die Lage einer Journalistin zu versetzen. Stellen Sie sich vor, Sie erhalten einen Briefumschlag im Pressezentrum, umgeben von allen konkurrierenden Medienunternehmen.
    
  "Sie erreichten ihre Empfänger nicht, denn sonst wären sie jetzt auf allen Fernsehsendern der Welt ausgestrahlt worden. Wären alle Umschläge gleichzeitig angekommen, wären Sie nicht nach Hause gegangen, um die Informationen zu überprüfen. Der Vertreter des Vatikans war wahrscheinlich in die Enge getrieben."
    
  -Genau. Karoski versuchte, eine eigene Pressemitteilung herauszugeben, doch die Eile dieses Mannes und meine vermeintliche Unehrlichkeit desjenigen, der die Umschläge entgegennahm, machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Entweder irre ich mich gewaltig, oder ich öffne einen der Umschläge und nehme sie alle. Warum sollte ich das Glück teilen, das du mir vom Himmel gebracht hast?
    
  - Gerade jetzt, in Alguacil, in Rom, schreibt diese Frau die Nachricht des Jahrhunderts.
    
  "Und es ist sehr wichtig, dass wir wissen, wer sie ist. Und zwar so schnell wie möglich."
    
  Paola verstand die Dringlichkeit der Worte des Priesters. Beide kehrten mit Bastina zurück.
    
  - Herr Bastina, bitte beschreiben Sie uns die Person, die den Umschlag genommen hat.
    
  -Nun ja, sie war sehr schön. Reines blondes Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte, etwa fünfundzwanzig Jahre alt... blaue Augen, eine helle Jacke und beige Hosen.
    
  -Wow, wenn man ein gutes Gedächtnis hat.
    
  -Für hübsche Mädchen? - Ich lächle, halb sarkastisch, halb beleidigt, als ob sie an seinem Wert zweifeln würden. Ich bin aus Marseille, Disponent. Jedenfalls ist es gut, dass meine Frau jetzt im Bett ist, denn wenn sie mich so reden hörte ... Sie hat noch weniger als einen Monat bis zur Geburt, und der Arzt hat ihr absolute Ruhe verordnet.
    
  - Können Sie sich an irgendetwas erinnern, das zur Identifizierung des Mädchens beitragen könnte?
    
  -Na ja, es war definitiv Spanisch. Der Mann meiner Schwester ist Spanier, und er klingt genau wie ich, wenn ich versuche, einen italienischen Akzent nachzuahmen. Du kannst dir sicher vorstellen, was ich meine.
    
  Paola kommt zu dem Schluss, dass es Zeit ist zu gehen.
    
  -Es tut uns leid, Sie zu stören.
    
  -Keine Sorge. Das Einzige, was mir gefällt, ist, dass ich dieselben Fragen nicht zweimal beantworten muss.
    
  Paola drehte sich leicht erschrocken um. Ich erhob fast die Stimme zu einem Schrei.
    
  - Wurden Sie das schon einmal gefragt? Von wem? Worum ging es?
    
  Niíili, ich weinte wieder. Mein Vater ermutigte ihn und versuchte, ihn zu beruhigen, aber ohne großen Erfolg.
    
  -Und ihr alle zusammen, seht nur, wie ihr meinen Ragazzo zu uns gebracht habt!
    
  "Bitte geben Sie uns Bescheid, dann gehen wir", sagte Fowler, um die Situation zu entschärfen.
    
  "Er war sein Kamerad. Zeigen Sie mir das Abzeichen des Sicherheitskorps. Das wirft zumindest Zweifel an der Identifizierung auf. Er war ein kleiner, breitschultriger Mann. In einer Lederjacke. Er ist vor einer Stunde gegangen. Gehen Sie jetzt und kommen Sie nicht wieder."
    
  Paola und Fowler starrten sich mit verzerrten Gesichtern an. Beide eilten zum Aufzug und behielten ihre besorgten Mienen bei, als sie die Straße entlanggingen.
    
  - Denken Sie genauso wie ich, Doktor?
    
  -Genau dasselbe. Dante verschwand gegen acht Uhr abends und entschuldigte sich.
    
  -Nach Erhalt des Anrufs.
    
  "Weil du das Paket ja schon am Tor geöffnet hast. Und du wirst über den Inhalt staunen. Hatten wir diese beiden Tatsachen nicht schon vorher in Zusammenhang gebracht? Verdammt, im Vatikan werden die Leute, die reinkommen, ordentlich vermöbelt. Das ist doch Standard. Und wenn Tevere Express regelmäßig mit denen zusammenarbeitet, war klar, dass ich alle ihre Mitarbeiter ausfindig machen musste, inklusive Bastina."
    
  - Sie folgten den Paketen.
    
  "Hätten die Journalisten die Umschläge alle gleichzeitig geöffnet, hätte jemand im Pressezentrum seine Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Und die Nachricht wäre wie ein Lauffeuer verbreitet worden. Es hätte keine menschliche Möglichkeit gegeben, sie aufzuhalten. Zehn namhafte Journalisten ..."
    
  - Aber es gibt auf jeden Fall einen Journalisten, der davon weiß.
    
  -Genau.
    
  Einer davon ist sehr gut zu bewältigen.
    
  Paola dachte an viele Geschichten. An jene Art von Geschichten, die Polizisten und andere Beamte in Rom ihren Kollegen zuflüstern, meist vor der dritten Tasse Tee. Düstere Legenden über Verschwinden und Unfälle.
    
  - Halten Sie es für möglich, dass sie...?
    
  -Ich weiß es nicht. Vielleicht. Je nachdem, wie flexibel der Journalist ist.
    
  "Vater, willst du mir etwa auch noch mit Euphemismen kommen? Du willst doch damit sagen - und das ist doch völlig klar -, dass du ihr Geld abpressen kannst, damit sie dir die Schallplatte gibt."
    
  Fowler sagte nichts. Es war eines seiner beredten Schweigen.
    
  "Nun, um ihretwillen wäre es besser, wenn wir sie so schnell wie möglich fänden. Steig ins Auto, Vater. Wir müssen so schnell wie möglich zum UACV. Fang an, Hotels, Geschäfte und die Umgebung abzusuchen ..."
    
  "Nein, Dottora. Wir müssen woanders hingehen", sagte er und gab ihr die Adresse.
    
  - Es liegt auf der anderen Seite der Stadt. Was für ein Ahé ist Ahí?
    
  -Freund. Er kann uns helfen.
    
    
    
  Irgendwo in Rom
    
  02:48
    
    
    
  Paola fuhr zu der Adresse, die Fowler ihr gegeben hatte, ohne alle mitzunehmen. Es war ein Mehrfamilienhaus. Sie mussten eine ganze Weile am Tor warten und den automatischen Türöffner bedienen. Während sie warteten, fragte Paola Fowler:
    
  -Dieser Freund... kanntest du ihn?
    
  "Darf ich sagen, Amos, dass dies meine letzte Mission war, bevor ich meinen vorherigen Job gekündigt habe? Ich war damals zwischen zehn und vierzehn und ziemlich rebellisch. Seitdem bin ich ... wie soll ich sagen? Eine Art spiritueller Mentor für el. Wir haben nie den Kontakt verloren."
    
  - Und nun gehört es Ihrem Unternehmen, Pater Fowler?
    
  - Dottora, wenn du mir keine belastenden Fragen stellst, muss ich dir auch keine plausible Lüge auftischen.
    
  Fünf Minuten später beschloss der Freund des Priesters, sich ihnen zu offenbaren. "Dadurch werdet ihr ein anderer Priester werden. Sehr jung." Er führte sie in ein kleines, einfach, aber blitzsauber eingerichtetes Studio. Das Haus hatte zwei Fenster, beide mit heruntergelassenen Jalousien. An einem Ende des Raumes stand ein etwa zwei Meter breiter Tisch, bedeckt mit fünf Flachbildschirmen. Unter dem Tisch leuchteten Hunderte von Lichtern wie ein wilder Weihnachtsbaumwald. Am anderen Ende stand ein ungemachtes Bett, aus dem sein Bewohner offenbar kurz gesprungen war.
    
    -Albert, ich präsentiere Ihnen Dr. Paola Dicanti. Ich arbeite mit ihr zusammen.
    
  - Pater Albert.
    
  "Ach, bitte, Albert allein", lächelte der junge Priester freundlich, doch sein Lächeln klang fast wie ein Gähnen. "Entschuldige die Unordnung. Verdammt, Anthony, was führt dich denn um diese Uhrzeit hierher? Ich habe jetzt keine Lust auf Schach. Und übrigens, ich hätte dich vor deiner Reise nach Rom warnen können. Ich habe letzte Woche erfahren, dass du dich wieder bei der Polizei melden wolltest. Ich würde es gern von dir selbst hören."
    
  "Albert wurde in der Vergangenheit zum Priester geweiht. Er ist ein impulsiver junger Mann, aber auch ein Computergenie. Und jetzt wird er uns einen Gefallen tun, Doktor."
    
  - Worauf hast du dich denn jetzt wieder eingelassen, du verrückter alter Mann?
    
  "Albert, bitte. Respektiere den anwesenden Spender", sagte Fowler und tat beleidigt. "Wir möchten, dass du uns eine Liste erstellst."
    
  - Welche?
    
  - Liste der akkreditierten Vertreter der vatikanischen Presse.
    
  Albert bleibt sehr ernst.
    
  - Was Sie von mir verlangen, ist nicht einfach.
    
  "Albert, um Himmels willen. Man betritt und verlässt Gonos Penthouse-Computer auf die gleiche Weise, wie andere sein Schlafzimmer betreten."
    
  "Unbegründete Gerüchte", sagte Albert, obwohl sein Lächeln etwas anderes verriet. "Aber selbst wenn es wahr wäre, hat das eine nichts mit dem anderen zu tun. Das Informationssystem des Vatikans ist wie das Land Mordor. Es ist undurchdringlich."
    
  -Ach komm schon, Frodo26. Ich bin mir sicher, du warst schon mal in Allí.
    
  -Chisst, sag niemals meinen Hackernamen laut, du Psycho.
    
  - Es tut mir sehr leid, Albert.
    
  Der junge Mann wurde sehr ernst. Er kratzte sich an der Wange, wo die Spuren der Pubertät in Form leerer roter Flecken zurückgeblieben waren.
    
  -Ist das wirklich nötig? Du weißt, dass ich dazu nicht befugt bin, Anthony. Das verstößt gegen alle Regeln.
    
  Paola wollte nicht fragen, von wem die Erlaubnis für so etwas kommen musste.
    
  "Es könnte um ein Menschenleben gehen, Albert. Und wir waren noch nie ein Volk von Regeln." Fowler sah Paola an und bat sie um Hilfe.
    
  -Könntest du uns helfen, Albert? Ich bin vorhin tatsächlich hineingekommen?
    
  -Si, dottora Dicanti. Ich war das alles schon einmal. Einmal, und ich bin nicht weit gekommen. Und ich kann Ihnen schwören, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie Angst verspürt habe. Verzeihen Sie meine Ausdrucksweise.
    
  - Beruhig dich. Das Wort habe ich schon mal gehört. Was ist passiert?
    
  "Ich wurde entdeckt. Genau in dem Moment, als es passierte, wurde ein Programm aktiviert, das zwei Wachhunde an meine Fersen stellte."
    
  -Was bedeutet das? Denken Sie daran, Sie sprechen mit einer Frau, die dieses Thema nicht versteht.
    
  Albert war begeistert. Er liebte es, über seine Arbeit zu sprechen.
    
  "Dass dort zwei versteckte Diener lauerten und darauf warteten, ob jemand ihre Verteidigung durchbrechen würde. Sobald ich das begriff, setzten sie all ihre Ressourcen ein, um mich zu finden. Einer der Server versuchte verzweifelt, meine Adresse herauszufinden. Der andere begann, mich mit Reißzwecken zu bekleben."
    
  - Was sind Stecknadeln?
    
  "Stellen Sie sich vor, Sie gehen einen Pfad entlang, der einen Bach überquert. Der Pfad besteht aus flachen Steinen, die aus dem Bach ragen. Was ich mit dem Computer gemacht habe, war, den Stein, von dem ich springen sollte, zu entfernen und ihn durch schädliche Informationen zu ersetzen. Ein vielschichtiges Trojanisches Pferd."
    
  Der junge Mann setzte sich vor den Computer und brachte ihnen einen Stuhl und eine Bank. Es war klar, dass ich nicht viele Besucher bekommen würde.
    
  - Virus?
    
  "Sehr mächtig. Würde ich auch nur einen Schritt tun, würden seine Helfer meine Festplatte zerstören, und ich wäre ihm völlig ausgeliefert. Ich habe Nikos Botaón nur dieses eine Mal in meinem Leben benutzt", sagte der Priester und deutete auf einen harmlos aussehenden roten Botaón neben dem zentralen Monitor. "Geht vom Botaón aus zu einem Kabel, das im Meer verschwindet."
    
  - Was ist das?
    
  "Es ist ein Roboter, der die Stromversorgung des gesamten Stockwerks unterbricht. Er startet nach zehn Minuten neu."
    
  Paola fragte ihn, warum er den Strom für das gesamte Stockwerk abgestellt hatte, anstatt nur den Computer aus der Steckdose zu ziehen. Doch der Mann hörte nicht mehr zu, seine Augen klebten am Bildschirm, während seine Finger über die Tastatur flogen. Es war Fowler, dem ich antwortete...
    
  "Informationen werden in Millisekunden übertragen. Die Zeit, die Albert braucht, um sich zu bücken und an der Schnur zu ziehen, könnte entscheidend sein, verstehen Sie?"
    
  Paola verstand es halbwegs, war aber nicht sonderlich interessiert. Mir war es damals wichtig, die blonde spanische Journalistin zu finden, und wenn sie es auf diesem Weg schafften, umso besser. Offensichtlich hatten sich die beiden Priester schon in ähnlichen Situationen begegnet.
    
  -Was wird er nun tun?
    
  "Bildschirm hoch!" Es ist zwar nicht optimal, aber er verbindet seinen Computer über Hunderte von anderen Computern, bis er schließlich im Vatikannetzwerk landet. Je komplexer und länger die Tarnung, desto länger dauert es, bis sie entdeckt wird. Es gibt jedoch eine Sicherheitsmarge, die nicht durchbrochen werden kann. Jeder Computer kennt den Namen des vorherigen Computers, der die Verbindung angefordert hat, und den Namen des Computers während der Verbindung. Genau wie bei Ihnen gilt: Wenn die Verbindung abbricht, bevor Sie erreicht werden, sind Sie verloren.
    
  Ein längerer Druck auf die Tablet-Tastatur dauerte fast eine Viertelstunde. Hin und wieder leuchtete ein roter Punkt auf der Weltkarte auf einem der Bildschirme auf. Es waren Hunderte davon, die fast ganz Europa, Nordafrika und Japan bedeckten. Paola bemerkte, dass sie fast ganz Europa, Nordafrika und Japan bevölkerten. In wirtschaftlich entwickelteren und wohlhabenderen Ländern gab es eine höhere Punktdichte, nur ein oder zwei am Horn von Afrika und ein Dutzend in Suram Rica.
    
  "Jeder dieser Punkte, die Sie auf diesem Monitor sehen, entspricht einem Computer, mit dem Albert mithilfe einer Sequenz auf das System des Vatikans zugreifen will. Es könnte der Computer eines Mitarbeiters eines Instituts, einer Bank oder einer Anwaltskanzlei sein. Er könnte sich in Peking, Österreich oder Manhattan befinden. Je größer die geografische Entfernung, desto effektiver ist die Sequenz."
    
  -Wie kann man sicher sein, dass sich nicht einer dieser Computer versehentlich ausgeschaltet hat und dadurch der gesamte Prozess unterbrochen wurde?
    
  "Ich nutze meinen Verbindungsverlauf", sagte Albert mit distanzierter Stimme und tippte weiter. "Ich benutze normalerweise Computer, die immer an sind. Heutzutage lassen viele Leute ihre Computer rund um die Uhr laufen, dank Filesharing-Programmen, und laden Musik oder Pornografie herunter. Das sind ideale Systeme, um sie als Brücke zu nutzen. Einer meiner Favoriten ist ein Computer - und er ist eine sehr bekannte Figur in der europäischen Politik - er hat Fans von Fotos junger Mädchen mit Pferden. Von Zeit zu Zeit ersetze ich diese Fotos durch Bilder eines Golfers. Er oder sie verbietet solche Perversionen."
    
  -Hast du keine Angst davor, einen Perversen durch einen anderen zu ersetzen, Albert?
    
  Der junge Mann zuckte vor dem eisernen Gesicht des Priesters zurück, doch seine Augen ruhten weiterhin auf den Befehlen und Anweisungen, die seine Finger auf dem Monitor erscheinen ließen. Schließlich hob ich eine Hand.
    
  "Wir sind fast da. Aber ich warne Sie: Wir können nichts kopieren. Ich benutze ein System, bei dem einer Ihrer Computer die Arbeit für mich erledigt, aber die kopierten Daten löscht, sobald sie eine bestimmte Kilobyte-Anzahl überschreiten. Wie alles andere habe ich ein gutes Gedächtnis. Ab dem Moment, in dem wir entdeckt werden, haben wir sechzig Sekunden."
    
  Fowler und Paola nickten. Er war der Erste, der Alberts Rolle als Leiter in seiner Busqueda übernahm.
    
  - Es ist schon da. Wir sind drinnen.
    
  - Wenden Sie sich an den Pressedienst, Albert.
    
  - Schon da.
    
  -Achten Sie auf eine Bestätigung.
    
    
  Weniger als vier Kilometer entfernt, in den Büros des Vatikans, wurde einer der Sicherheitscomputer mit dem Namen "Erzengel" aktiviert. Eine seiner Subroutinen erkannte einen externen Angreifer im System. Das Eindämmungsprogramm wurde sofort aktiviert. Der erste Computer aktivierte einen weiteren, genannt "Saint Michael 34". Es handelte sich um zwei Cray-Supercomputer, die jeweils eine Million Operationen pro Sekunde ausführen konnten und über 200.000 Euro kosteten. Beide arbeiteten bis zum letzten Takt ihrer Rechenleistung, um den Eindringling aufzuspüren.
    
    
  Auf dem Hauptbildschirm wird ein Warnfenster erscheinen. Albert presste die Lippen zusammen.
    
  - Verdammt, da sind sie ja. Wir haben weniger als eine Minute. Da steht nichts von Akkreditierung.
    
  Paola spannte sich an, als sie sah, wie die roten Punkte auf der Weltkarte immer kleiner wurden. Anfangs waren es Hunderte gewesen, doch sie verschwanden in alarmierendem Tempo.
    
  -Presseausweise.
    
  - Nichts, verdammt noch mal. Vierzig Sekunden.
    
  -Medien? -Ziel: Paola.
    
  -Sofort. Hier ist der Ordner. Dreißig Sekunden.
    
  Auf dem Bildschirm erschien eine Liste. Es handelte sich um eine Datenbank.
    
  - Verdammt, da sind über dreitausend Tickets drin.
    
  -Nach Nationalität sortieren und nach Spanien suchen.
    
  - Habe ich schon. Zwanzig Sekunden.
    
  - Verdammt, es gibt keine Fotos. Wie viele Namen sind es denn?
    
  -Ich bin über fünfzig. Fünfzehn Sekunden.
    
  Auf der Weltkarte waren nur noch dreißig rote Punkte übrig. Alle lehnten sich im Sattel nach vorn.
    
  - Er eliminiert die Männer und verteilt die Frauen nach Alter.
    
  - Schon da. Zehn Sekunden.
    
  -Du, Mama, ich und #243; du kommst zuerst.
    
  Paola drückte seine Hände fest. Albert hob eine Hand von der Tastatur und tippte eine Nachricht in Nikos Bot ein. Große Schweißperlen rannen ihm über die Stirn, während er mit der anderen Hand schrieb.
    
  -¡Hier! ¡Hier ist es endlich! ¡Cinco segundos, Anthony!
    
  Fowler und Dikanti lasen und merkten sich die Namen schnell, und sie erschienen auf dem Bildschirm. Doch es war noch nicht vorbei, als Albert den Knopf des Roboters drückte und der Bildschirm und das ganze Haus sich pechschwarz färbten.
    
  "Albert", sagte Fowler in der völligen Dunkelheit.
    
  -¿Si, Anthony?
    
  - Haben Sie zufällig Segel?
    
  - Du solltest wissen, dass ich keine Analsysteme benutze, Anthony.
    
    
    
  Hotel Rafael
    
  Langer Februar, 2
    
  Donnerstag, 7. April 2005, 03:17 Uhr.
    
    
    
  Andrea Otero hatte große Angst.
    
  Angst? Ich weiß nicht, ich bin aufgeregt.
    
  Als ich mein Hotelzimmer betrat, kaufte ich mir als Erstes drei Päckchen Tabak. Das Nikotin im ersten Päckchen war ein wahrer Segen. Jetzt, als ich das zweite rauchte, verschwammen die Konturen der Realität allmählich. Ich verspürte eine leichte, beruhigende Benommenheit, wie ein sanftes Gurren.
    
  Sie saß auf dem Boden des Zimmers, den Rücken an die Wand gelehnt, einen Arm um die Beine geschlungen, mit der anderen Hand rauchte sie zwanghaft. Am anderen Ende des Zimmers stand ein ausgeschalteter Computer.
    
  Angesichts der Umstände handelte die Había angemessen. Nachdem ich die ersten vierzig Sekunden von Victor Karoskas Film gesehen hatte - falls das überhaupt sein richtiger Name war -, wurde mir übel. Andrea, die sich nie zurückhielt, suchte (in Windeseile und mit der Hand vor dem Mund, ja) nach dem nächsten Mülleimer und kippte alles hinein. Sie hatte Nudeln zum Mittagessen, Croissants zum Frühstück und etwas gegessen, an das ich mich nicht erinnern konnte, das aber wohl das Abendessen vom Vortag gewesen sein musste. Er fragte sich, ob es ein Sakrileg wäre, in einen vatikanischen Mülleimer zu erbrechen, und kam zu dem Schluss, dass es das nicht wäre.
    
  Als die Welt wieder stillstand, stand ich zurück vor der Tür der Nachrichtenredaktion und dachte, ich hätte etwas total Blödes angestellt und jemand hätte es bestimmt mitgenommen. Du warst wahrscheinlich auch schon da, als ein paar Schweizergardisten hereinstürmten, um sie wegen Postraubs - oder wie auch immer das hieß - zu verhaften, weil sie einen Umschlag geöffnet hatte, der ganz offensichtlich nicht für dich bestimmt war. Denn keiner dieser Umschläge war für dich bestimmt.
    
  Nun ja, ich war Agent, ich glaubte, ich könnte die Bombe sein, und ich handelte so mutig ich konnte. Beruhigt euch, wartet hier, während sie meine Medaille holen...
    
  Etwas, das nicht besonders religiös ist. Absolut nichts ist glaubwürdig. Aber die Retterin brauchte keine Version, um ihren Entführern davon zu erzählen, denn keiner von ihnen tauchte auf. Also packte Andrea ruhig ihre Sachen, ging - mit der ganzen Ernsthaftigkeit des Vatikans, und lächelte kokett den Schweizergardisten am Glockenbogen zu, durch den Journalisten eintreten - und überquerte den Petersplatz, der nach so vielen Jahren menschenleer war. Spüren Sie den Blick der Schweizergardisten, wenn Sie in der Nähe Ihres Hotels aus einem Taxi steigen. Und eine halbe Stunde später glaubte ich es kaum noch, dass ich ihr gefolgt war.
    
  Aber nein, niemand folgte ihr, und sie schöpfte keinen Verdacht. Ich warf neun bis jetzt ungeöffnete Briefumschläge in den Mülleimer auf der Piazza Navona. Er wollte nicht mit all dem erwischt werden. Und er setzte sich direkt in seinem Zimmer neben sie, ohne vorher noch eine Zigarette zu rauchen.
    
  Als sie sich sicher genug fühlte - ich hatte die Vase mit den getrockneten Blumen im Zimmer etwa zum dritten Mal untersucht, ohne versteckte Mikrofone zu finden -, legte ich die Schallplatte zurück. Bis wir den Film wieder ansehen.
    
  Beim ersten Mal schaffte ich es bis zur ersten Minute. Beim zweiten Mal sah er fast alles. Beim dritten Mal sah er alles, musste aber schnell aufs Klo rennen, um das Glas Wasser, das er bei seiner Ankunft getrunken hatte, und die restliche Galle zu erbrechen. Beim vierten Mal redete er sich so lange ein, bis er sich selbst davon überzeugte, dass es echt war und nicht etwa eine Aufnahme wie "The Blair Witch Project 35". Aber, wie schon erwähnt, war Andrea eine sehr kluge Journalistin, was meist sowohl ihr größter Vorteil als auch ihr größtes Problem war. Seine großartige Intuition hatte ihm bereits gesagt, dass alles von dem Moment an, als er es sich vorgestellt hatte, offensichtlich gewesen war. Vielleicht hätte ein anderer Journalist die DVD seitdem zu sehr infrage gestellt und sie für eine Fälschung gehalten. Aber Andrea hatte mehrere Tage nach Kardinal Robair gesucht und den vermissten Kardinal Mas verdächtigt. Robairs Namen auf einer Aufnahme zu hören, beseitigt alle Zweifel wie ein betrunkener Furz und löscht fünf Stunden im Buckingham Palace aus. Grausam, schmutzig und effektiv.
    
  Er sah sich die Aufnahme zum fünften Mal an, um sich an meine Gene zu gewöhnen. Und zum sechsten Mal, um sich ein paar Notizen zu machen, nur ein paar verstreute Kritzeleien in einem Notizbuch. Nachdem du den Computer ausgeschaltet hast, setz dich so weit wie möglich davon weg - irgendwo zwischen Schreibtisch und Klimaanlage - und du wirst ihn in Ruhe lassen. #243; zum Rauchen.
    
  Definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um mit dem Rauchen aufzuhören.
    
  Meine Gene waren ein Albtraum. Anfangs war der Ekel, der sie erfasste, das Gefühl der Schändlichkeit, das ich in ihr auslöste, so tiefgreifend, dass sie stundenlang wie gelähmt war. Wenn der Schlaf dich verlässt, beginne, das Geschehene gründlich zu analysieren. Nimm dein Notizbuch und notiere drei Punkte, die den Kern des Berichts bilden:
    
    
  1. Der Attentäter des Satanico Está befasst sich mit den Kardinälen der katholischen Kirche.
    
  2. Die katholische Kirche verschweigt uns dies, vermutlich in Zusammenarbeit mit der italienischen Polizei.
    
  3. Zufälligerweise befand sich die Haupthalle, in der diese Kardinäle ihre wichtigste Rolle spielen sollten, innerhalb von neun Räumen.
    
    
  Streiche die Neun durch und ersetze sie durch eine Acht. Ich war bereits ein Sabado.
    
  Du musst einen großartigen Bericht schreiben. Einen vollständigen Bericht in drei Teilen, mit Zusammenfassung, Erklärungen, Requisiten und einer Überschrift auf der Titelseite. Du darfst keine Bilder vorab auf die Festplatte senden, da du sie sonst nicht schnell entdecken kannst. Natürlich wird der Regisseur Paloma aus dem Krankenhausbett zerren, damit die Kunstwerke das richtige Gewicht haben. Vielleicht darf sie sogar eine der Requisiten signieren. Aber wenn ich den gesamten Bericht auf einem Diktiergerät simulieren und ihn für den Versand ins Ausland vorbereiten würde, hätte kein Regisseur den Mut, seine Unterschrift zu entfernen. Nein, denn in diesem Fall würde Andrea sich darauf beschränken, ein Fax an La Nasi und ein weiteres an Alphabet mit dem vollständigen Text und den Fotos der Kunstwerke zu schicken - also der Requisiten, bevor sie veröffentlicht werden. Und zum Teufel mit der großen Exklusivstory (und seiner Arbeit übrigens).
    
  Wie mein Bruder Michelangelo schon sagte: Entweder ficken wir alle oder wir werden gefickt.
    
  Es lag nicht daran, dass er ein besonders netter Kerl gewesen wäre, perfekt für eine junge Dame wie Andrea Otero, sondern daran, dass er kein Geheimnis daraus machte, dass sie jung war. Es war nicht typisch für eine Señoritas, Post zu stehlen, wie sie es tat, aber das war ihr völlig egal. Sie kennen ihn ja bereits als Autor des Bestsellers "Ich erkenne den Kardinalmörder". Hunderttausende Bücher mit seinem Namen auf dem Cover, Interviews auf der ganzen Welt, Vorträge. Dreister Diebstahl verdient zweifellos eine Strafe.
    
  Natürlich muss man manchmal vorsichtig sein, von wem man stiehlt.
    
  Denn diese Nachricht wurde nicht an die Pressestelle geschickt. Sie wurde ihm von einem skrupellosen Killer übermittelt. Wahrscheinlich hoffen Sie, dass Ihre Nachricht in diesen Stunden weltweit verbreitet wird.
    
  Überlegen Sie sich Ihre Möglichkeiten. Es war Samstag. Natürlich hätte derjenige, der diese Schallplatte bestellt hatte, erst am Morgen bemerkt, dass Sie noch nicht angekommen waren. Wenn der Kurierdienst für einen Betrüger arbeitete, der daran zweifelte, sollte ich ihn in wenigen Stunden, vielleicht bis zehn oder elf, ausfindig machen können. Aber sie bezweifelte, dass der Bote ihren Namen auf die Karte geschrieben hatte. Es scheint, dass denen, die sich um mich sorgen, die Inschrift drumherum wichtiger ist als das, was darauf steht. Im besten Fall, wenn die Agentur erst am Montag öffnet, planen Sie zwei Tage ein. Im schlimmsten Fall haben Sie nur ein paar Stunden Zeit.
    
  Andrea hatte natürlich gelernt, dass es immer ratsam war, vom schlimmsten Fall auszugehen. Denn man musste sofort einen Bericht schreiben. Während die ganze Aufregung noch durch die Drucker des Chefredakteurs und des Regisseurs in Madrid sickerte, musste er sich die Haare kämmen, die Sonnenbrille aufsetzen und völlig aufgedreht das Hotel verlassen.
    
  Er stand auf und fasste sich ein Herz. Ich schaltete den Port ein und startete das Programm zum Layouten der Festplatte. "Schreiben Sie direkt auf das Layout." Er fühlte sich viel besser, als er seine Worte über dem Text sah.
    
  Es dauert dreiviertel Stunden, einen Probecocktail mit drei Shots Gin zuzubereiten. Ich war fast fertig, als sie... ihr widerliches Zeug...
    
  ¿ Whoé n koñili callá a é sten nú mero at three o'clock in the morning?
    
  Diese Nummer ist nur auf der Diskette. Ich habe sie niemandem gegeben, nicht einmal meiner Familie. Ich muss ja jemand von der Redaktion sein, der dringend etwas zu erledigen hat. Er steht auf und kramt in seiner Tasche, bis er sie findet. Er schaut auf den Bildschirm und erwartet, den üblichen Trick mit den Nummern zu sehen, der immer im Sucher erschien, wenn jemand aus Spanien anrief. Stattdessen sieht er, dass das Feld, wo die Identität des Anrufers hätte angezeigt werden sollen, leer ist. Nicht einmal zu sehen. "Nummer einfach unbekannt."
    
  Descolgó.
    
  -Erzählen?
    
  Das Einzige, was ich hörte, war der Tonfall der Kommunikation.
    
  Er wird einen Fehler in п áп кпросто machen.
    
  Aber irgendetwas in ihr sagte ihr, dass dieser Anruf wichtig war und sie sich beeilen sollte. Ich setzte mich wieder an die Tastatur und tippte: "Ich bitte dich, niemals." Sie entdeckte einen Tippfehler - nie einen Rechtschreibfehler, seit acht Jahren hatte sie keinen mehr gemacht -, aber ich korrigierte ihn nicht einmal. "Ich mache es im Laufe des Tages." Plötzlich überkam mich ein unbändiger Drang, fertig zu werden.
    
  Er brauchte vier Stunden, um den Rest des Berichts fertigzustellen, mehrere Stunden, um biografische Informationen und Fotos der verstorbenen Kardinäle, Nachrichten, Bilder und den Tod zusammenzutragen. Das Kunstwerk enthält mehrere Screenshots aus Karoskis eigenem Video. Eines dieser Gene war so stark, dass es sie erröten ließ. Was soll's. Sollen sie doch in der Redaktion zensiert werden, wenn sie es wagen.
    
  Er schrieb gerade seine letzten Worte, als es an der Tür klopfte.
    
    
    
  Hotel Rafael
    
  Langer Februar, 2
    
  Donnerstag, 7. April 2005, 07:58 Uhr.
    
    
    
  Andrea blickte zur Tür, als hätte sie sie noch nie zuvor gesehen. Ich nahm die CD aus dem Computer, stopfte sie in ihre Plastikhülle und warf sie in den Mülleimer im Badezimmer. Mit El Coraz auf der Daunenjacke ging ich zurück ins Zimmer und wollte, dass er, wer auch immer er war, verschwand. Es klopfte erneut an der Tür, höflich, aber eindringlich. Ich lasse mich doch nicht zur Putzfrau machen. Es war erst acht Uhr morgens.
    
  - Wer bist du?
    
  -¿Señorita Otero? Willkommensfrühstück im Hotel.
    
  Andrea öffnete extrañada die Tür.
    
  - Ich habe nicht nach Ninún gefragt...
    
  Er wurde jäh unterbrochen, denn es war weder einer der eleganten Hotelpagen noch ein Kellner. Es war ein kleiner, aber breitschultriger und stämmiger Mann in einer Lederwindjacke und schwarzen Hosen. Er war unrasiert und lächelte offen.
    
  - Frau Otero? Ich bin Fabio Dante, Superintendent des vatikanischen Vigilanzkorps. Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen.
    
  In deiner linken Hand hältst du einen Ausweis mit einem deutlich sichtbaren Foto von dir. Andrea betrachtete ihn aufmerksam. Authentisch, du Parecía.
    
  "Sehen Sie, Herr Superintendent, ich bin im Moment sehr müde und muss schlafen. Kommen Sie ein anderes Mal wieder."
    
  Ich schloss widerwillig die Tür, doch da stieß mich jemand mit der Wendigkeit eines Enzyklopädieverkäufers mit einer Großfamilie an. Andrea musste im Türrahmen stehen bleiben und ihn anstarren.
    
  - Hast du mich nicht verstanden? Ich muss schlafen.
    
  "Offenbar haben Sie mich missverstanden. Ich muss dringend mit Ihnen sprechen, da ich einen Einbruch untersuche."
    
  Verdammt, konnten sie mich wirklich so schnell finden, wie ich es verlangt hatte?
    
  Andrea behielt ihr Gesicht im Blick, aber innerlich schwankte ihr Nervensystem zwischen "Alarm" und "voller Krise". Du musst diesen vorübergehenden Zustand, was auch immer er sein mag, überwinden, denn im Moment versuchst du nur, die Finger in die Handflächen zu stecken, die Zehen zu krümmen und den Bauleiter um Hilfe zu bitten.
    
  - Ich habe nicht viel Zeit. Ich muss meinem Perió-Mitglied einen Artillerie-Esel schicken.
    
  -Es ist noch etwas früh, um Artikel zu verschicken, nicht wahr? Die Zeitungen werden erst in vielen Stunden gedruckt.
    
  -Nun ja, ich mache gerne Dinge mit Antelachi.
    
  "Ist das eine besondere Neuigkeit, ein Quiz?", fragte Dante und machte einen Schritt auf Andreas Säulengang zu. Ésta stellte sich ihr in den Weg.
    
  -Oh nein. Nichts Besonderes. Die üblichen Spekulationen darüber, wer wohl nicht der neue Sumo-Papst wird.
    
  - Selbstverständlich. Es ist eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit, nicht wahr?
    
  "Es ist in der Tat von größter Wichtigkeit. Aber es liefert nicht viele Neuigkeiten. Wissen Sie, die üblichen Berichte über Menschen hier und auf der ganzen Welt. Es gibt nicht viel Neues, wissen Sie?"
    
  - Und so sehr wir uns das auch wünschen würden, Orita Otero.
    
  -Abgesehen natürlich von dem Diebstahl, von dem er mir erzählt hat. Was haben sie ihnen gestohlen?
    
  -Nichts Übernatürliches. Ein paar Briefumschläge.
    
  -Was birgt das Jahr? Sicherlich etwas sehr Wertvolles. ¿ La-nóDie Kardinalsmine?
    
  -Was lässt Sie glauben, dass Inhalte wertvoll sind?
    
  "Das muss es sein, sonst hätte er nicht seinen besten Spürhund auf die Fährte geschickt. Vielleicht eine Sammlung von Vatikan-Briefmarken? Er oder... Philatelisten töten ja für sowas."
    
  - Das waren eigentlich keine Briefmarken. Darf ich rauchen?
    
  - Es ist Zeit, auf Pfefferminzbonbons umzusteigen.
    
  Der junge Inspektor beschnuppert die Umgebung.
    
  - Nun, soweit ich das beurteilen kann, befolgen Sie Ihre eigenen Ratschläge nicht.
    
  "Es war eine harte Nacht. Rauchen Sie, wenn Sie einen leeren Aschenbecher finden..."
    
  Dante zündete sich eine Zigarre an und blies den Rauch aus.
    
  "Wie ich bereits sagte, Etoíorita Otero, enthalten die Umschläge keine Briefmarken. Es handelt sich um streng vertrauliche Informationen, die nicht in die falschen Hände geraten dürfen."
    
  -Zum Beispiel?
    
  -Ich verstehe das nicht. Zum Beispiel was?
    
  -Was für falsche Hände, Superintendent.
    
  -Diejenigen, deren Pflicht nicht weiß, was ihnen guttut.
    
  Dante sah sich um und entdeckte natürlich keinen einzigen Aschenbecher. Zanjo warf Asche auf den Boden und fragte: "Was soll das?" Andrea schluckte: Wenn das keine Drohung war, dann war sie eine Nonne im Kloster.
    
  - Und um welche Art von Information handelt es sich?
    
  -Vertraulich.
    
  - Wertvoll?
    
  "Das könnte sein. Ich hoffe, dass die Person, die die Umschläge genommen hat, jemand ist, mit dem sie verhandeln können."
    
  -Sind Sie bereit, viel Geld zu bieten?
    
  - Nein. Ich bin bereit, Ihnen anzubieten, Ihre Zähne zu behalten.
    
  Nicht Dantes Angebot an sich ängstigte Andrea, sondern sein Tonfall. Diese Worte mit einem Lächeln auszusprechen, in dem Tonfall, mit dem man koffeinfreien Kaffee bestellt, war gefährlich. Plötzlich bereute sie es, ihn hereingelassen zu haben. Der letzte Brief würde sich nun ereignen.
    
  "Nun, Herr Superintendent, das war eine Zeitlang sehr interessant für mich, aber jetzt muss ich Sie bitten zu gehen. Mein Freund, der Fotograf, kommt gleich zurück und ist ein wenig eifersüchtig ..."
    
    Dante se echó a reír. Andrea lachte überhaupt nicht. Der andere Mann zog eine Pistole und richtete sie zwischen ihre Brüste.
    
  "Hör auf, so zu tun, Schöne. Da ist kein einziger Freund, kein einziger. Gib mir die Aufnahmen, oder wir werden uns die Farbe seiner Lunge persönlich ansehen."
    
  Andrea runzelte die Stirn und richtete die Pistole zur Seite.
    
  "Er wird mich nicht erschießen. Wir sind in einem Hotel. Die Polizei wird in weniger als einer halben Minute hier sein und wird Jem, den sie suchen, nicht finden, was auch immer das sein mag."
    
  Der Bauleiter zögert einen Moment.
    
  -Was? Er hat einen Grund. Ich werde ihn nicht erschießen.
    
  Und ich versetzte ihm mit meiner linken Hand einen furchtbaren Schlag. Andrea sah bunte Lichter und eine leere Wand vor sich, bis ihr klar wurde, dass der Schlag sie zu Boden geworfen hatte und die Wand der Schlafzimmerboden war.
    
  "Es wird nicht lange dauern, Onaéorita. Nur so lange, wie ich brauche, um das zu holen, was ich brauche."
    
  Dante ging zum Computer. Ich drückte so lange Tasten, bis der Bildschirmschoner verschwand und durch den Bericht ersetzt wurde, an dem Andrea arbeitete.
    
  -Preis!
    
  Die Journalistin verfällt in einen halbwahnhaften Zustand und hebt die linke Augenbraue. "Dieser Idiot hat eine Party geschmissen. Er hat geblutet, und ich konnte auf dem Auge nichts mehr sehen."
    
  -Ich verstehe das nicht. Er hat mich gefunden?
    
  - Señorita, Sie selbst haben uns die Erlaubnis dazu erteilt, indem Sie uns Ihre einfache schriftliche Zustimmung gegeben und die Annahmebestätigung unterzeichnet haben. - Während Sie sprachen, Superintendent Sakópópópópópópópópópópópópópópópópópópópópóp243, zog er zwei Gegenstände aus seiner Jackentasche: einen Schraubenzieher und einen glänzenden, nicht sehr großen Metallzylinder. Schalten Sie den Anschluss aus, drehen Sie ihn um und öffnen Sie die Festplatte mit dem Schraubenzieher. Andrea drehte den Zylinder ein paar Mal, und ihr wurde klar, was es war: ein starker Impuls. Notieren Sie sich den Bericht und alle Informationen auf der Festplatte. - Hätte ich das Kleingedruckte auf dem Formular, das ich unterschreibe, sorgfältig gelesen, hätte ich gesehen, dass Sie uns unter anderem die Erlaubnis erteilen, Ihre widerliche Adresse bei satélite nachzuschlagen, "falls Sie nicht einverstanden sind"; "Seine Sicherheit ist in Gefahr." Kluá setzt sich selbst ein, falls ein Terrorist aus der Presse zu uns durchdringen sollte, aber das führte dazu, dass ich in seinen Fall geriet. Gott sei Dank habe ich sie gefunden und nicht Karoski.
    
  - Ah, ja. Ich freue mich riesig.
    
  Andrea schaffte es, sich auf die Knie zu erheben. Mit der rechten Hand tastete er nach dem Murano-Glas-Aschenbecher, den du als Souvenir mitnehmen wolltest. Er legte sich auf den Boden neben die Wand, wo sie wie eine Wahnsinnige geraucht hatte. Dante ging zu ihr hinüber und setzte sich aufs Bett.
    
  "Ich muss zugeben, wir schulden ihm Dankbarkeit. Wäre da nicht diese abscheuliche Rowdytat gewesen, die ich begangen habe, wären die Ohnmachtsanfälle dieses Psychopathen längst öffentlich bekannt geworden. Du hast versucht, persönlich von der Situation zu profitieren, und bist gescheitert. Das ist Fakt. Sei jetzt vernünftig, und wir lassen die Sache ruhen. Ich will nicht seine Exklusivität, aber ich werde ihm das Gesicht wahren. Was will er mir damit sagen?"
    
  -Schallplatten... -und einige unverständliche Wörter erklingen.
    
  Dante beugt sich so weit vor, bis seine Nase die Nase des Journalisten berührt.
    
  -¿Sómo, sagst du, schön?
    
  "Ich sage nur: Fick dich, du Mistkerl", sagte Andrea.
    
  Und ich schlug ihm mit einem Aschenbecher auf den Kopf. Es gab eine Aschewolke, als das massive Glas den Hausmeister traf, der aufschrie und sich an den Kopf fasste. Andrea stand auf, taumelte und versuchte, ihn erneut zu schlagen, aber ein weiterer Schlag war zu viel für mich. Ich hielt seine Hand fest, während der Aschenbecher mehrere hundert Meter von seinem Gesicht entfernt baumelte.
    
  -Wow, wow. Weil die kleine Schlampe Krallen hat.
    
  Dante packte ihr Handgelenk und verdrehte ihre Hand, bis sie den Aschenbecher fallen ließ. Dann schlug er dem Magier ins Gesicht. Andrea Keyó sank erneut zu Boden, nach Luft schnappend, und spürte die Stahlkugel auf ihrer Brust. Der Superintendent fasste sich ans Ohr, aus dem ein Rinnsal Blut tropfte. "Sieh dich im Spiegel an. Sein linkes Auge ist halb geschlossen, voller Asche und Zigarettenstummel in den Haaren." Er ging zurück zu der jungen Frau und trat auf sie zu, um ihr in die Weichteile zu treten. "Hätte ich ihn getroffen, hätte der Schlag ihm mehrere Rippen gebrochen." Doch Andrea war vorbereitet. Als der andere Mann sein Bein zum Schlag hob, trat er ihm gegen den Knöchel des Beines, auf dem er sich abstützte. Dante Keyó, auf dem Teppich liegend, gab dem Journalisten Zeit, zur Toilette zu rennen. "Ich knalle die Tür zu."
    
  Dante steht humpelnd auf.
    
  - Mach den Mund auf, Schlampe.
    
  "Verpiss dich, du Hurensohn", sagte Andrea, mehr zu sich selbst als zu ihrem Angreifer. Ihr wurde bewusst, dass sie weinte. Ich dachte ans Beten, erinnerte mich dann aber, für wen Dante arbeitete, und beschloss, dass das vielleicht keine so gute Idee war. Er versuchte, sich gegen die Tür zu lehnen, aber es half ihm nicht viel. Die Tür schwang auf und presste Andrea gegen die Wand. Der Hausmeister kam herein, wütend, sein Gesicht rot und vor Zorn geschwollen. Sie versuchte sich zu verteidigen, aber ich packte sie an den Haaren und versetzte ihr einen heftigen Schlag, der ihr ein paar Haare ausriss. Leider hielt er sie mit immer größerer Kraft fest, und sie konnte nicht viel tun, außer ihre Arme und ihr Gesicht um ihn zu schlingen und zu versuchen, das grausame Opfer zu befreien. Ich schaffte es, Dante zwei blutige Schnitte ins Gesicht zu schneiden, der außer sich vor Wut war.
    
  -¿Dónde están?
    
  -Was du...
    
  -¡¡¡ DÓNDE...
    
  -...zur Hölle
    
  -... ESSEN!!!
    
  Er presste ihren Kopf fest gegen den Spiegel, bevor er seine Stirn gegen die Wand presste. Ein Netz spannte sich über den gesamten Spiegel, und in seiner Mitte blieb ein runder Blutstropfen zurück, der allmählich in das Waschbecken floss.
    
  Dante zwang sie, ihr eigenes Spiegelbild im zerbrochenen Spiegel zu betrachten.
    
  - Soll ich fortfahren?
    
  Plötzlich hatte Andrea genug.
    
  - Im Mülleimer baño -murmuró.
    
  -Sehr gut. Pack es an und halt es mit deiner linken Hand fest. Und hör auf, so zu tun, als ob nichts wäre, sonst schneide ich dir die Brustwarzen ab und zwinge dich, sie zu schlucken.
    
  Andrea befolgte die Anweisungen und reichte Dante die Diskette. "Ich sehe sie mir an. Sieht aus wie der Mann, den du getroffen hast."
    
  -Sehr gut. Und die anderen neun?
    
  Der Journalist schluckt.
    
  -Bindestrich.
    
  - Und Scheiße.
    
  Andrea Sinti, die zurück ins Zimmer flog - und tatsächlich flog sie fast anderthalb Meter weit -, wurde von Dante fallen gelassen. Ich landete auf dem Teppich und vergrub mein Gesicht in den Händen.
    
  - Ich hab keine, verdammt nochmal! Ich hab keine! Schau doch mal in die verdammten Mülleimer in Piazza Navona, Colorado!
    
  Die Aufseherin kam lächelnd näher. Sie lag weiterhin auf dem Boden und atmete sehr schnell und aufgeregt.
    
  "Du verstehst es einfach nicht, Schlampe? Du hättest mir nur diese verdammten Platten geben müssen, und du wärst mit einem blauen Fleck im Gesicht nach Hause gekommen. Aber nein, du glaubst wohl, ich bin bereit zu glauben, dass der Sohn Gottes zu Dante betet, und das kann nicht sein. Denn wir kommen jetzt zu ernsteren Dingen. Deine Chance, aus dieser Misere herauszukommen, ist vorbei."
    
  Stell einen Fuß links und einen rechts neben den Journalisten. Zieh die Pistole und richte sie auf seinen Kopf. Andrea sah ihm erneut in die Augen, obwohl sie Todesangst hatte. Dieser Kerl war zu allem fähig.
    
  "Du wirst nicht schießen. Das würde einen Höllenlärm machen", sagte er, deutlich weniger überzeugend als zuvor.
    
  -Weißt du was, Schlampe? Sobald ich sterbe, hast du einen Grund.
    
  Er holt einen Schalldämpfer aus der Tasche und beginnt, ihn in den Lauf der Pistole zu schrauben. Andrea sah sich erneut dem sicheren Tod gegenüber, diesmal jedoch leiser.
    
  -Tírala, Fabio.
    
  Dante drehte sich um, sein Gesichtsausdruck verriet Erstaunen. Dikanti und Fowler standen im Türrahmen des Schlafzimmers. Der Inspektor hielt eine Pistole, der Priester den elektronischen Schlüssel, mit dem man eintreten konnte. Dikantis Dienstmarke und Fowlers Brustabzeichen waren entscheidend für deren Beschaffung gewesen. Wir kamen zu spät, weil ich, bevor wir zum Allí Habí gingen, noch einen der vier Namen überprüft hatte, die wir bei Albert erhalten hatten. Sie waren nach Alter sortiert, angefangen mit der jüngsten der spanischen Journalisten, Olas, die sich als Assistentin des Fernsehteams entpuppte und glattes Haar hatte - oder, wie ich es ausdrückte, sie war sehr schön; der gesprächige Portier in seinem Hotel. Der Portier in Andreas Hotel war ebenso redselig.
    
  Dante starrte auf Dikantis Pistole, sein Körper ihnen zugewandt, während seine Pistole Enka folgte und auf Andrea zielte.
    
  Du wirst es nicht tun.
    
  "Sie greifen einen Bürger unserer Gemeinde auf italienischem Boden an, Dante. Ich bin Polizist. Er hat mir nicht vorzuschreiben, was ich darf und was nicht. Legen Sie die Waffe weg, sonst werden Sie sehen, wie ich gezwungen bin zu schießen."
    
  "Dicanti, du verstehst das nicht. Diese Frau ist eine Kriminelle. Er hat vertrauliche Informationen des Vatikans gestohlen. Er lässt sich von nichts einschüchtern und kann alles zerstören. Das ist nichts Persönliches."
    
  "Diesen Satz hat er schon einmal zu mir gesagt. Und mir ist bereits aufgefallen, dass Sie viele rein persönliche Angelegenheiten selbst regeln."
    
  Dante wurde sichtlich wütend, beschloss aber, seine Taktik zu ändern.
    
  Okay. Ich begleite sie in den Vatikan, um herauszufinden, was sie mit den gestohlenen Umschlägen gemacht hat. Ich bürge persönlich für Ihre Sicherheit.
    
  Andrea stockte der Atem, als sie diese Worte hörte. "Ich will keine Minute länger mit diesem Mistkerl verbringen." Beginne, deine Beine ganz langsam zu drehen, um deinen Körper in eine bestimmte Position zu bringen.
    
  "Nein", sagte Paola.
    
  Die Stimme des Superintendenten wurde schärfer. Se dirigió a Fowler.
    
  -Anthony. Das darf nicht passieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass er alles enthüllt. Beim Kreuz und beim Schwert.
    
  Der Priester blickte ihn sehr ernst an.
    
  "Das sind nicht länger meine Symbole, Dante. Und erst recht nicht, wenn sie in den Kampf ziehen und unschuldiges Blut vergießen."
    
  Aber sie ist nicht unschuldig. Stehlt die Umschläge!
    
  Bevor Dante ausreden konnte, hatte Andrea die Position erreicht, nach der sie schon ewig gesucht hatte. Schätze den Moment ein und schwing dein Bein hoch. Er tat es nicht mit aller Kraft - oder mangelndem Willen -, sondern weil er das Ziel im Blick hatte. Ich will, dass er dieser Ziege direkt in die Eier trifft. Und genau da habe ich sie getroffen.
    
  Drei Dinge geschahen gleichzeitig.
    
  Dante ließ die Scheibe fallen, die er hielt, und griff mit der linken Hand nach den Testpatronen. Mit der rechten spannte er den Hahn der Pistole und drückte ab. Der Superintendent schoss wie eine Forelle aus dem Wasser und rang nach Luft vor Schmerz.
    
  Dikanti überbrückte die Distanz zu Dante in drei Schritten und stürzte sich kopfüber auf seinen Zauberer.
    
  Fowler reagierte eine halbe Sekunde nach seinen Worten - wir wissen nicht, ob seine Reflexe altersbedingt nachließen oder ob er die Situation erst einschätzen musste - und stürzte sich auf die Waffe, die trotz des Aufpralls weiterfeuerte und auf Andrea gerichtet war. Fast im selben Moment, als Dikantis Schulter gegen Dantes Brust krachte, gelang es mir, seinen rechten Arm zu packen. Der Schuss schlug in die Decke ein.
    
  Alle drei stürzten in Unordnung, bedeckt mit Gips. Fowler, der immer noch die Hand des Aufsehers hielt, drückte mit beiden Daumen auf das Gelenk zwischen Hand und Arm. Dante ließ seine Pistole fallen, aber ich schaffte es, dem Inspektor einen Kniestoß ins Gesicht zu versetzen, woraufhin er bewusstlos zur Seite taumelte.
    
  Fowler und Dante schlossen sich an. Fowler hielt die Pistole mit der linken Hand am Vorderschaft. Mit der rechten Hand betätigte er den Magazinauslösemechanismus, und sie fiel schwer zu Boden. Mit der anderen Hand schlug er RecáMara die Kugel aus der Hand. Zwei Bewegungen - ra pidos más - und er hielt den Hahn in der Handfläche. Ich warf sie quer durch den Raum und ließ die Pistole Dante vor die Füße fallen.
    
  - Jetzt hat es keinen Sinn mehr.
    
  Dante lächelte und zog den Kopf an die Schultern.
    
  - Du servierst auch nicht viel, alter Mann.
    
  -Demuéstralo.
    
  Der Superintendent stürzt sich auf den Priester. Fowler weicht aus und streckt den Arm aus. Beinahe stürzt er mit dem Gesicht voran in Dantes Gesicht und trifft ihn an der Schulter. Dante setzt zum linken Haken an, und Fowler weicht zur anderen Seite aus, nur um Dantes Schlag direkt zwischen die Rippen zu bekommen. Keió fällt zu Boden, presst die Zähne zusammen und ringt nach Luft.
    
  - Der ist eingerostet, der alte Mann.
    
  Dante nahm Pistole und Magazin an sich. Wenn es ihr nicht gelang, den Schlagbolzen rechtzeitig zu finden und einzusetzen, konnte sie die Waffe nicht dort lassen. In ihrer Eile hatte sie nicht bemerkt, dass auch Dikanti eine Waffe besaß, die sie hätte benutzen können. Glücklicherweise lag diese noch unter dem Körper der Inspektorin, als diese das Bewusstsein verlor.
    
  Der Aufseher blickte sich um, sah die Tasche und den Schrank an. Andrea Otero war verschwunden, und auch der Puck, den der Khabi im Kampf fallen gelassen hatte, war weg. Ein Blutstropfen am Fenster ließ sie hinausschauen, und einen Moment lang glaubte ich, die Journalistin könne schweben, wie Christus auf dem Wasser. Oder besser gesagt, kriechen.
    
  Bald erkannte er, dass sich der Raum, in dem sie sich befanden, auf der Höhe des Daches des Nachbargebäudes befand, welches den wunderschönen Kreuzgang des von Bramante erbauten Klosters Santa Mar de la Paz schützte.
    
  Andrea hatte keine Ahnung, wer das Kloster erbaut hatte (und Bramante war natürlich der Architekt des Petersdoms im Vatikan). Doch das Tor war genau dasselbe, und die braunen Ziegel glänzten in der Morgensonne. Er versuchte, die Aufmerksamkeit der Touristen, die vor ihm durch das Kloster schlenderten, nicht auf sich zu ziehen. Er wollte das andere Ende des Daches erreichen, wo ein offenes Fenster Erlösung versprach. Ich war schon fast da. Das Kloster erstreckt sich über zwei Ebenen, sodass das Dach fast neun Meter hoch über die Steine des Hofes ragt.
    
  Dante ignorierte die Qualen, die an seinen Genitalien verübt wurden, ging zum Fenster und folgte der Journalistin hinaus. Sie drehte den Kopf und sah, wie er die Füße auf die Fliesen stellte. Sie wollte weitergehen, doch Dantes Stimme hielt sie zurück.
    
  -Ruhig.
    
  Andrea drehte sich um. Dante zielte mit seiner unbenutzten Pistole auf sie, doch sie bemerkte es nicht. Sie fragte sich, ob dieser Kerl verrückt genug war, am helllichten Tag und in Anwesenheit von Zeugen zu schießen. Denn die Touristen hatten sie gesehen und verfolgten gebannt das Geschehen über ihren Köpfen. Die Zahl der Schaulustigen nahm stetig zu. Einer der Gründe, warum Dicanti bewusstlos auf dem Boden seines Zimmers lag, war, dass ihm ein Paradebeispiel für den sogenannten "Effekt" in der forensischen Psychiatrie fehlte - eine Theorie, die seiner Meinung nach als Beweismittel dienen kann (was sich auch bestätigt hat). Dieser Effekt besagt, dass mit zunehmender Anzahl von Umstehenden, die eine Person in Not sehen, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand dem Opfer hilft, sinkt (und die Wahrscheinlichkeit, dass jemand dem Opfer hilft, steigt). (Winken Sie mit dem Finger und sagen Sie es Ihren Kontakten, damit sie es sehen.)
    
  Dante ignorierte die Blicke und ging langsam, gebückt, auf den Journalisten zu. Als er näher kam, sah er zufrieden, dass dieser eine der Schallplatten in den Händen hielt. "Ehrlich gesagt war ich so ein Idiot, dass ich die anderen Umschläge weggeworfen habe. Deshalb hatte diese Platte eine viel größere Bedeutung."
    
  - Gib mir die CD und ich gehe. Ehrlich. Ich will dich nicht zu Dantes Opfer machen -mintió.
    
  Andrea hatte Todesangst, aber sie zeigte einen Mut und eine Tapferkeit, die selbst einen Feldwebel der Legion beschämt hätten.
    
  - Und verdammt! Verschwinde, sonst erschieße ich ihn.
    
  Dante blieb mitten im Schritt stehen. Andrea streckte den Arm aus, die Hüfte leicht gebeugt. Mit einer einzigen Geste flog die Scheibe wie ein Frisbee. Sie könnte beim Aufprall zerbrechen. Oder ich könnte die Scheibe, die in einer leichten Brise dahingleitet, im Flug mit einem der Frösche auffangen und sie verdampfen lassen, bevor sie das Kloster erreicht. Und dann: Adiós.
    
  Zu hohes Risiko.
    
  Das waren die Tafeln. Was tun in einem solchen Fall? Den Feind ablenken, bis sich das Blatt zu euren Gunsten wendet.
    
  "Sei freundlich", sagte er und hob seine Stimme deutlich, "spring nicht. Ich weiß nicht, was ihn in diese Situation gebracht hat, aber das Leben ist sehr schön. Wenn du darüber nachdenkst, wirst du sehen, dass du viele Gründe hast zu leben."
    
  Ja, das ergibt Sinn. Ich gehe nah genug heran, um einer blutüberströmten Irren zu helfen, die aufs Dach geklettert ist und Selbstmord droht. Ich versuche, sie festzuhalten, damit niemand merkt, wie ich die Diskette an mich nehme, und nachdem sie im Kampf scheitert, sie zu retten, stürze ich mich auf sie ... Tragödie. De Dikanti und Fowler haben sich von oben schon um sie gekümmert. Sie wissen, wie man Druck ausübt.
    
  -Spring nicht! Denk an deine Familie.
    
  - Aber was zum Teufel redest du da? - Andrea war verblüfft. - Ich denke nicht mal daran zu springen!
    
  Der Spanner von unten benutzte seine Finger, um den Flügel anzuheben, anstatt die Tasten seines Telefons zu drücken und die Polizei zu rufen. Niemand fand es seltsam, dass der Retter eine Waffe in der Hand hielt (oder vielleicht bemerkte er nicht, was er trug). 233;Ich frage den Retter in meiner rechten Hand.) Dante ist zufrieden mit seinem inneren Zustand. Jedes Mal, wenn ich mich neben einer jungen Reporterin wiederfand.
    
  - Keine Angst! Ich bin Polizist!
    
  Andrea begriff zu spät, was ich mit dem anderen meinte. Er war bereits weniger als zwei Meter entfernt.
    
  -Komm nicht näher, Ziege. Lass es fallen!
    
  Die Zuschauer unten glaubten, sie hätten gehört, wie sie sich stürzte, und bemerkten kaum den Rekord, den sie in den Händen hielt. Rufe wie "Nein, nein!" hallten durch die Halle, und einer der Touristen beteuerte sogar seine ewige Liebe zu Andrea, sollte sie es sicher vom Dach schaffen.
    
  Die ausgestreckten Finger des Aufsehers berührten beinahe die nackten Füße der Journalistin, als sie sich zu ihm umdrehte. Er wich ein Stück zurück und rutschte mehrere hundert Meter. Die Menge (denn es befanden sich bereits fast fünfzig Personen im Kloster, und sogar einige Hotelgäste spähten aus den Fenstern) hielt den Atem an. Doch dann rief jemand:
    
  - Schau mal, ein Priester!
    
  Dante stand. Fowler stand auf dem Dach und hielt in jeder Hand eine Dachziegel.
    
  "Hier nicht, Anthony!", rief der Superintendent.
    
  Fowler schien nicht zuzuhören. Ich warf ihm mit Hilfe eines teuflischen Zeigefingers eine der Ziegel nach. Dante hatte Glück, dass er sein Gesicht mit der Hand bedeckte. Hätte er das nicht getan, hätte das Knirschen, das ich hörte, als der Ziegel auf seinen Unterarm traf, genauso gut das Knacken seines gebrochenen Knochens sein können, nicht seines Unterarms. Er stürzte aufs Dach und rollte zum Rand. Wie durch ein Wunder konnte er sich am Rand festhalten, seine Füße trafen eine der kostbaren Säulen, die ein weiser Bildhauer unter Bramantes Leitung vor fünfhundert Jahren geschaffen hatte. Nur jene Zuschauer, die den anderen Zuschauern nicht geholfen hatten, taten dasselbe mit Dante, und drei Leute schafften es, das zerrissene T-Shirt vom Boden aufzuheben. Ich dankte ihm dafür, dass er ihn bewusstlos geschlagen hatte.
    
  Auf dem Dach geht Fowler auf Andrea zu.
    
  - Bitte, Orita Otero, kehren Sie ins Zimmer zurück, bevor alles vorbei ist.
    
    
    
  Hotel Rafael
    
  Langer Februar, 2
    
  Donnerstag, 7. April 2005, 09:14 Uhr.
    
    
    
  Paola kehrte ins Leben zurück und erlebte ein Wunder: Pater Fowlers fürsorgliche Hände legten ihr ein feuchtes Handtuch auf die Stirn. Sofort verschwand ihr das Wohlgefühl, und sie bereute es, nicht an seinen Schultern gelegen zu haben, denn ihr Kopf schmerzte furchtbar. Sie kam gerade rechtzeitig zu sich, um zwei Polizisten zu treffen, die endlich das Hotelzimmer betraten und ihnen rieten, sich an der frischen Luft zu waschen und vorsichtig zu sein; alles sei unter Kontrolle. Dikanti schwor ihnen unter Eid, dass keiner von ihnen Selbstmord begangen habe und alles ein Irrtum gewesen sei. Die Beamten blickten sich etwas bestürzt über das Chaos um, folgten aber der Anweisung.
    
  Währenddessen versuchte Fowler im Badezimmer, Andreas Stirn zu versorgen, die er sich bei dem Zusammenstoß mit dem Spiegel zugezogen hatte. Als Dikanti sich von den Wachen löste und den reumütigen Mann ansah, sagte der Priester dem Journalisten, dass er dafür eine Brille benötigen würde.
    
  Mindestens vier in der Stirn und zwei in der Augenbraue. Aber jetzt kann sie keine Zeit verlieren und ins Krankenhaus fahren. Ich sage dir, was wir tun werden: Du nimmst jetzt ein Taxi nach Bologna. Es hat ungefähr vier Stunden gedauert. Alle warten auf meine beste Freundin, die mir ein paar Punkte geben wird. Ich bringe dich zum Flughafen, und du fliegst mit dem Flugzeug über Mailand nach Madrid. Passt alle auf euch auf. Und versucht, in ein paar Jahren nicht mehr durch Italien zu reisen.
    
  "Wäre es nicht besser, das Flugzeug an den Polen zu besteigen?", warf Dikanti ein.
    
  Fowler blickte sie sehr ernst an.
    
  -Dottora, falls du jemals vor diesen Leuten fliehen musst, lauf bitte nicht zu den Nápoles. Sie haben zu viel Kontakt zu allen.
    
  - Ich würde sagen, sie haben überall Kontakte.
    
  "Leider haben Sie Recht. Wachsamkeit wird weder für Sie noch für mich angenehm sein."
    
  -Wir werden in den Kampf ziehen. Er wird an unserer Seite stehen.
    
  Fowler Gardó, sei eine Minute lang still.
    
  -Vielleicht. Die oberste Priorität ist jedoch im Moment, Señorita Otero aus Rom herauszuholen.
    
  Andrea, deren Gesicht vor Schmerz verzerrt war (die Wunde auf ihrer schottischen Stirn blutete stark, wenn auch dank Fowler deutlich weniger), mochte dieses Gespräch überhaupt nicht und beschloss, nicht zu widersprechen. Man hilft eben stillschweigend. Zehn Minuten später, als sie Dante über die Dachkante verschwinden sah, verspürte sie einen Anflug von Erleichterung. Ich rannte zu Fowler und schlang beide Arme um seinen Hals, wobei ich riskierte, dass sie beide vom Dach rutschten. Fowler erklärte ihm kurz, dass es einen ganz bestimmten Bereich in der vatikanischen Organisation gäbe, der diese Angelegenheit nicht an die Öffentlichkeit bringen wollte und dass sein Leben deswegen in Gefahr sei. Der Priester äußerte sich nicht zu dem bedauerlichen Diebstahl der Umschläge, der recht detailliert beschrieben worden war. Doch nun drängte sie ihre Meinung auf, was der Journalistin missfiel. Sie dankte dem Priester und dem Gerichtsmediziner für ihre rechtzeitige Rettung, wollte sich aber nicht erpressen lassen.
    
  "Ich denke nicht einmal daran, irgendwohin zu gehen, ich bete. Ich bin akkreditierter Journalist, und ein Freund von mir arbeitet für mí, um Ihnen Neuigkeiten aus der Cónclave zu berichten. Und ich möchte, dass Sie wissen, dass ich eine hochrangige Verschwörung aufgedeckt habe, die darauf abzielte, den Tod mehrerer Kardinäle und eines italienischen Polizisten durch einen Psychopathen zu vertuschen. Der Globe wird mehrere aufsehenerregende Titelseiten mit diesen Informationen veröffentlichen, und sie werden alle meinen Namen tragen."
    
  Der Priester wird geduldig zuhören und bestimmt antworten.
    
  "Sinñorita Otero, ich bewundere Ihren Mut. Sie haben mehr Tapferkeit als viele Soldaten, die ich kenne. Aber in diesem Spiel werden Sie weit mehr brauchen, als Sie wert sind."
    
  Die Journalistin umklammerte mit einer Hand den Verband, der ihre Stirn bedeckte, und knirschte mit den Zähnen.
    
  - Wage es ja nicht, mir irgendetwas anzutun, sobald ich den Bericht veröffentlicht habe.
    
  "Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber ich möchte auch nicht, dass er den Bericht veröffentlicht, Honorita. Es ist unpraktisch."
    
  Andrea warf ihm einen verwirrten Blick zu.
    
  -¿Sómo spricht?
    
  "Um es einfach auszudrücken: Geben Sie mir die Diskette", sagte Fowler.
    
  Andrea stand wankend auf, empört und die CD fest an ihre Brust gedrückt.
    
  "Ich wusste nicht, dass du zu diesen Fanatikern gehörst, die bereit sind, für ihre Geheimnisse zu töten. Ich gehe jetzt."
    
  Fowler drängte sie so lange, bis sie sich wieder auf die Toilette setzte.
    
  "Ich persönlich finde den Satz aus dem Evangelium erbaulich: ‚Die Wahrheit wird euch frei machen." Und wenn ich Sie wäre, würde ich Ihnen sofort sagen, dass ein Priester, der einst in Pädophilie verwickelt war, den Verstand verloren hat und wirr um den heißen Brei herumredet. Ach, Kardinäle mit Messern! Vielleicht begreift die Kirche endlich, dass Priester immer und in erster Linie Menschen sind. Aber es hängt alles von uns ab. Ich will nicht, dass das bekannt wird, denn Karoski weiß, dass er es will. Wenn einige Zeit vergangen ist und Sie sehen, dass all Ihre Bemühungen gescheitert sind, unternehmen Sie einen letzten Schritt. Dann können wir ihn vielleicht festnehmen und Leben retten."
    
  In diesem Moment wurde Andrea ohnmächtig. Es war eine Mischung aus Müdigkeit, Schmerz, Erschöpfung und einem Gefühl, das sich nicht in einem einzigen Wort ausdrücken ließ. Dieses Gefühl zwischen Zerbrechlichkeit und Selbstmitleid, das einen überkommt, wenn man erkennt, wie klein man im Vergleich zum Universum ist. Ich gebe Fowler die Schallplatte, vergrabe mein Gesicht in seinen Armen und weine.
    
  -Verlieren Sie Ihren Job.
    
  Der Priester wird Mitleid mit ihr haben.
    
  Nein, das werde ich nicht. Ich kümmere mich persönlich darum.
    
    
  Drei Stunden später rief der US-Botschafter in Italien Niko, den Direktor von Globo, an. "Ich habe mich dafür entschuldigt, dass ich die Sonderkorrespondentin der Zeitung in Rom mit meinem Dienstwagen angefahren habe. Zweitens ereignete sich der Vorfall laut Ihrer Darstellung am Vortag, als das Auto mit überhöhter Geschwindigkeit vom Flughafen kam. Glücklicherweise konnte der Fahrer rechtzeitig bremsen und einen Aufprall auf die Straße vermeiden. Abgesehen von einer leichten Kopfverletzung gab es keine weiteren Folgen. Die Journalistin bestand offenbar wiederholt darauf, ihre Arbeit fortzusetzen, doch die Mitarbeiter der Botschaft, die sie untersuchten, empfahlen ihr beispielsweise, sich ein paar Wochen freizunehmen, um sich zu erholen. Es wurde alles unternommen, um sie auf Kosten der Botschaft nach Madrid zu schicken. Angesichts des enormen beruflichen Schadens, den Sie ihr zugefügt haben, war man natürlich bereit, sie zu entschädigen. Eine weitere Person im Auto zeigte Interesse an ihr und wollte ihr ein Interview geben. Er wird sich in zwei Wochen wieder bei Ihnen melden, um die Details zu klären."
    
  Nach dem Auflegen war der Direktor des Globe ratlos. "Ich verstehe nicht, wie dieses widerspenstige und problembeladene Mädchen es geschafft hat, während eines Interviews von diesem Planeten zu fliehen. Ich führe das auf pures Glück zurück." Ich verspüre einen Anflug von Neid und wünschte, ich wäre an seiner Stelle gewesen.
    
  Ich wollte schon immer mal das Oval Office besuchen.
    
    
    
  UACCV-Hauptsitz
    
  Via Lamarmora, 3
    
  Moyércoles, 6. April 2005, 13:25 Uhr.
    
    
    
  Paola betrat Boys Büro ohne anzuklopfen, doch was sie sah, gefiel ihr nicht. Oder besser gesagt, wen sie sah, gefiel ihr nicht. Sirin saß dem Direktor gegenüber, und in diesem Moment stand sie auf und ging, ohne den Gerichtsmediziner anzusehen. Doch dann hielt sie die Tür auf.
    
  Hey, Sirin...
    
  Der Generalinspektor beachtete ihn nicht und verschwand.
    
  "Dikanti, wenn es Ihnen nichts ausmacht", sagte Boy von der anderen Seite des Schreibtisches im Büro.
    
  - Aber, Herr Direktor, ich möchte das kriminelle Verhalten eines Untergebenen dieses Mannes melden...
    
  "Das genügt, Disponent. Der Generalinspektor hat mich bereits über die Ereignisse im Rafael Hotel unterrichtet."
    
  Paola war fassungslos. Kaum hatten sie und Fowler den spanischen Journalisten in ein Taxi nach Bologna gesetzt, fuhren sie sofort zum UACV-Hauptquartier, um Boys Fall zu schildern. Die Situation war zweifellos schwierig, aber Paola war zuversichtlich, dass ihr Chef die Rettung des Journalisten unterstützen würde. Ich beschloss, allein mit Él zu sprechen, obwohl ich natürlich am allerwenigsten hoffte, dass ihr Chef sich nicht einmal ihre Gedichte anhören wollen würde.
    
  - Er wäre als Dante betrachtet worden, der einen wehrlosen Journalisten angegriffen hat.
    
  "Er sagte mir, es habe eine Meinungsverschiedenheit gegeben, die zur Zufriedenheit aller beigelegt wurde. Offenbar versuchte Inspektor Dante, eine potenzielle Zeugin zu beruhigen, die etwas nervös war, und Sie beide haben sie angegriffen. Dante befindet sich derzeit im Krankenhaus."
    
  -Aber das ist doch absurd! Was wirklich geschah...
    
  "Sie haben mir auch mitgeteilt, dass Sie uns in dieser Angelegenheit das Vertrauen entziehen", sagte Boy mit deutlich erhobener Stimme. "Ich bin sehr enttäuscht von seiner stets unnachgiebigen und aggressiven Haltung gegenüber Superintendent Dante und dem Soberan unseres Nachbarpapstes, die ich übrigens selbst beobachten konnte. Sie werden Ihre regulären Aufgaben wieder aufnehmen, und Fowler wird nach Washington zurückkehren. Von nun an werden Sie die Vigilantenbehörde sein, die die Kardinäle schützt. Wir unsererseits werden dem Vatikan unverzüglich sowohl die von Caroschi zugesandte DVD als auch die vom Journalisten Española erhaltene aushändigen und ihre Existenz vergessen."
    
  -Und was ist mit Pontiero? Ich erinnere mich an das Gesicht, das Sie bei seiner Autopsie gezeichnet haben. War es auch nur ein Schwindel? Wer wird Gerechtigkeit für seinen Tod bringen?
    
  -Das geht uns nichts mehr an.
    
  Die Gerichtsmedizinerin war so enttäuscht, so aufgebracht, dass sie zutiefst verstört war. Ich erkannte den Mann vor mir nicht wieder; ich konnte mich an nichts mehr erinnern, was ich einst für ihn empfunden hatte. Traurig fragte er sich, ob dies vielleicht mit ein Grund dafür war, dass sie seine Unterstützung so schnell aufgegeben hatte. Vielleicht die bittere Folge der Auseinandersetzung am Vorabend.
    
  -Liegt es an mir, Carlo?
    
  -¿Perdón?
    
  -Liegt das an der letzten Nacht? Ich glaube nicht, dass du dazu fähig bist.
    
  "Ispettora, bitte nehmen Sie das nicht so wichtig. Mein Interesse liegt in der effektiven Zusammenarbeit mit dem Vatikan, was Ihnen offensichtlich nicht gelungen ist."
    
  In ihren vierunddreißig Lebensjahren hatte Paola Gem schon so eklatante Diskrepanzen zwischen den Worten eines Menschen und dem, was sich in seinem Gesicht widerspiegelte, erlebt. Er konnte sich nicht beherrschen.
    
  - Du bist ein richtiges Schwein, Carlo. Ehrlich. Ich mag es nicht, wenn alle hinter deinem Rücken über dich lachen. Wie hast du das überhaupt geschafft?
    
  Regisseur Boy wurde knallrot, doch ich konnte den aufblitzenden Zorn auf seinen Lippen unterdrücken. Statt ihm nachzugeben, wandelte er ihn in eine scharfe, aber gezielte verbale Ohrfeige um.
    
  "Ich habe wenigstens Alguacil erreicht, Disponentin. Bitte legen Sie Ihre Dienstmarke und Ihre Waffe auf meinen Schreibtisch. Sie ist für einen Monat vom Dienst suspendiert und erhält kein Gehalt, bis sie Zeit hatte, ihren Fall gründlich zu prüfen. Gehen Sie nach Hause und legen Sie sich hin."
    
  Paola öffnete den Mund, um zu antworten, doch ihr fiel nichts ein. Im Gespräch hatte der freundliche Mann stets eine passende Bemerkung parat, um seine triumphale Rückkehr anzukündigen, sobald ihn ein despotischer Chef seiner Autorität beraubt hatte. Doch im wahren Leben war sie sprachlos. Ich warf meine Dienstmarke und Pistole auf den Schreibtisch und verließ das Büro, ohne mich umzudrehen.
    
  Fowler erwartete sie im Flur, begleitet von zwei Polizeibeamten. Paola begriff instinktiv, dass der Priester bereits einen wichtigen Anruf erhalten hatte.
    
  "Denn dies ist das Ende", sagte der Gerichtsmediziner.
    
  Der Priester lächelte.
    
  "Es war schön, Sie kennenzulernen, Doktor. Leider werden mich diese Herren zum Hotel begleiten, um mein Gepäck abzuholen, und anschließend zum Flughafen."
    
  Die Gerichtsmedizinerin packte seinen Arm, ihre Finger krallten sich in seinen Ärmel.
    
  -Vater, kannst du nicht jemanden anrufen? Gibt es irgendeine Möglichkeit, das zu verschieben?
    
  "Ich fürchte nicht", sagte er und schüttelte den Kopf. "Ich hoffe, der nächste Tag spendiert mir eine gute Tasse Kaffee."
    
  Ohne ein Wort zu sagen, ließ er los und ging den Korridor entlang, gefolgt von den Wachen.
    
  Paola hoffte, sie würde zu Hause sein und weinen können.
    
    
    
    Instituto Saint Matthew
    
  Silver Spring, Maryland
    
    Dezember 1999
    
    
    
  TRANSKRIPT DES INTERVIEWS NR. 115 ZWISCHEN PATIENTEN NR. 3643 UND DR. CANIS CONROY
    
    
  (...)
    
  DOKTOR CONROY: Ich sehe, Sie haben etwas gelesen... Rätsel und Kuriositäten. Sind da ein paar gute dabei?
    
  #3643 : Die sind sehr süß.
    
  DR. CONROY: Nur zu, bieten Sie mir eins an.
    
  #3643: Die sind ja wirklich süß. Ich glaube, er mochte sie nicht.
    
  DOKTOR CONROY: Ich mag Rätsel.
    
  #3643: Okay. Wenn ein Mann in einer Stunde ein Loch bohrt und zwei Männer in zwei Stunden zwei Löcher bohren, wie lange braucht dann ein Mann, um ein halbes Loch zu bohren?
    
  DR. CONROY: Es dauert eine verdammte... halbe Stunde.
    
  #3643: (Lacht)
    
  DOKTOR CONROY: Was macht dich so süß? Es ist eine halbe Stunde. Eine Stunde, ein Loch. Eine halbe Stunde, eine halbe Minute.
    
  #3643: Doktor, es gibt keine halb leeren Löcher... Ein Loch ist immer ein Loch (lacht)
    
  DR. CONROY: Willst du mir damit irgendetwas sagen, Victor?
    
  #3643: Selbstverständlich, Doktor, selbstverständlich.
    
  DOKTOR Sie sind nicht hoffnungslos dazu verdammt, der zu sein, der Sie sind.
    
  #3643: Ja, Dr. Conroy. Und Ihnen habe ich zu danken, dass Sie mich in die richtige Richtung gewiesen haben.
    
  DR. CONROY: Der Weg?
    
  #3643: Ich habe so lange darum gekämpft, mein wahres Wesen zu verleugnen, jemand zu sein, der ich nicht bin. Aber dank dir habe ich erkannt, wer ich bin. War es nicht genau das, was du wolltest?
    
  DOKTOR CONROY, ich kann mich in Ihnen nicht so getäuscht haben.
    
  #3643: Doktor, Sie hatten Recht, Sie haben mir die Augen geöffnet. Mir wurde klar, dass es die richtigen Hände braucht, um die richtigen Türen zu öffnen.
    
    D.R. CONROY: ¿Eso bist du? Hand?
    
  #3643: (Lacht) Nein, Doktor. Ich bin der Schlüssel.
    
    
    
  Die Wohnung der Familie Dikanti
    
  Via Della Croce, 12
    
  Sábado, 9. April 2005, 23:46 Uhr.
    
    
    
  Paola weinte lange, die Tür geschlossen, die Wunden auf ihrer Brust weit offen. Zum Glück war seine Mutter nicht da; sie war übers Wochenende nach Ostia gefahren, um Freunde zu besuchen. Das war eine echte Erleichterung für die Gerichtsmedizinerin: Es war eine wirklich schlimme Zeit gewesen, und sie konnte es vor Seíor Dicanti nicht verbergen. Hätte er ihre Angst bemerkt und hätte sie so sehr versucht, ihn aufzuheitern, wäre es in gewisser Weise noch schlimmer gewesen. Sie musste allein sein, um in Ruhe ihr Versagen und ihre Verzweiflung zu verarbeiten.
    
  Sie warf sich, vollständig angezogen, aufs Bett. Das Treiben der nahen Straßen und die Strahlen der Aprilabendsonne drangen durchs Fenster. Bei diesem Gurren und nachdem ich tausend Gespräche über Boy und die Ereignisse der letzten Tage noch einmal durchgespielt hatte, gelang es mir einzuschlafen. Fast neun Stunden, nachdem sie eingeschlafen war, drang der herrliche Duft von Kaffee in ihre Augen und weckte sie.
    
  -Mama, du bist zu früh zurückgekommen...
    
  "Natürlich werde ich bald zurück sein, aber Sie irren sich, was die Menschen angeht", sagte er mit harter, höflicher Stimme und rhythmischem, zögerndem Italienisch: die Stimme von Pater Fowler.
    
  Paolas Augen weiteten sich und ohne zu merken, was sie tat, schlang sie beide Arme um seinen Hals.
    
  -Vorsicht, Vorsicht, du hast etwas Kaffee verschüttet...
    
  Die Gerichtsmedizinerin ließ die Wachen gehen. Fowler saß auf der Bettkante und sah sie fröhlich an. In der Hand hielt sie eine Tasse, die sie aus der Küche zu Hause mitgenommen hatte.
    
  -Sómo kam hier herein? Und konnte er der Polizei entkommen? Ich bringe Sie auf den Weg nach Washington...
    
  "Nur ruhig, eine Frage nach der anderen", lachte Fowler. "Was meine Flucht vor zwei fetten und schlecht ausgebildeten Beamten angeht, bitte ich Sie, mich nicht für dumm zu verkaufen. Und was das "cómo" betrifft, das ich hier hineingebracht habe, die Antwort ist ganz einfach: c ganzúa."
    
  -Ah, verstehe. SICO-Schulung bei der CIA, richtig?
    
  -Mas oder weniger. Entschuldige die Störung, aber ich habe mehrmals angerufen und niemand ist rangegangen. Glaub mir, du könntest in Schwierigkeiten geraten. Als ich sie so friedlich schlafen sah, beschloss ich, mein Versprechen zu halten und sie in ein Café einzuladen.
    
  Paola stand auf und nahm den Kelch vom Priester entgegen. Er nahm einen langen, beruhigenden Schluck. Der Raum war hell von Straßenlaternen erleuchtet, die lange Schatten an die hohe Decke warfen. Fowler blickte sich im Dämmerlicht des niedrigen Zimmers um. An einer Wand hingen Diplome von Schule, Universität und der FBI-Akademie. Aus Nataschas Medaillen und sogar einigen ihrer Zeichnungen las ich, dass sie mindestens dreizehn Jahre alt sein musste. Wieder spürte ich die Verletzlichkeit dieser intelligenten und starken Frau, die noch immer von ihrer Vergangenheit gequält wurde. Ein Teil von ihr hatte ihre frühe Jugend nie hinter sich gelassen. Versuchen Sie zu erraten, welche Seite der Wand von meinem Bett aus sichtbar sein sollte, und glauben Sie mir, dann werden Sie es verstehen. In diesem Moment, als sie in Gedanken ihr imaginäres Gesicht vom Kissen an die Wand zeichnete, sah sie ein Bild von Paola neben ihrem Vater im Krankenhauszimmer.
    
  -Dieses Café ist sehr gut. Meine Mutter macht es furchtbar.
    
  - Eine Frage zur Brandschutzverordnung, Doktor.
    
  -Warum ist er zurückgekommen, Vater?
    
  -Aus verschiedenen Gründen. Weil ich dich nicht im Stich lassen möchte. Um zu verhindern, dass dieser Wahnsinnige ungeschoren davonkommt. Und weil ich vermute, dass hier noch viel mehr verborgen ist. Ich habe das Gefühl, wir wurden alle ausgenutzt, du und ich. Außerdem nehme ich an, dass du einen ganz persönlichen Grund haben wirst, weiterzuziehen.
    
  Paola frunchió ecño.
    
  "Du hast einen Grund. Pontiero war Eros Freund und Kamerad. Im Moment geht es mir darum, seinen Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Aber ich bezweifle, dass wir jetzt etwas ausrichten können, Pater. Ohne meine Marke und ohne seine Unterstützung sind wir wie zwei kleine Luftwolken. Der leiseste Windhauch würde uns trennen. Und außerdem ist es durchaus möglich, dass du ihn suchst."
    
  "Vielleicht suchen Sie mich ja wirklich. Ich habe zwei Polizisten an der Ecke Fiumicino 38 abgefangen. Aber ich bezweifle, dass Boy so weit gehen wird, einen Durchsuchungsbefehl gegen mich zu beantragen. Angesichts dessen, was hier in der Stadt los ist, würde das zu nichts führen (und wäre auch nicht wirklich gerechtfertigt). Wahrscheinlich lasse ich ihn einfach entkommen."
    
  - Und deine Vorgesetzten, Vater?
    
  "Offiziell bin ich in Langley. Inoffiziell besteht kein Zweifel daran, dass ich eine Weile hierbleiben werde."
    
  - Endlich mal gute Nachrichten.
    
  - Was für uns schwieriger ist, ist der Zugang zum Vatikan, denn Sirin wird gewarnt werden.
    
  -Nun, ich sehe nicht, wie wir die Kardinäle schützen können, wenn sie drinnen sind und wir draußen.
    
  "Ich denke, wir sollten ganz von vorne anfangen, Doktor. Wir sollten dieses ganze verdammte Chaos von Anfang an noch einmal durchgehen, denn es ist klar, dass wir etwas übersehen haben."
    
  - Aber was? Ich habe keinerlei relevantes Material; die gesamte Akte über Karoski befindet sich im UACV.
    
    Fowler widmete ihm einen Medienbericht.
    
    -Nun ja, manchmal schenkt uns Gott kleine Wunder.
    
  Er deutete auf Paolas Schreibtisch an einem Ende des Raumes. Paola schaltete den Flexodrucker auf dem Schreibtisch ein und beleuchtete damit den dicken Stapel brauner Ordner, aus denen Karoskis Akte bestand.
    
  "Ich mache Ihnen ein Angebot, Doktor. Sie tun, was Sie am besten können: ein psychologisches Profil des Mörders erstellen. Ein vollständiges, mit allen Daten, die uns jetzt vorliegen. In der Zwischenzeit serviere ich ihm Kaffee."
    
  Paola leerte ihre Tasse in einem Zug. Er versuchte, dem Priester ins Gesicht zu sehen, doch sein Gesicht blieb außerhalb des Lichtkegels, der Caroscas Akte erhellte. Wieder einmal hatte Paola Cinti die Vorahnung, im Korridor der Domus Sancta Marthae angegriffen worden zu sein und geschwiegen zu haben, bis sich die Lage beruhigt hatte. Nach all den Ereignissen nach Cardosos Tod war ich nun mehr denn je überzeugt, dass diese Intuition richtig gewesen war. Ich schaltete den Computer auf seinem Schreibtisch ein. Ich wählte ein leeres Formular aus meinen Dokumenten und begann, es energisch auszufüllen, wobei ich immer wieder in der Akte nachsah.
    
  -Mach noch eine Kanne Kaffee, Vater. Ich muss die Theorie überprüfen.
    
    
    
  PSYCHOLOGISCHES PROFIL EINES FÜR MICH TYPISCHEN MÖRDERS.
    
    
  Patient: KAROSKI, Viktor.
    
  Profil von Dr. Paola Dikanti.
    
  Patientensituation:
    
  Datum der Erstellung:
    
  Alter: 44 bis 241 Jahre.
    
  Höhe: 178 cm.
    
  Gewicht: 85 kg.
    
  Beschreibung: Augen, intelligent (IQ 125).
    
    
  Familiärer Hintergrund: Viktor Karoski wuchs in einer bürgerlichen Einwandererfamilie auf, die von seiner Mutter dominiert wurde und aufgrund religiösen Einflusses tiefgreifende Realitätsverluste aufwies. Die Familie war aus Polen eingewandert, und von Anfang an waren die Wurzeln der Familie in allen Mitgliedern deutlich erkennbar. Der Vater zeichnete sich durch extreme Arbeitsunfähigkeit, Alkoholismus und Missbrauch aus, was sich durch wiederholten und periodischen sexuellen Missbrauch (als Strafe verstanden) in der Pubertät des Jungen noch verschärfte. Die Mutter wusste stets von dem Missbrauch und dem Inzest durch ihren Neffen, obwohl sie offenbar vorgab, nichts zu bemerken. Der ältere Bruder lief unter Androhung sexuellen Missbrauchs von zu Hause weg. Der jüngere Bruder starb nach langer Genesung von Meningitis ohne medizinische Versorgung. Nachdem die Mutter den Missbrauch durch den Vater "entdeckt" hatte, wurde der Junge für längere Zeit in einen Schrank gesperrt, isoliert und von der Außenwelt abgeschnitten. Nach seiner Freilassung verließ der Vater das Elternhaus, und es war die Mutter, die ihm ihren Einfluss aufzwang. In diesem Fall schlüpft die Person in die Rolle einer Katze und leidet unter Höllenangst, die zweifellos durch sexuelle Exzesse (immer mit der Mutter der Person) verursacht wird. Um dies zu erreichen, kleidet sie sie in ihre Kleider und droht ihr sogar mit Kastration. Die Person entwickelt eine schwere Realitätsverzerrung, die einer ernsthaften Störung der unintegrierten Sexualität ähnelt. Erste Anzeichen von Wut und einer antisozialen Persönlichkeitsstörung mit einem starken Nervensystem treten zutage. Sie greift einen Mitschüler an, was zu ihrer Einweisung in eine Jugendstrafanstalt führt. Nach ihrer Entlassung wird ihr Strafregister gelöscht, und sie beschließt, sich zwischen 19 und 241 Jahren an einem Priesterseminar einzuschreiben. Sie unterzieht sich keiner psychiatrischen Voruntersuchung und nimmt keine Hilfe in Anspruch.
    
    
  Fallgeschichte im Erwachsenenalter: Anzeichen einer unintegrierten Sexualität bestätigen sich bei dem Betroffenen zwischen dem 19. und 24. Lebensjahr, kurz nach dem Tod seiner Mutter. Er berührte ein minderjähriges Kind, wobei die Häufigkeit und Schwere der Übergriffe allmählich zunahmen. Seine kirchlichen Vorgesetzten reagierten nicht strafrechtlich auf die sexuellen Übergriffe, die eine heikle Angelegenheit darstellten, als er für seine eigenen Pfarreien verantwortlich war. Seine Akte verzeichnet mindestens 89 Übergriffe auf Minderjährige, davon 37 Fälle von Sodomie, die übrigen Fälle von Berührung, erzwungener Masturbation oder Fellatio. Seine Vernehmungen lassen vermuten, dass er, so ungewöhnlich sein Verhalten auch erscheinen mag, ein Priester war, der von seinem priesterlichen Dienst vollkommen überzeugt war. In anderen Fällen von Pädophilie unter Priestern konnten diese ihre sexuellen Triebe als Vorwand für den Eintritt ins Priesteramt nutzen, wie ein Fuchs, der in einen Hühnerstall geht. Im Fall von Karoski waren die Gründe für die Ablegung der Gelübde jedoch völlig andere. Seine Mutter drängte ihn in diese Richtung und ging sogar so weit, ihn zu vergewaltigen. Nach dem Vorfall mit dem Gemeindemitglied, das er angegriffen hatte, konnte sich Dr. Ndalo Karoski nicht länger verstecken, und der Betroffene kam schließlich ins San Mateo Institut, eine Rehabilitationsklinik für Priester. [Der Text scheint unvollständig und wahrscheinlich eine Fehlübersetzung zu sein.] Karoski identifiziert sich stark mit dem Alten Testament, insbesondere mit der Bibel. Wenige Tage nach seiner Aufnahme kommt es zu einem spontanen Aggressionsausbruch gegen einen Mitarbeiter des Instituts. Aus diesem Fall schließen wir auf eine starke kognitive Dissonanz zwischen den sexuellen Wünschen und den religiösen Überzeugungen des Betroffenen. Wenn beide Seiten in Konflikt geraten, kommt es zu gewalttätigen Krisen, wie beispielsweise einem Aggressionsausbruch des Mannes.
    
    
  Jüngste Krankengeschichte: Die Patientin zeigt Wutausbrüche, die ihre unterdrückte Aggression widerspiegeln. Sie hat mehrere Straftaten begangen, bei denen sie einen hohen Grad an sexuellem Sadismus an den Tag legte, darunter symbolische Rituale und Nekrophilie mit Insertion.
    
    
  Charakteristisches Profil - auffällige Merkmale, die in seinem Handeln zum Vorschein kommen:
    
  - Angenehme Persönlichkeit, durchschnittliche bis hohe Intelligenz
    
  - Eine gängige Lüge
    
  -Ein völliger Mangel an Reue oder Gefühlen gegenüber denen, die sie beleidigt haben.
    
  - Absoluter Egoist
    
  -Persönliche und emotionale Distanzierung
    
  -Unpersönliche und impulsive Sexualität, die auf die Befriedigung von Bedürfnissen wie Sex abzielt.
    
  -Antisoziale Persönlichkeit
    
  -Hohes Maß an Gehorsam
    
    
  INKONSTANZ!!
    
    
  -Irrationales Denken prägte sein Handeln
    
  -Multiple Neurose
    
  -Kriminelles Verhalten wird als Mittel zum Zweck und nicht als Zweck verstanden.
    
  -Suizidale Tendenzen
    
  - Missionsorientiert
    
    
    
  Die Wohnung der Familie Dikanti
    
  Via Della Croce, 12
    
  Sonntag, 10. April 2005, 1:45 Uhr
    
    
    
  Fowler las den Bericht zu Ende und übergab ihn Dikanti. Ich war sehr überrascht.
    
  - Ich hoffe, es stört dich nicht, aber dieses Profil ist unvollständig. Er hat nur eine Zusammenfassung dessen geschrieben, was du bereits weißt, Amos. Ehrlich gesagt, sagt es uns nicht viel.
    
  Der Gerichtsmediziner stand auf.
    
  "Ganz im Gegenteil, Pater. Karoski bietet ein sehr komplexes psychologisches Bild, aus dem wir schlussfolgerten, dass seine gesteigerte Aggressivität einen rein kastrierten Sexualstraftäter in einen einfachen Mörder verwandelt hat."
    
  - Das ist in der Tat die Grundlage unserer Theorie.
    
  "Das taugt keinen Deut. Schauen Sie sich die Profilmerkmale am Ende des Berichts an. Die ersten acht identifizieren einen Serienmörder."
    
  Fowler hat mich beraten und beraten.
    
  Es gibt zwei Arten von Serienmördern: unorganisierte und organisierte. Diese Einteilung ist nicht perfekt, aber recht treffend. Erstere begehen überstürzte und impulsive Taten und riskieren dabei, Spuren zu hinterlassen. Oft treffen sie auf Angehörige, die sich meist in unmittelbarer Nähe befinden. Ihre Waffen sind einfach: ein Stuhl, ein Gürtel - was auch immer ihnen in die Hände fällt. Sexueller Sadismus zeigt sich oft erst nach dem Tod.
    
  Der Priester rieb sich die Augen. Ich war sehr müde, da ich nur wenige Stunden geschlafen hatte.
    
  - Discúlpeme, dottora. Bitte fahren Sie fort.
    
  "Der andere, der organisierte Typ, ist ein äußerst mobiler Killer, der seine Opfer gefangen nimmt, bevor er Gewalt anwendet. Das Opfer ist eine zufällig ausgewählte Person, die bestimmte Kriterien erfüllt. Die verwendeten Waffen und Schleudern folgen einem vorgefassten Plan und richten niemals Schaden an. Der Überläufer wird in neutralem Gebiet zurückgelassen, stets nach sorgfältiger Vorbereitung. Zu welcher dieser beiden Gruppen gehört Karoski Ihrer Meinung nach?"
    
  -Offensichtlich die zweite.
    
  "Das könnte jeder Beobachter tun. Aber wir können alles tun. Wir haben seine Akte. Wir wissen, wer er ist, woher er kommt, was er denkt. Vergessen Sie alles, was in den letzten Tagen passiert ist. Ich bin in Karoski ins Institut eingetreten. Was war das?"
    
  - Eine impulsive Person, die in bestimmten Situationen wie eine Dynamitladung explodiert.
    
  - Und nach fünf Therapiesitzungen?
    
  - Es war eine andere Person.
    
  -Sag mir, hat diese Veränderung allmählich stattgefunden oder war sie plötzlich?
    
  "Es war ziemlich heftig. Ich habe die Veränderung in dem Moment gespürt, als Dr. Conroy ihn dazu brachte, sich seine Regressionstherapie-Kassetten anzuhören."
    
  Paola holte tief Luft, bevor sie fortfuhr.
    
  "Pater Fowler, nichts für ungut, aber nachdem ich Dutzende von Interviews gelesen habe, die ich Ihnen zwischen Karoski, Conroy und Ihnen gegeben habe, glaube ich, dass Sie sich irren. Und dieser Irrtum hat uns auf den richtigen Weg gebracht."
    
  Fowler zuckte mit den Achseln.
    
  "Dottora, ich kann das nicht persönlich nehmen. Wie Sie ja wissen, habe ich trotz meines Psychologiestudiums eine Nachhilfeeinrichtung besucht, weil mein berufliches Selbstwertgefühl eine ganz andere Sache ist. Sie sind Kriminalexpertin, und ich bin froh, auf Ihre Meinung zählen zu können. Aber ich verstehe nicht, worauf er hinauswill."
    
  "Lesen Sie den Bericht noch einmal durch", sagte Paola und wandte sich an Ndolo. "Im Abschnitt ‚Widersprüche" habe ich fünf Merkmale identifiziert, die es unmöglich machen, unseren Probanden als organisierten Serienmörder zu betrachten. Jeder Experte, der ein Lehrbuch der Kriminologie zur Hand hat, wird Ihnen bestätigen, dass Karoski ein organisierter und bösartiger Mensch ist, der sich infolge eines Traumas und der Konfrontation mit seiner Vergangenheit so entwickelt hat. Ist Ihnen das Konzept der kognitiven Dissonanz bekannt?"
    
  "Es handelt sich um einen Geisteszustand, in dem die Handlungen und Überzeugungen des Betroffenen radikal im Widerspruch stehen. Karoski litt unter akuter kognitiver Dissonanz: Er hielt sich selbst für einen vorbildlichen Priester, während seine 89 Gemeindemitglieder behaupteten, er sei homosexuell."
    
  "Ausgezeichnet. Wenn Sie also, das Subjekt, eine entschlossene, nervöse Person sind, die gegenüber jeglichen äußeren Einflüssen immun ist, werden Sie in wenigen Monaten zu einem gewöhnlichen, unauffindbaren Mörder werden. [Der Satz ist unvollständig und wahrscheinlich eine Fehlübersetzung.] ..."
    
  "Aus dieser Perspektive betrachtet... scheint es eine etwas komplizierte Angelegenheit zu sein", sagte Fowler verlegen.
    
  "Das ist unmöglich, Pater. Diese unverantwortliche Tat von Dr. Conroy hat ihn zweifellos verletzt, aber sie kann unmöglich solch extreme Veränderungen in ihm ausgelöst haben. Ein fanatischer Priester, der seine Sünden ignoriert und in Wut gerät, wenn man ihm die Liste seiner Opfer vorliest, kann nicht nur wenige Monate später zu einem organisierten Mörder werden. Und vergessen wir nicht, dass seine ersten beiden Ritualmorde innerhalb des Instituts selbst stattfanden: die Verstümmelung eines Priesters und der Mord an einem anderen."
    
  "Aber, Doktor... die Morde an den Kardinälen sind das Werk von Karoska. Er hat es selbst zugegeben, seine Spuren lassen sich auf drei Ebenen zurückführen."
    
  "Selbstverständlich, Pater Fowler. Ich bestreite nicht, dass Karoski diese Morde begangen hat. Das ist mehr als offensichtlich. Was ich Ihnen sagen will, ist, dass der Grund dafür nicht das war, was Sie unter Amos verstehen. Der grundlegendste Aspekt seines Charakters, die Tatsache, dass ich ihn trotz seiner gequälten Seele zum Priestertum geführt habe, ist genau das, was ihn zu solch schrecklichen Taten getrieben hat."
    
  Fowler begriff. Vor Schreck musste er sich auf Paolas Bett setzen, um nicht auf den Boden zu fallen.
    
  -Gehorsam.
    
  - Das stimmt, Vater. Karoski ist kein Serienmörder. Er gemietet Mörder .
    
    
    
  Instituto Saint Matthew
    
  Silver Spring, Maryland
    
    August 1999
    
    
    
    In der Isolationszelle herrschte absolute Stille. Deshalb drang das Flüstern, das ihn rief, eindringlich und fordernd, wie eine Flutwelle in Karoskis zwei Zimmer ein.
    
  - Viktor.
    
  Karoski sprang schnell aus dem Bett, als wäre nichts geschehen. Alles war wieder wie vorher. Du kamst eines Tages zu mir, um dir zu helfen, dich zu führen, dich zu erleuchten. Um ihm Sinn und Halt für seine Kraft, sein Bedürfnis zu geben. Er hatte sich bereits mit Dr. Conroys brutalem Eingriff abgefunden, der ihn wie einen Schmetterling auf einer Nadel unter dem Mikroskop untersuchte. Er war auf der anderen Seite der Stahltür, aber ich konnte seine Anwesenheit im Zimmer, neben ihm, fast spüren. A podía respetarle, podía seguirle. Ich werde ihn verstehen, ihn führen können. Wir sprachen stundenlang darüber, was wir tun sollten. Von nun an muss ich es tun. Allein schon, weil sie sich benehmen muss, weil sie Conroys wiederholte, irritierende Fragen beantworten muss. Abends probte ich seine Rolle und wartete auf seine Ankunft. Sie sehen ihn einmal die Woche, aber ich wartete ungeduldig auf ihn und zählte die Stunden, die Minuten. Ich ging die Sache in Gedanken durch und schärfte das Messer ganz langsam, bemüht, keinen Laut von mir zu geben. Ich befehle ihm... ich befehle ihm... Ich könnte ihm ein scharfes Messer geben, sogar eine Pistole. Aber er möchte seinen Mut und seine Kraft zügeln. Und der Habií tat, was der Habií verlangte. Ich gab ihm den Beweis seiner Hingabe, seiner Treue. Zuerst verkrüppelte er den homosexuellen Priester. Wenige Wochen später tötete der Habií den pädophilen Priester. Sie muss, wie ich es verlangt hatte, das Unkraut mähen und endlich den Preis empfangen. Den Preis, den ich mehr als alles andere auf der Welt begehrte. Ich werde ihn dir geben, denn niemand wird ihn mir geben. Niemand kann ihn mir geben.
    
  - Viktor.
    
  Er verlangte ihre Anwesenheit. Schnell durchquerte er den Raum und kniete neben der Tür nieder, lauschte der Stimme, die ihm von der Zukunft erzählte. Von einer Mission, fernab von allen. Im Herzen der Christenheit.
    
    
    
  Die Wohnung der Familie Dikanti
    
  Via Della Croce, 12
    
  Samstag, 9. April 2005, 02:14.
    
    
    
  Nach Dikantis Worten folgte Stille wie ein dunkler Schatten. Fowler hob die Hände vors Gesicht, hin- und hergerissen zwischen Erstaunen und Verzweiflung.
    
  - Bin ich etwa so blind? Er tötet, weil er es befohlen bekommt. Gott gehört mir ... aber was ist mit Botschaften und Ritualen?
    
  "Wenn man darüber nachdenkt, ergibt das keinen Sinn, Pater. ‚Ich rechtfertige dich", zuerst auf den Boden geschrieben, dann auf die Truhen der Altäre. Gewaschene Hände, herausgeschnittene Zungen ... all das war das sizilianische Äquivalent dazu, dem Opfer eine Münze in den Mund zu stecken."
    
  - Das ist ein Mafia-Ritual, um zu zeigen, dass der Tote zu viel geredet hat, nicht wahr?
    
  -Genau. Zuerst dachte ich, Karoski hielt die Kardinäle für schuldig, vielleicht eines Verbrechens gegen sich selbst oder gegen ihre eigene priesterliche Würde. Aber die Hinweise auf den Papierkugeln ergaben keinen Sinn. Jetzt glaube ich, es waren persönliche Vorurteile, ihre eigenen Interpretationen eines von jemand anderem diktierten Plans.
    
  -Aber was soll das Töten auf diese Weise, Doktor? Warum entfernt man sie nicht ohne Més?
    
  "Verstümmelung ist nichts weiter als eine lächerliche Fiktion im Hinblick auf die grundlegende Tatsache: Jemand will sie tot sehen. Betrachten Sie die Flexografie, Pater."
    
  Paola ging zu dem Tisch, auf dem Karoskis Akte lag. Da der Raum dunkel war, blieb alles außerhalb des Scheinwerferlichts im Dunkeln.
    
  -Ich verstehe. Sie zwingen uns, das anzusehen, was sie uns zeigen wollen. Aber wer will schon so etwas?
    
  Die grundlegende Frage ist: Wer profitiert von dem Verbrechen? Ein Serienmörder erübrigt sich mit einem Schlag, denn er profitiert nur von sich selbst. Sein Motiv ist die Leiche. In diesem Fall jedoch ist sein Motiv die Mission. Hätte er seinen Hass und seine Frustration an den Cardinals auslassen wollen - falls er überhaupt welche hatte -, hätte er das zu einem anderen Zeitpunkt tun können, als alle in der Öffentlichkeit standen. Viel weniger geschützt. Warum also jetzt? Was hat sich geändert?
    
  -Weil jemand Cóklyuch beeinflussen will.
    
  "Nun bitte ich dich, Vater, erlaube mir, zu versuchen, den Schlüssel zu beeinflussen. Aber dazu ist es wichtig zu wissen, wen sie getötet haben."
    
  "Diese Kardinäle waren herausragende Persönlichkeiten der Kirche. Charaktervolle Menschen."
    
  "Aber es gibt eine gemeinsame Verbindung zwischen ihnen. Und unsere Aufgabe ist es, diese zu finden."
    
  Der Priester stand auf und ging mehrmals mit den Händen hinter dem Rücken im Zimmer umher.
    
  "Dottora, mir kommt der Gedanke, dass ich bereit bin, die Kardinäle zu eliminieren, und ich bin voll dafür. Es gibt da eine Spur, die wir nicht ganz richtig verfolgt haben. Karoschi unterzog sich einer vollständigen Gesichtsrekonstruktion, wie wir an Angelo Biffis Modell sehen können. Diese Operation ist sehr teuer und erfordert eine aufwendige Genesung. Bei fachgerechter Durchführung und mit den entsprechenden Garantien für Vertraulichkeit und Anonymität kann sie über 100.000 französische Francs kosten, was etwa 80.000 Euro entspricht. Das ist keine Summe, die sich ein armer Priester wie Karoschi so einfach leisten kann. Er musste auch nicht nach Italien einreisen oder sich dort ab dem Moment seiner Ankunft melden. Das waren Angelegenheiten, die ich die ganze Zeit vernachlässigt hatte, aber plötzlich sind sie von entscheidender Bedeutung."
    
  Und sie bestätigen die Theorie, dass eine schwarze Hand tatsächlich in die Morde an den Kardinälen verwickelt ist.
    
  -Wirklich.
    
  "Vater, ich besitze nicht Ihr Wissen über die katholische Kirche und die Funktionsweise der Kurie. Was meinen Sie, ist der gemeinsame Nenner, der die drei vermeintlich Toten vereint?"
    
  Der Priester dachte einen Moment nach.
    
  "Vielleicht gibt es einen gemeinsamen Nenner. Einen, der viel deutlicher zutage treten würde, wenn sie einfach verschwänden oder hingerichtet würden. Sie alle gehörten dazu, von Ideologen bis zu Liberalen. Sie waren Teil von ... wie soll ich es ausdrücken? Dem linken Flügel des Espritual Santo. Hätte sie mich nach den Namen der fünf Kardinäle gefragt, die das Zweite Vatikanische Konzil unterstützten, wären diese drei genannt worden."
    
  - Erkläre es mir bitte, Vater.
    
  Mit dem Amtsantritt von Papst Johannes XXIII. im Jahr 1958 wurde die Notwendigkeit einer Neuausrichtung der Kirche deutlich. Johannes XXIII. berief das Zweite Vatikanische Konzil ein und rief alle Bischöfe der Welt nach Rom, um mit dem Papst über die Stellung der Kirche in der Welt zu beraten. Zweitausend Bischöfe folgten dieser Aufforderung. Johannes XXIII. starb vor dem Abschluss des Konzils, doch sein Nachfolger Paul VI. vollendete dessen Arbeit. Leider gingen die vom Konzil angestrebten weitreichenden Reformen nicht so weit, wie Johannes XXIII. es sich vorgestellt hatte.
    
  - Wie meinst du das?
    
  Die Kirche hat große Veränderungen durchgemacht. Das war wohl einer der größten Meilensteine des 20. Jahrhunderts. Du erinnerst dich nicht mehr daran, weil du so jung bist, aber bis Ende der 60er-Jahre durfte eine Frau weder rauchen noch Hosen tragen, weil es als Sünde galt. Und das sind nur vereinzelte Beispiele. Es genügt zu sagen, dass die Veränderungen groß, wenn auch unzureichend waren. Johannes XXIII. bemühte sich, die Kirche weit für die lebensspendende Atmosphäre des Heiligen Tempels zu öffnen. Und sie öffneten sich ein Stück weit. Paul VI. erwies sich als eher konservativer Papst. Johannes Paul I., sein Nachfolger, regierte nur einen Monat. Und Johannes Paul II. war ein starker, aber mittelmäßiger Papst, der zwar viel Gutes für die Menschheit tat, aber in seiner Politik der Kirchenerneuerung ein extremer Konservativer war.
    
  -Wie und dass die große Kirchenreform durchgeführt werden sollte?
    
  "Es gibt in der Tat viel zu tun. Als die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils veröffentlicht wurden, waren konservative katholische Kreise praktisch außer sich. Und das Konzil hat Feinde. Menschen, die glauben, dass jeder, der keine Katze ist, in die Hölle kommen kann, dass Frauen kein Wahlrecht haben, und noch viel schlimmere Ideen. Vom Klerus wird erwartet, dass er einen starken und idealistischen Papst fordert, einen Papst, der es wagt, die Kirche der Welt näherzubringen. Zweifellos wäre Kardinal Portini, ein überzeugter Liberaler, die ideale Person für diese Aufgabe. Aber er hätte die Stimmen des ultrakonservativen Flügels gewonnen. Ein weiterer Kandidat wäre Robaira gewesen, ein Mann des Volkes mit großem Intellekt. Cardoso war ein ähnlicher Patriot. Beide setzten sich für die Armen ein."
    
  - Und jetzt ist er tot.
    
  Fowlers Gesicht verfinsterte sich.
    
  "Dottora, was ich dir jetzt erzähle, ist ein streng gehütetes Geheimnis. Ich riskiere mein und dein Leben, und bitte hab mich lieb, ich habe Angst. Sie treibt mich dazu, in eine Richtung zu denken, die ich lieber nicht sehen, geschweige denn beschreiten möchte." Er hielt kurz inne, um Luft zu holen. "Weißt du, was das Heilige Testament ist?"
    
  Wieder einmal, genau wie in Bastinas Bar, kamen dem Kriminologen Geschichten über Spione und Morde in den Sinn. Ich hatte sie immer als Trunkenheitsgeschichten abgetan, aber zu dieser Stunde und in dieser zusätzlichen Gesellschaft gewann die Möglichkeit, dass sie wahr waren, eine neue Dimension.
    
  "Man sagt, es sei der Geheimdienst des Vatikans. Ein Netzwerk von Spionen und Geheimagenten, die nicht zögern zu töten, wenn sich die Gelegenheit bietet. Es ist ein Ammenmärchen, mit dem man unerfahrene Polizisten einschüchtern will. Fast niemand glaubt es."
    
  "Dottora Dikanti, können Sie die Geschichten über das Heilige Testament glauben? Denn es existiert. Es gibt es seit vierhundert Jahren und es ist die rechte Hand des Vatikans in Angelegenheiten, von denen selbst der Papst nichts wissen sollte."
    
  - Das kann ich kaum glauben.
    
  -Das Motto der Heiligen Allianz, dottor, lautet "Kreuz und Schwert".
    
  Paola filmte Dante im Hotel Raphael, wie er eine Pistole auf den Journalisten richtete. Das waren seine genauen Worte, als er Fowler um Hilfe bat, und da verstand ich, was der Priester gemeint hatte.
    
  Oh mein Gott. Und dann du...
    
  "Das war ich vor langer Zeit. Ich diente zwei Bannern, meinem Vater und meiner Religion. Danach musste ich einen meiner beiden Jobs aufgeben."
    
  -Was ist passiert?
    
  "Das kann ich Ihnen nicht sagen, Doktor. Fragen Sie mich nicht danach."
    
  Paola wollte nicht weiter darüber reden. Es gehörte zur dunklen Seite des Priesters, zu seiner seelischen Qual, die seine Seele wie ein eiskalter Schraubstock umklammerte. Er ahnte, dass viel mehr dahintersteckte, als ich ihm erzählte.
    
  "Jetzt verstehe ich Dantes Feindseligkeit Ihnen gegenüber. Es hat etwas mit dieser Vergangenheit zu tun, nicht wahr, Vater?"
    
  Fowler blieb stehen. Paola musste eine Entscheidung treffen, denn es gab weder Zeit noch Gelegenheit mehr für Zweifel. "Lass mich mit seiner Geliebten sprechen, die, wie du weißt, in den Priester verliebt ist. In jede Faser seines Wesens, in die trockene Wärme seiner Hände und die Leiden seiner Seele. Ich möchte sie in mich aufnehmen, ihn davon befreien, alles, ihm das unbeschwerte Lachen eines Kindes zurückgeben." Er wusste um das Unmögliche in seinem Verlangen: In diesem Mann wohnte jahrelange Bitterkeit, die bis in die Antike zurückreichte. Es war nicht einfach eine unüberwindliche Mauer, die für ihn das Priestertum bedeutete. Jeder, der ihn erreichen wollte, musste Berge durchqueren und würde höchstwahrscheinlich darin ertrinken. In diesem Moment begriff ich, dass ich niemals mit ihr zusammen sein würde, aber ich wusste auch, dass dieser Mann sich lieber töten lassen würde, als sie leiden zu lassen.
    
  "Schon gut, Vater, ich zähle auf dich. Bitte mach weiter", sagte er seufzend.
    
  Fowler setzte sich wieder hin und erzählte eine unglaubliche Geschichte.
    
  Sie existieren seit 1566. In jenen finsteren Zeiten sorgte sich der Papst um die wachsende Zahl von Anglikanern und Ketzern. Als Leiter der Inquisition war er ein harter, fordernder und pragmatischer Mann. Damals war der Vatikanstaat selbst deutlich territorialer als heute, obwohl er mittlerweile über größere Macht verfügt. Die Heilige Allianz entstand durch die Rekrutierung von Priestern aus Venedig und vertrauenswürdigen Laien mit nachgewiesenem katholischen Glauben. Ihre Mission war der Schutz des Vatikans als Papst und der Kirche im spirituellen Sinne, und ihr Auftrag wuchs mit der Zeit. Im 19. Jahrhundert zählte sie Tausende. Einige waren lediglich Informanten, Geister, Schläfer... Andere, nur fünfzig, bildeten die Elite: die Hand des Heiligen Michael. Eine Gruppe von Spezialagenten, die über die ganze Welt verstreut waren und Befehle schnell und präzise ausführen konnten. Sie schleusten nach eigenem Ermessen Geld in revolutionäre Gruppen, handelten mit Einfluss und beschafften entscheidende Informationen, die den Verlauf von Kriegen verändern konnten. Zum Schweigen bringen, zum Schweigen bringen und im Extremfall töten. Alle Mitglieder der Hand des Heiligen Michael waren in Waffen und Taktik ausgebildet. Früher wurden Digos, Tarnung und Nahkampf eingesetzt, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Eine Hand konnte aus fünfzehn Schritten Entfernung mit einem geworfenen Messer Trauben entzweischneiden und sprach fließend vier Sprachen. Sie konnte eine Kuh enthaupten, ihren Kadaver in einen Brunnen mit klarem Wasser werfen und die Schuld einer rivalisierenden Gruppe mit absoluter Dominanz zuschieben. Jahrhundertelang trainierten sie in einem Kloster auf einer geheimen Insel im Mittelmeer. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Training weiterentwickelt, doch im Zweiten Weltkrieg wurde die Hand des Heiligen Michael fast vollständig zerschlagen. Es war eine kleine, blutige Schlacht, in der viele fielen. Einige verteidigten sehr edle Ziele, andere leider weniger.
    
  Fowler unterbrach seine Rede, um einen Schluck Kaffee zu nehmen. Die Schatten im Raum wurden dunkel und düster, und Paola Cinti war zutiefst verängstigt. Er setzte sich auf einen Stuhl und lehnte sich an die Lehne, während der Priester fortfuhr.
    
  1958 entschied Papst Johannes XXIII., dass die Zeit der Heiligen Allianz vorbei sei. Ihre Dienste würden nicht mehr benötigt. Mitten im Französischen Bürgerkrieg zerschlug er die Kommunikationsnetze mit den Informanten und verbot den Mitgliedern der Heiligen Allianz kategorisch jegliches Handeln ohne seine Zustimmung. (Vorläufige Fassung.) Vier Jahre lang blieb es dabei. Von den 52 Mitgliedern, die 1939 dabei gewesen waren, waren nur noch zwölf übrig, einige deutlich älter. Sie wurden nach Rom zurückbeordert, dem geheimen Ort, an dem die Ardios 1960 auf mysteriöse Weise trainiert hatten. Der Leiter der Heiligen Allianz, der Heilige Michael, starb bei einem Autounfall.
    
  -Wer war er?
    
  "Ich kann das nicht verzeihen, nicht weil ich es nicht will, sondern weil ich es nicht weiß. Die Identität des Oberhaupts bleibt immer ein Rätsel. Es könnte jeder sein: ein Bischof, ein Kardinal, ein Mitglied des Kuratoriums oder ein einfacher Priester. Es muss ein Varón sein, über fünfundvierzig Jahre alt. Das ist alles. Von 1566 bis heute ist er als Oberhaupt bekannt: der Priester Sogredo, ein Italiener spanischer Abstammung, der erbittert gegen Neapel kämpfte. Und das ist nur in sehr begrenzten Kreisen bekannt."
    
  "Es ist nicht verwunderlich, dass der Vatikan die Existenz eines Spionagedienstes nicht anerkennt, wenn er all dies nutzt."
    
  "Das war eines der Motive, die Johannes XXIII. zum Bruch der Heiligen Allianz bewogen. Er sagte, Töten sei selbst im Namen Gottes ungerecht, und dem stimme ich zu. Ich weiß, dass einige Reden der Hand des Heiligen Michael einen tiefgreifenden Einfluss auf die Nazis hatten. Ein einziger Schlag von ihnen rettete Hunderttausende Leben. Doch es gab eine sehr kleine Gruppe, deren Kontakt zum Vatikan abgebrochen wurde, und diese Gruppe beging ungeheuerliche Fehler. Es ist nicht angebracht, hier darüber zu sprechen, insbesondere in dieser dunklen Stunde."
    
  Fowler winkte mit der Hand, als wollte er Geister vertreiben. Bei jemandem wie ihm, dessen Bewegungen fast übernatürlich wirkten, konnte eine solche Geste nur extreme Nervosität bedeuten. Paola merkte, dass sie die Geschichte unbedingt beenden wollte.
    
  "Sie brauchen nichts zu sagen, Vater. Wenn Sie es für notwendig halten, dass ich es weiß."
    
  Ich bedankte mich lächelnd bei ihm und fuhr fort.
    
  Doch wie Sie sich wohl vorstellen können, war dies nicht das Ende der Heiligen Allianz. Die Thronbesteigung Pauls VI. im Jahr 1963 fand inmitten einer der schrecklichsten internationalen Krisen aller Zeiten statt. Nur ein Jahr zuvor stand die Welt kurz vor einem Krieg. Wenige Monate später wurde Kennedy, der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, erschossen. Als Paul VI. davon erfuhr, forderte er die Wiederherstellung des Heiligen Bundes. Die Spionagenetzwerke, obwohl im Laufe der Zeit geschwächt, wurden wieder aufgebaut. Die größte Herausforderung bestand darin, die Hand des Heiligen Michael neu zu formieren. Von den zwölf Händen, die 1958 nach Rom gerufen worden waren, wurden 1963 sieben wieder in Dienst gestellt. Eine von ihnen erhielt den Auftrag, eine Basis für die Umschulung von Agenten aufzubauen. Diese Aufgabe dauerte fast fünfzehn Minuten, doch es gelang ihr, eine Gruppe von dreißig Agenten zusammenzustellen. Einige wurden neu rekrutiert, andere stammten aus anderen Geheimdiensten.
    
  -Wie du: ein Doppelagent.
    
  "Eigentlich bin ich als potenzieller Agent tätig. Das ist jemand, der üblicherweise für zwei verbündete Organisationen arbeitet, dessen Leiter aber nicht weiß, dass die Tochterorganisation Änderungen vornimmt oder die Richtlinien für ihre Mission bei jeder Mission anpasst. Ich verpflichte mich, mein Wissen zum Retten von Leben einzusetzen, nicht zum Zerstören anderer. Fast alle meine bisherigen Missionen hatten mit Wiederherstellungsmaßnahmen zu tun: die Rettung loyaler Priester an schwierigen Orten."
    
  -Fast alles.
    
  Fowler senkte den Blick.
    
  "Wir hatten eine schwierige Mission, bei der alles schiefging. Derjenige, der aufhören muss, eine Hand zu sein. Ich habe nicht bekommen, was ich wollte, aber hier bin ich. Ich glaube, ich werde den Rest meines Lebens Psychologe sein, und sehen Sie, wie einer meiner Patienten mich zu Ihnen geführt hat."
    
  -Dante ist eine der Hände, nicht wahr, Vater?
    
  "Anfang 241, nach meiner Abreise, gab es eine Krise. Jetzt sind wieder wenige da, also mache ich mich auf den Weg. Sie sind alle weit weg beschäftigt, mit Missionen, aus denen sie nicht so leicht herausgeholt werden können. Niko, der verfügbar war, war ein Mann mit sehr wenig Wissen. Tatsächlich werde ich arbeiten, wenn meine Vermutungen stimmen."
    
    - Also ¿ Sirin ist Kopf ?
    
  Fowler miró al frente, impasible. Nach einer Minute entschied Paola, dass ich ihr nicht antworten würde, da ich noch eine Frage stellen wollte.
    
  -Vater, bitte erklären Sie, warum die Heilige Allianz eine solche Montage wie éste anfertigen möchte.
    
  "Die Welt verändert sich, Doktor. Demokratische Ideen finden in vielen Herzen Anklang, auch in denen engagierter Kurienmitglieder. Der Heilige Bund braucht einen Papst, der ihn entschieden unterstützt, sonst wird er verschwinden." Doch der Heilige Bund ist nur eine vorläufige Idee. Was die drei Kardinäle meinen, ist, dass sie überzeugte Liberale waren - mehr kann ein Kardinal schließlich nicht sein. Jeder von ihnen könnte den Secret Service erneut zerstören, vielleicht für immer.
    
  -Durch ihre Beseitigung verschwindet die Bedrohung.
    
  "Und gleichzeitig steigt das Sicherheitsbedürfnis. Wären die Kardinäle ohne mich verschwunden, wären viele Fragen aufgekommen. Ich kann mir das auch nicht als Zufall vorstellen: Das Papsttum ist von Natur aus paranoid. Aber wenn Sie Recht haben ..."
    
  -Eine Tarnung für Mord. Gott, ich bin angewidert. Ich bin froh, dass ich die Kirche verlassen habe.
    
  Fowler ging zu ihr hinüber und hockte sich neben den Stuhl, Tom ergriff ihre beiden Hände.
    
  "Dottora, täusche dich nicht. Anders als diese Kirche, geschaffen aus Blut und Schmutz, die du vor dir siehst, gibt es eine andere Kirche, unendlich und unsichtbar, deren Banner hoch zum Himmel erhoben sind. Diese Kirche lebt in den Seelen von Millionen Gläubigen, die Christus und seine Botschaft lieben. Erhebe dich aus der Asche, erfülle die Welt, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen."
    
  Paola blickt ihm auf die Stirn.
    
  - Glaubst du das wirklich, Vater?
    
  - Ich glaube es, Paola.
    
  Sie standen beide auf. Er küsste sie zärtlich und innig, und sie nahm ihn so an, wie er war, mit all seinen Narben. Ihr Leid wurde vom Kummer gemildert, und für ein paar Stunden erlebten sie gemeinsam Glück.
    
    
    
  Die Wohnung der Familie Dikanti
    
  Via Della Croce, 12
    
  Samstag, 9. April 2005, 08:41.
    
    
    
  Diesmal wachte Fowler vom Geruch frisch gebrühten Kaffees auf.
    
  - Hier ist es, Vater.
    
  Ich sah sie an und sehnte mich danach, dass sie wieder mit dir sprach. Ich erwiderte ihren Blick entschieden, und sie verstand. Hoffnung wich dem mütterlichen Licht, das den Raum bereits erfüllte. Sie sagte nichts, denn sie erwartete nichts und hatte nichts zu bieten außer Schmerz. Doch sie fühlten sich getröstet von der Gewissheit, dass sie beide aus der Erfahrung gelernt und in den Schwächen des anderen Stärke gefunden hatten. Ich will verdammt sein, wenn ich glaube, dass Fowlers Entschlossenheit in seiner Berufung diesen Glauben erschüttert hat. Sería fácil, pero sería erróneo. Im Gegenteil, ich wäre ihm dankbar, wenn er seine Dämonen zumindest für eine Weile zum Schweigen bringen würde.
    
  Sie war froh, dass er sie verstand. Er saß auf der Bettkante und lächelte. Und es war kein trauriges Lächeln, denn in dieser Nacht hatte sie die Mauer der Verzweiflung überwunden. Diese frischgebackene Mutter brachte ihr zwar keine Gewissheit, aber zumindest zerstreute sie ihre Verwirrung. Auch wenn er dachte, sie hätte ihn von sich gestoßen, damit er keinen Schmerz mehr spürte. Sería fácil, pero sería erróneo. Im Gegenteil, sie verstand ihn und wusste, dass dieser Mann ihr sein Versprechen und seinen eigenen Kampf schuldete.
    
  - Dottora, ich muss dir etwas sagen, und das kann man nicht einfach so annehmen.
    
  "Das wirst du sagen, Vater", sagte sie.
    
  "Falls Sie jemals Ihre Karriere als forensische Psychiaterin aufgeben, eröffnen Sie bitte kein Café", sagte er und verzog das Gesicht, als er ihr Café sah.
    
  Beide lachten, und für einen Moment war alles perfekt.
    
    
  Eine halbe Stunde später, nachdem sie geduscht und sich frisch gemacht haben, besprechen sie alle Details des Falls. Der Priester steht am Fenster von Paolas Schlafzimmer. Die Gerichtsmedizinerin sitzt an ihrem Schreibtisch.
    
  -Weiß Vater Bescheid? Angesichts der Theorie, dass Karoski ein von der Heiligen Allianz angeführter Attentäter sein könnte, erscheint das unrealistisch.
    
  "Es ist möglich. Angesichts dessen sind seine Verletzungen jedoch nach wie vor sehr real. Und wenn wir nur ein bisschen Verstand haben, dann können nur du und ich ihn aufhalten."
    
  Erst mit diesen Worten verlor der Morgen seinen Glanz. Paola Cintió spannt ihre Seele wie eine Saite an. Jetzt, mehr denn je, begriff ich, dass es seine Verantwortung war, das Monster zu fangen. Für Pontiero, für Fowler und für sich selbst. Und als ich ihn in meinen Armen hielt, wollte ich ihn fragen, ob ihn jemand an der Leine hielt. Wenn ja, würde er nicht einmal daran denken, sich zurückzuhalten.
    
  -Die Wachsamkeit ist erhöht, das verstehe ich. Aber was ist mit der Schweizergarde?
    
  "Eine schöne Form, aber von sehr geringem praktischen Nutzen. Sie ahnen wahrscheinlich nicht einmal, dass bereits drei Kardinäle gestorben sind. Ich zähle nicht auf sie: Sie sind einfache Gendarmen."
    
  Paola kratzte sich besorgt am Hinterkopf.
    
  -Was sollen wir jetzt tun, Vater?
    
  "Ich weiß es nicht. Wir haben nicht die geringste Ahnung, dass Dónde Karoski angreifen könnte, und seit gestern wird Más Fácil der Mord angelastet."
    
  - Wie meinst du das?
    
  - Die Kardinäle begannen mit der Novenialmesse. Dies ist ein Novenengebet für die Seele des verstorbenen Papstes.
    
  - Sag mir nicht...
    
  -Genau. In ganz Rom werden Messen gefeiert. San Juan de Letrán, Santa Maríla Mayor, San Pedro, San Pablo Abroad... Die Kardinäle zelebrieren paarweise die Messe in den fünfzig wichtigsten Kirchen Roms. Es ist Tradition, und ich glaube nicht, dass sie sie gegen irgendetwas auf der Welt eintauschen würden. Wenn der Heilige Bund sich dazu bekennt, ist er manchmal ideologisch motiviert, um nicht zu morden. Es ist noch nicht so weit gekommen, dass die Kardinäle auch rebellieren würden, wenn Sirin versuchen würde, sie am Novenarium zu hindern. Nein, die Messen werden nicht stattfinden, koste es, was es wolle. Ich lasse mich nicht verdammen, wenn auch nur ein weiterer Kardinal tot wäre, ohne dass wir, die Gastgeber, es erfahren.
    
  - Verdammt, ich brauche eine Zigarette.
    
  Paola ertastete Pontieros Paket auf dem Tisch, fühlte den Anzug. Ich griff in die Innentasche meiner Jacke und fand einen kleinen, stabilen Karton.
    
   Was ist das?
    
  Es war ein Kupferstich der Madonna del Carmen. Jener, den Francescos Bruder Toma ihr in Santa Marín in Transpontina zum Abschied geschenkt hatte. Der falsche Karmeliter, Caroschis Mörder. Er trug denselben schwarzen Anzug wie die Madonna del Carmen, und dieser trug das Siegel des Aún Seguíalleí.
    
  -¿Сóнеу Ich könnte das vergessen? Das Versuch .
    
  Fowler se acercó, intrigado.
    
    -Ein Kupferstich der Madonna del Carmen. Darauf steht etwas von Detroit.
    
  Ein Priester rezitiert das Gesetz laut auf Englisch.
    
    
    "Wenn dich dein eigener Bruder, dein Sohn oder deine Tochter, deine geliebte Frau oder dein engster Freund heimlich verführt, gib ihm nicht nach und höre nicht auf ihn. Zeige kein Mitleid mit ihm. Schone ihn nicht und schütze ihn nicht. Du musst ihn unbedingt töten. Dann wird ganz Israel es hören und sich fürchten, und niemand unter euch wird jemals wieder so etwas Böses tun."
    
    
    Paola übersetzte "Ein Leben voller Wut und Zorn".
    
  "Wenn dein Bruder, der Sohn deines Vaters, der Sohn deiner Mutter, dein Sohn, deine Tochter, deine ungeborene Frau oder dein Freund, der dein anderes Ich ist, dich heimlich verführen will, so vergib ihm nicht und verheimliche es ihm nicht. Wenn ich aber davon erfahre und mich fürchte, werde ich ihn und ganz Israel töten und aufhören, dieses Übel unter euch zu tun."
    
  - Ich glaube, es stammt aus dem 5. Buch Mose. Kapitel 13, Verse 7 oder 12.
    
  "Verdammt!", spuckte der Gerichtsmediziner aus. "Es war die ganze Zeit in meiner Tasche!" Debía bemerkte, dass es auf Englisch geschrieben war.
    
  "Nein, Dottora." Ein Mönch gab ihm einen Stempel. Angesichts seines mangelnden Glaubens ist es kein Wunder, dass er dem keine Beachtung schenkte.
    
  "Vielleicht, aber seit wir wissen, wer dieser Mönch war, muss ich daran denken, dass du mir etwas gegeben hast." Ich war beunruhigt und versuchte mich zu erinnern, wie wenig ich von seinem Gesicht in dieser Dunkelheit gesehen hatte. Wenn vorher ...
    
  Ich hatte doch vor, euch das Wort zu predigen, erinnert ihr euch?
    
  Paola blieb stehen. Der Priester drehte sich um, das Siegel in der Hand.
    
  -Hören Sie mal, Doktor, das ist ein ganz normaler Stempel. Kleben Sie etwas Klebepapier auf den Stempelteil...
    
  Santa Maria del Carmen .
    
  -... mit großem Geschick, um den Text anzupassen. Deuteronomium ist...
    
  Er
    
  -...die Quelle des Ungewöhnlichen in der Gravur, wissen Sie? Ich denke...
    
  Um ihm in diesen dunklen Zeiten den Weg zu weisen.
    
  -...wenn ich ein wenig um die Ecke schieße, kann ich es abreißen...
    
  Paola packte seine Hand, ihre Stimme erhob sich zu einem schrillen Schrei.
    
  -¡ FASS SIE NICHT AN!
    
  Fowler parpadeó, sobresaltado. Ich rühre mich keinen Zentimeter. Der Gerichtsmediziner entfernte den Stempel von ihrer Hand.
    
  "Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe, Vater", sagte Dikanti und versuchte, sich zu beruhigen. "Ich habe mich nur daran erinnert, dass Karoski mir gesagt hat, das Siegel würde mir in diesen dunklen Zeiten den Weg weisen. Und ich glaube, es enthält eine Botschaft, die uns verhöhnen soll."
    
  -Viktorinaás. Oder es könnte ein cleveres Manöver sein, um uns in die Irre zu führen.
    
  "Die einzige Gewissheit in diesem Fall ist, dass wir noch lange nicht alle Puzzleteile beisammen haben. Ich hoffe, wir können hier etwas finden."
    
  Er drehte die Briefmarke um, betrachtete sie durch das Glas und sah einen Karren.
    
  Nichts.
    
  -Eine Bibelstelle kann eine Botschaft sein. Aber was bedeutet sie?
    
  "Ich weiß es nicht, aber ich glaube, da ist etwas Besonderes dran. Etwas, das mit bloßem Auge unsichtbar ist. Und ich glaube, ich habe hier ein besonderes Werkzeug für solche Fälle."
    
  Der Gerichtsmediziner Trust befand sich im nächsten Schrank. Schließlich zog er eine verstaubte Schachtel vom Boden hervor. "Stell sie vorsichtig auf den Tisch."
    
  - Ich habe das seit meiner Schulzeit nicht mehr benutzt. Es war ein Geschenk von meinem Vater.
    
  Sie öffnete die Schachtel langsam und ehrfürchtig. Um sich die Warnung vor diesem Gerät, seinen hohen Preis und die notwendige Sorgfalt für immer einzuprägen. Sie nahm es heraus und legte es auf den Tisch. Es war ein gewöhnliches Mikroskop. Paola hatte an der Universität mit tausendmal teureren Geräten gearbeitet, aber keines davon mit dem gleichen Respekt behandelt wie dieses. Sie war froh, dieses Gefühl bewahrt zu haben: Es war ein wunderschöner Besuch bei ihrem Vater gewesen, eine Seltenheit für sie, dass sie mit ihm zusammengelebt hatte und den Tag bereute, an dem sie verloren hatte. Kurz fragte sie sich, ob sie diese schönen Erinnerungen bewahren oder an dem Gedanken festhalten sollte, dass sie ihr zu früh entrissen worden waren.
    
  "Gib mir den Ausdruck, Vater", sagte er und setzte sich vor das Mikroskop.
    
  Klebepapier und Plastik schützen das Gerät vor Staub. Er legt den Abzug unter die Linse und fokussiert. Seine linke Hand streicht über den bunten Korb und betrachtet langsam das Bild der Jungfrau Maria. "Ich kann nichts finden." Er dreht die Briefmarke um, um die Rückseite zu untersuchen.
    
  -Moment mal... da ist etwas.
    
  Paola reichte dem Priester den Sucher. Die Buchstaben auf der Briefmarke erschienen, fünfzehnfach vergrößert, als breite schwarze Streifen. Einer von ihnen enthielt jedoch ein kleines weißliches Quadrat.
    
  - Es sieht aus wie eine Perforation.
    
  Der Inspektor wandte sich wieder dem Griff des Mikroskops zu.
    
  "Ich schwöre, das wurde mit einer Stecknadel gemacht. Natürlich wurde das absichtlich gemacht. Es ist zu perfekt."
    
  - In welchem Brief erscheint das erste Zeichen?
    
  -Der Buchstabe F kommt von If.
    
  - Dottora, bitte prüfe, ob in den anderen Buchstaben ein Loch ist.
    
  Paola Barrió ist das erste Wort im Text.
    
  - Hier ist noch einer.
    
  -Nur zu, nur zu.
    
  Nach acht Minuten gelang es dem Gerichtsmediziner, insgesamt elf durchlöcherte Briefe zu finden.
    
    
    "Wenn dein eigener Bruder, dein Sohn oder deine Tochter, deine geliebte Frau oder dein engster Freund dich heimlich verführt, gib ihm nicht nach und höre nicht auf ihn. Zeige ihm kein Mitleid. Schone ihn nicht und schütze ihn nicht. Du musst ihn unbedingt töten. Dann ..." Israel "wird es hören und sich fürchten, und keiner von euch wird jemals wieder so etwas Böses tun."
    
    
    Als ich sicher war, dass keine meiner perforierten Hieroglyphen mehr vorhanden war, notierte der Gerichtsmediziner die, die er bei sich hatte. Beide schauderten beim Lesen seiner Aufzeichnungen, und Paola schrieb sie ab.
    
  Wenn dein Bruder versucht, dich heimlich zu verführen,
    
  Notieren Sie die Berichte der Psychiater.
    
  Verzeih ihm nicht und verheimliche es ihm nicht.
    
  Briefe an Angehörige von Opfern von Karoskis sexueller Gewalt.
    
  Aber ich werde ihn töten.
    
  Notieren Sie den Namen, der darauf stand.
    
  Francis Shaw.
    
    
    
  (REUTERS TELETYPE, 10. APRIL 2005, 8:12 UHR GMT)
    
    
  Kardinal Shaw feierte heute die Noventialmesse im Petersdom.
    
    
  ROM (Associated Press). Kardinal Francis Shaw wird heute um 12:00 Uhr im Petersdom die Novediales-Messe zelebrieren. Dem hochwürdigsten Amerikaner wird die Ehre zuteil, die Novediales-Messe für das Seelenheil von Johannes Paul II. im Petersdom zu leiten.
    
  Bestimmte Gruppen in den Vereinigten Staaten begrüßten Shaws Teilnahme an der Zeremonie nicht besonders. Insbesondere das Netzwerk für Überlebende von Priestermissbrauch (SNAP) entsandte zwei seiner Mitglieder nach Rom, um formell gegen Shaws Erlaubnis zu protestieren, in der höchsten christlichen Kirche zu dienen. "Wir sind nur zwei Personen, aber wir werden einen offiziellen, energischen und organisierten Protest bei den Parlamenten einreichen", sagte Barbara Payne, Präsidentin von SNAP.
    
  Diese Organisation ist der führende Verband im Kampf gegen sexuellen Missbrauch durch katholische Priester und hat über 4.500 Mitglieder. Ihre Hauptaufgaben umfassen die Aufklärung und Unterstützung von Kindern sowie die Durchführung von Gruppentherapien zur Aufarbeitung der Fakten. Viele Mitglieder wenden sich erst im Erwachsenenalter an SNAP, nachdem sie eine Zeit des Schweigens erlebt haben.
    
  Kardinal Shaw, derzeit Präfekt der Kleruskongregation, war in die Ermittlungen zu Fällen von sexuellem Missbrauch durch Geistliche in den Vereinigten Staaten Ende der 1990er Jahre verwickelt. Shaw, Kardinal der Erzdiözese Boston, war die wichtigste Persönlichkeit der katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten und in vielerlei Hinsicht der aussichtsreichste Kandidat für die Nachfolge von Karol Wojtyla.
    
  Seine Karriere wurde schwer auf die Probe gestellt, nachdem bekannt wurde, dass er über ein Jahrzehnt hinweg mehr als dreihundert Fälle von sexuellem Missbrauch in seinem Zuständigkeitsbereich vertuscht hatte. Häufig versetzte er Priester, die staatlicher Verbrechen beschuldigt wurden, von einer Pfarrei in eine andere, in der Hoffnung, ihnen zu entgehen. Fast immer beschränkte er sich darauf, den Beschuldigten einen Ortswechsel zu empfehlen. Nur in sehr schweren Fällen wurden die Priester zur Behandlung an ein spezialisiertes Algún-Zentrum überwiesen.
    
  Als die ersten ernsthaften Beschwerden eintrafen, schloss Shaw mit den Familien der Betroffenen wirtschaftliche Vereinbarungen, um deren Schweigen zu sichern. Schließlich wurden die Enthüllungen der Ndalos weltweit bekannt, und Shaw wurde von den höchsten Autoritäten des Vatikans zum Rücktritt gezwungen. Er zog nach Rom, wo er zum Präfekten der Kleruskongregation ernannt wurde - eine Position von gewissem Gewicht, die sich jedoch als der Höhepunkt seiner Karriere erweisen sollte.
    
  Dennoch gibt es einige, die Shaw weiterhin als Heiligen verehren, der die Kirche mit aller Kraft verteidigte. "Er wurde verfolgt und verleumdet, weil er den Glauben verteidigte", bekräftigt sein Privatsekretär, Pater Miller. Doch im ständigen Medientrubel um die Frage, wer Papst werden soll, hat Shaw kaum Chancen. Die Römische Kurie ist in der Regel ein vorsichtiges Gremium, das nicht zu Verschwendung neigt. Obwohl Shaw Unterstützung genießt, ist es nicht auszuschließen, dass er viele Stimmen erhält - ein Wunder ausgenommen.
    
  2005-08-04-10:12 (AP)
    
    
    
  Sakristan des Vatikans
    
  Sonntag, 10. April 2005, 11:08 Uhr.
    
    
    
  Die Priester, die den Gottesdienst mit Kardinal Shaw feiern werden, legen ihre Sakristeien in der Hilfssakristei nahe dem Eingang zum Petersdom an, wo sie zusammen mit den Ministranten fünf Minuten vor Beginn der Zeremonie auf den Zelebranten warten.
    
  Bis zu diesem Zeitpunkt war das Museum leer, abgesehen von zwei Nonnen, die Shaw assistierten, einem weiteren Geistlichen, Kardinal Paulic, und einem Schweizergardisten, der sie an der Tür der Sakristei bewachte.
    
  Karoski strich über sein Messer, das er unter seiner Kleidung versteckt hatte. Überlege dir im Kopf deine Chancen.
    
  Endlich würde er seinen Preis gewinnen.
    
  Es war fast soweit.
    
    
    
  Petersplatz
    
  Sonntag, 10. April 2005, 11:16 Uhr.
    
    
    
  "Es ist unmöglich, durch das St.-Anna-Tor einzutreten, Pater. Es wird außerdem streng bewacht und lässt niemanden hinein. Dies gilt nur für diejenigen, die eine Genehmigung des Vatikans haben."
    
  Beide Reisenden erkundeten aus der Ferne die Zugänge zum Vatikan. Jeder für sich, um diskreter zu sein. Bis zum Beginn der Novendiales-Messe in San Pedro verblieben weniger als fünfzig Minuten.
    
  Innerhalb von nur dreißig Minuten löste die Enthüllung von Francis Shaws Namen auf dem Kupferstich der "Madonna del Carmen" eine hektische Online-Werbekampagne aus. Nachrichtenagenturen veröffentlichten Ort und Zeit von Shaws geplantem Auftritt - für alle, die es lesen wollten.
    
  Und sie befanden sich alle auf dem Petersplatz.
    
  -Wir müssen den Haupteingang der Basilika benutzen.
    
  "Nein. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden überall verschärft, außer an dieser Stelle, die für Besucher zugänglich ist, da man uns ja genau deshalb erwartet. Obwohl wir hineinkamen, konnten wir niemanden dazu bewegen, sich dem Altar zu nähern. Shaw und sein Begleiter verlassen die Kirche von der Sakristei des Petersdoms aus. Vom Altar führt ein direkter Weg in die Basilika. Bitte benutzen Sie nicht den Petersaltar, der dem Papst vorbehalten ist. Nutzen Sie einen der Nebenaltäre. Es werden etwa achthundert Personen an der Zeremonie teilnehmen."
    
  Wird Karoskiá es wagen, vor so vielen Menschen zu sprechen?
    
  "Unser Problem ist, dass wir nicht wissen, wer in diesem Drama welche Rolle spielt. Wenn die Heilige Allianz Shaw tot sehen will, werden sie uns nicht erlauben, ihn an der Messefeier zu hindern. Wenn sie Karoski aufspüren wollen, dann dürfen wir den Kardinal auch nicht warnen, denn das wäre der perfekte Köder. Ich bin überzeugt, dass dies, was auch immer geschieht, der letzte Akt dieser Komödie ist."
    
  -Nun ja, zum jetzigen Zeitpunkt gibt es für uns keine Rolle mehr in él. Es ist bereits Viertel vor elf.
    
  "Nein. Wir werden in den Vatikan eindringen, Sirins Agenten umzingeln und die Sakristei erreichen. Shaw muss daran gehindert werden, die Messe zu feiern."
    
  -¿Sómo, Vater?
    
  - Wir werden den Weg beschreiten, den Sirin Jem sich vorstellen kann.
    
    
  Vier Minuten später klingelte es an der Tür des bescheidenen fünfstöckigen Gebäudes. "Paola le dio la razón a Fowler." Sirin hätte sich nicht vorstellen können, dass Fowler freiwillig an die Tür des Palastes des Heiligen Offiziums klopfen würde, selbst in einer Mühle.
    
  Einer der Eingänge zum Vatikan befindet sich zwischen dem Bernini-Palast und der Kolonnade. Er besteht aus einem schwarzen Zaun und einem Torhaus. Normalerweise wird er von zwei Schweizergardisten bewacht. An jenem Sonntag waren es fünf, und ein Polizist in Zivil kam zu uns. Esentimo hielt eine Mappe in der Hand, in der sich (weder Fowler noch Paola wussten das) seine Fotos befanden. Dieser Mann, ein Mitglied der Vigilanz, sah ein Paar, das der Beschreibung zu entsprechen schien, auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig entlanggehen. Er sah sie nur kurz, dann verschwanden sie aus seinem Blickfeld, und er war sich nicht sicher, ob sie es wirklich waren. Er durfte seinen Posten nicht verlassen, da er nicht versucht hatte, ihnen zu folgen, um nachzusehen. Seine Anweisung lautete, zu melden, falls diese Personen versuchten, den Vatikan zu betreten, und sie gegebenenfalls mit Gewalt festzuhalten. Doch es schien offensichtlich, dass diese Personen wichtig waren. Drücken Sie den Bot-Knopf am Funkgerät und melden Sie, was Sie gesehen haben.
    
  Fast an der Ecke der Via Porta Cavalleggeri, keine zwanzig Meter von dem Eingang entfernt, wo der Polizist gerade Anweisungen per Funk erhielt, standen die Palasttore. Die Tür war geschlossen, doch es klingelte. Fowler streckte den Finger heraus, bis er hörte, wie die Riegel auf der anderen Seite zurückgezogen wurden. Das Gesicht eines älteren Priesters lugte durch den Spalt.
    
  "Was wollten die denn?", fragte er in einem wütenden Ton.
    
  - Wir sind gekommen, um Bischof Khan zu besuchen.
    
  -Im Auftrag wessen?
    
  - Von Pater Fowler.
    
  -Mir scheint es nicht so.
    
  - Ich bin ein alter Bekannter.
    
  "Bischof Hanög ruht sich aus. Es ist Sonntag, und der Palazzo ist geschlossen. Guten Tag", sagte er und machte müde Handgesten, als wolle er Fliegen verscheuchen.
    
  -Bitte sagen Sie mir, in welchem Krankenhaus oder auf welchem Friedhof sich der Bischof befindet, Pater.
    
  Der Priester blickte ihn überrascht an.
    
  -¿Sómo spricht?
    
  "Bischof Khan sagte mir, ich würde keine Ruhe finden, bis ich für meine vielen Sünden büßen müsste, da er wohl krank oder tot sein müsse. Ich habe keine andere Erklärung."
    
  Der Blick des Priesters wandelte sich leicht von feindseliger Distanz zu leichter Verärgerung.
    
  "Es scheint, als ob Sie Bischof Khan kennen. Warten Sie hier draußen", sagte er und schlug ihnen die Tür wieder vor der Nase zu.
    
  - Warum ist es so, als ob Sie hier wären? -Fragen Sie Paola.
    
  "Bischof Khan hat in seinem ganzen Leben keinen einzigen Sonntag geruht, Doktor. Es wäre ein trauriger Zufall, wenn ich das heute täte."
    
  -Dein Freund?
    
  Fowler carraspeó.
    
  "Nun ja, eigentlich ist es der Mann, der mich weltweit hasst. Gontas Hanër ist der derzeitige Kuriendelegierte. Er ist ein alter Jesuit, der die Unruhen außerhalb der Heiligen Allianz - der kirchlichen Version ihrer internen Angelegenheiten - beenden will. Er war es, der die Klage gegen mich erhoben hat. Er hasst mich, weil ich kein einziges Wort über die mir anvertrauten Missionen verloren habe."
    
  -Was ist sein Absolutismus?
    
  -Ganz schlimm. Er hat mir befohlen, meinen Namen zu verfluchen, und zwar bevor oder nachdem er ihn vom Papst unterschreiben ließ.
    
  - Was ist ein Anathema?
    
  "Ein feierlicher Exkommunikationsbeschluss. Der Khan weiß, was ich in dieser Welt fürchte: dass die Kirche, für die ich gekämpft habe, mir nach meinem Tod den Eintritt in den Himmel verweigern wird."
    
  Der Gerichtsmediziner blickte ihn besorgt an.
    
  - Vater, darf ich fragen, was wir hier tun?
    
  - Ich bin gekommen, um alles zu beichten.
    
    
    
  Sakristan des Vatikans
    
  Sonntag, 10. April 2005, 11:31 Uhr.
    
    
    
  Der Schweizergardist fiel wie vom Blitz getroffen, lautlos, nicht einmal das Geräusch seiner Hellebarde, die auf den Mármolboden aufprallte, war zu hören. Der Schnitt an seiner Kehle hatte sie vollständig durchtrennt.
    
  Eine der Nonnen kam durch den Lärm aus der Sakristei. Er hatte keine Zeit zu schreien. Karoski schlug ihm brutal ins Gesicht. Der fromme Kay fiel benommen mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Der Mörder ließ sich Zeit und schob seinen rechten Fuß unter das plattgedrückte schwarze Kopftuch der Schwester. Ich suchte nach ihrem Hinterkopf. Wähle die genaue Stelle und verlagere dein gesamtes Gewicht auf die Fußsohle. Der Hals reißt trocken auf.
    
  Eine weitere Nonne steckt selbstbewusst ihren Kopf durch die Sakristeitür. Er brauchte die Hilfe seines Kameraden aus jener Zeit.
    
  Karoski stach ihm ins rechte Auge. Als ich sie herauszog und in dem kurzen Korridor, der zur Sakristei führte, abstellte, schleifte sie bereits die Leiche hinter sich her.
    
  Schau dir die drei Leichen an. Schau dir die Sakristeitür an. Schau dir die Uhr an.
    
  Aín hat fünf Minuten Zeit, sein Werk zu unterschreiben.
    
    
    
  Außenansicht des Palastes des Heiligen Offiziums
    
  Sonntag, 10. April 2005, 11:31 Uhr.
    
    
    
  Paola erstarrte, ihr Mund stand offen bei Fowlers Worten, doch bevor sie protestieren konnte, wurde die Tür aufgerissen. Anstelle des erfahrenen Priesters, der sich zuvor um sie gekümmert hatte, erschien ein stattlicher Bischof mit akkurat gestutztem blonden Haar und Bart. Er schien um die fünfzig zu sein. Er sprach mit Fowler mit deutschem Akzent, der von Verachtung und wiederholten Fehlern durchzogen war.
    
  - Wow, wie kannst du nach all dem plötzlich vor meiner Tür stehen? Wem verdanke ich diese unerwartete Ehre?
    
  -Bischof Khan, ich bin gekommen, um Sie um einen Gefallen zu bitten.
    
  "Es tut mir leid, Pater Fowler, Sie sind nicht in der Verfassung, mich um irgendetwas zu bitten. Vor zwölf Jahren bat ich Sie um etwas, und Sie schwiegen zwei Stunden lang. ¡Días! Die Kommission befindet ihn für unschuldig, ich aber nicht. Gehen Sie nun und beruhigen Sie sich."
    
  In seiner ausführlichen Rede lobte er Porta Cavallegeri. Paola meinte, sein Finger sei so hart und gerade, dass er Fowler damit in der Hochbahn aufhängen könne.
    
  Der Priester half ihm, sich selbst die Schlinge zu binden.
    
  -Aún hat noch nicht gehört, was ich im Gegenzug anbieten kann.
    
  Der Bischof verschränkte die Arme vor der Brust.
    
  -Hable, Fowler.
    
  "Es ist möglich, dass in weniger als einer halben Stunde ein Mord im Petersdom geschieht. Wir sind gekommen, um ihn zu verhindern. Leider haben wir keinen Zutritt zum Vatikan. Camilo Sirin hat uns die Einreise verweigert. Ich bitte Sie um Erlaubnis, durch den Palazzo zum Parkplatz zu gelangen, damit ich unbemerkt in die Città eintreten kann."
    
  Und was gibt es im Gegenzug?
    
  - Beantwortet alle eure Fragen zu Avocados. Mañanna.
    
  Er wandte sich an Paola.
    
  -Ich brauche Ihren Ausweis.
    
  Paola trug keine Polizeimarke. Der Polizist hatte sie ihm abgenommen. Zum Glück hatte er eine Magnetkarte für die UACV. Er hielt sie dem Bischof fest vor die Nase und hoffte, das würde genügen, um ihn von ihrer Unschuld zu überzeugen.
    
  Der Bischof nimmt dem forensischen Experten die Karte ab. Ich untersuchte sein Gesicht und das Foto auf der Karte, das UACV-Abzeichen und sogar den Magnetstreifen seines Ausweises.
    
  "Oh, wie wahr das ist. Glaub mir, Fowler, ich werde deinen vielen Sünden noch die Wollust hinzufügen."
    
  Paola wandte den Blick ab, damit er ihr Lächeln nicht bemerkte. Es war eine Erleichterung, dass Fowler den Fall des Bischofs so ernst nahm. Er schnalzte angewidert mit der Zunge.
    
  "Fowler, wo immer er hingeht, ist er von Blut und Tod umgeben. Meine Gefühle für dich sind sehr stark. Ich will ihn nicht an mich heranlassen."
    
  Der Priester wollte gerade Einspruch gegen Khan erheben, doch dieser rief ihn mit einer Geste zu sich.
    
  "Dennoch, Vater, ich weiß, dass Sie ein Ehrenmann sind. Ich nehme Ihr Angebot an. Heute gehe ich in den Vatikan, aber Mama Anna muss zu mir kommen und mir die Wahrheit sagen."
    
  Nach diesen Worten trat er beiseite. Fowler und Paola betraten den Raum. Die Eingangshalle war elegant, cremefarben gestrichen und schmucklos. Das ganze Gebäude war still, wie es sich für einen Sonntag gehörte. Paola vermutete, dass Nico, der alles verkörperte, derjenige mit der straffen, schlanken Gestalt war, die wie eine Folie wirkte. Dieser Mann erkannte Gottes Gerechtigkeit in sich. Er fürchtete sich davor, auch nur daran zu denken, was ein so besessener Geist vor vierhundert Jahren hätte anrichten können.
    
    -Le veré mañana, Padre Fowler. Denn ich werde die Freude haben, Ihnen das Dokument zu übergeben, das ich für Sie aufbewahre.
    
  Der Priester führte Paola den Korridor im ersten Stock des Palazzo entlang, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, vielleicht aus Angst, sicherzugehen, dass der Priester am nächsten Tag an der Tür auf ihre Rückkehr wartete.
    
  "Das ist interessant, Pater. Normalerweise verlassen die Leute die Kirche zur Heiligen Messe, sie betreten sie nicht durch sie hindurch", sagte Paola.
    
  Fowler verzog das Gesicht zwischen Trauer und Wut. Nika.
    
  "Ich hoffe, dass die Gefangennahme von Karoski nicht das Leben eines potenziellen Opfers rettet, das letztendlich meine Exkommunikation als Belohnung unterzeichnen wird."
    
  Sie näherten sich der Notausgangstür. Das angrenzende Fenster bot einen Blick auf den Parkplatz. Fowler drückte den mittleren Türriegel und streckte unauffällig den Kopf hinaus. Die Schweizergarde, dreißig Meter entfernt, beobachtete die Straße mit unbewegten Blicken. "Tür wieder schließen."
    
  "Die Affen haben es eilig. Wir müssen mit Shaw sprechen und ihm die Situation erklären, bevor Karoski L. erledigt."
    
  -Indísburnt the road.
    
  "Wir fahren auf den Parkplatz und gehen dann so nah wie möglich an der Hauswand in Indian Row entlang. Wir erreichen bald den Gerichtssaal. Wir bleiben an der Wand, bis wir die Ecke erreichen. Wir müssen die Rampe diagonal überqueren und uns nach rechts drehen, da wir nicht wissen, ob uns jemand beobachtet. Ich gehe voran, okay?"
    
  Paola nickte, und sie schritten zügig voran. Sie erreichten die Sakristei des Petersdoms ohne Zwischenfälle. Es war ein imposantes Gebäude direkt neben dem Petersdom. Den ganzen Sommer über war es für Touristen und Pilger geöffnet, denn nachmittags diente es als Museum, das einige der größten Schätze der Christenheit beherbergte.
    
  Der Priester legt seine Hand auf die Tür.
    
  Es war einen Spalt breit geöffnet.
    
    
    
  Sakristan des Vatikans
    
  Sonntag, 10. April 2005, 11:42 Uhr.
    
    
    
    - Mala señal, dottora - susurró Fowler.
    
    Der Inspektor legt die Hand an die Hüfte und holt einen Revolver vom Kaliber .38 heraus.
    
  -Lasst uns hineingehen.
    
  -Ich glaubte, dass Boy ihm die Waffe abgenommen hatte.
    
  "Er hat mir das Maschinengewehr weggenommen, das ist die Waffe der Regeln. Dieses Spielzeug ist nur für den Notfall."
    
  Beide überschritten die Schwelle. Das Museumsgelände war menschenleer, die Vitrinen geschlossen. Die Farbe auf Böden und Wänden warf einen Schatten des spärlichen Lichts, das durch die wenigen Fenster fiel. Trotz Mittags herrschte in den Räumen fast Dunkelheit. Fowler führte Paola schweigend und fluchte innerlich über das Knarren ihrer Schuhe. Sie passierten vier Museumshallen. In der sechsten blieb Fowler abrupt stehen. Keine halbe Meter entfernt, teilweise verdeckt von der Wand des Korridors, in den sie einbiegen wollten, stieß ich auf etwas höchst Ungewöhnliches. Eine Hand in einem weißen Handschuh und eine Hand, bedeckt mit einem Stoff in leuchtenden Gelb-, Blau- und Rottönen.
    
  Als sie um die Ecke bogen, bestätigte sich, dass der Arm zu einem Schweizergardisten gehörte. Aín umklammerte eine Hellebarde in seiner linken Hand, und seine Augen waren nun zwei blutgetränkte Löcher. Wenig später sah Paola plötzlich zwei Nonnen in schwarzen Kutten, die bäuchlings dalagen und sich in einer letzten Umarmung umarmten.
    
  Sie haben auch keine Augen.
    
  Die Gerichtsmedizinerin spannte den Abzug. Sie blickte Fowler scheiternd an.
    
  -Está aquí.
    
  Sie befanden sich in einem kurzen Korridor, der zur zentralen Sakristei des Vatikans führte. Dieser Korridor wird normalerweise von einem Sicherheitssystem bewacht, hatte aber Doppeltüren, die für Besucher geöffnet waren, sodass diese vom Eingang aus den Ort sehen konnten, an dem sich der Heilige Vater vor der Feier der Messe ankleidet.
    
  Zu diesem Zeitpunkt war es geschlossen.
    
  "Um Gottes willen, lass es nicht zu spät sein", sagte Paola und starrte auf die Leichen.
    
  Bis dahin hatte Karoski mich schon mindestens achtmal getroffen. Sie beteuert, sie sei noch immer dieselbe wie in den letzten Jahren. Glaubt mir nichts. Ich rannte zwei Meter den Flur entlang zur Tür und wich den SAPRáveres aus. Mit der linken Hand zog ich das Messer, während meine rechte Hand den Revolver schussbereit hielt, und trat über die Schwelle.
    
  Ich befand mich in einem sehr hohen, achteckigen Saal von etwa zwölf Metern Länge, der in goldenes Licht getaucht war. Vor mir stand ein von Säulen umgebener Altar, der einen vom Kreuz herabsteigenden Löwen darstellte. Die Wände waren mit Glockenblumen bedeckt und mit grauem Marmor verkleidet, und in zehn Schränken aus Teakholz und Zitronengras wurden die heiligen Gewänder aufbewahrt. Hätte Paola zur Decke hinaufgeschaut, hätte sie vielleicht ein mit wunderschönen Fresken verziertes Becken entdeckt, dessen Fenster den Raum mit Licht durchfluteten. Doch der Gerichtsmediziner hatte dies für die beiden Anwesenden gut sichtbar gehalten.
    
  Einer von ihnen war Kardinal Shaw. Der andere war ebenfalls ein reinrassiger Kardinal. Paola konnte ihn zunächst nicht richtig verstehen, bis sie ihn schließlich erkannte. Es war Kardinal Paulich.
    
  Sie standen beide am Altar. Paulich, Shaws Assistentin, hatte gerade damit begonnen, ihr Handschellen anzulegen, als der Gerichtsmediziner mit einer direkt auf sie gerichteten Pistole hereinplatzte.
    
  -¿Dónde está? - ruft Paola, und ihr Ruf hallt durch das Súpul. ¿Hast du ihn gesehen?
    
  Der Amerikaner sprach sehr langsam, ohne den Blick von der Pistole zu nehmen.
    
  -¿Dónde está quién, señorita?
    
  -Karoski. Derjenige, der die Schweizergarde und die Nonnen getötet hat.
    
  Ich hatte noch nicht ausgeredet, als Fowler den Raum betrat. Er hasst Paola. Er sah Shaw an und begegnete zum ersten Mal Kardinal Paulichs Blick.
    
  In diesem Blick lag Feuer und Erkenntnis.
    
  "Hallo, Victor", sagte der Priester mit leiser, heiserer Stimme.
    
  Kardinal Paulic, auch bekannt als Victor Karoski, hielt Kardinal Shaw mit seiner linken Hand am Hals fest und setzte ihm mit seiner übrigen rechten Hand Pontieros Pistole an die Schläfe.
    
  "BLEIBT DA!", schrie Dikanti, und das Echo wiederholte seine Worte.
    
  "Rühr keinen Finger", und die Angst, ausgelöst durch das pulsierende Adrenalin in ihren Schläfen. Erinnerst du dich an die Wut, die sie ergriff, als dieses Ungeheuer, nachdem es Pontieros Bild gesehen hatte, sie am Telefon anrief?
    
  Sorgfältig zielen.
    
  Karoski war mehr als zehn Meter entfernt, und hinter dem von Kardinal Shaw gebildeten menschlichen Schutzschild waren nur noch Teile seines Kopfes und seiner Unterarme zu sehen.
    
  Dank seiner Geschicklichkeit und Treffsicherheit war es ein unmögliches Unterfangen.
    
  Oder ich bringe dich hier und jetzt um.
    
  Paola biss sich auf die Unterlippe, um nicht vor Wut aufzuschreien. "Stell dir vor, du wärst ein Mörder und tu nichts."
    
  "Beachten Sie ihn nicht, Doktor. Er würde weder dem Vater noch dem Kardinal etwas antun, nicht wahr, Victor?"
    
  Karoski klammert sich fest an Shaws Hals.
    
  - Natürlich, ja. Wirf die Pistole auf den Boden, Dikanti. ¡Tírela!
    
  "Bitte tun Sie, was er Ihnen sagt", sagte Shaw mit zitternder Stimme.
    
  "Ausgezeichnete Interpretation, Victor", Fowlers Stimme zitterte vor Aufregung. "Lera. Weißt du noch, wie wir dachten, es sei unmöglich für den Mörder, aus Cardosos Zimmer zu entkommen, das für Außenstehende verschlossen war? Verdammt, das war echt verdammt cool. Ich bin da nie rausgekommen."
    
  - Was? - Paola war überrascht.
    
  Wir brachen die Tür auf. Wir sahen niemanden. Dann löste ein rechtzeitiger Hilferuf eine wilde Verfolgungsjagd die Treppe hinunter aus. Victor ist wahrscheinlich unter dem Bett? Im Schrank?
    
  - Sehr klug, Vater. Jetzt lass die Waffe fallen, Disponent.
    
  "Aber natürlich werden diese Bitte um Hilfe und die Beschreibung des Verbrechers von einem gläubigen Mann, einem Mann absoluten Vertrauens bestätigt. Einem Kardinal. Einem Komplizen des Mörders."
    
  -¡Сáзаплеть!
    
  - Was hat er Ihnen versprochen, um seine Konkurrenten auszuschalten und Ruhm zu erlangen, den er längst nicht mehr verdient?
    
  "Genug!", schrie Karoski wie von Sinnen, sein Gesicht schweißüberströmt. Eine ihrer künstlichen Augenbrauen löste sich fast über einem Auge ab.
    
    -¿Hast du dich im Instituto Saint Matthew umgesehen, Victor? É Er war derjenige, der dir empfohlen hat, in alles einzusteigen, richtig?
    
  "Hören Sie auf mit diesen absurden Unterstellungen, Fowler. Befiehl der Frau, die Waffe fallen zu lassen, oder dieser Wahnsinnige wird mich töten", befahl Shaw verzweifelt.
    
  "War das der Plan Seiner Eminenz Victor?", fragte Fowler und ignorierte die Angelegenheit. "Zehn, sollen wir so tun, als würden wir ihn mitten im Petersdom angreifen? Und soll ich euch davon abhalten, das alles vor den Augen der gesamten Gemeinde und der Fernsehzuschauer zu versuchen?"
    
  -Folge ihm nicht, sonst bringe ich ihn um! Bring ihn um!
    
  - Ich wäre derjenige, der sterben würde. Es ist ein Held.
    
    -Was habe ich dir im Tausch gegen die Schlüssel zum Königreich versprochen, Victor?
    
  -Um Himmels willen, du verdammter Ziegenbock! Ewiges Leben!
    
  Karoski, außer der Pistole, die auf Shaws Kopf gerichtet ist. Zielen Sie auf Dikanti und schießen Sie.
    
  Fowler stieß Dikanti nach vorn, der daraufhin seine Pistole fallen ließ. Karoskis Kugel verfehlte das Ziel - sie war zu nah am Kopf des Inspektors und durchbohrte die linke Schulter des Priesters.
    
  Karoski stieß Si Shaw von sich, der zwischen zwei Schränken Deckung suchte. Paola, die keine Zeit hatte, nach ihrem Revolver zu suchen, rammte Karoski mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten. Ich rammte dem Zauberer meine rechte Schulter in die Brust und schleuderte ihn gegen die Wand, doch ich konnte ihm nicht die Luft rauben: Die Polsterschichten, die er trug, um seinen Dicksein vorzutäuschen, schützten ihn. Trotzdem fiel Pontieros Pistole mit einem lauten, dröhnenden Knall zu Boden.
    
  Der Mörder schlägt Dikanti in den Rücken, der vor Schmerz aufschreit, aber wieder aufsteht und es schafft, Karoski ins Gesicht zu schlagen, der taumelt und fast das Gleichgewicht verliert.
    
  Paola hat ihren eigenen Fehler begangen.
    
  Sieh dich nach der Pistole um. Dann schlug Karoski ihr ins Gesicht, wie ein Zauberer, ganz gelassen. Und schließlich packte ich sie mit einem Arm, genau wie Shaw. Nur diesmal trug sie einen scharfen Gegenstand bei sich, mit dem sie Paolas Gesicht ritzte. Es war ein gewöhnliches Fischmesser, aber ein sehr scharfes.
    
  "Oh, Paola, du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Freude mir das bereiten wird", flüstere ich oó do oído.
    
  -¡VIKTOR!
    
  Karoski drehte sich um. Fowler war auf sein linkes Knie gefallen, am Boden fixiert, seine linke Schulter war geprellt, und Blut rann seinen Arm hinunter, der schlaff am Boden hing.
    
  Paolas rechte Hand umfasste den Revolver und zielte direkt auf Karoskis Stirn.
    
  "Er wird nicht schießen, Pater Fowler", keuchte der Mörder. "Wir sind uns gar nicht so unähnlich. Wir leben beide in derselben privaten Hölle. Und Sie schwören bei Ihrem Priesteramt, dass Sie nie wieder töten werden."
    
  Mit furchtbarer Anstrengung und vor Schmerzen gerötet, schaffte es Fowler, seinen linken Arm in den Stand zu heben. Ich riss ihn ihm mit einer einzigen Bewegung vom Hemd und schleuderte ihn zwischen den Mörder und die Hochbahn. Der Armheber wirbelte in der Luft herum, sein Stoff makellos weiß, bis auf einen rötlichen Abdruck, genau dort, wo Fowlers Daumen auf der Hochbahn gelegen hatte. Karoski beobachtete ihn mit gebanntem Blick, sah aber nicht, wie er zu Boden fiel.
    
  Fowler feuerte einen perfekten Schuss ab, der Karoski am Auge traf.
    
  Der Mörder fiel in Ohnmacht. In der Ferne hörte er die Stimmen seiner Eltern, die ihn riefen, und er ging ihnen entgegen.
    
    
  Paola rannte auf Fowler zu, der regungslos und abwesend dasaß. Während er rannte, hatte er seine Jacke ausgezogen, um die Wunde an der Schulter des Priesters zu bedecken.
    
  - Akzeptiere, Vater, den Weg.
    
  "Gut, dass ihr gekommen seid, meine Freunde", sagte Kardinal Shaw und fasste sich plötzlich ein Herz, um aufzustehen. "Dieses Monster hat mich entführt."
    
  "Stehen Sie nicht einfach da, Kardinal. Gehen Sie und warnen Sie jemanden ...", begann Paola und half Fowler zu Boden. Plötzlich begriff ich, dass er auf El Purpurado zuging. Er griff nach Pontieros Pistole und stand neben Caroscas Leiche. Und mir wurde klar, dass sie nun sehr gefährliche Zeugen waren. Ich streckte dem Reverend Leo die Hand entgegen.
    
  "Guten Tag", sagte Inspektor Sirin, als er in Begleitung dreier Wachmänner des Sicherheitsdienstes den Raum betrat und den Kardinal erschreckte, der sich bereits gebückt hatte, um seine Pistole vom Boden aufzuheben. "Ich bin gleich wieder da und schalte Guido ein."
    
  "Ich hatte schon befürchtet, er würde sich Ihnen nicht vorstellen, Herr Generalinspektor. Sie müssen Stas sofort verhaften", sagte er und wandte sich an Fowler und Paola.
    
  -Entschuldigen Sie, Eminenz. Ich bin jetzt bei Ihnen.
    
  Camilo Sirin blickte sich um. Er ging auf Karoski zu und hob dabei Pontieros Pistole auf. Er berührte das Gesicht des Mörders mit der Schuhspitze.
    
  -Ist es él?
    
  "Ja", sagte Fowler, ohne sich zu bewegen.
    
  "Verdammt, Sirin", sagte Paola. "Ein falscher Kardinal. Kann das wirklich passiert sein?"
    
  -Haben gute Empfehlungen.
    
  Sirin raste mit Höchstgeschwindigkeit über die Capes. Abscheu vor diesem steinernen Gesicht brannte sich in sein Gehirn ein, das auf Hochtouren lief. Gleich vorweg: Paulicz war der letzte von Wojtyla ernannte Kardinal. Vor sechs Monaten, als Wojtyla kaum noch das Bett verlassen konnte. Er hatte Somalian und Ratzinger verkündet, einen Kardinal in pectore ernannt zu haben, dessen Namen er Shaw verriet, damit dieser seinen Tod dem Volk ankündigte. Er fand es nichts Besonderes, sich vorzustellen, wie die von der erschöpften Brücke inspirierten Lippen Paulicz' Namen aussprachen, und dass er ihn niemals begleiten würde. Dann ging er zum ersten Mal zu dem "Kardinal" in die Domus Sancta Marthae, um ihn seinen neugierigen Mitstreitern vorzustellen.
    
  - Kardinal Shaw, Sie haben einiges zu erklären.
    
  - Ich weiß nicht, was du meinst...
    
  -Kardinal, bitte.
    
  Shaw machte sich noch einmal auf den Weg. Er begann, seinen Stolz wiederherzustellen, seinen langjährigen Stolz, genau den, den er verloren hatte.
    
  "Johannes Paul II. hat mich viele Jahre darauf vorbereitet, Ihre Arbeit, Generalinspektor, fortzusetzen. Sie sagen mir, niemand wisse, was geschehen könne, wenn die Kontrolle über die Kirche in die Hände von Feiglingen falle. Seien Sie versichert, dass Sie jetzt zum Wohle Ihrer Kirche handeln, mein Freund."
    
  Sirins Augen fällten innerhalb einer halben Sekunde das richtige Urteil über Simo.
    
  - Selbstverständlich werde ich das tun, Eure Eminenz. ¿Domenico?
    
  "Inspektor", sagte einer der Polizisten, der in einem schwarzen Anzug und mit Krawatte eintraf.
    
  -Kardinal Shaw kommt jetzt heraus, um die Novenenmesse in der Basilika zu feiern.
    
  Der Kardinal lächelte.
    
  "Danach werden Sie und ein weiterer Agent Sie zu Ihrem neuen Ziel begleiten: dem Kloster Albergratz in den Alpen, wo der Kardinal in Abgeschiedenheit über sein Handeln nachdenken kann. Ich werde mich gelegentlich auch dem Bergsteigen widmen."
    
  "Es ist ein gefährlicher Sport, segyn on oído", sagte Fowler.
    
  -Natürlich. Es ist voller Unfälle -corroboró Paola.
    
  Shaw schwieg, und in dieser Stille konnte man ihn fast zusammenbrechen sehen. Sein Kopf war gesenkt, das Kinn auf die Brust gepresst. Verabschieden Sie sich von niemandem, wenn Sie in Begleitung von Domenico die Sakristei verlassen.
    
  Der Generalinspektor kniete neben Fowler. Paola hielt seinen Kopf und drückte ihre Jacke gegen die Wunde.
    
  -Permípriruchit.
    
  Die Hand der Gerichtsmedizinerin hing seitlich herab. Ihre provisorische Augenbinde war bereits durchnässt, und sie hatte sie durch ihre zerknitterte Jacke ersetzt.
    
  -Beruhigen Sie sich, der Krankenwagen ist schon unterwegs. ¿Sagen Sie mir bitte, wie bin ich an eine Eintrittskarte für diesen Zirkus gekommen?
    
  "Wir meiden Ihre Schließfächer, Inspektor Sirin. Wir ziehen es vor, die Worte der Heiligen Schrift zu verwenden."
    
  Der unerschütterliche Mann hob leicht eine Augenbraue. Paola erkannte, dass dies ihre Art war, Überraschung auszudrücken.
    
  "Oh, natürlich. Der alte Gontas Hanër, unbußfertiger Arbeiter. Ich sehe, dass Ihre Aufnahmekriterien für den Vatikan mehr als lax sind."
    
  "Und ihre Preise sind sehr hoch", sagte Fowler und dachte an das schreckliche Vorstellungsgespräch, das ihn im nächsten Monat erwartete.
    
  Sirin nickte verständnisvoll und drückte seine Jacke auf die Wunde des Priesters.
    
  Ich denke, das lässt sich beheben.
    
  In diesem Moment trafen zwei Krankenschwestern mit einer zusammenklappbaren Trage ein.
    
  Während die Sanitäter den Verwundeten versorgten, warteten im Altarraum, neben der Tür zur Sakristei, acht Ministranten und zwei Priester mit zwei Weihrauchfässern in zwei Reihen, um ihm beizustehen. Die Kardinäle Schaw und Paulich warteten ebenfalls. Die Uhr zeigte vier Minuten nach elf. Die Messe musste bereits begonnen haben. Der leitende Priester war versucht, einen der Ministranten vorzuschicken, um nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht hatten die Oblatinnen, die für die Aufsicht in der Sakristei zuständig waren, Schwierigkeiten, passende Kleidung zu finden. Doch das Protokoll gebot, dass alle bis zum Beginn der Messe still verharrten.
    
  Schließlich erschien nur Kardinal Shaw an der Kirchentür. Ministranten geleiteten sie zum Altar des heiligen Josef, wo sie die Messe zelebrieren sollte. Die Gläubigen, die während der Zeremonie bei der Kardinalin waren, bemerkten untereinander, dass die Kardinalin Papst Wojtyla sehr geliebt haben musste: Shaw verbrachte die gesamte Messe in Tränen.
    
    
  "Beruhigen Sie sich, Sie sind in Sicherheit", sagte einer der Pfleger. "Wir fahren sofort ins Krankenhaus, um ihn umfassend zu behandeln, aber die Blutung hat aufgehört."
    
  Die Träger hoben Fowler hoch, und in diesem Moment verstand Paola ihn plötzlich. Die Entfremdung von seinen Eltern, der Verzicht auf sein Erbe, der tiefe Groll. Mit einer Geste hielt er die Träger an.
    
  "Jetzt verstehe ich. Die persönliche Hölle, die sie gemeinsam durchgemacht haben. Du warst in Vietnam, um deinen Vater zu töten, nicht wahr?"
    
  Fowler blickte ihn überrascht an. Ich war so überrascht, dass ich vergaß, Italienisch zu sprechen, und auf Englisch antwortete.
    
  - Entschuldigung?
    
  "Es war Wut und Groll, die ihn zu allem trieben", antwortete Paola und flüsterte dabei Englisch, damit die Träger nichts mitbekamen. "Ein tiefer Hass auf seinen Vater, seinen Vater ... oder die Ablehnung seiner Mutter. Die Weigerung, das Erbe anzunehmen. Ich will alles, was mit der Familie zu tun hat, beenden. Und ihr Gespräch mit Victor über die Hölle. Es steht in der Akte, die Sie mir gegeben haben ... Es lag die ganze Zeit direkt vor meiner Nase ..."
    
  -¿Ein Donde möchte aufhören?
    
  "Jetzt verstehe ich", sagte Paola, beugte sich über die Trage und legte dem Priester, der einen schmerzerfüllten Stöhnen unterdrückte, tröstend die Hand auf die Schulter. "Ich verstehe, dass er die Stelle im St. Matthew Institut angenommen hat, und ich verstehe, dass ich ihm helfe, zu dem zu werden, der er heute ist. Dein Vater hat dich missbraucht, nicht wahr? Und seine Mutter wusste es die ganze Zeit. Dasselbe gilt für Karoski. Deshalb respektierte Karoski ihn. Weil sie beide auf entgegengesetzten Seiten derselben Welt standen. Du hast dich entschieden, ein Mann zu werden, und ich habe mich entschieden, ein Monster zu werden."
    
  Fowler antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig. Die Träger setzten ihre Bewegungen fort, doch Fowler fand die Kraft, sie anzusehen und zu lächeln.
    
  -Wo ich es mir wünsche, .
    
    
  Im Krankenwagen kämpfte Fowler mit der Bewusstlosigkeit. Er schloss kurz die Augen, doch eine vertraute Stimme holte ihn in die Realität zurück.
    
  -Hallo, Anthony.
    
  Fowler sonrió.
    
  -Hallo Fabio. Wie geht es deiner Hand?
    
  - Ziemlich verkorkst.
    
  - Du hattest großes Glück auf dem Dach.
    
  Dante antwortete nicht. El und Sirin saßen zusammen auf der Bank neben dem Krankenwagen. Der Superintendent verzog missmutig das Gesicht, obwohl sein linker Arm eingegipst und sein Gesicht voller Wunden war; der andere behielt seine übliche Pokerface- Miene.
    
  -Na und? Willst du mich etwa umbringen? Zyanid in einem Serumpäckchen - lässt du mich verbluten oder bist du ein Mörder, wenn du mir in den Hinterkopf schießt? Mir wäre Letzteres lieber.
    
  Dante lachte ohne Freude.
    
  "Reize mich nicht. Vielleicht, aber nicht dieses Mal, Anthony. Das ist eine Hin- und Rückreise. Es wird einen passenderen Anlass geben."
    
  Sirin blickte dem Priester mit ungerührter Miene direkt in die Augen.
    
  - Ich möchte mich bedanken. Sie waren sehr hilfreich.
    
  "Ich habe das nicht für dich getan. Und nicht wegen deiner Flagge."
    
  - Ich weiß.
    
  - Tatsächlich glaubte ich, dass Sie derjenige waren, der dagegen war.
    
  - Das weiß ich auch und ich mache dir keine Vorwürfe.
    
  Die drei schwiegen mehrere Minuten lang. Schließlich sprach Sirin wieder.
    
  -Besteht die Möglichkeit, dass Sie zu uns zurückkommen?
    
  "Nein, Camilo. Er hat mich schon einmal wütend gemacht. Das wird nicht wieder vorkommen."
    
  -Zum letzten Mal. Der alten Zeiten wegen.
    
  Fowler meditó unos segundos.
    
  - Unter einer Bedingung. Sie wissen, welche.
    
  Sirin nickte.
    
  "Ich gebe Ihnen mein Wort. Niemand darf sich ihr nähern."
    
  - Und noch eine aus einem anderen. Auf Spanisch.
    
  "Das kann ich nicht garantieren. Wir sind uns nicht sicher, ob er nicht doch eine Kopie der CD besitzt."
    
  Ich habe mit ihr gesprochen. Er hat sie nicht und er redet nicht.
    
  -Das ist schon in Ordnung. Ohne die Diskette können Sie nichts beweisen.
    
  Eine weitere Stille trat ein, eine lange, unterbrochen nur vom unregelmäßigen Piepen des Elektrokardiogramms, das der Priester an seine Brust hielt. Fowler entspannte sich allmählich. Durch den Nebel drangen Sirins letzte Worte zu ihm.
    
  -Sabes, Anthony? Einen Moment lang glaubte ich, ich würde ihr die Wahrheit sagen. Die ganze Wahrheit.
    
  Fowler hörte seine eigene Antwort nicht, obwohl er sie nicht vernommen hatte. Nicht alle Wahrheiten werden ans Licht gebracht. Ich kann nicht einmal mit meiner eigenen Wahrheit leben. Geschweige denn diese Last jemand anderem aufbürden.
    
    
    
  (El Globo, S. 8 Gina, 20. April 2005, 20. April 2003)
    
    
  Ratzinger wurde ohne Einwände zum Papst ernannt.
    
  ANDREA OTERO.
    
  (Sondergesandter)
    
    
  ROM. Die Zeremonie zur Wahl des Nachfolgers von Johannes Paul II. endete gestern mit der Wahl von Joseph Ratzinger, dem ehemaligen Präfekten der Glaubenskongregation. Obwohl er auf die Bibel geschworen hatte, seine Wahl unter Androhung der Exkommunikation geheim zu halten, sind bereits erste Informationen in den Medien durchgesickert. Offenbar wurde der hochwürdige Aleman mit 105 von 115 möglichen Stimmen gewählt, weit mehr als die erforderlichen 77. Der Vatikan beharrt darauf, dass Ratzingers enorme Unterstützerzahl eine Tatsache sei, und da die entscheidende Frage in nur zwei Jahren geklärt wurde, hat der Vatikan keinen Zweifel daran, dass Ratzinger seine Unterstützung nicht zurückziehen wird.
    
  Experten führen dies auf den Mangel an Gegenkandidaten zurück, der im Fünfkampf allgemein sehr beliebt war. Quellen aus dem engsten Umfeld des Vatikans gaben an, dass Ratzingers Hauptrivalen Portini, Robair und Cardoso noch nicht genügend Stimmen erhalten hätten. Dieselbe Quelle ging sogar so weit zu bemerken, dass diese Kardinäle während der Wahl von Benedikt XVI. "etwas abwesend" gewesen seien.
    
    
    
  ЕРí LOGOTIP
    
    
    
    
  Depesche von Papst Benedikt XVI.
    
    Palazzo del Governatoratto
    
    My ércoles, 20. April 2005 , 11:23 Uhr .
    
    
    
    Der Mann in Weiß hatte sie auf Platz sechs gebracht. Eine Woche später, nachdem sie angehalten und ein Stockwerk tiefer gegangen war, wartete Paola nervös in einem ähnlichen Korridor, ohne zu ahnen, dass ihre Freundin gestorben war. Eine Woche später war seine Angst, nicht zu wissen, wie er sich verhalten sollte, vergessen, und seine Freundin war gerächt. Viele Ereignisse hatten sich in diesen sieben Jahren zugetragen, und einige der wichtigsten spielten sich in Paolas Seele ab.
    
  Der Gerichtsmediziner bemerkte rote Bänder mit Wachssiegeln an der Eingangstür, die das Büro zwischen dem Tod Johannes Pauls II. und der Wahl seines Nachfolgers geschützt hatten. Der Papst folgte seinem Blick.
    
  "Ich habe dich gebeten, sie eine Weile allein zu lassen, Diener, um mich daran zu erinnern, dass diese Position nur vorübergehend ist", sagte er mit müder Stimme, während Paola seinen Ring küsste.
    
  -Heiligkeit.
    
  - Ispettora Dikanti, herzlich willkommen. Ich habe sie angerufen, um ihr persönlich für ihren mutigen Auftritt zu danken.
    
  -Vielen Dank, Heiligkeit. Hätte ich doch nur meine Pflicht erfüllt.
    
  "Nein, Sie haben Ihre Pflicht vollumfänglich erfüllt. Wenn Sie bleiben möchten, bitte", sagte er und deutete auf mehrere Sessel in der Ecke des Büros unter dem schönen Tintoretto.
    
  "Ich hatte wirklich gehofft, Pater Fowler hier anzutreffen, Heiligkeit", sagte Paola und konnte die Melancholie in ihrer Stimme nicht verbergen. "Ich habe ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen."
    
  Papa nahm seine Hand und lächelte ihm aufmunternd zu.
    
  "Pater Fowler ruht nun in Frieden. Ich hatte gestern Abend die Gelegenheit, ihn zu besuchen. Ich bat Sie, sich zu verabschieden, und Sie gaben mir folgende Botschaft mit: Es ist Zeit für uns beide, Sie und ich, den Schmerz über die Hinterbliebenen loszulassen."
    
  Als Paola diese Worte hörte, spürte sie ein inneres Beben und verzog das Gesicht. "Ich verbringe eine halbe Stunde in diesem Büro, obwohl das, was ich mit dem Heiligen Vater besprochen habe, zwischen ihnen beiden bleiben wird."
    
  Mittags trat Paola auf dem Petersplatz ins Tageslicht. Die Sonne schien, es war schon nach zwölf. Ich holte eine Packung Pontiero-Tabak hervor und zündete mir meine letzte Zigarre an. "Heb dein Gesicht gen Himmel und puste den Rauch aus."
    
  - Wir haben ihn erwischt, Mauricio. Tenías razón. Geh nun zum ewigen Licht und schenk mir Frieden. Oh, und gib Papa ein paar Erinnerungen.
    
    
  Madrid, Januar 2003 - Santiago de Compostela, August 2005
    
    
    
  ÜBER DEN AUTOR
    
    
    
  Juan Gómez-Jurado (Madrid, 1977) ist Journalist. Er arbeitete für Radio España, Canal+, ABC, Canal CER und Canal Cope. Für seine Kurzgeschichten und Romane erhielt er diverse Literaturpreise, darunter 2008 den 7. Internationalen Romanpreis von Torrevieja für seinen Roman "Das Emblem des Verräters", erschienen bei Plaza Janés (jetzt als Taschenbuch erhältlich). Mit diesem Buch erreichte Juan 2010 weltweit drei Millionen Leser.
    
  Nach dem internationalen Erfolg seines ersten Romans "Besonders mit Gott" (heute in 42 Ländern erschienen) avancierte Juan, neben Javier Sierra und Carlos Ruiz Zafón, zu einem international bekannten spanischsprachigen Autor. Um seinen Lebenstraum zu verwirklichen, muss er sich ganz dem Geschichtenerzählen widmen. Die Veröffentlichung von "Ein Vertrag mit Gott" war seine Bestätigung (immer noch in einer 35-seitigen Kurzgeschichtensammlung erhältlich). Um seine Leidenschaft für den Journalismus zu bewahren, berichtete er weiterhin und schrieb eine wöchentliche Kolumne für die Zeitung "Stimme Galiciens". Aus einer dieser Reportagen, die er während einer Reise in die USA verfasste, entstand das Buch "Virginia Tech Massacre", sein bisher einziges populärwissenschaftliches Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet wurde.
    
  Juan liebt Bücher, Filme und die Gesellschaft seiner Familie über alles. Er ist im Sternzeichen Apollo geboren (was er damit erklärt, dass er sich zwar für Politik interessiert, aber Politikern gegenüber misstrauisch ist), seine Lieblingsfarbe ist Blau - die Augen seiner Tochter - und er liebt sie über alles. Sein Lieblingsessen sind Spiegeleier mit Kartoffeln. Wie ein typischer Schütze redet er ununterbrochen. Jemás verlässt das Haus nie ohne einen Roman unter dem Arm.
    
    
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  1 [1] Wenn du lebst, werde ich dir deine Sünden vergeben im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Yaén.
    
    
  2 [2] Ich schwöre bei Jesus Christus, dass Gott euch alle eure Sünden vergeben wird. Yaén.
    
    
  3 [3] Dieser Fall ist real (obwohl die Namen aus Respekt vor den ví-Artikeln geändert wurden), und seine Folgen untergraben seine Position im Machtkampf zwischen den Freimaurern und Opus Dei im Vatikan zutiefst.
    
    
  4 [4] Eine kleine Abteilung der italienischen Polizei in den inneren Bezirken des Vatikans. Sie besteht aus drei Männern, deren Anwesenheit lediglich als Beweismittel dient und die Hilfsarbeiten verrichten. Formal haben sie im Vatikan keine Zuständigkeit, da es sich um ein anderes Land handelt.
    
    
  5 [5] Vor dem Tod.
    
    
  6 [6] CSI: Crime Scene Investigation ist die Handlung einer fesselnden (wenn auch unrealistischen) nordamerikanischen Science-Fiction-Serie, in der DNA-Tests innerhalb von Minuten durchgeführt werden.
    
    
  7 [7] Konkrete Zahlen: Zwischen 1993 und 2003 betreute das St. Matthew Institute 500 religiöse Mitarbeiter, von denen 44 mit Pädophilie, 185 mit Phobien, 142 mit einer Zwangsstörung und 165 mit einer nicht integrierten Sexualität (Schwierigkeiten bei der Integration der eigenen Sexualität in die Persönlichkeit) diagnostiziert wurden.
    
    
  8 [8] Derzeit sind 191 männliche und 39 weibliche Serienmörder bekannt.
    
    
  9 [9] Das St. Mary"s Seminary in Baltimore wurde Anfang der 1980er Jahre aufgrund der Offenheit, mit der homosexuelle Beziehungen unter den Seminaristen toleriert wurden, als "Pink Palace" bezeichnet. Pater John Despard sagte dazu: "Zu meiner Zeit in St. Mary"s waren zwei Männer unter der Dusche, und jeder wusste es - und es passierte nichts. Nachts gingen ständig Türen auf den Fluren auf und zu ..."
    
    
  10 [10] Das Seminar besteht in der Regel aus sechs Kursen, wobei der sechste, der pastorale Kurs, ein Predigtkurs ist, in dem der Seminarist an verschiedenen Orten Hilfe leisten kann, sei es in einer Pfarrei, einem Krankenhaus oder einer Schule, oder in einer Einrichtung, die auf christlicher Ideologie basiert.
    
    
  11 [11] Direktor Boy bezieht sich auf das Allerheiligste von Turábana Santa de Turín. Der christlichen Tradition zufolge handelt es sich um das Tuch, in das Jesus Christus eingewickelt war und auf dem sich sein Bildnis auf wundersame Weise abzeichnete. Zahlreiche Studien konnten weder überzeugende Beweise noch Gegenbeweise finden. Die Kirche hat ihre Position zum Turábana-Tuch nicht offiziell geklärt, betonte aber inoffiziell, dass "dies eine Angelegenheit ist, die dem Glauben und der Interpretation jedes einzelnen Christen überlassen bleibt".
    
    
  12 [12] VICAP ist ein Akronym für Violent Offender Apprehension Program, eine Abteilung des FBI, die sich auf die gewalttätigsten Kriminellen konzentriert.
    
    
  13 [13] Einige transnationale Pharmakonzerne haben ihre überschüssigen Verhütungsmittel an internationale Organisationen in Entwicklungsländern wie Kenia und Tansania gespendet. In vielen Fällen finden sich in den Medikamentenschränken von Männern, die sie als impotent einstuft - da Patienten aufgrund von Chloroquinmangel in ihrer Obhut sterben -, reichlich Verhütungsmittel. So sehen sich die Unternehmen Tausenden unfreiwilligen Produkttestern gegenüber, ohne die Möglichkeit, sie zu verklagen. Dr. Burr nennt diese Praxis das Alpha-Programm.
    
    
  14 [14] Eine unheilbare Krankheit, bei der der Patient starke Schmerzen im Weichgewebe erleidet. Sie wird durch Schlafstörungen oder durch äußere Einflüsse verursachte biologische Störungen hervorgerufen.
    
    
  15 [15] Dr. Burr spricht von Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, möglicherweise mit einer gewalttätigen Vergangenheit. Der Buchstabe Omega, der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets, wurde schon immer mit Substantiven wie "Tod" oder "Ende" in Verbindung gebracht.
    
    
  16 [16] Die NSA (National Security Agency) ist der größte Nachrichtendienst der Welt und übertrifft die berüchtigte CIA (Central Intelligence Agency) zahlenmäßig bei Weitem. Die Drug Enforcement Administration (DEA) ist die Drogenbekämpfungsbehörde der Vereinigten Staaten. Nach den Anschlägen vom 11. September auf die Twin Towers forderte die amerikanische Öffentlichkeit, dass alle Nachrichtendienste von einer zentralen Führungsperson koordiniert werden. Die Bush-Regierung stand vor dieser Herausforderung, und John Negroponte wurde im Februar 2005 zum ersten Direktor des Nationalen Nachrichtendienstes ernannt. Dieser Roman präsentiert eine literarische Version der Saint Paul Miko und einer umstrittenen realen Person.
    
    
  17 [17] Der Name des Assistenten des Präsidenten der Vereinigten Staaten.
    
    
  18 [18] Das Heilige Offizium, dessen offizielle Bezeichnung Kongregation für die Glaubenslehre lautet, ist die moderne (und politisch korrekte) Bezeichnung für die Heilige Inquisition.
    
    
  19 [19] Robaira haquis bezog sich auf das Zitat "Selig sind die Armen, denn euch gehört das Himmelreich" (Lukas 6,6). Samalo antwortete ihm mit den Worten: "Selig sind die Armen, besonders um Gottes willen, denn von ihnen kommt das Himmelreich" (Matthäus 5,20).
    
    
  20 [20] Die roten Sandalen sind zusammen mit dem Diadem, dem Ring und der weißen Soutane die drei wichtigsten Symbole für den Sieg im Pon-Sumo. Sie werden im gesamten Buch mehrfach erwähnt.
    
    
  21 [21] Stato Cittá del Vaticano.
    
    
  22 [22] Dies ist die Bezeichnung der italienischen Polizei für einen Hebel, mit dem Schlösser aufgebrochen und Türen an verdächtigen Orten geöffnet werden können.
    
    
  23 [23] Im Namen alles Heiligen mögen die Engel euch leiten und der Herr euch bei eurer Ankunft begegnen...
    
    
  24 [24] Fútbol italiano.
    
    
  25 [25] Regisseur Boy merkt an, dass Dikanti den Anfang von Tolstois Anna Karenina paraphrasiert: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, aber die unglücklichen sind verschieden."
    
    
  26 [26] Eine Denkrichtung, die Jesus Christus als Symbol der Menschlichkeit im Klassenkampf und der Befreiung von den "Unterdrückern" sieht. Obwohl diese Idee an sich attraktiv ist, da sie die Interessen der Juden schützt, hat die Kirche sie seit den 1980er Jahren als marxistische Interpretation der Heiligen Schrift verurteilt.
    
    
  27 [27] Pater Fowler bezieht sich auf das Sprichwort "Einäugiger Pete ist der Marshall von Blindville", was auf Spanisch "Einäugiger Pete ist der Sheriff von Villasego" bedeutet. Zum besseren Verständnis wird das spanische ñol verwendet.
    
    
  28 [28] Dikanti zitiert Don Quijote in seinen italienischen Gedichten. Der Originalsatz, der in Spanien wohlbekannt ist, lautet: "Mit Hilfe der Kirche gaben wir." Das Wort "gotcha" ist übrigens ein gebräuchlicher Ausdruck.
    
    
  29 [29] Pater Fowler bittet darum, Kardinal Shaw sprechen zu dürfen, und die Nonne sagt ihm, dass sein Polnisch etwas eingerostet sei.
    
    
  30 [30] Solidarność ist der Name einer polnischen Gewerkschaft, die 1980 von dem mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Elektriker Lech Wałęsa gegründet wurde. Wałęsa und Johannes Paul II. pflegten stets ein enges Verhältnis, und es gibt Hinweise darauf, dass die Solidarność-Organisation teilweise vom Vatikan finanziert wurde.
    
    
  31 [31] William Blake war ein englischer protestantischer Dichter des 18. Jahrhunderts. "Die Hochzeit von Himmel und Hölle" ist ein Werk, das verschiedene Genres und Kategorien umfasst, obwohl man es als ein dichtes satirisches Gedicht bezeichnen kann. Ein Großteil seines Umfangs entspricht den "Gleichnern aus der Hölle", Aphorismen, die Blake angeblich von einem Dämon eingegeben wurden.
    
    
  32 [32] Die Charismatiker sind eine seltsame Gruppe, deren Rituale meist recht extrem sind: Während ihrer Rituale singen und tanzen sie zum Klang von Tamburinen, schlagen Purzelbäume (und selbst die mutigen Maas gehen so weit, Purzelbäume zu schlagen), werfen sich zu Boden und greifen Menschen oder Kirchenbänke an oder lassen sich darauf setzen, sprechen in Zungen... All dies soll angeblich von heiligem Ritual und großer Euphorie durchdrungen sein. Die Kirche der Katzen hat diese Gruppe nie wohlwollend betrachtet.
    
    
  33 [33] "Bald ein Heiliger." Mit diesem Ausruf forderten viele die sofortige Heiligsprechung von Johannes Paul II.
    
    
  34 [34] Gemäß der Katzenlehre ist der heilige Michael das Haupt des himmlischen Heeres, der Engel, der Satan aus dem Himmelreich vertreibt, und der Beschützer der Kirche.
    
    
  35 [35] Das Blair Witch Project war angeblich eine Dokumentation über Anwohner, die sich im Wald verirrten, um über außerirdische Phänomene in der Gegend zu berichten, und die daraufhin spurlos verschwanden. Einige Zeit später wurde angeblich auch das Band gefunden. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Montage der beiden Regisseure Jóvenes und Hábiles, die mit einem sehr begrenzten Budget großen Erfolg erzielten.
    
    
  36 [36] Straßeneffekt.
    
    
  37 [37] Johannes 8:32.
    
    
  38 [38] Einer der beiden Flughäfen Roms, 32 km von der Stadt entfernt.
    
    
  39 [39] Pater Fowler bezieht sich mit Sicherheit auf die Kubakrise. 1962 entsandte der sowjetische Ministerpräsident Chruschtschow mehrere Schiffe mit Atomsprengköpfen nach Kuba, die, einmal in der Karibik stationiert, Ziele in den Vereinigten Staaten angreifen konnten. Kennedy verhängte eine Blockade über die Insel und drohte, die Frachtschiffe zu versenken, sollten sie nicht in die UdSSR zurückkehren. Aus einer Entfernung von etwa 800 Metern zu den amerikanischen Zerstörern befahl Chruschtschow ihnen die Rückkehr. Fünf Jahre lang hielt die Welt den Atem an.
    
    
    
    
    
    
    
    
    
    
    
  Juan Gomez-Jurado
    
    
  Das Emblem des Verräters
    
    
    
  Prolog
    
    
    
  BESONDERE MERKMALE VON GIBRALTAR
    
  12. März 1940
    
  Als die Welle ihn gegen die Bordwand schleuderte, griff Kapitän González instinktiv nach dem Holz und schrammte sich die Haut von der Handfläche. Jahrzehnte später - inzwischen der angesehenste Buchhändler in Vigo - schauderte er, als er sich an jene Nacht erinnerte, die schrecklichste und ungewöhnlichste seines Lebens. Als er, ein alter, grauhaariger Mann, in seinem Sessel saß, spürte er den Geschmack von Blut, Salpeter und Angst auf der Zunge. Seine Ohren erinnerten sich an das Tosen der sogenannten "Narrenkenterung", einer tückischen Welle, die in weniger als zwanzig Minuten entsteht und vor der die Seeleute in der Meerenge - und ihre Witwen - Angst hatten; und seine erstaunten Augen sahen wieder etwas, das einfach nicht da sein konnte.
    
  Als Kapitän Gonzalez das sah, vergaß er völlig, dass der Motor bereits Fehlzündungen hatte, dass seine Besatzung nur aus sieben Mann bestand, obwohl es mindestens elf sein sollten, und dass er selbst der Einzige war, dem vor sechs Monaten unter der Dusche nicht übel geworden war. Er vergaß völlig, dass er sie gerade an Deck drücken wollte, weil sie ihn nicht geweckt hatten, als das ganze Schaukeln begann.
    
  Er klammerte sich fest an das Bullauge, um sich umzudrehen und sich auf die Brücke zu ziehen, wo er in einer Regen- und Windböe landete, die den Navigator durchnässte.
    
  "Weg von meinem Steuerrad, Roca!", schrie er und stieß den Navigator heftig weg. "Niemand auf der Welt braucht dich."
    
  "Kapitän, ich ... Sie sagten, ich solle Sie nicht stören, bis wir gleich absteigen, Sir." Seine Stimme zitterte.
    
  Genau das würde gleich passieren, dachte der Kapitän kopfschüttelnd. Seine Mannschaft bestand größtenteils aus den jämmerlichen Überresten des Krieges, der das Land verwüstet hatte. Er konnte ihnen nicht vorwerfen, die herannahende Welle nicht bemerkt zu haben, genauso wenig wie ihm jetzt jemand vorwerfen konnte, dass er sich darauf konzentrierte, das Boot zu wenden und in Sicherheit zu bringen. Am klügsten wäre es, das Gesehene zu ignorieren, denn die Alternative wäre Selbstmord gewesen. Etwas, das nur ein Narr tun würde.
    
  Und ich bin dieser Narr, dachte Gonzalez.
    
  Der Navigator beobachtete ihn mit offenem Mund, wie er steuerte, das Boot fest auf Kurs hielt und durch die Wellen pflügte. Das Kanonenboot Esperanza war Ende des letzten Jahrhunderts gebaut worden, und das Holz und der Stahl seines Rumpfes knarrten laut.
    
  "Kapitän!", rief der Navigator. "Was zum Teufel tun Sie da? Wir werden kentern!"
    
  "Pass auf deine Backbordseite auf, Roca", erwiderte der Kapitän. Auch er hatte Angst, doch er durfte sich nicht die geringste Spur davon anmerken lassen.
    
  Der Navigator gehorchte, da er glaubte, der Kapitän sei völlig verrückt geworden.
    
  Wenige Sekunden später begann der Kapitän an seinem eigenen Urteil zu zweifeln.
    
  Nur dreißig Ruderschläge entfernt schaukelte das kleine Floß zwischen zwei Felsrücken, der Kiel in gefährlichem Winkel. Es schien jeden Moment zu kentern; eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass es noch nicht gekentert war. Ein Blitz zuckte auf, und plötzlich verstand der Navigator, warum der Kapitän acht Menschenleben auf dieses Wagnis gesetzt hatte.
    
  "Sir, da drüben sind Leute!"
    
  "Ich weiß, Roca. Sag es Castillo und Pascual. Sie müssen die Pumpen verlassen, mit zwei Seilen an Deck gehen und sich an den Bordwänden festhalten wie eine Hure an ihrem Geld."
    
  "Ja, ja, Kapitän."
    
  "Nein... Warten Sie...", sagte der Kapitän und packte Roku am Arm, bevor dieser die Brücke verlassen konnte.
    
  Der Kapitän zögerte einen Moment. Er konnte die Rettung nicht gleichzeitig durchführen und das Boot steuern. Wenn sie den Bug nur senkrecht zu den Wellen halten könnten, wäre es möglich. Aber wenn sie ihn nicht rechtzeitig befreiten, würde einer seiner Männer auf dem Meeresgrund landen.
    
  Zum Teufel mit dem ganzen Kram.
    
  "Lass es, Roca, ich mach's selbst. Du nimmst das Lenkrad und hältst es gerade, so wie hier."
    
  "Wir können nicht mehr lange durchhalten, Kapitän."
    
  "Sobald wir diese armen Seelen da rausgeholt haben, steuert direkt auf die erste Welle zu, die ihr seht; aber kurz bevor wir den Gipfel erreichen, dreht das Steuerrad so weit wie möglich nach Steuerbord. Und betet!"
    
  Castillo und Pascual erschienen an Deck, die Kiefer zusammengebissen, die Körper angespannt, die Gesichtsausdrücke bemüht, die Angst zu verbergen. Der Kapitän stand zwischen ihnen, bereit, dieses gefährliche Spiel zu dirigieren.
    
  "Auf mein Signal hin: Vergesst eure Fehler. Jetzt!"
    
  Stahlzähne gruben sich in den Rand des Floßes; die Seile zogen sich fest.
    
  "Ziehen!"
    
  Als sie das Floß näher heranzogen, glaubte der Kapitän, Schreie zu hören und winkende Arme zu sehen.
    
  "Halt sie fester, aber komm ihr nicht zu nah!" Er beugte sich vor und hob den Bootshaken auf die doppelte Körpergröße. "Wenn sie uns treffen, ist es um sie geschehen!"
    
  Und es ist durchaus möglich, dass es auch in unser Boot ein Loch reißt, dachte der Kapitän. Unter dem glatten Deck spürte er, wie der Rumpf immer lauter knarrte, als sie von jeder neuen Welle hin und her geworfen wurden.
    
  Er manövrierte den Bootshaken und schaffte es, ein Ende des Floßes zu fassen. Die Stange war lang und half ihm, das kleine Boot in einem festen Abstand zu halten. Er gab den Befehl, Seile an den Peitschen zu befestigen und die Strickleiter herunterzulassen, während er sich mit aller Kraft an den Bootshaken klammerte, der in seinen Händen zuckte und drohte, ihm den Schädel zu spalten.
    
  Ein weiterer Blitz erhellte das Schiffsinnere, und Kapitän Gonzalez konnte nun erkennen, dass sich vier Personen an Bord befanden. Er verstand nun auch endlich, wie sie es geschafft hatten, sich an der schwimmenden Suppenschüssel festzuhalten, während diese zwischen den Wellen hin und her schaukelte.
    
  Verdammte Wahnsinnige - sie haben sich ans Boot gefesselt.
    
  Eine Gestalt in einem dunklen Umhang beugte sich über die anderen Passagiere, schwang ein Messer und schnitt wie wild die Seile durch, die sie an das Floß banden, und schnitt dabei auch die Seile durch, die von seinen eigenen Handgelenken hingen.
    
  "Weiter! Steh auf, bevor das Ding sinkt!"
    
  Die Gestalten näherten sich der Bordwand des Bootes, die Arme nach der Leiter ausgestreckt. Der Mann mit dem Messer konnte sie ergreifen und drängte die anderen, vor ihm herzuklettern. Gonzalez' Mannschaft half ihnen hinauf. Schließlich war nur noch der Mann mit dem Messer übrig. Er packte die Leiter, doch als er sich an der Bordwand abstützte, um sich hochzuziehen, rutschte der Bootshaken plötzlich ab. Der Kapitän versuchte, ihn wieder zu befestigen, doch da hob eine Welle, höher als die anderen, den Kiel des Floßes an und schleuderte ihn gegen die Bordwand der Esperanza.
    
  Es gab ein Knirschen, dann einen Schrei.
    
  Entsetzt ließ der Kapitän den Bootshaken los. Die Bordwand des Floßes traf den Mann am Bein, und er klammerte sich mit einer Hand an die Leiter, den Rücken gegen den Rumpf gepresst. Das Floß trieb ab, doch es dauerte nur Sekunden, bis die Wellen ihn zurück zur Esperanza schleuderten.
    
  "Reihen!", rief der Kapitän seinen Männern zu. "Um Gottes Willen, schneidet sie ab!"
    
  Der Matrose, der am nächsten am Schiffsrand stand, tastete nach einem Messer an seinem Gürtel und begann dann, die Taue durchzuschneiden. Ein anderer versuchte, die Geretteten zur Luke des Laderaums zu führen, bevor eine Welle sie frontal traf und aufs offene Meer hinausspülte.
    
  Mit schwerem Herzen suchte der Kapitän unter der Bordwand nach der Axt, von der er wusste, dass sie dort schon seit vielen Jahren vor sich hin rostete.
    
  "Geh mir aus dem Weg, Pascual!"
    
  Blaue Funken sprühten vom Stahl, doch die Schläge der Axt waren im immer lauter werdenden Getöse des Sturms kaum zu hören. Zuerst geschah nichts.
    
  Dann ging etwas schief.
    
  Das Deck erbebte, als das Floß, das sich von seinen Verankerungen losgerissen hatte, sich erhob und gegen den Bug der Esperanza krachte. Der Kapitän beugte sich über die Reling, überzeugt, nur das tanzende Ende der Leiter zu sehen. Doch er irrte sich.
    
  Der Schiffbrüchige lag noch immer da, sein linker Arm ruderte wild, während er verzweifelt versuchte, sich wieder an den Sprossen der Leiter festzuhalten. Der Kapitän beugte sich zu ihm vor, doch der Verzweifelte war noch immer mehr als zwei Meter entfernt.
    
  Es gab nur noch eine Sache zu tun.
    
  Er schwang ein Bein über die Reling und packte mit seiner verletzten Hand die Leiter, während er gleichzeitig zu dem Gott betete und ihn verfluchte, der sie so entschlossen ertränken wollte. Einen Moment lang wäre er beinahe gestürzt, doch der Seemann Pascual fing ihn gerade noch rechtzeitig auf. Er stieg drei Stufen hinab, gerade so weit, dass er Pascuals Hände erreichen konnte, falls dieser seinen Griff lockerte. Weiter wagte er es nicht.
    
  "Nimm meine Hand!"
    
  Der Mann versuchte sich umzudrehen, um Gonzalez zu erreichen, aber es gelang ihm nicht. Einer seiner Finger, mit dem er sich an der Leiter festhielt, rutschte ab.
    
  Der Hauptmann vergaß seine Gebete völlig und konzentrierte sich, wenn auch leise, aufs Fluchen. Schließlich war er nicht so aufgebracht, dass er Gott in diesem Moment noch weiter verspotten wollte. Doch er war wütend genug, um einen weiteren Schritt nach unten zu machen und den armen Mann am Mantel zu packen.
    
  Was sich wie eine Ewigkeit anfühlte, hielten nur neun Zehen, eine abgelaufene Stiefelsohle und pure Willenskraft die beiden Männer auf der schwingenden Strickleiter.
    
  Dem Schiffbrüchigen gelang es dann, sich so weit umzudrehen, dass er den Kapitän packen konnte. Er hakte seine Füße in die Sprossen ein, und die beiden Männer begannen ihren Aufstieg.
    
  Sechs Minuten später, über sein Erbrochenes im Laderaum gebeugt, konnte der Kapitän sein Glück kaum fassen. Er rang nach Beruhigung. Er war sich immer noch nicht ganz sicher, wie die nutzlose Roque den Sturm überstanden hatte, aber die Wellen schlugen nicht mehr so heftig gegen den Rumpf, und es schien klar, dass die Esperanza diesmal überleben würde.
    
  Die Matrosen starrten ihn an, ein Halbkreis aus erschöpften und angespannten Gesichtern. Einer von ihnen hielt ihm ein Handtuch hin. Gonzalez winkte es weg.
    
  "Räumt diesen Dreck weg", sagte er, richtete sich auf und zeigte auf den Boden.
    
  Die durchnässten Schiffbrüchigen kauerten in der dunkelsten Ecke des Laderaums, ihre Gesichter waren im flackernden Licht der einzigen Kabinenlampe kaum zu erkennen.
    
  Gonzalez machte drei Schritte auf sie zu.
    
  Einer von ihnen trat vor und streckte seine Hand aus.
    
  "Danke schon."
    
  Wie seine Kameraden war er von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllt. Nur eines unterschied ihn von den anderen: ein Gürtel um seine Taille. An diesem Gürtel glänzte das rotgriffige Messer, mit dem er die Taue durchtrennt hatte, die seine Freunde an das Floß fesselten.
    
  Der Kapitän konnte sich nicht beherrschen.
    
  "Verdammter Mistkerl! Wir könnten alle tot sein!"
    
  Gonzalez holte mit der Hand aus und schlug dem Mann damit auf den Kopf, sodass dieser zu Boden ging. Seine Kapuze fiel zurück und gab den Blick auf eine blonde Haarmähne und ein kantiges Gesicht frei. Ein kaltes blaues Auge. Wo das andere hätte sein sollen, war nur ein Fleck faltiger Haut.
    
  Der Schiffbrüchige stand auf und legte sich den Verband wieder an, der durch den Schlag über seiner Augenhöhle verrutscht sein musste. Dann legte er die Hand auf sein Messer. Zwei Matrosen traten vor, aus Furcht, er würde den Kapitän an Ort und Stelle zerfleischen, doch er zog es nur vorsichtig heraus und warf es zu Boden. Er streckte erneut die Hand aus.
    
  "Danke schon."
    
  Der Kapitän musste lächeln. Dieser verdammte Fritz hatte Nerven aus Stahl. Kopfschüttelnd streckte Gonzalez ihm die Hand entgegen.
    
  "Wo zum Teufel kommst du her?"
    
  Der andere Mann zuckte mit den Achseln. Offensichtlich verstand er kein Wort Spanisch. Gonzalez musterte ihn langsam. Der Deutsche musste etwa fünfunddreißig oder vierzig Jahre alt sein; unter seinem schwarzen Mantel trug er dunkle Kleidung und schwere Stiefel.
    
  Der Kapitän machte einen Schritt auf die Kameraden des Mannes zu, um zu erfahren, für wen er sein Boot und seine Mannschaft eingesetzt hatte, doch der andere Mann breitete die Arme aus, trat zur Seite und versperrte ihm den Weg. Er stand fest auf den Füßen, oder versuchte es zumindest, denn es fiel ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten, und sein Blick war flehend.
    
  Er will meine Autorität vor meinen Männern nicht infrage stellen, aber er will auch nicht, dass ich seinen mysteriösen Freunden zu nahe komme. Na schön: Wie du meinst, verdammt noch mal. Die werden sich im Hauptquartier um dich kümmern, dachte Gonzalez.
    
  "Pascual".
    
  "Herr?"
    
  "Sagen Sie dem Navigator, er soll Kurs auf Cádiz setzen."
    
  "Jawohl, Kapitän", sagte der Matrose und verschwand durch die Luke. Der Kapitän wollte ihm gerade in seine Kabine folgen, als ihn die Stimme des Deutschen aufhielt.
    
  "Nein. Bitte. Nicht Cadiz."
    
  Das Gesicht des Deutschen veränderte sich schlagartig, als er den Namen der Stadt hörte.
    
  Wovor hast du denn so große Angst, Fritz?
    
  "Kommandant. Komm her", sagte der Deutsche und bedeutete ihm, näher zu kommen. Der Kapitän beugte sich vor, und der andere Mann begann ihm ins Ohr zu flüstern: "Nicht Cádiz. Portugal. Hierher, Kapitän."
    
  Gonzalez wandte sich von dem Deutschen ab und musterte ihn über eine Minute lang. Er war sich sicher, dass er dem Mann nichts mehr entlocken konnte, da dessen Deutschkenntnisse sich auf "Ja", "Nein", "Bitte" und "Danke" beschränkten. Wieder einmal stand er vor einem Dilemma, bei dem die einfachste Lösung diejenige war, die ihm am wenigsten gefiel. Er beschloss, dass er genug getan hatte, um ihr Leben zu retten.
    
  Was verheimlichst du, Fritz? Wer sind deine Freunde? Was suchen vier Bürger der mächtigsten Nation der Welt mit der größten Armee auf einem winzigen, alten Floß in der Meerenge? Wolltest du damit etwa Gibraltar erreichen? Nein, das glaube ich nicht. Gibraltar ist voller Engländer, deiner Feinde. Und warum kommst du nicht nach Spanien? Dem Ton unseres glorreichen Generalísimo nach zu urteilen, werden wir wohl bald alle die Pyrenäen überqueren, um dir beim Froschjagen zu helfen, höchstwahrscheinlich mit Steinwürfen. Wenn wir wirklich so gut mit deinem Führer befreundet sind wie Diebe ... Es sei denn natürlich, du selbst bist von ihm begeistert.
    
  Verdammt.
    
  "Behaltet diese Leute im Auge", sagte er und wandte sich an die Mannschaft. "Otero, hol ihnen Decken und etwas Warmes zum Anziehen."
    
  Der Kapitän kehrte auf die Brücke zurück, wo die Roca Kurs auf Cádiz nahm und dem Sturm auswich, der nun ins Mittelmeer zog.
    
  "Kapitän", sagte der Navigator und stand stramm, "darf ich Ihnen sagen, wie sehr ich die Tatsache bewundere, dass..."
    
  "Ja, ja, Roca. Vielen Dank. Gibt es hier Kaffee?"
    
  Roca schenkte ihm eine Tasse ein, und der Kapitän setzte sich, um sie zu genießen. Er zog seinen wasserdichten Umhang und den darunter getragenen, durchnässten Pullover aus. Zum Glück war es in der Kabine nicht kalt.
    
  "Es gibt eine Planänderung, Roca. Einer der Deutschen, die wir gerettet haben, hat mir einen Tipp gegeben. Anscheinend operiert ein Schmugglerring an der Mündung des Guadiana. Wir fahren stattdessen nach Ayamonte und versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen."
    
  "Wie Sie sagen, Kapitän", erwiderte der Navigator, etwas frustriert über die Notwendigkeit, einen neuen Kurs zu berechnen. Gonzalez starrte dem jungen Mann besorgt in den Nacken. Es gab gewisse Leute, mit denen er über bestimmte Angelegenheiten nicht sprechen konnte, und er fragte sich, ob Roca ein Informant sein könnte. Was der Kapitän vorschlug, war illegal. Es würde ihm eine Gefängnisstrafe einbringen, oder Schlimmeres. Aber ohne seinen Stellvertreter konnte er es nicht tun.
    
  Zwischen zwei Schlucken Kaffee kam er zu dem Schluss, dass er Roque vertrauen konnte. Dessen Vater hatte die Nationals nach dem Fall Barcelonas ein paar Jahre zuvor getötet.
    
  "Waren Sie schon einmal in Ayamonte, Roca?"
    
  "Nein, Sir", antwortete der junge Mann, ohne sich umzudrehen.
    
  "Es ist ein bezaubernder Ort, drei Meilen flussaufwärts am Guadiana. Der Wein ist gut, und im April duftet es nach Orangenblüten. Und auf der anderen Seite des Flusses beginnt Portugal."
    
  Er nahm noch einen Schluck.
    
  "Wie man so schön sagt: Nur zwei Schritte entfernt."
    
  Roca drehte sich überrascht um. Der Kapitän lächelte ihn müde an.
    
  Fünfzehn Stunden später war das Deck der Esperanza leer. Gelächter drang aus dem Speisesaal herüber, wo die Seeleute ein frühes Abendessen genossen. Der Kapitän hatte versprochen, dass sie nach dem Essen im Hafen von Ayamonte ankern würden, und viele von ihnen spürten bereits den Staub der Tavernen unter ihren Füßen. Vermutlich hielt der Kapitän selbst die Brücke inne, während Roca die vier Schiffbrüchigen bewachte.
    
  "Sind Sie sicher, dass das notwendig ist, Sir?", fragte der Navigator unsicher.
    
  "Das wird nur ein kleiner blauer Fleck. Sei nicht so ein Feigling, Mann. Es soll so aussehen, als hätten dich die Schiffbrüchigen angegriffen, um zu entkommen. Leg dich kurz auf den Boden."
    
  Es gab einen dumpfen Schlag, dann tauchte ein Kopf in der Luke auf, kurz darauf gefolgt von den Schiffbrüchigen. Die Nacht brach herein.
    
  Der Kapitän und der Deutsche ließen das Rettungsboot an der Backbordseite, am weitesten vom Speisesaal entfernt, zu Wasser. Seine Kameraden stiegen ein und warteten auf ihren einäugigen Anführer, der seine Kapuze wieder über den Kopf gezogen hatte.
    
  "Zweihundert Meter Luftlinie", sagte der Kapitän und deutete Richtung Portugal. "Lassen Sie das Rettungsboot am Strand; ich werde es brauchen. Ich bringe es später zurück."
    
  Der Deutsche zuckte mit den Achseln.
    
  "Hören Sie, ich weiß, Sie verstehen kein Wort. Hier ...", sagte Gonzalez und reichte ihm das Messer zurück. Der Mann steckte es mit einer Hand in seinen Gürtel, während er mit der anderen unter seinem Umhang kramte. Er zog einen kleinen Gegenstand hervor und legte ihn dem Hauptmann in die Hand.
    
  "Verrat", sagte er und berührte seine Brust mit dem Zeigefinger. "Rettung", sagte er dann und berührte die Brust des Spaniers.
    
  Gonzalez betrachtete das Geschenk aufmerksam. Es ähnelte einer Medaille und war sehr schwer. Er hielt es näher an die Lampe, die in der Hütte hing; das Objekt strahlte ein unverkennbares Leuchten aus.
    
  Es war aus reinem Gold gefertigt.
    
  "Hören Sie, ich kann das nicht akzeptieren..."
    
  Aber er sprach mit sich selbst. Das Boot legte bereits ab, und keiner der Passagiere blickte zurück.
    
  Bis zu seinem Lebensende widmete Manuel González Pereira, ein ehemaliger Kapitän der spanischen Marine, jede freie Minute außerhalb seiner Buchhandlung dem Studium dieses goldenen Emblems. Es zeigte einen doppelköpfigen Adler auf einem Eisernen Kreuz. Der Adler hielt ein Schwert, über seinem Kopf prangte die Zahl 32 und auf seiner Brust war ein riesiger Diamant eingefasst.
    
  Er entdeckte, dass es sich um ein Freimaurer-Symbol höchsten Ranges handelte, doch alle Experten, mit denen er sprach, hielten es für eine Fälschung, insbesondere da es aus Gold gefertigt war. Deutsche Freimaurer verwendeten für die Embleme ihrer Großmeister niemals Edelmetalle. Die Größe des Diamanten - soweit der Juwelier dies ohne Zerlegen des Schmuckstücks feststellen konnte - datierte den Stein auf die Jahrhundertwende.
    
  Oft, wenn der Buchhändler noch lange wach saß, erinnerte er sich an sein Gespräch mit dem "einäugigen geheimnisvollen Mann", wie ihn sein kleiner Sohn Juan Carlos gerne nannte.
    
  Der Junge wurde nie müde, diese Geschichte zu hören, und er entwickelte die abenteuerlichsten Theorien über die Identität der Schiffbrüchigen. Doch was ihn am meisten berührte, waren diese Abschiedsworte. Er entzifferte sie mit einem deutschen Wörterbuch und wiederholte sie langsam, als ob ihm das helfen würde, sie besser zu verstehen.
    
  "Verrat ist Verrat. Rettung ist Erlösung."
    
  Der Buchhändler starb, ohne das Geheimnis seines Emblems zu lüften. Sein Sohn Juan Carlos erbte das Werk und wurde ebenfalls Buchhändler. An einem Septembertag im Jahr 2002 betrat ein unbekannter, älterer Schriftsteller die Buchhandlung, um über sein neues Werk zur Freimaurerei zu sprechen. Da niemand erschien, beschloss Juan Carlos, um die Zeit zu überbrücken und die offensichtliche Verlegenheit seines Gastes zu lindern, ihm ein Foto des Emblems zu zeigen. Beim Anblick des Bildes veränderte sich der Gesichtsausdruck des Schriftstellers.
    
  "Woher hast du dieses Foto?"
    
  "Das ist eine alte Medaille, die meinem Vater gehörte."
    
  "Hast du es noch?"
    
  "Ja. Aufgrund des Dreiecks, das die Zahl 32 enthält, haben wir entschieden, dass es ..."
    
  "Ein Freimaurersymbol. Offensichtlich eine Fälschung, aufgrund der Form des Kreuzes und der Raute. Haben Sie es begutachten lassen?"
    
  "Ja. Die Materialien kosteten etwa 3.000 Euro. Ich weiß nicht, ob es einen zusätzlichen historischen Wert hat."
    
  Der Autor starrte einige Sekunden lang auf den Artikel, bevor er antwortete, seine Unterlippe zitterte.
    
  "Nein. Auf keinen Fall. Vielleicht aus Neugierde ... aber ich bezweifle es. Und trotzdem würde ich es gern kaufen. Wissen Sie ... für meine Forschung. Ich gebe Ihnen 4.000 Euro dafür."
    
  Juan Carlos lehnte das Angebot höflich ab, woraufhin der Schriftsteller beleidigt ging. Er kam fortan täglich in die Buchhandlung, obwohl er nicht in der Stadt wohnte. Er gab vor, in den Büchern zu stöbern, verbrachte aber in Wirklichkeit die meiste Zeit damit, Juan Carlos über den Rand seiner dicken Kunststoffbrille hinweg zu beobachten. Der Buchhändler fühlte sich zunehmend verfolgt. Eines Winterabends, auf dem Heimweg, glaubte er Schritte hinter sich zu hören. Juan Carlos versteckte sich im Türrahmen und wartete. Einen Augenblick später erschien der Schriftsteller, ein flüchtiger Schatten, zitternd in einem abgetragenen Regenmantel. Juan Carlos trat aus dem Türrahmen hervor, stellte den Mann und drückte ihn gegen die Wand.
    
  "Das muss aufhören, verstehen Sie?"
    
  Der alte Mann begann zu weinen, murmelte etwas vor sich hin, fiel zu Boden und umklammerte seine Knie mit den Händen.
    
  "Du verstehst das nicht, ich muss das unbedingt holen..."
    
  Juan Carlos wurde milder. Er führte den alten Mann zur Bar und stellte ihm ein Glas Brandy hin.
    
  "Das stimmt. Nun sag mir die Wahrheit. Sie ist sehr wertvoll, nicht wahr?"
    
  Der Schriftsteller ließ sich Zeit mit seiner Antwort und musterte den Buchhändler, der dreißig Jahre jünger und 15 Zentimeter größer war als er. Schließlich gab er nach.
    
  "Sein Wert ist unermesslich. Das ist aber nicht der Grund, warum ich es haben will", sagte er mit einer abweisenden Geste.
    
  "Warum dann?"
    
  "Um des Ruhmes willen. Um des Ruhmes der Entdeckung willen. Sie würde die Grundlage meines nächsten Buches bilden."
    
  "Auf der Figur?"
    
  "Über seinen Besitzer. Nach jahrelanger Recherche, dem Durchforsten von Tagebuchfragmenten, Zeitungsarchiven, Privatbibliotheken ... den Abgründen der Geschichte, gelang es mir, sein Leben zu rekonstruieren. Nur zehn sehr verschlossene Menschen auf der Welt kennen seine Geschichte. Sie alle sind große Meister ihres Fachs, und ich bin der Einzige, der alle Puzzleteile besitzt. Obwohl mir niemand glauben würde, wenn ich sie ihnen erzählte."
    
  "Versuch"s doch mal."
    
  "Nur wenn du mir eines versprichst. Dass du mich es sehen lässt. Es berühren lässt. Nur einmal."
    
  Juan Carlos seufzte.
    
  "Okay. Solange du eine gute Geschichte zu erzählen hast."
    
  Der alte Mann beugte sich über den Tisch und begann eine Geschichte zu flüstern, die bis dahin nur mündlich von Leuten überliefert worden war, die geschworen hatten, sie niemals zu wiederholen. Eine Geschichte von Lügen, von unmöglicher Liebe, von einem vergessenen Helden, vom Mord an Tausenden Unschuldigen durch die Hand eines einzigen Mannes. Die Geschichte vom Emblem eines Verräters ...
    
    
  UNHEILIG
    
  1919-21
    
    
  Wo das Verständnis niemals über sich selbst hinausgeht
    
  Das Symbol des Profanen ist eine ausgestreckte Hand, offen, einsam, aber fähig, Wissen zu erfassen.
    
    
    
    
  1
    
    
  Auf den Stufen des Schroeder-Anwesens war Blut.
    
  Paul Rainer schauderte beim Anblick. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass er Blut sah. Zwischen Anfang April und Mai 1919 erlebten die Münchner in nur dreißig Tagen all den Schrecken, dem sie in vier Kriegsjahren entronnen waren. In den unsicheren Monaten zwischen dem Ende des Kaiserreichs und der Ausrufung der Weimarer Republik versuchten unzählige Gruppen, ihre Ziele durchzusetzen. Kommunisten besetzten die Stadt und erklärten Bayern zur Sowjetrepublik. Plünderungen und Morde nahmen überhand, als die Freikorps die Lücke zwischen Berlin und München schlossen. Die Aufständischen, die wussten, dass ihre Tage gezählt waren, versuchten, so viele politische Gegner wie möglich zu beseitigen. Meist Zivilisten, die mitten in der Nacht hingerichtet wurden.
    
  Das bedeutete, dass Paul schon einmal Blutspuren gesehen hatte, aber noch nie am Eingang seines Hauses. Und obwohl es nur wenige waren, kamen sie unter der großen Eichentür hervor.
    
  Mit etwas Glück fällt Jürgen hin und schlägt sich alle Zähne aus, dachte Paul. Vielleicht verschafft er mir dann ein paar Tage Ruhe. Er schüttelte traurig den Kopf. So viel Glück hatte er nicht gehabt.
    
  Er war erst fünfzehn, doch ein bitterer Schatten lag bereits über seinem Herzen, wie Wolken, die die träge Maisonne verdunkelten. Eine halbe Stunde zuvor hatte Paul noch im Gebüsch des englischen Gartens gelegen, froh, nach der Revolution wieder in der Schule zu sein, wenn auch weniger wegen des Unterrichts. Paul war seinen Mitschülern, einschließlich Professor Wirth, der ihn furchtbar langweilte, stets voraus. Paul las alles, was er in die Finger bekam, und verschlang es wie ein Betrunkener am Zahltag. Er tat nur so, als würde er im Unterricht aufpassen, doch am Ende war er immer Klassenbester.
    
  Paul hatte keine Freunde, egal wie sehr er sich auch bemühte, mit seinen Klassenkameraden in Kontakt zu treten. Doch trotz allem genoss er die Schule sehr, denn die Unterrichtsstunden waren Stunden, die er fern von Jürgen verbrachte, der eine Akademie besuchte, wo die Böden nicht aus Linoleum bestanden und die Tische nicht abgeplatzt waren.
    
  Auf seinem Heimweg bog Paul stets in den Großen Garten ein, den größten Park Europas. An diesem Tag wirkte er fast menschenleer, trotz der allgegenwärtigen rotgewandeten Wachen, die ihn jedes Mal ermahnten, wenn er sich verirrte. Paul nutzte die Gelegenheit und zog seine abgetragenen Schuhe aus. Er genoss es, barfuß über das Gras zu laufen, und bückte sich gedankenverloren, um einige der Tausenden gelben Flugblätter aufzuheben, die Freikorps-Flugzeuge in der Vorwoche über München abgeworfen hatten und in denen die bedingungslose Kapitulation der Kommunisten gefordert wurde. Er warf sie in den Müll. Er wäre gern geblieben und hätte den ganzen Park aufgeräumt, aber es war Donnerstag, und er musste den Boden im vierten Stock des Herrenhauses polieren - eine Aufgabe, die ihn bis zum Mittagessen beschäftigen würde.
    
  Wenn er doch nur nicht da gewesen wäre ... dachte Paul. Letztes Mal hatte er mich in den Besenschrank gesperrt und einen Eimer schmutziges Wasser auf den Marmorboden geschüttet. Zum Glück hatte Mama meine Schreie gehört und den Schrank geöffnet, bevor Brunhilde es bemerkte.
    
  Paul wollte sich an eine Zeit erinnern, in der sein Cousin sich nicht so verhalten hatte. Vor Jahren, als sie beide noch klein waren und Eduard sie an der Hand nahm und in den Garten führte, lächelte Jürgen ihn an. Es war eine flüchtige Erinnerung, fast die einzige schöne, die er von seinem Cousin hatte. Dann begann der Erste Weltkrieg mit seinen Kapellen und Paraden. Und Eduard schritt winkend und lächelnd davon, während der Lastwagen, der ihn transportierte, an Fahrt gewann, und Paul rannte neben ihm her, wollte neben seinem älteren Cousin marschieren, wollte, dass er in dieser imposanten Uniform neben ihm saß.
    
  Für Paul bestand der Krieg aus den Nachrichten, die er jeden Morgen auf seinem Schulweg an der Wand der Polizeistation las. Oft musste er sich durch die Menschenmassen drängen - was ihm nie schwerfiel, da er spindeldürr war. Dort las er mit Begeisterung von den Erfolgen der kaiserlichen Armee, die täglich Tausende Gefangene machte, Städte besetzte und die Grenzen des Reiches erweiterte. Im Unterricht zeichnete er dann eine Karte von Europa und malte sich aus, wo die nächste große Schlacht stattfinden würde, und fragte sich, ob Edward dort sein würde. Plötzlich und völlig unerwartet begannen sich "Siege" in der Nähe der Heimat abzuzeichnen, und Militärmeldungen verkündeten fast immer die "Rückkehr zur ursprünglich erhofften Sicherheit". Bis eines Tages ein riesiges Plakat verkündete, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Darunter stand eine Liste der zu zahlenden Preise, und es war in der Tat eine sehr lange Liste.
    
  Als Paul diese Liste und das Plakat las, fühlte er sich getäuscht, betrogen. Plötzlich gab es keine Illusionen mehr, die den Schmerz der immer heftigeren Schläge Jürgens hätten lindern können. Der glorreiche Krieg würde nicht warten, bis Paul erwachsen war und sich Eduard an der Front anschließen konnte.
    
  Und natürlich war daran überhaupt nichts Glorreiches.
    
  Paul stand einen Moment lang da und betrachtete das Blut am Eingang. Er verwarf innerlich den Gedanken, dass die Revolution erneut begonnen hatte. Freikorps-Truppen patrouillierten in ganz München. Doch diese Blutlache wirkte frisch, eine kleine Unregelmäßigkeit auf einem großen Stein, dessen Stufen breit genug waren, um zwei Männer nebeneinander aufzunehmen.
    
  Ich sollte mich beeilen. Wenn ich wieder zu spät komme, bringt mich Tante Brunhilda um.
    
  Er schwankte einen Moment zwischen der Angst vor dem Unbekannten und der Angst vor seiner Tante, doch die Angst siegte. Er zog den kleinen Schlüssel zum Nebeneingang aus der Tasche und betrat das Herrenhaus. Drinnen herrschte absolute Stille. Als er sich der Treppe näherte, hörte er Stimmen aus den Wohnräumen.
    
  "Er ist ausgerutscht, als wir die Treppe hochgingen, Madam. Es ist schwer, ihn festzuhalten, und wir sind alle sehr schwach. Monate sind vergangen, und seine Wunden öffnen sich immer wieder."
    
  "Inkompetente Narren. Kein Wunder, dass wir den Krieg verloren haben."
    
  Paul schlich durch den Hauptflur und bemühte sich, so leise wie möglich zu sein. Der lange Blutfleck, der sich unter der Tür hindurchzog, verjüngte sich zu mehreren Streifen, die zum größten Raum des Herrenhauses führten. Drinnen saßen seine Tante Brunhilde und zwei Soldaten über ein Sofa gebeugt. Sie rieb sich immer wieder die Hände, bis ihr bewusst wurde, was sie tat, und verbarg sie dann in den Falten ihres Kleides. Selbst hinter der Tür zitterte Paul vor Angst, als er seine Tante in diesem Zustand sah. Ihre Augen glichen zwei dünnen grauen Linien, ihr Mund war zu einem Fragezeichen verzogen, und ihre gebieterische Stimme bebte vor Wut.
    
  "Schau dir den Zustand der Polsterung an, Marlis!"
    
  "Baronin", sagte der Diener und trat näher.
    
  "Hol schnell eine Decke. Ruf den Gärtner an. Seine Kleidung muss verbrannt werden; sie ist voller Läuse. Und jemand soll dem Baron Bescheid sagen."
    
  "Und Meister Jürgen, Baronin?"
    
  "Nein! Vor allem nicht er, verstehen Sie? Er kam gerade von der Schule zurück?"
    
  "Er hat heute Fechten, Baroness."
    
  "Er wird jeden Moment hier sein. Ich will, dass diese Katastrophe beseitigt wird, bevor er zurückkommt", befahl Brunhilde. "Vorwärts!"
    
  Das Dienstmädchen eilte an Paul vorbei, ihr Rock flatterte, doch er rührte sich nicht, denn er bemerkte Edwards Gesicht hinter den Beinen der Soldaten. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Also das war derjenige, den die Soldaten hereingetragen und auf das Sofa gelegt hatten?
    
  Mein Gott, es war sein Blut.
    
  "Wer ist dafür verantwortlich?"
    
  "Mörsergranate, Madam."
    
  "Das weiß ich bereits. Ich frage mich, warum Sie mir meinen Sohn erst jetzt und in diesem Zustand gebracht haben. Sieben Monate sind seit Kriegsende vergangen, und ich habe kein Wort davon gehört. Wissen Sie, wer sein Vater ist?"
    
  "Ja, er ist ein Baron. Ludwig hingegen ist Maurer, und ich bin nur ein Gehilfe im Lebensmittelladen. Aber Granatsplitter kennen keine Titel, Madam. Und es war ein langer Weg von der Türkei. Sie können von Glück reden, dass er überhaupt zurückgekommen ist; mein Bruder wird nicht zurückkommen."
    
  Brunhildes Gesicht wurde totenbleich.
    
  "Raus hier!", zischte sie.
    
  "Das ist ja nett, Madam. Wir geben Ihnen Ihren Sohn zurück, und Sie setzen uns ohne ein Glas Bier auf die Straße."
    
  Vielleicht huschte ein Anflug von Reue über Brunhildes Gesicht, doch er war von Wut vernebelt. Sprachlos hob sie einen zitternden Finger und deutete zur Tür.
    
  "Du verdammter Aristokrat", sagte einer der Soldaten und spuckte auf den Teppich.
    
  Sie wandten sich widerwillig ab, die Köpfe gesenkt. Ihre eingefallenen Augen spiegelten Müdigkeit und Abscheu wider, aber keine Überraschung. "Nichts könnte diese Leute im Moment schockieren", dachte Paul. Und als die beiden Männer in ihren weiten grauen Mänteln beiseite traten, begriff Paul endlich, was vor sich ging.
    
  Eduard, der Erstgeborene von Baron von Schröder, lag bewusstlos in einer seltsamen Position auf dem Sofa. Sein linker Arm ruhte auf Kissen. Wo sein rechter Arm hätte sein sollen, war nur eine schlecht genähte Falte in seiner Jacke. Wo seine Beine hätten sein sollen, befanden sich zwei mit schmutzigen Verbänden bedeckte Stümpfe, von denen einer blutete. Der Chirurg hatte sie nicht an derselben Stelle durchtrennt: Der linke war oberhalb des Knies gerissen, der rechte knapp darunter.
    
  Eine asymmetrische Verstümmelung, dachte Paul und erinnerte sich an seine Kunstgeschichtestunde am Morgen und daran, wie sein Lehrer die Venus von Milo besprochen hatte. Er merkte, dass er weinte.
    
  Brunhilde hörte das Schluchzen, hob den Kopf und stürzte auf Paulus zu. Ihr sonst so verächtlicher Blick war einem Ausdruck von Hass und Scham gewichen. Einen Augenblick lang glaubte Paulus, sie wolle ihn schlagen, und er zuckte zurück, fiel rückwärts und vergrub sein Gesicht in den Händen. Es gab einen furchtbaren Knall.
    
  Die Türen zur Halle wurden zugeschlagen.
    
    
  2
    
    
  Eduard von Schroeder war nicht das einzige Kind, das an diesem Tag nach Hause zurückkehrte, eine Woche nachdem die Regierung die Stadt München für sicher erklärt und mit der Beerdigung von mehr als 1.200 toten Kommunisten begonnen hatte.
    
  Doch anders als Eduard von Schröders Emblem war diese Heimkehr bis ins kleinste Detail geplant. Für Alice und Manfred Tannenbaum begann die Rückreise mit der "Macedonia" von New Jersey nach Hamburg. Weiter ging es in einem luxuriösen Erste-Klasse-Abteil im Zug nach Berlin, wo sie ein Telegramm ihres Vaters vorfanden, in dem er ihnen befahl, bis auf Weiteres an der Esplanade zu bleiben. Für Manfred war dies der glücklichste Zufall in seinen zehn Lebensjahren, denn Charlie Chaplin wohnte zufällig im Nebenzimmer. Der Schauspieler schenkte dem Jungen einen seiner berühmten Bambusstöcke und begleitete ihn und seine Schwester sogar zum Taxi, als sie endlich das Telegramm erhielten, das ihnen mitteilte, dass sie nun die letzte Etappe ihrer Reise antreten konnten.
    
  Am 13. Mai 1919, mehr als fünf Jahre nachdem ihr Vater sie in die Vereinigten Staaten geschickt hatte, um dem drohenden Krieg zu entkommen, betraten die Kinder des größten jüdischen Industriellen Deutschlands Gleis 3 des Hauptbahnhofs.
    
  Schon damals wusste Alice, dass das kein gutes Ende nehmen würde.
    
  "Beeil dich doch, Doris! Ach, lass es einfach liegen, ich nehme es selbst", sagte sie, riss dem Diener, den ihr Vater geschickt hatte, den Hutkarton aus der Hand und stellte ihn auf einen Gepäckwagen. Sie hatte ihn sich von einem der jungen Angestellten am Bahnhof geschnappt, die wie Fliegen um sie herumschwirrten und versuchten, das Gepäck in ihre Gewalt zu bringen. Alice scheuchte sie alle weg. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn Leute versuchten, sie zu kontrollieren oder, noch schlimmer, sie behandelten, als sei sie unfähig.
    
  "Ich wette mit dir, Alice!", rief Manfred und rannte los. Der Junge teilte die Sorge seiner Schwester nicht und sorgte sich nur darum, seinen geliebten Gehstock zu verlieren.
    
  "Warte nur, du kleiner Bengel!", rief Alice und zog den Wagen vor sich her. "Beeil dich, Doris!"
    
  "Fräulein, Ihr Vater würde es nicht gutheißen, wenn Sie Ihr Gepäck selbst tragen würden. Bitte...", flehte die Dienerin und versuchte vergeblich, mit dem Mädchen Schritt zu halten, während sie die jungen Männer beobachtete, die sich spielerisch mit den Ellbogen anstießen und auf Alice zeigten.
    
  Genau das war Alices Problem mit ihrem Vater: Er bestimmte jeden Aspekt ihres Lebens. Obwohl Joseph Tannenbaum ein Mensch aus Fleisch und Blut war, behauptete Alices Mutter stets, er habe Zahnräder und Federn statt Organe.
    
  "Du könntest deine Uhr nach deinem Vater aufziehen, meine Liebe", flüsterte sie ihrer Tochter ins Ohr, und die beiden lachten leise, denn Herr Tannenbaum mochte keine Witze.
    
  Im Dezember 1913 starb Alices Mutter an der Grippe. Alice erholte sich erst vier Monate später von dem Schock und der Trauer, als sie mit ihrem Bruder auf dem Weg nach Columbus, Ohio, war. Sie kamen bei Familie Bush unter, einer gehobenen, anglikanischen Familie. Der Patriarch Samuel war Geschäftsführer von Buckeye Steel Castings, einem Unternehmen, mit dem Joseph Tannenbaum viele lukrative Verträge abschloss. 1914 wurde Samuel Bush Regierungsbeamter und für Waffen und Munition zuständig. Die Produkte, die er von Alices Vater bezog, nahmen eine neue Form an: Millionen von Kugeln, die über den Atlantik flogen. Sie wurden in Kisten nach Westen transportiert, als die Vereinigten Staaten noch offiziell neutral waren, und später in den Patronengurten von Soldaten, die 1917 nach Osten zogen, als Präsident Wilson beschloss, die Demokratie in Europa zu verbreiten.
    
  1918 tauschten Busch und Tannenbaum freundschaftliche Briefe aus, in denen sie bedauerten, dass ihre Geschäftsbeziehung "aufgrund politischer Unannehmlichkeiten" vorübergehend unterbrochen werden müsse. Der Handel wurde fünfzehn Monate später wieder aufgenommen, zeitgleich mit der Rückkehr der jungen Tannenbaums nach Deutschland.
    
  An dem Tag, als der Brief ankam und Joseph seine Kinder mitnahm, glaubte Alice, sie würde sterben. Nur ein fünfzehnjähriges Mädchen, das heimlich in einen der Söhne ihrer Gastfamilie verliebt war und nun erfuhr, dass sie für immer weg musste, konnte so fest davon überzeugt sein, dass ihr Leben zu Ende ging.
    
  "Prescott", schluchzte sie in ihrer Hütte auf dem Heimweg. "Hätte ich doch nur mehr mit ihm geredet ... Hätte ich doch nur mehr Aufhebens um ihn gemacht, als er zu seinem Geburtstag von Yale zurückkam, anstatt wie all die anderen Mädchen auf der Party anzugeben ..."
    
  Trotz ihrer eigenen Prognose überlebte Alice und schwor auf den durchnässten Kissen ihrer Hütte, dass sie nie wieder zulassen würde, dass ein Mann sie leiden ließ. Von nun an würde sie jede Entscheidung in ihrem Leben selbst treffen, ungeachtet dessen, was irgendjemand sagte. Am allerwenigsten ihr Vater.
    
  Ich werde mir einen Job suchen. Nein, Dad wird das niemals zulassen. Es wäre besser, ich würde ihn bitten, mir in einer seiner Fabriken zu arbeiten, bis ich genug für ein Ticket zurück in die Vereinigten Staaten gespart habe. Und wenn ich wieder einen Fuß nach Ohio setze, werde ich Prescott am Hals packen und ihn so lange würgen, bis er mich fragt, ob ich ihn heiraten will. Das werde ich tun, und niemand kann mich aufhalten.
    
  Doch als der Mercedes am Prinzregentenplatz hielt, war Alices Entschlossenheit wie ein Luftballon in sich zusammengefallen. Sie rang nach Luft, und ihr Bruder wippte nervös auf seinem Sitz hin und her. Es schien ihr unglaublich, dass sie ihre Entschlossenheit über viertausend Kilometer - fast bis zum Atlantik - mit sich getragen hatte, nur um sie während der Fahrt vom Bahnhof zu diesem prunkvollen Gebäude so schnell wieder zu verlieren. Ein uniformierter Gepäckträger öffnete ihr die Tür, und ehe Alice es sich versah, fuhren sie im Aufzug nach oben.
    
  "Glaubst du, Papa feiert eine Party, Alice?" Ich bin am Verhungern!
    
  "Euer Vater war sehr beschäftigt, junger Herr Manfred. Aber ich habe mir die Freiheit genommen, ein paar Sahnebrötchen zum Tee zu kaufen."
    
  "Danke, Doris", murmelte Alice, als der Aufzug mit einem metallischen Knirschen zum Stehen kam.
    
  "Es wird komisch sein, nach dem großen Haus in Columbus in einer Wohnung zu leben. Ich hoffe, niemand hat meine Sachen angefasst", sagte Manfred.
    
  "Nun, falls es welche gäbe, wirst du dich kaum daran erinnern, du Zwerg", erwiderte seine Schwester, vergaß für einen Moment ihre Angst vor der Begegnung mit ihrem Vater und wuschelte Manfred durch die Haare.
    
  "Nenn mich nicht so! Ich erinnere mich an alles!"
    
  "Alle?"
    
  "Genau das habe ich gesagt. Da waren blaue Boote an die Wand gemalt. Und am Fußende des Bettes hing ein Bild von einem Schimpansen, der Becken spielte. Dad hat es mir nicht erlaubt, es mitzunehmen, weil er meinte, es würde Mr. Bush verrückt machen. Ich hole es!", rief er und schlüpfte zwischen den Beinen des Butlers hindurch, als dieser die Tür öffnete.
    
  "Warten Sie, Meister Manfred!", rief Doris, doch vergeblich. Der Junge rannte bereits den Korridor entlang.
    
  Die Wohnung der Tannenbaums befand sich im obersten Stockwerk des Gebäudes, eine Neun-Zimmer-Wohnung von gut 320 Quadratmetern - winzig im Vergleich zu dem Haus, in dem die Geschwister in Amerika gelebt hatten. Für Alice schienen sich die Dimensionen völlig verändert zu haben. Sie war kaum älter als Manfred jetzt, als sie 1914 wegging, und irgendwie wirkte alles aus dieser Perspektive, als wäre sie um einen Fuß geschrumpft.
    
  "... Fräulein?"
    
  "Tut mir leid, Doris. Worüber habt ihr gesprochen?"
    
  "Der Meister wird Sie in seinem Büro empfangen. Er hatte zwar Besuch, aber ich glaube, der geht jetzt."
    
  Jemand kam ihnen den Flur entlang entgegen. Ein großer, kräftiger Mann in einem eleganten schwarzen Gehrock. Alice erkannte ihn nicht, doch Herr Tannenbaum stand hinter ihm. Als sie den Eingang erreichten, blieb der Mann im Gehrock abrupt stehen - so abrupt, dass Alices Vater beinahe mit ihm zusammenstieß - und starrte sie durch ein Monokel an einer Goldkette an.
    
  "Ah, da kommt ja meine Tochter! Welch perfektes Timing!", sagte Tannenbaum und warf seinem Gesprächspartner einen verwirrten Blick zu. "Herr Baron, darf ich Ihnen meine Tochter Alice vorstellen, die soeben mit ihrem Bruder aus Amerika angekommen ist? Alice, das ist Baron von Schroeder."
    
  "Sehr erfreut, Sie kennenzulernen", sagte Alice kühl. Sie verzichtete auf den höflichen Knicks, der beim Treffen mit Adligen fast obligatorisch war. Ihr missfiel die hochmütige Art des Barons.
    
  "Ein sehr hübsches Mädchen. Allerdings fürchte ich, dass sie sich einige amerikanische Manieren angeeignet hat."
    
  Tannenbaum warf seiner Tochter einen empörten Blick zu. Das Mädchen bedauerte, dass sich ihr Vater in fünf Jahren kaum verändert hatte. Äußerlich war er immer noch stämmig und kurzbeinig, sein Haar schütterer geworden. Und auch sein Auftreten war unverändert: Er war Vorgesetzten gegenüber genauso entgegenkommend wie seinen Untergebenen gegenüber streng.
    
  "Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich das bereue. Ihre Mutter starb sehr jung, und sie hatte kaum soziale Kontakte. Ich bin sicher, Sie verstehen das. Hätte sie doch nur etwas Zeit in Gesellschaft von Gleichaltrigen, von wohlerzogenen Menschen verbringen können ..."
    
  Der Baron seufzte resigniert.
    
  "Warum kommen Sie und Ihre Tochter nicht am Dienstag gegen sechs Uhr zu uns nach Hause? Wir feiern den Geburtstag meines Sohnes Jürgen."
    
  An dem vielsagenden Blick, den die Männer austauschten, erkannte Alice, dass das alles ein vorher abgesprochenes Komplott gewesen war.
    
  "Selbstverständlich, Exzellenz. Es ist eine sehr nette Geste von Ihnen, uns einzuladen. Darf ich Sie zur Tür begleiten?"
    
  "Aber wie konntest du nur so unaufmerksam sein?"
    
  "Es tut mir leid, Papa."
    
  Sie saßen in seinem Büro. Eine Wand war mit Bücherregalen gesäumt, die Tannenbaum mit Büchern gefüllt hatte, die er meterweise nach der Farbe ihrer Einbände gekauft hatte.
    
  "Tut es dir leid? Ein ‚Tut mir leid" ändert nichts, Alice. Du musst verstehen, dass ich gerade in einer sehr wichtigen Angelegenheit mit Baron Schroeder unterwegs bin."
    
  "Stahl und Metalle?", fragte sie und wandte damit den alten Trick ihrer Mutter an, Interesse an Josefs Geschäft vorzutäuschen, wann immer er wieder wütend war. Wenn er erst einmal über Geld zu reden begann, konnte er stundenlang reden, und am Ende hatte er längst vergessen, warum er überhaupt wütend gewesen war. Doch diesmal funktionierte es nicht.
    
  "Nein, Land. Land ... und andere Dinge. Das wirst du schon sehen, wenn es soweit ist. Ich hoffe jedenfalls, dass du ein schönes Kleid für die Party hast."
    
  "Ich bin doch gerade erst angekommen, Papa. Ich möchte wirklich nicht auf eine Party gehen, wo ich niemanden kenne."
    
  "Keine Lust? Um Himmels willen, es ist eine Party im Hause Baron von Schroeder!"
    
  Alice zuckte leicht zusammen, als sie ihn das sagen hörte. Es war nicht normal für einen Juden, Gottes Namen zu missbrauchen. Da fiel ihr ein kleines Detail ein, das ihr beim Betreten des Hauses entgangen war: An der Tür hing keine Mesusa. Überrascht blickte sie sich um und entdeckte ein Kruzifix an der Wand neben dem Porträt ihrer Mutter. Sie war sprachlos. Sie war nicht besonders religiös - sie steckte mitten in der Pubertät, in der man manchmal an der Existenz einer Gottheit zweifelte -, aber ihre Mutter war es. Alice empfand das Kreuz neben ihrem Foto als unerträgliche Beleidigung ihrer Erinnerung.
    
  Joseph folgte ihrem Blick und hatte den Anstand, einen Moment lang verlegen auszusehen.
    
  "So sind die Zeiten, in denen wir leben, Alice. Es ist schwierig, mit Christen Geschäfte zu machen, wenn man selbst keiner ist."
    
  "Du hast schon genug Geschäfte gemacht, Papa. Und ich finde, du hast das gut gemacht", sagte sie und deutete im Raum umher.
    
  "Während Ihrer Abwesenheit hat sich die Lage für unser Volk furchtbar entwickelt. Und es wird noch schlimmer werden, das werden Sie sehen."
    
  "So schlimm, dass du bereit bist, alles aufzugeben, Vater? Neu erschaffen für ... für Geld?"
    
  "Es geht nicht ums Geld, du unverschämtes Kind!", rief Tannenbaum, seine Stimme ohne jede Spur von Scham, und er knallte mit der Faust auf den Tisch. "Ein Mann in meiner Position hat Verantwortung. Weißt du, für wie viele Arbeiter ich verantwortlich bin? Diese idiotischen Schurken, die lächerlichen kommunistischen Gewerkschaften beitreten und Moskau für das Paradies auf Erden halten! Jeden Tag muss ich mich abrackern, um sie zu bezahlen, und alles, was sie tun können, ist jammern. Also wag es ja nicht, mir all das vorzuwerfen, was ich tue, um dir ein Dach über dem Kopf zu sichern."
    
  Alice holte tief Luft und beging erneut ihren Lieblingsfehler: Sie sagte genau das, was sie dachte, und zwar im unpassendsten Moment.
    
  "Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Papa. Ich werde sehr bald abreisen. Ich möchte zurück nach Amerika und dort mein Leben neu beginnen."
    
  Als er das hörte, lief Tannenbaum rot an. Er wedelte mit einem dicken Finger vor Alices Gesicht herum.
    
  "Wage es ja nicht, so etwas zu sagen, hast du mich verstanden? Du gehst auf diese Party und benimmst dich wie eine anständige junge Dame, okay? Ich habe Pläne mit dir, und die lasse ich mir nicht von den Launen eines ungezogenen Mädchens verderben. Hast du mich verstanden?"
    
  "Ich hasse dich", sagte Alice und sah ihn direkt an.
    
  Der Gesichtsausdruck ihres Vaters veränderte sich nicht.
    
  "Es stört mich nicht, solange du tust, was ich sage."
    
  Alice rannte mit Tränen in den Augen aus dem Büro.
    
  Das werden wir ja sehen. Oh ja, das werden wir ja sehen.
    
    
  3
    
    
  "Schläfst du?"
    
  Ilse Rainer drehte sich auf der Matratze um.
    
  "Nicht mehr. Was ist los, Paul?"
    
  "Ich habe mich gefragt, was wir tun würden."
    
  "Es ist schon halb zwölf. Wie wär"s mit etwas Schlaf?"
    
  "Ich sprach über die Zukunft."
    
  "Die Zukunft", wiederholte seine Mutter und spuckte das Wort fast aus.
    
  "Ich meine, das heißt ja nicht, dass du tatsächlich hier bei Tante Brunhilde arbeiten musst, oder, Mama?"
    
  "In der Zukunft sehe ich dich an die Universität gehen, die sich als ganz in der Nähe herausstellen wird, und nach Hause kommen, um das leckere Essen zu genießen, das ich für dich zubereitet habe. Nun, gute Nacht."
    
  "Das ist nicht unser Zuhause."
    
  "Wir leben hier, wir arbeiten hier und wir danken dem Himmel dafür."
    
  "Als ob wir das sollten...", flüsterte Paul.
    
  "Das habe ich gehört, junger Mann."
    
  "Es tut mir leid, Mama."
    
  "Was ist denn los mit dir? Hattest du etwa wieder Streit mit Jürgen? Bist du deshalb heute so durchnässt zurückgekommen?"
    
  "Es war kein Kampf. Er und zwei seiner Freunde folgten mir in den Englischen Garten."
    
  "Sie haben nur gespielt."
    
  "Sie haben meine Hose in den See geworfen, Mama."
    
  "Und Sie haben nichts getan, um sie zu verärgern?"
    
  Paul schnaubte laut, sagte aber nichts. Das war typisch für seine Mutter. Wann immer er Mist baute, versuchte sie, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben.
    
  "Du solltest besser ins Bett gehen, Paul. Wir haben morgen einen anstrengenden Tag."
    
  "Oh ja, Jürgens Geburtstag..."
    
  "Es wird Kuchen geben."
    
  "Die dann von anderen Leuten gegessen werden."
    
  "Ich verstehe nicht, warum du immer so reagierst."
    
  Paul fand es empörend, dass hundert Leute im ersten Stock feierten, während Edward, den er noch nicht sehen durfte, im vierten Stock schmachtete, aber er behielt es für sich.
    
  "Morgen gibt es viel zu tun", schloss Ilze und drehte sich um.
    
  Der Junge starrte einen Moment lang auf den Rücken seiner Mutter. Die Schlafzimmer im Wirtschaftsflügel befanden sich im hinteren Teil des Hauses, in einer Art Keller. Dort zu wohnen, anstatt im Familienzimmer, störte Paul nicht so sehr, denn er kannte kein anderes Zuhause. Seit seiner Geburt hatte er den ungewohnten Anblick, Ilse beim Abwaschen des Geschirrs ihrer Schwester Brunhilde zu beobachten, als normal empfunden.
    
  Ein schmaler Lichtstreifen fiel durch ein kleines Fenster direkt unter der Decke, ein gelbes Echo des Straßenlichts, das sich mit dem Flackern der Kerze vermischte, die Paul stets neben seinem Bett stehen hatte, da er panische Angst vor der Dunkelheit hatte. Die Rainers teilten sich eines der kleineren Schlafzimmer, in dem sich nur zwei Betten, ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch befanden, auf dem Pauls Hausaufgaben verstreut lagen.
    
  Paul war von dem Platzmangel bedrückt. Nicht, dass es an Zimmern mangelte. Schon vor dem Krieg hatte das Vermögen des Barons begonnen zu schwinden, und Paul sah zu, wie es unaufhaltsam dahinschmolz, wie eine Konservendose, die auf dem Feld verrostet. Dieser Prozess hatte sich über Jahre hingezogen, war aber unaufhaltsam.
    
  "Die Karten", flüsterten die Diener und schüttelten die Köpfe, als sprächen sie von einer ansteckenden Krankheit, "es liegt an den Karten." Als Kind entsetzten ihn diese Worte so sehr, dass er, als der Junge mit einem französischen Kartenspiel, das er zu Hause gefunden hatte, zur Schule kam, aus dem Klassenzimmer rannte und sich im Badezimmer einschloss. Es dauerte eine Weile, bis er das ganze Ausmaß des Problems seines Onkels begriff: ein Problem, das zwar nicht ansteckend, aber dennoch lebensbedrohlich war.
    
  Als die ausstehenden Löhne der Bediensteten immer weiter stiegen, kündigten sie nach und nach. Von den zehn Schlafzimmern im Dienstbotenquartier waren nun nur noch drei bewohnt: das Zimmer des Dienstmädchens, das Zimmer der Köchin und das, das Paul mit seiner Mutter teilte. Der Junge konnte manchmal schlecht schlafen, weil Ilse immer eine Stunde vor Sonnenaufgang aufstand. Bevor die anderen Bediensteten gegangen waren, war sie lediglich Haushälterin gewesen und hatte dafür gesorgt, dass alles an seinem Platz war. Nun musste auch sie deren Arbeit übernehmen.
    
  Dieses Leben, die kräftezehrenden Pflichten seiner Mutter und die Aufgaben, die er selbst, solange er sich erinnern konnte, verrichtet hatte, erschienen Paul zunächst normal. Doch in der Schule besprach er seine Situation mit seinen Klassenkameraden, und bald begann er, Vergleiche anzustellen. Er bemerkte, was um ihn herum geschah, und erkannte, wie seltsam es war, dass die Schwester der Baronin im Personalquartier schlafen musste.
    
  Immer und immer wieder hörte er dieselben drei Worte, mit denen seine Familie beschrieben wurde, an sich vorbeihuschen, wenn er in der Schule zwischen den Tischen hindurchging, oder wie eine Geheimtür hinter ihm zuknallen.
    
  Waise.
    
  Diener.
    
  Deserteur. Das war das Schlimmste von allem, denn es richtete sich gegen seinen Vater. Einen Mann, den er nie kennengelernt hatte, einen Mann, von dem seine Mutter nie gesprochen hatte, und einen Mann, von dem Paul kaum mehr als seinen Namen wusste. Hans Reiner.
    
  Und so setzte Paul die Bruchstücke belauschter Gespräche zusammen und erfuhr, dass sein Vater etwas Schreckliches getan hatte (... in den afrikanischen Kolonien, sagt man...), dass er alles verloren hatte (... sein Hemd verloren, pleite gegangen...), und dass seine Mutter der Gnade seiner Tante Brunhilde ausgeliefert war (... eine Dienerin im Haus ihres eigenen Schwagers - keinem Geringeren als einem Baron! - können Sie sich das vorstellen?).
    
  Das schien nicht ehrenhafter als die Tatsache, dass Ilse ihr für ihre Arbeit keinen einzigen Mark berechnete. Oder dass sie während des Krieges gezwungen wurde, in einer Munitionsfabrik zu arbeiten, "um zum Unterhalt des Haushalts beizutragen". Die Fabrik befand sich in Dachau, sechzehn Kilometer von München entfernt, und seine Mutter musste zwei Stunden vor Sonnenaufgang aufstehen, ihren Teil der Hausarbeit erledigen und dann den Zug zu ihrer zehnstündigen Schicht nehmen.
    
  Eines Tages, kurz nachdem sie von der Fabrik zurückgekehrt war - ihre Haare und Finger grün vor Staub, ihre Augen getrübt vom Einatmen der Chemikalien -, fragte Paul seine Mutter zum ersten Mal, warum sie keine andere Wohnung gefunden hatten. Einen Ort, an dem sie beide nicht ständig gedemütigt werden mussten.
    
  "Du verstehst das nicht, Paul."
    
  Sie gab ihm immer wieder dieselbe Antwort, wandte dabei stets den Blick ab, verließ den Raum oder drehte sich um, um einzuschlafen, genau wie sie es noch vor wenigen Minuten getan hatte.
    
  Paul starrte einen Moment lang auf den Rücken seiner Mutter. Sie schien tief und gleichmäßig zu atmen, aber der Junge wusste, dass sie nur so tat, als ob sie schliefe, und er fragte sich, welche Geister sie mitten in der Nacht angegriffen haben mochten.
    
  Er wandte den Blick ab und starrte an die Decke. Könnten seine Augen Gips durchdringen, wäre das Stück Decke direkt über Pauls Kissen längst eingestürzt. Dorthin konzentrierte er nachts all seine Fantasien über seinen Vater, wenn er nicht einschlafen konnte. Paul wusste nur, dass er Kapitän in der kaiserlichen Marine gewesen war und eine Fregatte in Südwestafrika kommandiert hatte. Er war gestorben, als Paul zwei Jahre alt war, und das Einzige, was ihm von ihm geblieben war, war ein verblasstes Foto seines Vaters in Uniform, mit einem großen Schnurrbart, dessen dunkle Augen stolz in die Kamera blickten.
    
  Ilse legte das Foto jeden Abend unter ihr Kopfkissen, und der größte Schmerz, den Paul seiner Mutter zufügte, war nicht der Tag, an dem Jürgen ihn die Treppe hinunterstieß und ihm den Arm brach; es war der Tag, an dem er das Foto stahl, es mit in die Schule nahm und es allen zeigte, die ihn hinter seinem Rücken als Waise bezeichnet hatten. Als er nach Hause kam, hatte Ilse das ganze Zimmer auf den Kopf gestellt, um es zu suchen. Als er es vorsichtig unter den Seiten seines Mathematikbuchs hervorzog, gab Ilse ihm eine Ohrfeige und fing dann an zu weinen.
    
  "Das ist das Einzige, was ich habe. Das Einzige."
    
  Natürlich umarmte sie ihn. Aber zuerst nahm sie das Foto zurück.
    
  Paul versuchte sich vorzustellen, wie dieser beeindruckende Mann gewesen sein musste. Unter der trüben weißen Decke, im Schein einer Straßenlaterne, zeichnete sich vor seinem inneren Auge der Umriss der Kiel ab, jener Fregatte, mit der Hans Reiner "mit seiner gesamten Mannschaft im Atlantik untergegangen war". Er malte sich hunderte mögliche Szenarien aus, um diese neun Worte zu erklären, die einzige Information über seinen Tod, die Ilse ihrem Sohn weitergegeben hatte. Piraten, Riffe, Meuterei ... Wie auch immer es begonnen hatte, Pauls Fantasie endete immer gleich: Hans, der sich am Ruder festklammerte und zum Abschied winkte, während sich die Wasser über ihm schlossen.
    
  Wenn er diesen Punkt erreicht hatte, schlief Paul immer ein.
    
    
  4
    
    
  "Ehrlich gesagt, Otto, ich kann den Juden keine Sekunde länger ertragen. Schau ihn dir nur an, wie er sich mit Dampfnudeln vollstopft. Da ist ja Pudding auf seinem Hemd!"
    
  "Bitte, Brunhilde, sprich leiser und versuche, ruhig zu bleiben. Du weißt genauso gut wie ich, wie sehr wir Tannenbaum brauchen. Wir haben unseren letzten Cent für diese Feier ausgegeben. Nebenbei bemerkt, es war deine Idee ..."
    
  "Jürgen hat Besseres verdient. Du weißt doch, wie verwirrt er ist, seit sein Bruder zurückgekehrt ist..."
    
  "Dann beschwere dich nicht über den Juden."
    
  "Sie können sich gar nicht vorstellen, wie es ist, ihn zu bewirten, mit seinem endlosen Geschwätz und seinen lächerlichen Komplimenten, als ob er nicht wüsste, dass er alle Trümpfe in der Hand hält. Vor einiger Zeit hatte er sogar die Frechheit, vorzuschlagen, dass seine Tochter Jürgen heiraten solle", sagte Brunhilde und erwartete Ottos verächtliche Antwort.
    
  "Damit könnten all unsere Probleme gelöst werden."
    
  Brunhildes steinernes Lächeln riss leicht auf, als sie den Baron schockiert ansah.
    
  Sie standen am Eingang der Halle, ihr angespanntes Gespräch nur gedämpft zwischen zusammengebissenen Zähnen zu hören und nur unterbrochen, wenn sie innehielten, um Gäste zu empfangen. Brunhilda wollte gerade antworten, musste aber stattdessen erneut eine freundliche Grimasse aufsetzen.
    
  "Guten Abend, Frau Gerngross, Frau Sagebel! Wie schön, dass Sie gekommen sind."
    
  "Es tut mir leid, dass wir zu spät sind, Brunhilda, meine Liebe."
    
  "Brücken, oh Brücken."
    
  "Ja, der Verkehr ist einfach furchtbar. Wirklich, monströs."
    
  "Wann wirst du dieses kalte, alte Herrenhaus verlassen und an die Ostküste ziehen, meine Liebe?"
    
  Die Baronin lächelte zufrieden über ihren Anflug von Neid. Jeder der vielen Neureichen auf der Party hätte alles dafür gegeben, den Status und die Macht zu besitzen, die das Wappen ihres Mannes ausstrahlte.
    
  "Bitte schenken Sie sich ein Glas Punsch ein. Er ist köstlich", sagte Brunhilde und deutete in die Mitte des Raumes, wo ein riesiger, von Menschen umringter Tisch mit Speisen und Getränken reichlich beladen war. Ein meterhohes Eispferd ragte über die Punschbowle, und im hinteren Teil des Raumes trug ein Streichquartett mit beliebten bayerischen Liedern zum allgemeinen Stimmengewirr bei.
    
  Als sie sicher war, dass die Neuankömmlinge außer Hörweite waren, wandte sich die Gräfin an Otto und sagte in einem stählernen Ton, den wohl nur sehr wenige Damen der Münchner High Society akzeptabel gefunden hätten:
    
  "Du hast die Hochzeit unserer Tochter arrangiert, ohne mich auch nur zu informieren, Otto? Das kommt nicht in Frage."
    
  Der Baron zuckte nicht mit der Wimper. Ein Vierteljahrhundert Ehe hatte ihn gelehrt, wie seine Frau reagierte, wenn sie sich gekränkt fühlte. Doch in diesem Fall musste sie nachgeben, denn es stand viel mehr auf dem Spiel als ihr törichter Stolz.
    
  "Brünnhilde, meine Liebe, sag mir nicht, du hättest diesen Juden nicht von Anfang an kommen sehen. In seinen angeblich eleganten Anzügen, jeden Sonntag in dieselbe Kirche wie wir, tut er so, als höre er nicht, wenn er als ‚Konvertit" bezeichnet wird, und schleicht sich zu unseren Plätzen..."
    
  "Natürlich ist mir das aufgefallen. Ich bin ja nicht dumm."
    
  "Natürlich nicht, Baronin. Sie sind durchaus in der Lage, sich den Rest zu denken. Und wir haben keinen Cent mehr. Die Bankkonten sind völlig leer."
    
  Brunhilde verlor die Farbe aus den Wangen. Sie musste sich an der Alabasterleiste an der Wand festhalten, um nicht zu fallen.
    
  "Verdammt seist du, Otto."
    
  "Dieses rote Kleid, das du trägst ... Die Schneiderin bestand darauf, bar bezahlt zu werden. Das sprach sich herum, und wenn Gerüchte erst einmal im Umlauf sind, lassen sie sich nicht mehr aufhalten, bis man am Ende im Dreck landet."
    
  "Glaubst du, ich weiß das nicht? Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, wie sie uns ansehen, wie sie kleine Bissen von ihren Kuchen nehmen und sich gegenseitig angrinsen, wenn sie merken, dass sie nicht von Casa Popp sind? Ich kann das Gemurmel dieser alten Weiber so deutlich hören, als würden sie mir ins Ohr schreien, Otto. Aber von dem dazu zu kommen, dass mein Sohn, mein Jürgen, eine dreckige Jüdin heiratet ..."
    
  "Es gibt keine andere Lösung. Uns bleiben nur noch das Haus und unser Land, das ich Eduard zu seinem Geburtstag überschrieben habe. Wenn ich Tannenbaum nicht überzeugen kann, mir das nötige Kapital für eine Fabrik auf diesem Land zu leihen, können wir es gleich aufgeben. Eines Morgens wird die Polizei mich holen, und dann muss ich mich wie ein anständiger Christ verhalten und mir eine Kugel in den Kopf jagen. Und du endest wie deine Schwester und arbeitest für jemand anderen. Willst du das wirklich?"
    
  Brunhilde nahm die Hand von der Wand. Sie nutzte die durch die Neuankömmlinge entstandene Pause, um ihre Kraft zu sammeln und sie dann wie einen Stein nach Otto zu schleudern.
    
  "Du und deine Spielsucht haben uns in diese Misere gebracht, das Familienvermögen zerstört. Komm damit klar, Otto, genau wie du es vor vierzehn Jahren mit Hans gemacht hast."
    
  Der Baron wich schockiert einen Schritt zurück.
    
  "Wage es nicht, diesen Namen noch einmal zu erwähnen!"
    
  "Du warst es, die damals den Mut hatte, etwas zu unternehmen. Und was hat es uns gebracht? Ich musste vierzehn Jahre lang ertragen, dass meine Schwester in diesem Haus lebte."
    
  "Ich habe den Brief immer noch nicht gefunden. Und der Junge wird größer. Vielleicht jetzt ..."
    
  Brunhilde beugte sich zu ihm vor. Otto war fast einen Kopf größer, wirkte aber neben seiner Frau dennoch klein.
    
  "Meine Geduld hat Grenzen."
    
  Mit einer eleganten Handbewegung tauchte Brunhilda in die Gästeschar ein und ließ den Baron mit einem erstarrten Lächeln zurück, der sich mit aller Kraft bemühte, nicht zu schreien.
    
  Quer durch den Raum stellte Jürgen von Schroeder sein drittes Glas Champagner ab, um ein Geschenk zu öffnen, das ihm einer seiner Freunde überreichte.
    
  "Ich wollte es nicht zu den anderen legen", sagte der Junge und deutete hinter sich auf einen Tisch voller bunter Päckchen. "Dieses hier ist etwas Besonderes."
    
  "Was meint ihr, Leute? Soll ich Krons Geschenk zuerst öffnen?"
    
  Ein halbes Dutzend Teenager drängten sich um ihn, alle in schicken blauen Blazern mit dem Emblem der Metzinger Akademie. Sie stammten allesamt aus guten deutschen Familien, waren alle weniger attraktiv und kleiner als Jürgen und lachten über jeden seiner Witze. Der junge Sohn des Barons hatte ein Händchen dafür, sich mit Leuten zu umgeben, die ihn nicht in den Schatten stellten und vor denen er prahlen konnte.
    
  "Mach das auf, aber nur, wenn du meins auch öffnest!"
    
  "Und meins!", riefen die anderen im Chor.
    
  "Sie drängen mich dazu, ihre Geschenke zu öffnen", dachte Jürgen. "Sie verehren mich."
    
  "Keine Sorge", sagte er und hob die Hände, vermutlich um Unparteilichkeit zu signalisieren. "Wir brechen mit der Tradition, und ich werde zuerst Ihre Geschenke öffnen, dann die der anderen Gäste nach den Trinksprüchen."
    
  "Tolle Idee, Jürgen!"
    
  "Nun denn, was könnte es sein, Kron?", fuhr er fort, öffnete eine kleine Schachtel und hielt deren Inhalt auf Augenhöhe.
    
  Jürgen hielt eine Goldkette in den Fingern, an der ein seltsames Kreuz hing, dessen geschwungene Arme ein nahezu quadratisches Muster bildeten. Er starrte es wie gebannt an.
    
  "Das ist ein Hakenkreuz. Ein antisemitisches Symbol. Mein Vater sagt, die sind in Mode."
    
  "Da irrst du dich, mein Freund", sagte Jürgen und legte es sich um den Hals. "Jetzt schon. Ich hoffe, wir sehen noch viele davon."
    
  "Definitiv!"
    
  "Hier, Jürgen, mach meine auf. Obwohl es besser ist, sie nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen..."
    
  Jürgen packte das tabakgroße Päckchen aus und starrte auf eine kleine Lederbox. Er öffnete sie mit einer schwungvollen Geste. Seine Bewunderer lachten nervös, als sie sahen, was sich darin befand: eine zylindrische Kappe aus vulkanisiertem Gummi.
    
  "Hey, hey... das sieht ja riesig aus!"
    
  "So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen!"
    
  "Ein Geschenk von höchst persönlicher Natur, nicht wahr, Jürgen?"
    
  "Ist das eine Art Heiratsantrag?"
    
  Einen Moment lang hatte Jürgen das Gefühl, die Kontrolle über sie zu verlieren, als würden sie ihn plötzlich auslachen. Das ist nicht fair. Das ist absolut nicht fair, und ich werde es nicht zulassen. Wut stieg in ihm auf, und er wandte sich demjenigen zu, der die letzte Bemerkung gemacht hatte. Er stellte seine rechte Fußsohle auf den linken Fuß des anderen und verlagerte sein ganzes Gewicht darauf. Sein Opfer erbleichte, biss aber die Zähne zusammen.
    
  "Ich bin sicher, Sie möchten sich für diesen unglücklichen Witz entschuldigen?"
    
  "Natürlich, Jürgen... es tut mir leid... ich würde nie im Traum daran denken, deine Männlichkeit in Frage zu stellen."
    
  "Das dachte ich mir schon", sagte Jürgen und hob langsam sein Bein. Die Jungengruppe verstummte, eine Stille, die durch den Lärm der Party noch verstärkt wurde. "Also, ich will nicht, dass ihr denkt, ich sei humorlos. Tatsächlich wird mir dieses ... Ding äußerst nützlich sein", sagte er mit einem Augenzwinkern. "Zum Beispiel mit ihr."
    
  Er deutete auf ein großes, dunkelhaariges Mädchen mit verträumten Augen, das mitten in der Menge ein Glas Punsch in der Hand hielt.
    
  "Schöne Titten", flüsterte einer seiner Assistenten.
    
  "Will jemand von euch wetten, dass ich die Premiere schaffe und rechtzeitig zum Anstoßen zurück bin?"
    
  "Ich wette fünfzig Mark auf Jürgen", sah sich derjenige, dessen Fuß zertreten worden war, genötigt zu sagen.
    
  "Ich nehme die Wette an", sagte ein anderer hinter ihm.
    
  "Nun, meine Herren, warten Sie einfach hier ab und schauen Sie zu; vielleicht lernen Sie ja etwas."
    
  Jürgen schluckte leise und hoffte, niemand würde es bemerken. Er hasste es, mit Mädchen zu reden, da sie ihm immer ein Gefühl der Unbeholfenheit und Unzulänglichkeit vermittelten. Obwohl er gut aussah, hatte er nur in einem Bordell in Schwabing Kontakt zum anderen Geschlecht gehabt, wo er mehr Scham als Aufregung empfunden hatte. Sein Vater hatte ihn einige Monate zuvor dorthin mitgenommen, unauffällig gekleidet in einen schwarzen Mantel und Hut. Während er seinen Geschäften nachging, wartete sein Vater unten und nippte an seinem Cognac. Als er ausgetrunken hatte, klopfte er seinem Sohn auf die Schulter und sagte ihm, er sei nun ein Mann. Das war der Anfang und das Ende von Jürgen von Schröders Lektionen in Sachen Frauen und Liebe.
    
  "Ich werde ihnen zeigen, wie sich ein echter Mann verhält", dachte der Junge, während er die Blicke seiner Kameraden im Nacken spürte.
    
  "Guten Tag, Fräulein. Amüsieren Sie sich?"
    
  Sie drehte den Kopf, lächelte aber nicht.
    
  "Nicht wirklich. Kennen wir uns?"
    
  "Ich kann verstehen, warum es Ihnen nicht gefällt. Mein Name ist Jürgen von Schroeder."
    
    "Alice Tannenbaum", sagte sie und reichte ihm ohne große Begeisterung die Hand.
    
  "Willst du tanzen, Alice?"
    
  "NEIN".
    
  Die scharfe Antwort des Mädchens schockierte Jürgen.
    
  "Wisst ihr, dass ich diese Party veranstalte? Ich habe heute Geburtstag."
    
  "Herzlichen Glückwunsch", sagte sie sarkastisch. "Zweifellos wimmelt es in diesem Raum von Mädchen, die unbedingt von Ihnen zum Tanzen aufgefordert werden wollen. Ich möchte Sie nicht unnötig aufhalten."
    
  "Aber du musst wenigstens einmal mit mir tanzen."
    
  "Ach, wirklich? Und warum ist das so?"
    
  "So gehorchen die guten Manieren. Wenn ein Gentleman eine Dame fragt ..."
    
  "Weißt du, was mich an arroganten Leuten am meisten ärgert, Jürgen? Wie viele Dinge ihr für selbstverständlich haltet. Nun, du solltest wissen: Die Welt ist nicht so, wie du sie siehst. Übrigens, deine Freunde kichern und können den Blick nicht von dir abwenden."
    
  Jürgen blickte sich um. Er durfte nicht scheitern, er durfte sich von diesem unverschämten Mädchen nicht demütigen lassen.
    
  Sie gibt sich rar, weil sie mich wirklich mag. Sie muss eine von diesen Frauen sein, die glauben, man könne einen Mann am besten anmachen, indem man ihn so lange abweist, bis er verrückt wird. Na ja, ich weiß, wie ich mit ihr umgehen muss, dachte er.
    
  Jürgen trat vor, packte das Mädchen an der Taille und zog sie zu sich heran.
    
  "Was zum Teufel glaubst du, was du da tust?", keuchte sie.
    
  "Ich bringe dir das Tanzen bei."
    
  "Wenn Sie mich jetzt nicht gehen lassen, schreie ich."
    
  "Du willst jetzt doch keine Szene machen, oder, Alice?"
    
  Die junge Frau versuchte, ihre Arme zwischen sich und Jürgen zu schieben, doch sie war seiner Kraft nicht gewachsen. Der Baronssohn drückte sie noch enger an sich und spürte ihre Brüste durch das Kleid. Er begann sich im Rhythmus der Musik zu bewegen, ein Lächeln auf den Lippen, wissend, dass Alice nicht schreien würde. Auf einem Fest wie diesem Aufruhr zu machen, würde nur ihrem Ruf und dem ihrer Familie schaden. Er sah, wie sich die Augen der jungen Frau mit kaltem Hass füllten, und plötzlich erschien es ihm äußerst amüsant, mit ihr zu spielen, weitaus befriedigender, als wenn sie einfach zugestimmt hätte, mit ihm zu tanzen.
    
  "Möchten Sie etwas trinken, Fräulein?"
    
  Jürgen blieb abrupt stehen. Paul stand neben ihm, hielt ein Tablett mit mehreren Champagnergläsern und hatte die Lippen fest zu einem schmalen Strich gepresst.
    
  "Hallo, das ist mein Cousin, der Kellner. Hau ab, du Idiot!", bellte Jürgen.
    
  "Zuerst möchte ich wissen, ob die junge Dame etwas trinken möchte", sagte Paul und reichte ihm das Tablett.
    
  "Ja", sagte Alice schnell, "dieser Champagner sieht fantastisch aus."
    
  Jürgen schloss die Augen halb und überlegte, was er tun sollte. Wenn er ihre rechte Hand losließ, damit sie das Glas vom Tablett nehmen konnte, würde sie sich ganz losreißen können. Er lockerte den Druck auf ihren Rücken ein wenig, sodass ihre linke Hand frei wurde, drückte ihre rechte aber noch fester. Ihre Fingerspitzen färbten sich violett.
    
  "Na komm schon, Alice, trink ein Glas. Man sagt, es macht glücklich", fügte er hinzu und tat so, als ob er gut gelaunt wäre.
    
  Alice beugte sich zum Tablett vor, um sich zu befreien, aber es war vergeblich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Champagner mit der linken Hand zu nehmen.
    
  "Danke", sagte sie schwach.
    
  "Vielleicht möchte die junge Dame eine Serviette", sagte Paul und hob die andere Hand, in der er eine Untertasse mit kleinen Stoffquadraten hielt. Er rückte so weit zur Seite, dass er nun auf der anderen Seite des Paares stand.
    
  "Das wäre wunderbar", sagte Alice und blickte den Sohn des Barons aufmerksam an.
    
  Einige Sekunden lang rührte sich niemand. Jürgen analysierte die Lage. Alice hielt das Glas in der linken Hand und konnte die Serviette nur mit der rechten nehmen. Schließlich, vor Wut kochend, musste er den Kampf aufgeben. Er ließ Alices Hand los, und sie trat zurück und nahm die Serviette.
    
  "Ich glaube, ich gehe mal kurz an die frische Luft", sagte sie mit bemerkenswerter Gelassenheit.
    
  Jürgen, als wolle er sie zurückweisen, drehte ihr den Rücken zu und ging zurück zu seinen Freunden. Als er an Paul vorbeiging, drückte er ihm die Schulter und flüsterte:
    
  "Das wirst du bezahlen."
    
  Irgendwie gelang es Paul, die Champagnergläser auf dem Tablett im Gleichgewicht zu halten; sie klangen, kippten aber nicht um. Sein inneres Gleichgewicht war eine ganz andere Sache, und in diesem Moment fühlte er sich wie eine Katze, die in einem Nagelfass gefangen ist.
    
  Wie konnte ich nur so dumm sein?
    
  Es gab nur eine Regel in seinem Leben: Halte dich so weit wie möglich von Jürgen fern. Das war nicht einfach, da sie beide unter einem Dach wohnten; aber zumindest war es unkompliziert. Er konnte nicht viel tun, wenn sein Cousin ihm das Leben zur Hölle machen wollte, aber er konnte ihm sicherlich aus dem Weg gehen, geschweige denn ihn öffentlich demütigen. Das würde ihn teuer zu stehen kommen.
    
  "Danke schön".
    
  Paul blickte auf und vergaß für einen Augenblick alles: seine Angst vor Jürgen, das schwere Tablett, den Schmerz in seinen Fußsohlen vom zwölf Stunden andauernden Vorbereiten der Party. Alles verschwand, denn sie lächelte ihn an.
    
  Alice war nicht der Typ Frau, der einem auf den ersten Blick den Atem raubte. Aber hätte man sie ein zweites Mal angesehen, wäre es wohl ein langer Blick gewesen. Ihre Stimme hatte etwas Betörendes. Und wenn sie einen so angelächelt hätte, wie sie Paul in diesem Moment angelächelt hatte ...
    
  Es war unmöglich, dass Paul sich nicht in sie verlieben würde.
    
  "Ach... es war nichts."
    
  Sein Leben lang verfluchte Paul diesen Moment, dieses Gespräch, dieses Lächeln, das ihm so viel Kummer bereitet hatte. Doch damals bemerkte er es nicht, und sie auch nicht. Sie war dem kleinen, schmächtigen Jungen mit den intelligenten blauen Augen aufrichtig dankbar. Und dann war Alice natürlich wieder ganz die Alte.
    
  "Glaubt ja nicht, ich könnte ihn nicht auch alleine loswerden."
    
  "Natürlich", sagte Paul, immer noch etwas unsicher auf den Beinen.
    
  Alice blinzelte; sie war einen so leichten Sieg nicht gewohnt, also wechselte sie das Thema.
    
  "Wir können hier nicht reden. Warte kurz, dann triff mich in der Umkleidekabine."
    
  "Mit großem Vergnügen, Fräulein."
    
  Paul ging im Raum umher und versuchte, sein Tablett so schnell wie möglich zu leeren, um einen Vorwand zu haben, zu verschwinden. Er hatte zu Beginn der Feier Gespräche belauscht und war überrascht, wie wenig Beachtung ihm die Leute schenkten. Er war tatsächlich unsichtbar, weshalb er es seltsam fand, als der letzte Gast, der sich ein Glas nahm, lächelte und sagte: "Gut gemacht, mein Junge."
    
  "Es tut mir Leid?"
    
  Er war ein älterer Mann mit grauem Haar, einem Spitzbart und abstehenden Ohren. Er warf Paul einen seltsamen, vielsagenden Blick zu.
    
  "Nie hat ein Gentleman eine Dame mit solch galanter Höflichkeit und Diskretion gerettet. Dies ist Chrétien de Troyes. Ich bitte um Verzeihung. Mein Name ist Sebastian Keller, Buchhändler."
    
  "Freut mich, Sie kennenzulernen."
    
  Der Mann zeigte mit dem Daumen in Richtung Tür.
    
  "Du solltest dich beeilen. Sie wird warten."
    
  Überrascht klemmte Paul das Tablett unter den Arm und verließ den Raum. Die Garderobe befand sich am Eingang und bestand aus einem hohen Tisch und zwei riesigen Rollregalen, an denen Hunderte von Mänteln der Gäste hingen. Das Mädchen hatte ihren Mantel von einer der Bediensteten abgeholt, die die Baronin für die Feier engagiert hatte, und wartete an der Tür auf ihn. Sie reichte ihm nicht die Hand, als sie sich vorstellte.
    
  "Alys Tannenbaum."
    
  "Paul Reiner."
    
  "Ist er wirklich dein Cousin?"
    
  "Leider ist es so."
    
  "Du siehst einfach nicht so aus..."
    
  "Der Neffe des Barons?", fragte Paul und deutete auf seine Schürze. "Das ist die neueste Pariser Mode."
    
  "Ich meine, du siehst ihm nicht ähnlich."
    
  "Das liegt daran, dass ich nicht so bin wie er."
    
  "Das freut mich zu hören. Ich wollte mich nur noch einmal bedanken. Alles Gute, Paul Rainer."
    
  "Sicherlich".
    
  Sie legte die Hand auf die Tür, doch bevor sie sie öffnete, drehte sie sich schnell um und küsste Paul auf die Wange. Dann rannte sie die Stufen hinunter und verschwand. Einen Augenblick lang suchte er ängstlich die Straße ab, als könnte sie zurückkommen, ihren Weg zurückverfolgen. Schließlich schloss er die Tür, lehnte die Stirn gegen den Rahmen und seufzte.
    
  Sein Herz und sein Magen fühlten sich schwer und seltsam an. Er konnte dem Gefühl keinen Namen geben, also entschied er mangels eines besseren Begriffs - und das zu Recht -, dass es Liebe war, und er war glücklich.
    
  "Der Ritter in glänzender Rüstung hat also seine Belohnung erhalten, nicht wahr, Jungs?"
    
  Als Paul die Stimme hörte, die er so gut kannte, drehte er sich so schnell wie möglich um.
    
  Das Gefühl schlug augenblicklich von Glück in Angst um.
    
    
  5
    
    
  Da waren sie, es waren sieben.
    
  Sie standen in einem weiten Halbkreis am Eingang und versperrten den Weg in die Haupthalle. Jürgen befand sich in der Mitte der Gruppe, etwas voraus, als ob er es kaum erwarten konnte, zu Paul zu gelangen.
    
  "Diesmal bist du zu weit gegangen, Cousin. Ich mag keine Leute, die ihren Platz im Leben nicht kennen."
    
  Paul schwieg, denn er wusste, dass nichts, was er sagte, etwas ändern würde. Wenn es etwas gab, das Jürgen nicht ertragen konnte, dann war es Demütigung. Dass sie öffentlich, vor all seinen Freunden - und durch die Hand seines armen, stummen Cousins, des Dieners, des schwarzen Schafs der Familie - geschehen musste, war für ihn unfassbar. Jürgen war fest entschlossen, Paul so sehr wie möglich zu verletzen. Je mehr - und je auffälliger -, desto besser.
    
  "Nach dieser Erfahrung wirst du nie wieder Ritter spielen wollen, du Dreckskerl."
    
  Paul blickte sich verzweifelt um. Die Garderobenaufsicht war verschwunden, zweifellos auf Geheiß des Geburtstagskindes. Jürgens Freunde hatten sich im Flur verteilt, versperrten jeden Fluchtweg und näherten sich ihm langsam. Würde er sich umdrehen und versuchen, die Tür zur Straße zu öffnen, würden sie ihn von hinten packen und zu Boden ringen.
    
  "Du zitterst ja!", rief Jürgen.
    
  Paul schloss den Korridor zu den Bedienstetenquartieren aus, der praktisch eine Sackgasse war und der einzige Weg, den sie ihm noch offen gelassen hatten. Obwohl er noch nie in seinem Leben gejagt hatte, kannte Paul die Geschichte, wie sein Onkel alle Kopien, die an seiner Arbeitszimmerwand hingen, eingepackt hatte, nur zu gut. Jürgen wollte ihn zwingen, diesen Weg zu gehen, denn dort unten würde niemand seine Schreie hören.
    
  Es gab nur eine Möglichkeit.
    
  Ohne eine Sekunde zu zögern, rannte er direkt auf sie zu.
    
  Jürgen war so überrascht, Paul auf sich zustürmen zu sehen, dass er im Vorbeigehen nur den Kopf drehte. Kron, zwei Meter hinter ihm, hatte etwas mehr Zeit zu reagieren. Er stellte beide Füße fest auf den Boden und holte zum Schlag gegen den Jungen aus, der auf ihn zugerannt kam. Doch bevor Kron ihn im Gesicht treffen konnte, warf sich Paul zu Boden. Er landete auf der linken Hüfte und trug zwei Wochen lang einen blauen Fleck davon. Durch seinen Schwung glitt er jedoch wie Butter über einen Spiegel über die polierten Marmorfliesen und kam schließlich am Fuß der Treppe zum Stehen.
    
  "Worauf wartet ihr Idioten? Nehmt ihn!", rief Jürgen gereizt.
    
  Ohne sich umzudrehen, sprang Paul auf und rannte die Treppe hinauf. Er war ratlos, nur sein Überlebensinstinkt trieb ihn noch an. Seine Beine, die ihm schon den ganzen Tag Probleme bereitet hatten, schmerzten nun unerträglich. Auf halber Höhe der Treppe zum zweiten Stock wäre er beinahe gestolpert und gestürzt, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig wieder fangen, als einer von Jürgens Freunden seine Fersen packte. Er klammerte sich an das bronzene Geländer und kletterte immer höher, bis er auf der letzten Stufe zwischen dem dritten und vierten Stock plötzlich ausrutschte und mit ausgestreckten Armen stürzte. Beinahe schlug er sich die Zähne an der Treppenkante aus.
    
  Der erste seiner Verfolger holte ihn ein, doch dieser stolperte im entscheidenden Moment und konnte sich gerade noch an der Kante von Pauls Schürze festhalten.
    
  "Ich hab ihn! Schnell!", sagte sein Entführer und packte mit der anderen Hand das Geländer.
    
  Paul versuchte aufzustehen, doch ein anderer Junge zerrte an seiner Schürze, sodass er die Stufe hinunterrutschte und sich den Kopf stieß. Blindlings trat er nach dem Jungen, konnte sich aber nicht befreien. Paul kämpfte gefühlt ewig mit dem Knoten in seiner Schürze und hörte dabei die anderen näherkommen.
    
  Verdammt, warum musste ich das so erzwungen tun?, dachte er, während er sich abmühte.
    
  Plötzlich fanden seine Finger genau die richtige Stelle, an der sie ziehen mussten, und die Schürze löste sich. Paul rannte los und erreichte das vierte und oberste Stockwerk des Hauses. Da er nirgendwo anders hin konnte, rannte er durch die erste Tür, die ihm in die Quere kam, und schloss sie mit einem lauten Knall.
    
  "Wo ist er hin?", rief Jürgen, als er den Treppenabsatz erreichte. Der Junge, der Paul an der Schürze gepackt hatte, hielt sich nun das verletzte Knie. Er deutete nach links im Flur.
    
  "Vorwärts!", rief Jürgen den anderen zu, die ein paar Schritte weiter unten stehen geblieben waren.
    
  Sie haben sich nicht bewegt.
    
  "Was zum Teufel bist du..."
    
  Er blieb abrupt stehen. Seine Mutter beobachtete ihn vom Stockwerk darunter.
    
  "Ich bin enttäuscht von dir, Jürgen", sagte sie eisig. "Wir haben die Crème de la Crème Münchens zu deiner Geburtstagsfeier zusammengetrommelt, und dann verschwindest du mitten in der Party, um mit deinen Freunden auf der Treppe herumzualbern."
    
  "Aber..."
    
  "Das reicht. Ich möchte, dass Sie alle sofort nach unten kommen und sich zu den Gästen gesellen. Wir sprechen später weiter."
    
  "Ja, Mama", sagte Jürgen, zum zweiten Mal an diesem Tag vor seinen Freunden gedemütigt. Zähneknirschend ging er die Treppe hinunter.
    
  Das ist nicht das Einzige, was später passieren wird. Auch dafür wirst du bezahlen, Paul.
    
    
  6
    
    
  "Schön, dich wiederzusehen."
    
  Paul konzentrierte sich darauf, sich zu beruhigen und wieder zu Atem zu kommen. Es dauerte einen Moment, bis er herausfinden konnte, woher die Stimme kam. Er saß auf dem Boden, den Rücken an die Tür gelehnt, und fürchtete, Jürgen könnte jeden Moment hereinplatzen. Doch als er die Worte hörte, sprang Paul auf.
    
  "Edward!"
    
  Ohne es zu merken, war er in das Zimmer seines älteren Cousins geraten, ein Ort, den er seit Monaten nicht mehr betreten hatte. Alles sah genauso aus wie vor Edwards Abreise: ein ordentlicher, ruhiger Raum, der aber die Persönlichkeit seines Besitzers widerspiegelte. Poster hingen an der Wand, neben Edwards Steinsammlung und vor allem Bücher - überall Bücher. Paul hatte die meisten davon bereits gelesen. Spionageromane, Western, Fantasy-Romane, Bücher über Philosophie und Geschichte ... Sie füllten die Bücherregale, den Schreibtisch und sogar den Boden neben dem Bett. Edward musste das Buch, das er las, auf die Matratze legen, um mit seiner einzigen Hand die Seiten umblättern zu können. Ein paar Kissen lagen unter seinem Körper, damit er aufrecht sitzen konnte, und ein trauriges Lächeln huschte über sein blasses Gesicht.
    
  "Hab kein Mitleid mit mir, Paul. Ich konnte es nicht ertragen."
    
  Paul blickte ihm in die Augen und erkannte, dass Edward seine Reaktion genau beobachtet hatte, und er fand es seltsam, dass Paul nicht überrascht war, ihn so zu sehen.
    
  "Ich habe dich schon einmal gesehen, Edward. An dem Tag, als du zurückkamst."
    
  "Warum hast du mich also nie besucht? Ich habe seit meiner Rückkehr kaum jemanden gesehen, außer deiner Mutter. Deine Mutter und meine Freunde May, Salgari, Verne und Dumas", sagte er und hielt das Buch, das er las, hoch, damit Paul den Titel sehen konnte. Es war "Der Graf von Monte Christo".
    
  "Sie haben mir verboten zu kommen."
    
  Paul senkte beschämt den Kopf. Brunhilda und seine Mutter hatten ihm zwar verboten, Edward zu sehen, aber er konnte es wenigstens versuchen. In Wahrheit fürchtete er sich davor, Edward nach den schrecklichen Ereignissen des Tages seiner Rückkehr aus dem Krieg wieder in einem solchen Zustand zu sehen. Edward blickte ihn bitter an und verstand zweifellos, was Paul dachte.
    
  "Ich weiß, wie peinlich meine Mutter ist. Ist dir das etwa nicht aufgefallen?", sagte er und deutete auf das Tablett mit den Kuchen von der Party, das unberührt geblieben war. "Ich hätte Jürgens Geburtstag nicht durch meine Stümpfe ruinieren sollen, deshalb wurde ich nicht eingeladen. Wie läuft die Party eigentlich so?"
    
  "Da ist eine Gruppe von Leuten, die trinken, über Politik reden und das Militär dafür kritisieren, dass es einen Krieg verloren hat, den wir eigentlich gewinnen wollten."
    
  Edward schnaubte.
    
  "Von ihrem Standpunkt aus ist es leicht, Kritik zu üben. Was sollen sie denn sonst sagen?"
    
  "Alle reden über die Versailler Verhandlungen. Sie freuen sich, dass wir die Bedingungen ablehnen."
    
  "Verdammte Narren", sagte Eduard verbittert. "Weil niemand auf deutschem Boden einen einzigen Schuss abgefeuert hat, können sie nicht glauben, dass wir den Krieg verloren haben. Aber ich nehme an, es ist immer dasselbe. Wollt ihr mir jetzt endlich sagen, vor wem ihr geflohen seid?"
    
  "Geburtstagskind".
    
  "Deine Mutter hat mir erzählt, dass ihr euch nicht besonders gut verstanden habt."
    
  Paul nickte.
    
  "Du hast die Kuchen nicht angerührt."
    
  "Ich brauche heutzutage nicht mehr viel zu essen. Ich bin ja nicht mehr so stark. Nimm das; komm schon, du siehst hungrig aus. Und komm näher, ich möchte dich genauer betrachten. Mein Gott, wie du gewachsen bist."
    
  Paul setzte sich auf die Bettkante und verschlang gierig das Essen. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen; er hatte sogar die Schule geschwänzt, um sich auf die Party vorzubereiten. Er wusste, dass seine Mutter ihn suchen würde, aber das war ihm egal. Jetzt, wo er seine Angst überwunden hatte, konnte er sich diese Gelegenheit, mit Edward, seinem Cousin, den er so sehr vermisst hatte, zusammen zu sein, nicht entgehen lassen.
    
  "Eduard, ich möchte... Es tut mir leid, dass ich dich nicht besuchen konnte. Ich könnte mich tagsüber heimlich vorbeischleichen, wenn Tante Brunhilda spazieren geht..."
    
  "Schon gut, Paul. Du bist da, und das ist es, was zählt. Du bist derjenige, der mir verzeihen sollte, dass ich nicht geschrieben habe. Ich habe es versprochen."
    
  "Was hat Sie aufgehalten?"
    
  "Ich könnte Ihnen sagen, ich sei zu sehr damit beschäftigt gewesen, auf die Engländer zu schießen, aber das wäre gelogen. Ein weiser Mann sagte einmal, Krieg bestehe zu sieben Teilen aus Langeweile und zu einem Teil aus Schrecken. Wir hatten in den Schützengräben reichlich Zeit, bevor wir anfingen, uns gegenseitig umzubringen."
    
  "Und was?"
    
  "Ich hätte das nicht gekonnt, einfach so. Nicht einmal zu Beginn dieses absurden Krieges. Die einzigen, die davon zurückgekehrt sind, waren eine Handvoll Feiglinge."
    
  "Wovon redest du, Eduard? Du bist ein Held! Du hast dich freiwillig an die Front gemeldet, als einer der Ersten!"
    
  Edward stieß ein unmenschliches Lachen aus, das Paul die Haare zu Berge stehen ließ.
    
  "Held ... Weißt du, wer für dich entscheidet, ob du dich freiwillig meldest? Dein Lehrer, wenn er dir von der Herrlichkeit des Vaterlandes, des Reiches und des Kaisers erzählt. Dein Vater, der dir sagt, du sollst ein Mann sein. Deine Freunde - dieselben Freunde, die sich vor nicht allzu langer Zeit im Sportunterricht mit dir darüber gestritten haben, wer der Größte ist. Sie alle beschimpfen dich als Feigling, wenn du auch nur den geringsten Zweifel zeigst, und geben dir die Schuld an der Niederlage. Nein, mein Lieber, im Krieg gibt es keine Freiwilligen, nur Dumme und Grausame. Die bleiben zu Hause."
    
  Paul war wie gelähmt. Plötzlich erschienen ihm seine Kriegsfantasien, die Karten in seinen Notizbüchern, die Zeitungsberichte, die er so gern gelesen hatte - alles lächerlich und kindisch. Er überlegte, seinem Cousin davon zu erzählen, aber er fürchtete, Edward würde ihn auslachen und aus dem Zimmer werfen. Denn in diesem Moment sah Paul den Krieg, direkt vor sich. Der Krieg war nicht eine endlose Liste von Vorstößen hinter den feindlichen Linien oder schreckliche, unter Laken versteckte Baumstümpfe. Der Krieg lag in Edwards leeren, verzweifelten Augen.
    
  "Du hättest Widerstand leisten können. Zu Hause bleiben können."
    
  "Nein, das konnte ich nicht", sagte er und wandte den Blick ab. "Ich habe dich angelogen, Paul; zumindest war es teilweise eine Lüge. Ich bin auch gegangen, um ihnen zu entkommen. Damit ich nicht so werde wie sie."
    
  "Zum Beispiel, wer?"
    
  "Weißt du, wer mir das angetan hat? Es war etwa fünf Wochen vor Kriegsende, und wir wussten bereits, dass wir verloren waren. Wir wussten, dass sie uns jeden Moment zurückrufen würden. Und wir waren zuversichtlicher denn je. Wir machten uns keine Sorgen um die Menschen, die in unserer Nähe fielen, weil wir wussten, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis wir zurück wären. Und dann, eines Tages während des Rückzugs, schlug eine Granate zu nah ein."
    
  Edwards Stimme war leise - so leise, dass Paul sich vorbeugen musste, um zu hören, was er sagte.
    
  "Ich habe mich tausendmal gefragt, was passiert wäre, wenn ich zwei Meter nach rechts gelaufen wäre. Oder wenn ich stehen geblieben wäre und zweimal auf meinen Helm geklopft hätte, wie wir es immer taten, bevor wir den Schützengraben verließen." Er klopfte Paul mit den Knöcheln auf die Stirn. "Das gab uns ein Gefühl der Unbesiegbarkeit. Das habe ich an dem Tag nicht getan, weißt du?"
    
  "Ich wünschte, du wärst nie gegangen."
    
  "Nein, Cousin, glaub mir. Ich bin gegangen, weil ich nicht Schroeder sein wollte, und wenn ich zurückkäme, dann nur, um sicherzugehen, dass meine Entscheidung zu gehen richtig war."
    
  "Ich verstehe das nicht, Eduard."
    
  "Mein lieber Paulus, du solltest das besser verstehen als jeder andere. Nach dem, was sie dir angetan haben. Was sie deinem Vater angetan haben."
    
  Dieser letzte Satz traf Paul mitten ins Herz wie ein rostiger Haken.
    
  "Wovon redest du, Edward?"
    
  Sein Cousin sah ihn schweigend an und biss sich auf die Unterlippe. Schließlich schüttelte er den Kopf und schloss die Augen.
    
  "Vergiss, was ich gesagt habe. Tut mir leid."
    
  "Ich kann es nicht vergessen! Ich habe ihn nie kennengelernt, niemand spricht mit mir über ihn, obwohl hinter meinem Rücken getuschelt wird. Ich weiß nur, was meine Mutter mir erzählt hat: dass er mit seinem Schiff auf der Rückfahrt von Afrika untergegangen ist. Also, bitte sagen Sie mir, was haben sie meinem Vater angetan?"
    
  Es folgte erneut Stille, diesmal viel länger. So lange, dass Paul sich fragte, ob Edward eingeschlafen war. Plötzlich öffnete er wieder die Augen.
    
  "Ich werde dafür in der Hölle schmoren, aber ich habe keine Wahl. Zuerst möchte ich dich um einen Gefallen bitten."
    
  "Wie du meinst."
    
  "Geh in das Arbeitszimmer meines Vaters und öffne die zweite Schublade rechts. Falls sie verschlossen ist, befand sich der Schlüssel gewöhnlich in der mittleren Schublade. Dort findest du eine schwarze Ledertasche; sie ist rechteckig und die Klappe ist zurückgeklappt. Bring sie mir."
    
  Paul tat, wie ihm befohlen worden war. Er schlich auf Zehenspitzen ins Büro, aus Angst, jemandem zu begegnen, doch die Feier war noch in vollem Gange. Die Schublade war verschlossen, und es dauerte einen Moment, bis er den Schlüssel fand. Er lag nicht dort, wo Edward es gesagt hatte, aber schließlich entdeckte er ihn in einer kleinen Holzkiste. Die Schublade war voller Papiere. Auf der Rückseite fand Paul ein Stück schwarzen Filz mit einem seltsamen, in Gold eingravierten Symbol: ein Winkelmaß und ein Zirkel, in dem sich der Buchstabe G befand. Darunter lag ein Lederbeutel.
    
  Der Junge versteckte es unter seinem Hemd und ging zurück in Eduards Zimmer. Er spürte das Gewicht der Tasche auf seinem Bauch und zitterte bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn ihn jemand mit diesem fremden Gegenstand unter seiner Kleidung erwischen würde. Er verspürte eine ungeheure Erleichterung, als er das Zimmer betrat.
    
  "Hast du es?"
    
  Paul zog eine Ledertasche hervor und ging zum Bett, stolperte aber dabei über einen der im Zimmer verstreuten Bücherstapel. Die Bücher fielen um, und die Tasche landete auf dem Boden.
    
  "Nein!", riefen Edward und Paul gleichzeitig.
    
  Die Tasche fiel zwischen Exemplare von Mays "Blood Vengeance" und Hoffmans "The Devil's Elixirs" und gab ihren Inhalt preis: einen Perlmuttstift.
    
  Es war eine Pistole.
    
  "Wozu brauchst du eine Waffe, Cousin?", fragte Paul mit zitternder Stimme.
    
  "Du weißt, warum ich das will." Er hielt den Stumpf seines Arms hoch, falls Paul noch Zweifel hatte.
    
  "Nun, ich werde es dir nicht geben."
    
  "Hör gut zu, Paul. Früher oder später werde ich das überstehen, denn das Einzige, was ich auf dieser Welt will, ist, sie zu verlassen. Du kannst mir heute Abend den Rücken zukehren, sie dorthin zurückbringen, wo du sie hergebracht hast, und mich der schrecklichen Demütigung aussetzen, mich mitten in der Nacht mit diesem zerfetzten Arm zu Vaters Büro schleppen zu müssen. Aber dann wirst du nie erfahren, was ich dir zu sagen habe."
    
  "NEIN!"
    
  "Oder du lässt das hier auf dem Bett liegen, hörst dir an, was ich zu sagen habe, und gibst mir dann die Möglichkeit, in Würde zu entscheiden, wie ich gehe. Es ist deine Entscheidung, Paul, aber was auch immer geschieht, ich werde bekommen, was ich will. Was ich brauche."
    
  Paul ließ sich auf den Boden sinken, oder besser gesagt, er brach zusammen und umklammerte seine Ledertasche. Einen langen Moment lang war das einzige Geräusch im Zimmer das metallische Ticken von Eduards Wecker. Eduard schloss die Augen, bis er eine Bewegung auf seinem Bett spürte.
    
  Sein Cousin ließ die Ledertasche in seine Reichweite fallen.
    
  "Gott, vergib mir", sagte Paul. Er stand weinend an Edwards Bett, wagte es aber nicht, ihn direkt anzusehen.
    
  "Ach, es ist ihm egal, was wir tun", sagte Edward und strich mit den Fingern über die weiche Haut. "Danke, Cousin."
    
  "Sag mir, Edward. Sag mir, was du weißt."
    
  Der Verwundete räusperte sich, bevor er begann. Er sprach langsam, als müsse er jedes Wort mühsam aus seinen Lungen ziehen, anstatt es auszusprechen.
    
  "Es geschah 1905, wie man dir erzählte, und bis jetzt entspricht das, was du weißt, der Wahrheit. Ich erinnere mich noch genau, dass Onkel Hans auf einer Mission in Südwestafrika war, denn mir gefiel der Klang des Wortes, und ich wiederholte es immer wieder, um den richtigen Ort auf der Karte zu finden. Eines Nachts, ich war zehn Jahre alt, hörte ich Geschrei in der Bibliothek und ging hinunter, um nachzusehen. Ich war sehr überrascht, dass dein Vater uns so spät noch besuchte. Er besprach die Angelegenheit mit meinem Vater; die beiden saßen an einem runden Tisch. Zwei weitere Personen waren im Raum. Ich konnte einen von ihnen sehen, einen kleinen Mann mit zarten, mädchenhaften Gesichtszügen, der nichts sagte. Den anderen konnte ich wegen der Tür nicht sehen, aber ich konnte ihn hören. Ich wollte gerade hineingehen und deinen Vater begrüßen - er brachte mir immer Geschenke von seinen Reisen mit -, aber kurz bevor ich eintreten konnte, packte mich meine Mutter am Ohr und zerrte mich in mein Zimmer. ‚Haben sie dich gesehen?"" Sie fragte. Und ich sagte immer wieder nein. "Also, du darfst nie wieder ein Wort darüber verlieren, verstanden?" Und ich
    
  ... Ich habe geschworen, es niemals zu erzählen...
    
  Edwards Stimme verstummte. Paul ergriff seine Hand. Er wollte, dass er die Geschichte weitererzählte, koste es, was es wolle, obwohl er wusste, welchen Schmerz sie seinem Cousin zufügte.
    
  "Zwei Wochen später kamen du und deine Mutter zu uns. Du warst noch ein Kind, und ich freute mich, denn so hatte ich meine eigene kleine Truppe tapferer Soldaten zum Spielen. Ich dachte gar nicht an die offensichtliche Lüge meiner Eltern: dass Onkel Hans" Fregatte gesunken sei. Die Leute erzählten andere Dinge und verbreiteten Gerüchte, dein Vater sei ein Deserteur, der alles verspielt und sich in Afrika verdrückt habe. Diese Gerüchte waren genauso falsch, aber auch darüber dachte ich nicht nach und vergaß sie schließlich. Genauso wie ich vergaß, was ich kurz nach dem Verlassen meines Zimmers durch meine Mutter gehört hatte. Oder besser gesagt, ich tat so, als hätte ich mich vertan, obwohl ein Versehen unmöglich war, angesichts der hervorragenden Akustik in diesem Haus. Es war einfach, dir beim Aufwachsen zuzusehen, dein glückliches Lächeln beim Versteckspielen zu beobachten, und ich belog mich selbst. Dann wurdest du erwachsen - erwachsen genug, um es zu verstehen. Bald warst du so alt wie ich in jener Nacht. Und ich zog in den Krieg."
    
  "Also, sag mir, was du gehört hast", flüsterte Paul.
    
  "In jener Nacht, Cousin, hörte ich einen Schuss."
    
    
  7
    
    
  Pauls Selbstverständnis und sein Platz in der Welt hatten schon länger am Rande des Abgrunds gestanden, wie eine Porzellanvase am oberen Ende einer Treppe. Der letzte Satz war der Todesstoß, und die imaginäre Vase stürzte zu Boden und zersprang in tausend Stücke. Paul hörte das Knacken, und Edward sah es in seinem Gesicht.
    
  "Es tut mir leid, Paul. Gott steh mir bei. Du solltest jetzt besser gehen."
    
  Paul stand auf und beugte sich über das Bett. Die Haut seines Cousins war kühl, und als Paul ihm einen Kuss auf die Stirn gab, fühlte es sich an, als küsste er einen Spiegel. Er ging zur Tür, seine Beine kaum noch kontrollieren könnend, und nahm nur vage wahr, dass er die Schlafzimmertür offen ließ und draußen zu Boden stürzte.
    
  Als der Schuss fiel, hörte er ihn kaum.
    
  Doch wie Eduard gesagt hatte, war die Akustik des Herrenhauses hervorragend. Die ersten Gäste, die die Feier verließen und sich, während sie ihre Mäntel zusammenrafften, mit Abschieden und leeren Versprechungen beschäftigten, hörten einen gedämpften, aber unverkennbaren Knall. Sie hatten in den vergangenen Wochen zu viel gehört, um das Geräusch nicht zu erkennen. Alle Gespräche verstummten, als der zweite und dritte Schuss durch das Treppenhaus hallten.
    
  In ihrer Rolle als perfekte Gastgeberin verabschiedete Brunhilde sich von dem Arzt und seiner Frau, die sie nicht ausstehen konnte. Sie erkannte das Geräusch, aktivierte aber automatisch ihren Abwehrmechanismus.
    
  "Die Jungen müssen mit Feuerwerkskörpern gespielt haben."
    
  Ungläubige Gesichter tauchten um sie herum auf wie Pilze nach dem Regen. Zuerst waren es nur etwa ein Dutzend Leute, doch bald kamen noch viel mehr in den Flur. Es würde nicht lange dauern, bis allen Gästen klar wurde, dass in ihrem Haus etwas geschehen war.
    
  In meinem Haus!
    
  Innerhalb von zwei Stunden hätte ganz München darüber gesprochen, wenn sie nicht etwas unternommen hätte.
    
  "Bleib hier. Ich bin sicher, das ist Unsinn."
    
  Brunhilde beschleunigte ihre Schritte, als sie auf halber Treppe den Geruch von Schießpulver wahrnahm. Einige der mutigeren Gäste blickten auf, vielleicht in der Hoffnung, sie würde ihren Irrtum bestätigen, doch keiner von ihnen wagte es, die Treppe hinaufzugehen: Das gesellschaftliche Tabu, während einer Feier das Schlafzimmer zu betreten, war zu stark. Das Gemurmel wurde jedoch lauter, und die Baronin hoffte, Otto würde nicht so töricht sein, ihr zu folgen, denn unweigerlich würde ihn jemand begleiten wollen.
    
  Als sie oben ankam und Paul schluchzend im Flur sah, wusste sie, was passiert war, ohne auch nur den Kopf durch Edwards Tür zu stecken.
    
  Aber sie hat es trotzdem getan.
    
  Ein Schwall Galle stieg ihr in die Kehle. Sie wurde von Entsetzen und einem weiteren, unpassenden Gefühl überwältigt, das sie erst später, voller Selbstverachtung, als Erleichterung erkannte. Oder zumindest als das Verschwinden des bedrückenden Gefühls, das sie seit der verkrüppelten Rückkehr ihres Sohnes aus dem Krieg in ihrer Brust getragen hatte.
    
  "Was hast du getan?", rief sie aus und sah Paul an. "Ich frage dich: Was hast du getan?"
    
  Der Junge hob den Kopf nicht von seinen Händen.
    
  "Was hast du meinem Vater angetan, Hexe?"
    
  Brunhilde wich einen Schritt zurück. Zum zweiten Mal an diesem Abend zuckte jemand bei der Erwähnung von Hans Reiner zurück, doch ironischerweise war es dieselbe Person, die zuvor seinen Namen als Drohung benutzt hatte.
    
  Wie viel weißt du, Kind? Wie viel hat er dir vorher erzählt...?
    
  Sie wollte schreien, aber sie konnte nicht: Sie traute sich nicht.
    
  Stattdessen ballte sie die Fäuste so fest, dass sich ihre Nägel in die Handflächen gruben, und versuchte, sich zu beruhigen und zu überlegen, was sie tun sollte, genau wie in jener Nacht vor vierzehn Jahren. Als sie sich ein wenig gefasst hatte, ging sie wieder nach unten. Im zweiten Stock streckte sie den Kopf über das Geländer und lächelte in die Lobby hinunter. Sie wagte es nicht, weiterzugehen, denn sie glaubte nicht, dass sie angesichts dieser vielen angespannten Gesichter lange die Fassung bewahren könnte.
    
  "Sie müssen uns entschuldigen. Die Freunde meines Sohnes haben mit Feuerwerkskörpern gespielt, genau wie ich es befürchtet hatte. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich das von ihnen verursachte Chaos beseitigen", sagte sie und deutete auf Pauls Mutter, "Ilse, meine Liebe."
    
  Ihre Gesichter entspannten sich, als sie das hörten, und die Gäste beruhigten sich, als sie sahen, wie die Haushälterin ihrer Gastgeberin die Treppe hinauf folgte, als wäre nichts geschehen. Sie hatten bereits ausgiebig über die Feier getratscht und konnten es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und ihre Familien damit zu ärgern.
    
  "Denk nicht mal daran zu schreien", war alles, was Brunhilde sagte.
    
  Ilse hatte einen harmlosen Streich erwartet, doch als sie Paul im Flur sah, erschrak sie. Als sie dann Eduards Tür einen Spalt öffnete, musste sie sich auf die Faust beißen, um nicht aufzuschreien. Ihre Reaktion ähnelte der der Baronin, nur dass Ilse Tränen in den Augen hatte und ebenfalls verängstigt war.
    
  "Der arme Junge", sagte sie und rang die Hände.
    
  Brunhilde beobachtete ihre Schwester, die Hände in die Hüften gestemmt.
    
  "Ihr Sohn war es, der Edward die Pistole gegeben hat."
    
  "Oh, heiliger Gott, sag mir, dass das nicht wahr ist, Paul."
    
  Es klang wie ein Flehen, doch ihre Worte klangen hoffnungslos. Ihr Sohn reagierte nicht. Brunhilda ging verärgert auf ihn zu und wedelte mit dem Zeigefinger.
    
  "Ich werde den Richter rufen. Sie werden im Gefängnis verrotten, weil Sie einem behinderten Mann eine Waffe gegeben haben."
    
  "Was hast du meinem Vater angetan, Hexe?", wiederholte Paul und erhob sich langsam, um seiner Tante gegenüberzutreten. Diesmal wich sie nicht zurück, obwohl sie Angst hatte.
    
  "Hans ist in den Kolonien gestorben", antwortete sie ohne große Überzeugung.
    
  "Das stimmt nicht. Mein Vater war in diesem Haus, bevor er verschwand. Das hat mir Ihr eigener Sohn erzählt."
    
  "Eduard war krank und verwirrt; er erfand alle möglichen Geschichten über seine Wunden an der Front. Und obwohl der Arzt ihm Besuche verboten hatte, waren Sie hier, trieben ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruchs und gaben ihm dann auch noch eine Pistole!"
    
  "Du lügst!"
    
  "Du hast ihn getötet."
    
  "Das ist eine Lüge", sagte der Junge. Dennoch überkam ihn ein Schauer des Zweifels.
    
  "Paul, das reicht!"
    
  "Raus aus meinem Haus!"
    
  "Wir gehen nirgendwo hin", sagte Paul.
    
  "Es liegt an Ihnen", sagte Brunhilde und wandte sich an Ilse. "Richter Stromeyer ist noch unten. Ich gehe in zwei Minuten hinunter und berichte ihm, was passiert ist. Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Sohn die Nacht in Stadelheim verbringt, reisen Sie sofort ab."
    
  Ilse erbleichte vor Entsetzen beim Gedanken an Gefängnis. Strohmayer war ein guter Freund des Barons, und es würde nicht viel Überredungskunst brauchen, um ihn dazu zu bringen, Paul des Mordes zu beschuldigen. Sie ergriff die Hand ihres Sohnes.
    
  "Paul, los geht"s!"
    
  "Nein, noch nicht..."
    
  Sie schlug ihm so heftig ins Gesicht, dass ihr die Finger wehtaten. Pauls Lippe begann zu bluten, aber er stand da, sah seine Mutter an und weigerte sich, sich zu rühren.
    
  Dann schließlich folgte er ihr.
    
  Ilse erlaubte ihrem Sohn nicht, seinen Koffer zu packen; sie betraten nicht einmal sein Zimmer. Sie stiegen die Dienstbotentreppe hinunter und verließen das Herrenhaus durch die Hintertür, wobei sie sich durch die Gassen schlichen, um nicht gesehen zu werden.
    
  Wie Kriminelle.
    
    
  8
    
    
  "Und darf ich fragen, wo zum Teufel Sie waren?"
    
  Der Baron erschien, wütend und müde, der Saum seines Gehrocks zerknittert, sein Schnurrbart ungepflegt, sein Monokel baumelte auf seinem Nasenrücken. Eine Stunde war vergangen, seit Ilse und Paul gegangen waren, und die Feier war gerade erst zu Ende gegangen.
    
  Erst als der allerletzte Gast gegangen war, suchte der Baron seine Frau. Er fand sie auf einem Stuhl sitzend, den sie in den Flur im vierten Stock getragen hatte. Die Tür zu Eduards Zimmer war verschlossen. Trotz ihres eisernen Willens brachte Brunhilde es nicht übers Herz, zur Gesellschaft zurückzukehren. Als ihr Mann erschien, erklärte sie ihm, was sich in dem Zimmer befunden hatte, und Otto empfand Schmerz und Reue.
    
  "Sie rufen morgen früh den Richter an", sagte Brunhilde emotionslos. "Wir werden sagen, wir hätten ihn in diesem Zustand vorgefunden, als wir ihm das Frühstück bringen wollten. So können wir den Skandal so gering wie möglich halten. Vielleicht kommt er gar nicht erst ans Licht."
    
  Otto nickte. Er nahm die Hand vom Türknauf. Er wagte es nicht einzutreten und würde es auch nie tun. Nicht einmal, nachdem die Spuren der Tragödie von Wänden und Boden getilgt worden waren.
    
  "Der Richter steht bei mir in der Schuld. Ich denke, er kann das regeln. Aber ich frage mich, wie Eduard an die Waffe gekommen ist. Er kann sie sich unmöglich selbst besorgt haben."
    
  Als Brunhilde ihm von Pauls Rolle erzählte und dass sie die Rainers aus dem Haus geworfen hatte, war der Baron wütend.
    
  "Verstehst du, was du getan hast?"
    
  "Sie waren eine Bedrohung, Otto."
    
  "Habt ihr etwa vergessen, was hier auf dem Spiel steht?" Warum waren sie all die Jahre in diesem Haus?
    
  "Um mich zu demütigen und ihr Gewissen zu beruhigen", sagte Brunhilda mit einer Bitterkeit, die sie jahrelang unterdrückt hatte.
    
  Otto gab keine Antwort, weil er wusste, dass das, was sie sagte, der Wahrheit entsprach.
    
  "Edward hat mit deinem Neffen gesprochen."
    
  "Oh mein Gott. Hast du eine Ahnung, was er ihm gesagt haben könnte?"
    
  "Das spielt keine Rolle. Nach ihrer Abreise heute Abend sind sie Verdächtige, selbst wenn wir sie morgen nicht ausliefern. Sie werden sich nicht trauen, auszusagen, und sie haben keine Beweise. Es sei denn, der Junge findet etwas."
    
  "Glaubst du, ich mache mir Sorgen, dass sie die Wahrheit herausfinden?" Dafür müssten sie Clovis Nagel finden. Und Nagel ist schon lange nicht mehr in Deutschland gewesen. Aber das löst unser Problem nicht. Deine Schwester ist die Einzige, die weiß, wo Hans Reiners Brief ist.
    
  "Dann behalte sie im Auge. Aus der Ferne."
    
  Otto dachte einen Moment nach.
    
  "Ich habe genau den Richtigen für diesen Job."
    
  Während des Gesprächs war noch jemand anwesend, der sich jedoch in einer Ecke des Flurs versteckt hielt. Er lauschte, ohne etwas zu verstehen. Viel später, als sich Baron von Schroeder in sein Schlafzimmer zurückgezogen hatte, betrat er Eduards Zimmer.
    
  Als er sah, was darin war, fiel er auf die Knie. Als er wieder zum Leben erwachte, war das, was von der Unschuld übrig geblieben war, die seine Mutter nicht hatte vernichten können - jene Teile seiner Seele, die sie über die Jahre hinweg nicht mit Hass und Neid auf seinen Cousin hatte säen können - tot, zu Asche verbrannt.
    
  Dafür bringe ich Paul Reiner um.
    
  Nun bin ich der Erbe. Aber ich werde ein Baron sein.
    
  Er konnte sich nicht entscheiden, welcher der beiden widerstreitenden Gedanken ihn mehr begeisterte.
    
    
  9
    
    
  Paul Rainer fröstelte im leichten Mairegen. Seine Mutter hatte aufgehört, ihn zu zerren, und ging nun neben ihm durch Schwabing, das Künstlerviertel im Zentrum Münchens, wo Diebe und Dichter bis in die frühen Morgenstunden in den Wirtshäusern neben Künstlern und Prostituierten verkehrten. Nur wenige Wirtshäuser hatten jetzt geöffnet, und sie gingen in keines hinein, da sie pleite waren.
    
  "Lasst uns in diesem Türrahmen Schutz suchen", sagte Paul.
    
  "Der Nachtwächter wird uns rauswerfen; das ist schon dreimal passiert."
    
  "So kann es nicht weitergehen, Mama. Du kriegst noch eine Lungenentzündung."
    
  Sie zwängten sich durch den schmalen Eingang eines Gebäudes, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Wenigstens schützte das Vordach sie vor dem Regen, der die verlassenen Bürgersteige und unebenen Pflastersteine durchnässte. Das schwache Licht der Straßenlaternen warf einen seltsamen Spiegel auf die nassen Oberflächen; es war anders als alles, was Paul je gesehen hatte.
    
  Er bekam Angst und drückte sich noch enger an seine Mutter.
    
  "Du trägst immer noch die Armbanduhr deines Vaters, nicht wahr?"
    
  "Ja", sagte Paul ängstlich.
    
  Sie hatte ihm diese Frage in der letzten Stunde dreimal gestellt. Seine Mutter war völlig erschöpft und ausgelaugt, als hätte das Schlagen ihres Sohnes und das Zerren durch die Gassen fernab des Anwesens der Schroeders eine Energiereserve aufgebraucht, von der sie nichts geahnt hatte - nun für immer verloren. Ihre Augen waren eingefallen, und ihre Hände zitterten.
    
  "Morgen legen wir das beiseite, und dann wird alles gut."
    
  Die Armbanduhr war nichts Besonderes; sie war nicht einmal aus Gold. Paul fragte sich, ob sie mehr wert sein würde als eine Übernachtung in einer Pension und ein warmes Abendessen, wenn sie Glück hatten.
    
  "Das ist ein ausgezeichneter Plan", zwang er sich zu sagen.
    
  "Wir müssen irgendwo anhalten, und dann werde ich darum bitten, zu meinem alten Job in der Schießpulverfabrik zurückkehren zu können."
    
  "Aber, Mama... die Schießpulverfabrik gibt es nicht mehr. Sie wurde nach Kriegsende abgerissen."
    
  Und du warst es, der mir das gesagt hat, dachte Paul, nun äußerst besorgt.
    
  "Die Sonne wird bald aufgehen", sagte seine Mutter.
    
  Paul antwortete nicht. Er reckte den Hals und lauschte dem rhythmischen Klappern der Stiefel des Nachtwächters. Paul wünschte, dieser würde lange genug wegbleiben, damit er einen Moment lang die Augen schließen konnte.
    
  Ich bin so müde... Und ich verstehe überhaupt nichts von dem, was heute Abend passiert ist. Sie verhält sich so seltsam... Vielleicht sagt sie mir jetzt die Wahrheit.
    
  "Mama, was weißt du darüber, was mit Papa passiert ist?"
    
  Für einen kurzen Augenblick schien Ilse aus ihrer Lethargie zu erwachen. Ein Funke Licht brannte tief in ihren Augen, wie die letzten Glutreste eines Feuers. Sie nahm Paul am Kinn und streichelte ihm sanft über das Gesicht.
    
  "Paul, bitte. Vergiss es; vergiss alles, was du heute Abend gehört hast. Dein Vater war ein guter Mann, der bei einem Schiffsunglück tragisch ums Leben kam. Versprich mir, dass du daran festhältst - dass du nicht nach einer Wahrheit suchst, die es nicht gibt -, denn ich könnte dich nicht verlieren. Du bist alles, was mir geblieben ist. Mein Junge, Paul."
    
  Die ersten Sonnenstrahlen warfen lange Schatten über die Straßen Münchens und brachten den Regen mit sich.
    
  "Versprich es mir", insistierte sie mit immer schwächer werdender Stimme.
    
  Paul zögerte, bevor er antwortete.
    
  "Ich verspreche es."
    
    
  10
    
    
  "Ooooooo!"
    
  Der Kohlenhändlerwagen kam quietschend auf der Rheinstraße zum Stehen. Zwei Pferde zappelten unruhig, ihre Augen von Scheuklappen verdeckt, ihre Hinterteile geschwärzt von Schweiß und Ruß. Der Kohlenhändler sprang zu Boden und strich gedankenverloren mit der Hand an der Seite des Wagens entlang, wo sein Name, Klaus Graf, stand, obwohl nur noch die ersten beiden Buchstaben lesbar waren.
    
  "Das kannst du vergessen, Halbert! Ich möchte, dass meine Kunden wissen, wer sie mit Rohstoffen beliefert", sagte er beinahe freundlich.
    
  Der Mann am Steuer nahm seinen Hut ab, zog einen Lappen hervor, der noch eine vage Erinnerung an seine ursprüngliche Farbe trug, und begann pfeifend auf dem Holz zu arbeiten. Es war seine einzige Möglichkeit, sich auszudrücken, da er stumm war. Die Melodie war sanft und schnell; auch er schien zufrieden.
    
  Es war der perfekte Moment.
    
  Paul war ihnen den ganzen Morgen gefolgt, seit sie die Ställe des Grafen in Lehel verlassen hatten. Auch am Vortag hatte er sie beobachtet und erkannt, dass der beste Zeitpunkt, um nach Arbeit zu fragen, kurz vor ein Uhr war, nach dem Mittagsschlaf des Kohlenhändlers. Er und der Stumme hatten große Sandwiches und ein paar Liter Bier verdrückt. Die quälende Schläfrigkeit des frühen Morgens, als sich Tau auf dem Karren gesammelt hatte, während sie auf die Öffnung des Kohlenlagers warteten, lag hinter ihnen. Auch die quälende Müdigkeit des späten Nachmittags, als sie still ihr letztes Bier ausgetrunken und den Staub in ihren Kehlen gespürt hatten, war verflogen.
    
  "Wenn ich das nicht schaffe, dann Gott steh uns bei", dachte Paulus verzweifelt.***
    
  Paul und seine Mutter verbrachten zwei Tage damit, Arbeit zu suchen, und aßen in dieser Zeit nichts. Indem sie ihre Uhren verpfändeten, verdienten sie genug Geld, um zwei Nächte in einer Pension zu verbringen und Brot und Bier zum Frühstück zu essen. Seine Mutter suchte beharrlich nach Arbeit, doch bald erkannten sie, dass Arbeit in jenen Tagen ein unerreichbarer Traum war. Frauen wurden nach der Rückkehr der Männer von der Front aus ihren während des Krieges innegehabten Positionen entlassen. Natürlich nicht, weil ihre Arbeitgeber es so wollten.
    
  "Verdammt sei diese Regierung und ihre Anweisungen", sagte der Bäcker zu ihnen, als sie ihn um das Unmögliche baten. "Sie haben uns gezwungen, Kriegsveteranen einzustellen, obwohl Frauen die Arbeit genauso gut erledigen und viel weniger verlangen."
    
  "Waren Frauen wirklich genauso gut in dem Job wie Männer?", fragte Paul ihn frech. Er war schlecht gelaunt. Sein Magen knurrte, und der Duft von frisch gebackenem Brot machte es nur noch schlimmer.
    
  "Manchmal besser. Ich hatte eine Frau, die besser als alle anderen wusste, wie man Geld verdient."
    
  "Warum haben Sie ihnen dann weniger bezahlt?"
    
  "Na ja, das ist doch klar", sagte der Bäcker achselzuckend. "Es sind Frauen."
    
  Sollte dem Ganzen irgendeine Logik zugrunde liegen, so konnte Paul sie nicht erkennen, obwohl seine Mutter und die Mitarbeiter in der Werkstatt zustimmend nickten.
    
  "Das wirst du verstehen, wenn du älter bist", sagte einer von ihnen, als Paul und seine Mutter gingen. Dann brachen alle in Gelächter aus.
    
  Paul hatte kein Glück. Das Erste, was ihn ein potenzieller Arbeitgeber fragte, bevor er sich nach seinen Qualifikationen erkundigte, war, ob er Kriegsveteran sei. Er hatte in den letzten Stunden viele Enttäuschungen erlebt und beschloss daher, das Problem so rational wie möglich anzugehen. Er vertraute auf sein Glück, folgte dem Bergmann, beobachtete ihn und versuchte, ihn so gut wie möglich anzusprechen. Er und seine Mutter konnten eine dritte Nacht in der Pension bleiben, nachdem sie versprochen hatten, am nächsten Tag zu bezahlen, und weil die Wirtin Mitleid mit ihnen hatte. Sie gab ihnen sogar eine Schüssel dicke Suppe mit Kartoffelstücken darin und ein Stück Schwarzbrot.
    
  Da war also Paul, der die Rheinstraße überquerte. Ein lauter und fröhlicher Ort, voller Händler, Zeitungsverkäufer und Messerschleifer, die ihre Streichholzschachteln, die neuesten Nachrichten oder die Vorzüge gut geschärfter Messer anpriesen. Der Geruch von Bäckereien vermischte sich mit dem von Pferdemist, der in Schwabing weitaus häufiger vorkam als der von Autos.
    
  Paul nutzte den Moment, als der Gehilfe des Kohlenhändlers weg war, um den Portier des Gebäudes, das sie beliefern wollten, anzurufen, und zwang ihn so, die Kellertür zu öffnen. Währenddessen bereitete der Kohlenhändler die großen Birkenholzkörbe vor, in denen sie ihre Waren transportieren würden.
    
  Vielleicht wäre er freundlicher, wenn er allein wäre. Menschen reagierten anders auf Fremde, wenn ihre jüngeren Geschwister dabei waren, dachte Paul, als er sich näherte.
    
  "Guten Tag, Sir."
    
  "Was zum Teufel willst du, Junge?"
    
  "Ich brauche einen Job."
    
  "Verschwinde. Ich brauche niemanden."
    
  "Ich bin stark, Sir, und ich könnte Ihnen sehr schnell beim Entladen des Wagens helfen."
    
  Der Bergmann warf Paul zum ersten Mal einen Blick zu und musterte ihn von oben bis unten. Er trug seine schwarze Hose, sein weißes Hemd und seinen Pullover und sah immer noch aus wie ein Kellner. Verglichen mit der Statur des Mannes fühlte sich Paul schwach.
    
  "Wie alt bist du, Junge?"
    
  "Siebzehn, Sir", log Paul.
    
  "Selbst meine Tante Bertha, die furchtbar schlecht im Schätzen von Alter war, die Arme, hätte dich nicht älter als fünfzehn geschätzt. Außerdem bist du viel zu dünn. Hau ab."
    
  "Ich werde am 22. Mai sechzehn", sagte Paul in einem beleidigten Ton.
    
  "Du bist mir sowieso nutzlos."
    
  "Ich kann einen Korb Kohle problemlos tragen, Sir."
    
  Mit erstaunlicher Geschicklichkeit kletterte er auf den Karren, nahm eine Schaufel und füllte einen der Körbe. Dann, bemüht, sich die Anstrengung nicht anmerken zu lassen, warf er sich die Gurte über die Schulter. Er spürte, wie die fünfzig Kilogramm auf seinen Schultern und seinem unteren Rücken drückten, aber er brachte ein Lächeln zustande.
    
  "Siehst du?", sagte er und setzte all seine Willenskraft ein, um zu verhindern, dass seine Beine nachgaben.
    
  "Junge, es gehört mehr dazu, als nur einen Korb zu heben", sagte der Kohlenhändler, zog eine Tabakpackung aus der Tasche und zündete sich eine ramponierte Pfeife an. "Meine alte Tante Lotta konnte diesen Korb mit weniger Mühe heben als du. Du solltest ihn die Stufen hochtragen können, die so nass und rutschig sind wie ein Tänzerinnen-Schritt. Die Keller, in die wir hinuntergehen, sind fast nie beleuchtet, weil es der Hausverwaltung egal ist, ob wir uns den Kopf stoßen. Und vielleicht schaffst du einen Korb, vielleicht zwei, aber beim dritten ..."
    
  Pauls Knie und Schultern konnten das Gewicht nicht mehr tragen, und der Junge fiel mit dem Gesicht nach unten auf einen Kohlehaufen.
    
  "Du wirst fallen, so wie du es gerade getan hast. Und wenn dir das auf dieser engen Treppe passiert wäre, wäre nicht nur dein Schädel eingebrochen."
    
  Der Mann stand mit steifen Beinen da.
    
  "Aber..."
    
  "Da gibt es kein ‚Aber", das mich umstimmen wird, Baby. Verschwinde von meinem Einkaufswagen."
    
  "Ich könnte Ihnen sagen, wie Sie Ihr Unternehmen verbessern können."
    
  "Genau das, was ich brauche... Und was könnte das bedeuten?", fragte der Bergmann mit einem höhnischen Lachen.
    
  "Man verliert viel Zeit zwischen dem Abschluss einer Lieferung und dem Beginn der nächsten, weil man zum Lager fahren muss, um mehr Kohle zu holen. Wenn man einen zweiten LKW gekauft hätte..."
    
  "Das ist Ihre brillante Idee, nicht wahr? Ein guter Karren mit Stahlachsen, der das gesamte Gewicht unserer Ladung tragen kann, kostet mindestens siebentausend Mark, Geschirr und Pferde nicht mitgerechnet. Haben Sie siebentausend Mark in Ihren zerfetzten Hosen? Ich schätze nicht."
    
  "Aber du..."
    
  "Ich verdiene genug, um Kohle zu kaufen und meine Familie zu ernähren. Glaubst du, ich hätte nicht schon mal überlegt, mir einen neuen Wagen zu kaufen? Tut mir leid, Junge", sagte er, sein Tonfall wurde weicher, als er die Traurigkeit in Pauls Augen bemerkte, "aber ich kann dir nicht helfen."
    
  Paul senkte besiegt den Kopf. Er musste sich schnell eine andere Arbeit suchen, denn die Geduld der Wirtin würde nicht lange anhalten. Gerade als er vom Karren stieg, näherte sich ihm eine Gruppe von Leuten.
    
  "Was ist es denn dann, Klaus? Ein neuer Rekrut?"
    
  Klaus' Assistent kehrte gerade mit dem Portier zurück. Doch da wurde der Bergmann von einem anderen Mann angesprochen, älter, klein und kahlköpfig, mit runder Brille und einem Lederkoffer.
    
  "Nein, Herr Fincken, er ist nur ein Mann, der auf der Suche nach Arbeit war, aber er ist jetzt wieder auf dem Weg."
    
  "Nun ja, man sieht ihm Ihr Handwerk im Gesicht an."
    
  "Er schien entschlossen, sich zu beweisen, Sir. Was kann ich für Sie tun?"
    
  "Hör mal, Klaus, ich muss noch zu einem Meeting, und ich hatte überlegt, die Kohle diesen Monat zu bezahlen. Ist das alles?"
    
  "Jawohl, Sir, die zwei Tonnen, die Sie bestellt haben, jedes einzelne Gramm."
    
  "Ich vertraue dir vollkommen, Klaus."
    
  Bei diesen Worten drehte sich Paul um. Ihm war gerade klar geworden, wo das wahre Kapital des Kohlebergmanns lag.
    
  Vertrauen. Und er würde alles daransetzen, es in Geld umzuwandeln. Wenn sie mir doch nur zuhören würden, dachte er und ging zurück zur Gruppe.
    
  "Nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht...", sagte Klaus.
    
  "Nur eine Minute!"
    
  "Darf ich fragen, was genau du hier machst, Junge? Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dich nicht brauche."
    
  "Ich könnte Ihnen von Nutzen sein, wenn Sie einen weiteren Karren hätten, mein Herr."
    
  "Sind Sie blöd? Ich habe keinen anderen Wagen! Entschuldigen Sie, Herr Fincken, ich werde diesen Verrückten nicht los."
    
  Der Gehilfe des Bergmanns, der Paul schon seit einiger Zeit misstrauisch beäugt hatte, wollte auf ihn zugehen, doch sein Chef bedeutete ihm, stehen zu bleiben. Er wollte vor dem Kunden keine Szene machen.
    
  "Wenn ich Ihnen die Mittel für den Kauf eines weiteren Wagens zur Verfügung stellen könnte", sagte Paul und wandte sich von dem Assistenten ab, wobei er versuchte, seine Würde zu bewahren, "würden Sie mich dann einstellen?"
    
  Klaus kratzte sich am Hinterkopf.
    
  "Nun ja, ich denke schon", gab er zu.
    
  "Okay. Wären Sie so freundlich, mir mitzuteilen, welche Gewinnspanne Sie für die Kohlelieferung erhalten?"
    
  "Genauso wie alle anderen. Respektable acht Prozent."
    
  Paul führte einige schnelle Berechnungen durch.
    
  "Herr Fincken, wären Sie bereit, Herrn Graf tausend Mark als Anzahlung zu zahlen und im Gegenzug einen Rabatt von vier Prozent auf Kohle für ein Jahr zu erhalten?"
    
  "Das ist eine wahnsinnig große Menge Geld, Mann", sagte Finken.
    
  "Aber was wollen Sie damit sagen? Ich würde von meinen Kunden kein Geld im Voraus annehmen."
    
  "Ehrlich gesagt ist es ein sehr verlockendes Angebot, Klaus. Es würde dem Nachlass erhebliche Einsparungen bringen", sagte der Verwalter.
    
  "Sehen Sie?", fragte Paul hocherfreut. "Sie müssen das Gleiche nur sechs anderen Kunden anbieten. Sie werden alle annehmen, mein Herr. Ich habe bemerkt, dass die Leute Ihnen vertrauen."
    
  "Das stimmt, Klaus."
    
  Einen Moment lang blähte sich die Brust des Kohlenhändlers wie die eines Truthahns auf, doch schon bald folgten die ersten Beschwerden.
    
  "Aber wenn wir die Gewinnspanne verringern", sagte der Bergmann, der dies alles noch nicht klar erkannte, "wie soll ich dann leben?"
    
  "Mit dem zweiten Wagen arbeiten Sie doppelt so schnell. Sie haben Ihr Geld im Nu wieder drin. Und zwei Wagen mit Ihrem Namen darauf fahren durch München."
    
  "Zwei Einkaufswagen mit meinem Namen drauf..."
    
  "Natürlich wird es anfangs etwas schwierig sein. Schließlich müssen Sie ein weiteres Gehalt zahlen."
    
  Der Bergmann blickte den Verwaltungsbeamten an, der lächelte.
    
  "Um Gottes Willen, stellt diesen Mann ein, oder ich stelle ihn selbst ein. Er hat ein echtes Gespür für Geschäfte."
    
  Paul verbrachte den Rest des Tages damit, mit Klaus über das Anwesen zu gehen und mit den Verwaltern des Anwesens zu sprechen. Von den ersten zehn wurden sieben angenommen, und nur vier bestanden auf einer schriftlichen Garantie.
    
  "Es scheint, Sie haben Ihren Wagen erhalten, Herr Graf."
    
  "Jetzt haben wir eine Menge Arbeit vor uns. Und Sie müssen neue Kunden finden."
    
  "Ich dachte, du..."
    
  "Auf keinen Fall, mein Junge. Du kommst gut mit Leuten aus, obwohl du etwas schüchtern bist, genau wie meine liebe alte Tante Irmuska. Ich denke, du wirst deinen Weg machen."
    
  Der Junge schwieg einige Augenblicke, dachte über die Erfolge des Tages nach und wandte sich dann wieder dem Bergmann zu.
    
  "Bevor ich zustimme, Sir, möchte ich Ihnen eine Frage stellen."
    
  "Was zum Teufel willst du?", fragte Klaus ungeduldig.
    
  "Hast du wirklich so viele Tanten?"
    
  Der Bergmann brach in lautes Gelächter aus.
    
  "Meine Mutter hatte vierzehn Schwestern, Baby. Ob du es glaubst oder nicht."
    
    
  11
    
    
  Nachdem Paul mit dem Kohlesammeln und der Kundensuche beauftragt worden war, florierte das Geschäft. Er fuhr einen voll beladenen Karren von den Läden am Isarufer zu dem Haus, wo Klaus und Halbert - so hieß der stumme Gehilfe - gerade mit dem Ausladen fertig waren. Zuerst trocknete er die Pferde und gab ihnen Wasser aus einem Eimer. Dann wechselte er die Besatzung und spannte die Tiere vor den Wagen, den er gerade hergebracht hatte.
    
  Dann half er seinen Kameraden, den leeren Karren so schnell wie möglich in Bewegung zu setzen. Anfangs fiel es ihm schwer, doch als er sich daran gewöhnt hatte und seine Schultern breiter wurden, konnte Paul die riesigen Körbe überall hintragen. Sobald er die Kohle auf dem Gut verteilt hatte, trieb er die Pferde an und ritt singend zu den Lagerhäusern zurück, während die anderen zu einem anderen Haus gingen.
    
  Inzwischen hatte Ilse eine Anstellung als Haushälterin in der Pension gefunden, in der sie wohnten, und im Gegenzug gewährte ihnen die Vermieterin einen kleinen Mietnachlass - was auch gut so war, da Pauls Gehalt kaum für die beiden reichte.
    
  "Ich würde es gern etwas diskreter angehen, Herr Rainer", sagte die Wirtin, "aber es sieht nicht so aus, als bräuchte ich wirklich viel Hilfe."
    
  Paul nickte meistens. Er wusste, dass seine Mutter keine große Hilfe war. Andere Internatsschüler tuschelten, dass Ilse manchmal inne hielt, in Gedanken versunken, mitten im Fegen des Flurs oder Kartoffelschälen, einen Besen oder ein Messer umklammernd, und ins Leere starrte.
    
  Besorgt sprach Paul mit seiner Mutter, die es zunächst abstritt. Als er jedoch nicht lockerließ, gab Ilse schließlich zu, dass es teilweise stimmte.
    
  "Vielleicht war ich in letzter Zeit etwas zerstreut. Zu viel los in meinem Kopf", sagte sie und streichelte sein Gesicht.
    
  Irgendwann wird das alles vorübergehen, dachte Paul. Wir haben schon viel durchgemacht.
    
  Er ahnte jedoch, dass da noch etwas anderes war, etwas, das seine Mutter verbarg. Er war weiterhin fest entschlossen, die Wahrheit über den Tod seines Vaters herauszufinden, wusste aber nicht, wo er anfangen sollte. Den Schroeders nahezukommen, war unmöglich, zumindest solange sie auf die Unterstützung des Richters zählen konnten. Sie konnten Paul jederzeit ins Gefängnis schicken, und dieses Risiko konnte er nicht eingehen, vor allem nicht in dem Zustand seiner Mutter.
    
  Diese Frage quälte ihn nachts. Wenigstens konnte er seinen Gedanken freien Lauf lassen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, seine Mutter zu wecken. Sie schliefen nun zum ersten Mal in seinem Leben in getrennten Zimmern. Paul zog in ein Zimmer im zweiten Stock, hinten im Gebäude. Es war kleiner als Ilses, aber wenigstens hatte er dort etwas Privatsphäre.
    
  "Keine Mädchen im Zimmer, Herr Rainer", sagte die Wirtin mindestens einmal pro Woche. Und Paul, der dieselbe Fantasie und dieselben Bedürfnisse wie jeder gesunde Sechzehnjährige hatte, fand Zeit, seinen Gedanken in diese Richtung zu schweifen.
    
  In den folgenden Monaten erfand sich Deutschland neu, genau wie die Rainers. Die neue Regierung unterzeichnete Ende Juni 1919 den Versailler Vertrag und bestätigte damit Deutschlands Übernahme der alleinigen Kriegsverantwortung sowie die Zahlung enormer Reparationszahlungen. Auf den Straßen löste die von den Alliierten erlittene Demütigung zwar ein Murmeln friedlicher Empörung aus, doch insgesamt atmeten die Menschen zunächst erleichtert auf. Mitte August wurde eine neue Verfassung ratifiziert.
    
  Paul spürte, wie sein Leben wieder in eine gewisse Ordnung zurückfand. Eine fragile Ordnung, aber immerhin eine Ordnung. Nach und nach vergaß er das Geheimnis um den Tod seines Vaters, sei es wegen der Schwierigkeit der Aufgabe, der Angst davor oder der wachsenden Verantwortung für Ilse.
    
  Doch eines Tages, mitten in seinem Morgenschlaf - genau zu der Zeit, zu der er nach einem Job fragen wollte - schob Klaus seinen leeren Bierkrug beiseite, knüllte die Verpackung seines Sandwiches zusammen und holte den jungen Mann wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
    
  "Du scheinst ein kluger Junge zu sein, Paul. Warum lernst du nicht?"
    
  "Einfach wegen... dem Leben, dem Krieg, den Menschen", sagte er und zuckte mit den Achseln.
    
  "Man kann weder das Leben noch den Krieg beeinflussen, aber die Menschen ... an denen kann man sich immer rächen, Paul." Der Kohlenhändler blies eine Wolke bläulichen Rauchs aus seiner Pfeife. "Bist du der Typ, der sich rächt?"
    
  Plötzlich fühlte sich Paul frustriert und hilflos. "Was ist, wenn man weiß, dass einen jemand geschlagen hat, aber man weiß nicht, wer es war oder was er getan hat?", fragte er.
    
  "Nun gut, dann lassen Sie nichts unversucht, bis Sie es herausgefunden haben."
    
    
  12
    
    
  In München herrschte Ruhe.
    
  In dem luxuriösen Gebäude am Ostufer der Isar war jedoch ein leises Murmeln zu vernehmen. Nicht laut genug, um die Bewohner zu wecken; lediglich ein gedämpftes Geräusch, das aus einem Zimmer mit Blick auf den Platz drang.
    
  Das Zimmer war altmodisch, kindlich und verriet nicht das Alter seiner Besitzerin. Sie hatte es vor fünf Jahren verlassen und noch keine Zeit gehabt, die Tapete zu wechseln; die Bücherregale waren voller Puppen, und das Bett hatte einen rosa Himmel. Doch in einer Nacht wie dieser war ihr verletzliches Herz dankbar für die Gegenstände, die sie in die Geborgenheit einer längst vergangenen Welt zurückgeführt hatten. Ihr Wesen verfluchte sich selbst dafür, in seiner Unabhängigkeit und Entschlossenheit so weit gegangen zu sein.
    
  Das gedämpfte Geräusch war Weinen, erstickt von einem Kissen.
    
  Ein Brief lag auf dem Bett, nur die ersten Absätze waren zwischen den zerwühlten Laken zu erkennen: Columbus, Ohio, 7. April 1920, Liebe Alice, ich hoffe, es geht dir gut. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr wir dich vermissen, denn die Tanzsaison beginnt in nur zwei Wochen! Dieses Jahr können wir Mädchen endlich zusammen hingehen, ohne unsere Väter, aber mit einer Anstandsdame. Wenigstens können wir dann mehr als einmal im Monat tanzen gehen! Die größte Neuigkeit des Jahres ist jedoch, dass mein Bruder Prescott sich mit einem Mädchen aus dem Osten, Dottie Walker, verlobt hat. Alle reden über das Vermögen ihres Vaters, George Herbert Walker, und was für ein schönes Paar die beiden abgeben. Mutter freut sich riesig auf die Hochzeit. Wenn du doch nur dabei sein könntest, denn es wird die erste Hochzeit in der Familie sein, und du gehörst doch zu uns.
    
  Langsam rannen Alice Tränen über die Wangen. Sie umklammerte die Puppe mit ihrer rechten Hand. Im selben Moment wollte sie sie quer durch den Raum werfen, als ihr bewusst wurde, was sie tat, und sie inne hielt.
    
  Ich bin eine Frau. Eine Frau.
    
  Langsam ließ sie die Puppe los und dachte an Prescott, oder zumindest an das, woran sie sich von ihm erinnerte: Sie waren zusammen unter dem Eichenbett in dem Haus in Columbus gewesen, und er hatte ihr etwas zugeflüstert, während er sie hielt. Doch als sie aufblickte, bemerkte sie, dass der Junge nicht braun gebrannt und kräftig wie Prescott war, sondern hellhäutig und hager. Versunken in ihre Gedanken, erkannte sie sein Gesicht nicht.
    
    
  13
    
    
  Es ging so schnell, dass ihn selbst das Schicksal nicht darauf vorbereiten konnte.
    
  "Verdammt nochmal, Paul, wo zum Teufel warst du?"
    
  Paul kam mit einem vollbeladenen Karren am Prinzregentenplatz an. Klaus war schlecht gelaunt, wie immer, wenn sie in den reichen Vierteln arbeiteten. Der Verkehr war katastrophal. Autos und Karren lieferten sich ein endloses Gedränge mit Bierwagen, Handkarren flinker Lieferanten und sogar mit Fahrrädern der Arbeiter. Alle zehn Minuten überquerten Polizisten den Platz und versuchten, das Chaos zu bändigen; ihre Gesichter waren hinter den Lederhelmen undurchdringlich. Sie hatten die Bergleute bereits zweimal ermahnt, ihre Ladung schnell abzuladen, wenn sie keine saftigen Geldstrafen riskieren wollten.
    
  Die Bergleute konnten sich das natürlich nicht leisten. Obwohl ihnen der Dezember 1920 viele Aufträge eingebracht hatte, waren nur zwei Wochen zuvor zwei Pferde an Enzephalomyelitis gestorben, sodass sie sie ersetzen mussten. Hulbert weinte bitterlich, denn diese Tiere waren sein Leben, und da er keine Familie hatte, schlief er sogar mit ihnen im Stall. Klaus hatte seinen letzten Cent für neue Pferde ausgegeben, und jede unerwartete Ausgabe konnte ihn nun ruinieren.
    
  Kein Wunder also, dass der Kohlenhändler Paul anschrie, sobald der Karren an jenem Tag um die Ecke kam.
    
  "Auf der Brücke herrschte ein riesiges Getümmel."
    
  "Das ist mir egal! Kommt runter und helft uns mit der Ladung, bevor die Geier zurückkommen."
    
  Paul sprang aus dem Fahrersitz und begann, die Körbe zu tragen. Es fiel ihm jetzt viel leichter, obwohl er mit sechzehn, fast siebzehn Jahren noch lange nicht ausgewachsen war. Er war ziemlich dünn, aber seine Arme und Beine waren sehnig und kräftig.
    
  Als nur noch fünf oder sechs Körbe entladen werden mussten, beschleunigten die Kohlenbrenner ihr Tempo, da sie das rhythmische, ungeduldige Klappern der Hufe der Polizeipferde hörten.
    
  "Sie kommen!", rief Klaus.
    
  Paul kam mit seiner letzten Ladung heruntergerannt, warf sie in den Kohlenkeller, Schweiß rann ihm über die Stirn, und rannte dann die Treppe wieder hinunter auf die Straße. Kaum war er draußen, traf ihn etwas mitten ins Gesicht.
    
  Einen Augenblick lang schien die Welt um ihn herum zu erstarren. Paul bemerkte nur einen kurzen Moment lang, wie sich sein Körper in der Luft drehte und seine Füße auf den glatten Stufen Halt suchten. Er fuchtelte mit den Armen und fiel dann rückwärts. Er hatte keine Zeit, den Schmerz zu spüren, denn die Dunkelheit hatte ihn bereits umschlossen.
    
  Zehn Sekunden zuvor waren Alice und Manfred Tannenbaum von einem Spaziergang durch den nahegelegenen Park zurückgekommen. Alice wollte mit ihrem Bruder noch eine Runde drehen, bevor der Boden zu gefroren war. Der erste Schnee war in der Nacht zuvor gefallen, und obwohl er noch nicht liegen geblieben war, würde der Junge bald drei oder vier Wochen lang nicht so viel laufen können, wie er wollte.
    
  Manfred genoss diese letzten Momente der Freiheit so gut er konnte. Am Tag zuvor hatte er seinen alten Fußball aus dem Schrank geholt und kickte ihn nun herum, ließ ihn gegen die Wände prallen, unter den vorwurfsvollen Blicken der Passanten. Normalerweise hätte Alice die Leute dafür gerümpft - sie konnte Menschen nicht ausstehen, die Kinder als lästig empfanden -, aber an diesem Tag war sie traurig und unsicher. Versunken in ihre Gedanken, den Blick auf die kleinen Wölkchen gerichtet, die ihr Atem in der frostigen Luft erzeugte, beachtete sie Manfred kaum, außer um sicherzustellen, dass er den Ball aufhob, als er die Straße überquerte.
    
  Nur wenige Meter von ihrer Tür entfernt entdeckte der Junge die weit geöffneten Kellertüren und, in der Vorstellung, sie stünden vor dem Tor des Grünwalder Stadions, trat er mit aller Kraft zu. Der Ball, aus extrem strapazierfähigem Leder, beschrieb einen perfekten Bogen und traf den Mann mitten ins Gesicht. Der Mann verschwand die Treppe hinunter.
    
  "Manfred, sei vorsichtig!"
    
  Alices wütender Schrei ging in ein Wehklagen über, als sie begriff, dass der Ball jemanden getroffen hatte. Ihr Bruder erstarrte vor Entsetzen auf dem Bürgersteig. Sie rannte zur Kellertür, doch einer der Arbeitskollegen des Opfers, ein kleiner Mann mit einem formlosen Hut, war ihm bereits zu Hilfe geeilt.
    
  "Verdammt! Ich wusste es doch, dass der blöde Idiot runterfallen würde!", sagte ein anderer Bergmann, ein kräftigerer Mann. Er stand noch immer neben dem Wagen, rang die Hände und blickte ängstlich zur Ecke der Possartstraße.
    
  Alice blieb oben an der Treppe zum Keller stehen, wagte aber nicht hinabzusteigen. Einige bange Sekunden lang starrte sie in ein dunkles Rechteck hinunter, doch dann erschien eine Gestalt, als hätte die Schwärze plötzlich menschliche Form angenommen. Es war der Kollege des Bergmanns, der an Alice vorbeigerannt war, und er trug den Gefallenen.
    
  "Mein Gott, er ist doch nur ein Kind..."
    
  Der linke Arm des Verwundeten hing in einem seltsamen Winkel herab, Hose und Jacke waren zerrissen. Kopf und Unterarme wiesen Stichwunden auf, und das Blut in seinem Gesicht vermischte sich in dicken braunen Streifen mit Kohlenstaub. Seine Augen waren geschlossen, und er reagierte nicht, als ihn ein anderer Mann zu Boden legte und versuchte, das Blut mit einem schmutzigen Tuch abzuwischen.
    
  Hoffentlich ist er nur bewusstlos, dachte Alice, hockte sich hin und nahm seine Hand.
    
  "Wie heißt er?", fragte Alice den Mann mit dem Hut.
    
  Der Mann zuckte mit den Achseln, deutete auf seinen Hals und schüttelte den Kopf. Alice verstand.
    
  "Kannst du mich hören?", fragte sie, aus Angst, er könnte sowohl taub als auch stumm sein. "Wir müssen ihm helfen!"
    
  Der Mann mit dem Hut ignorierte sie und wandte sich mit weit aufgerissenen Augen den Kohlewagen zu. Ein anderer Bergmann, der ältere, war auf den Fahrersitz des ersten, voll beladenen Wagens geklettert und suchte verzweifelt nach den Zügeln. Er ließ die Peitsche knallen und beschrieb damit eine unbeholfene Acht in der Luft. Die beiden Pferde bäumten sich auf und schnaubten.
    
  "Vorwärts, Halbert!"
    
  Der Mann mit dem Hut zögerte einen Augenblick. Er machte einen Schritt auf einen anderen Karren zu, schien es sich dann aber anders zu überlegen und drehte sich um. Er legte Alice das blutige Tuch in die Hände und ging, dem Beispiel des alten Mannes folgend, davon.
    
  "Wartet! Ihr könnt ihn nicht hier lassen!", schrie sie entsetzt über das Verhalten der Männer.
    
  Sie trat gegen den Boden. Wütend, rasend und hilflos.
    
    
  14
    
    
  Das Schwierigste für Alice war nicht, die Polizei davon zu überzeugen, dass sie den kranken Mann in ihrem Haus pflegen durfte, sondern Doris' Widerwillen zu überwinden, ihn hereinzulassen. Sie musste sie fast genauso laut anschreien wie Manfred, damit er sich endlich bewegte und Hilfe holte. Schließlich gab ihr Bruder nach, und zwei Bedienstete bahnten sich einen Weg durch den Kreis der Schaulustigen und halfen dem jungen Mann in den Aufzug.
    
  "Miss Alice, Sie wissen doch, dass Sir keine Fremden im Haus mag, besonders nicht, wenn er nicht da ist. Ich bin absolut dagegen."
    
  Der junge Kohlenträger hing schlaff und bewusstlos zwischen Dienern, die zu alt waren, um sein Gewicht noch länger zu tragen. Sie befanden sich auf dem Treppenabsatz, und die Haushälterin versperrte den Weg zur Tür.
    
  "Wir können ihn nicht hier lassen, Doris. Wir müssen einen Arzt holen."
    
  "Das ist nicht unsere Verantwortung."
    
  "Das stimmt. Der Unfall war Manfreds Schuld", sagte sie und deutete auf den Jungen neben ihr, der bleich war und den Ball weit von seinem Körper entfernt hielt, als hätte er Angst, jemand anderen damit zu verletzen.
    
  "Ich habe Nein gesagt. Es gibt Krankenhäuser für... für Menschen wie ihn."
    
  "Hier wird er besser versorgt sein."
    
  Doris starrte sie an, als könne sie nicht fassen, was sie da hörte. Dann verzog sich ihr Mund zu einem herablassenden Lächeln. Sie wusste genau, was sie sagen musste, um Alice zu ärgern, und wählte ihre Worte mit Bedacht.
    
  "Fräulein Alice, du bist noch zu jung für..."
    
  Also läuft alles darauf hinaus, dachte Alice und spürte, wie ihr Gesicht vor Wut und Scham rot anlief. Nun, diesmal wird es nicht funktionieren.
    
  "Doris, mit Verlaub, gehen Sie mir aus dem Weg."
    
  Sie ging zur Tür und stieß sie mit beiden Händen auf. Die Haushälterin versuchte, sie zu schließen, aber es war zu spät, und das Holz traf sie an der Schulter, als die Tür aufschwang. Sie fiel rückwärts auf den Flurteppich und sah hilflos zu, wie die Tannenbaum-Kinder zwei Bedienstete ins Haus führten. Diese vermieden ihren Blick, und Doris war sich sicher, dass sie sich das Lachen verkneifen mussten.
    
  "So macht man das nicht. Ich werde es deinem Vater erzählen", sagte sie wütend.
    
  "Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Doris. Wenn er morgen aus Dachau zurückkommt, werde ich es ihm selbst sagen", erwiderte Alice, ohne sich umzudrehen.
    
  Tief in ihrem Inneren war sie nicht so selbstsicher, wie ihre Worte vermuten ließen. Sie wusste, dass sie Probleme mit ihrem Vater bekommen würde, aber in diesem Moment war sie fest entschlossen, der Haushälterin nicht nachzugeben.
    
  "Schließ die Augen. Ich will sie nicht mit Jod verfärben."
    
  Alice schlich ins Gästezimmer und achtete darauf, den Arzt nicht zu stören, der gerade die Stirn des Verwundeten wusch. Doris stand wütend in der Ecke des Zimmers und räusperte sich ständig oder stampfte mit den Füßen, um ihre Ungeduld zu zeigen. Als Alice eintrat, verstärkte sie ihre Bemühungen noch. Alice ignorierte sie und betrachtete den jungen Bergmann, der ausgestreckt auf dem Bett lag.
    
  Die Matratze war völlig ruiniert, dachte sie. In diesem Moment begegneten sich ihre Blicke mit denen des Mannes, und sie erkannte ihn.
    
  Der Kellner von der Party! Nein, er kann es nicht sein!
    
  Aber es stimmte, denn sie sah, wie sich seine Augen weiteten und seine Augenbrauen sich hoben. Mehr als ein Jahr war vergangen, doch sie erinnerte sich noch immer an ihn. Und plötzlich erkannte sie, wer der blonde Junge war, der ihr in den Sinn gekommen war, als sie versucht hatte, sich Prescott vorzustellen. Sie bemerkte Doris' Blick, gähnte gespielt und öffnete die Schlafzimmertür. Sie benutzte ihn als Sichtschutz zwischen sich und der Haushälterin, sah Paul an und legte einen Finger an die Lippen.
    
  "Wie geht es ihm?", fragte Alice, als der Arzt endlich auf den Flur trat.
    
  Er war ein hagerer Mann mit hervorquellenden Augen, der sich schon vor Alices Geburt um die Tannenbaums gekümmert hatte. Als ihre Mutter an der Grippe starb, verbrachte das Mädchen viele schlaflose Nächte damit, ihn zu hassen, weil er sie nicht gerettet hatte. Doch nun jagte ihr sein seltsames Aussehen nur noch einen Schauer über den Rücken, wie die Berührung eines Stethoskops auf ihrer Haut.
    
  "Sein linker Arm ist gebrochen, obwohl es wie ein sauberer Bruch aussieht. Ich habe ihn geschient und verbunden. In etwa sechs Wochen wird er wieder fit sein. Versuchen Sie, ihn davon abzuhalten, den Arm zu bewegen."
    
  "Was stimmt nicht mit seinem Kopf?"
    
  "Die übrigen Verletzungen sind oberflächlich, obwohl er stark blutet. Er muss sich an der Treppenkante aufgeschürft haben. Ich habe die Wunde an seiner Stirn desinfiziert, er sollte aber so schnell wie möglich ein gründliches Bad nehmen."
    
  "Kann er sofort gehen, Doktor?"
    
  Der Arzt nickte Doris zur Begrüßung zu, die gerade die Tür hinter sich geschlossen hatte.
    
  "Ich würde ihm empfehlen, hier über Nacht zu bleiben. Nun denn, auf Wiedersehen", sagte der Arzt und zog entschlossen seinen Hut auf.
    
  "Wir kümmern uns darum, Doktor. Vielen Dank", sagte Alice zum Abschied und warf Doris einen herausfordernden Blick zu.
    
  Paul rutschte unbeholfen in der Badewanne hin und her. Er musste seine linke Hand aus dem Wasser halten, um die Verbände nicht nass zu machen. Sein Körper war voller blauer Flecken, und keine Position war schmerzfrei. Er blickte sich im Raum um, überwältigt von dem Luxus, der ihn umgab. Baron von Schröders Villa, obwohl in einem der vornehmsten Viertel Münchens gelegen, bot nicht den Komfort dieser Wohnung, angefangen beim warmen Wasser direkt aus dem Hahn. Normalerweise holte Paul täglich warmes Wasser aus der Küche, wenn ein Familienmitglied baden wollte. Und es gab einfach keinen Vergleich zwischen dem Badezimmer, in dem er sich jetzt befand, und dem Waschtisch und Waschbecken in der Pension.
    
  Das ist also ihr Zuhause. Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen. Schade, dass sie sich für mich schämt, dachte er.
    
  "Dieses Wasser ist sehr schwarz."
    
  Paul blickte erschrocken auf. Alice stand mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck im Türrahmen des Badezimmers. Obwohl die Badewanne ihm fast bis zu den Schultern reichte und das Wasser von gräulichem Schaum bedeckt war, konnte der junge Mann ein Erröten nicht verhindern.
    
  "Was machst du hier?"
    
  "Um das Gleichgewicht wiederherzustellen", sagte sie und lächelte über Pauls schwachen Versuch, sich mit einer Hand zu bedecken. "Ich bin dir dankbar, dass du mich gerettet hast."
    
  "Wenn man bedenkt, dass mich der Ball deines Bruders die Treppe hinuntergestoßen hat, würde ich sagen, dass du mir immer noch etwas schuldest."
    
  Alice antwortete nicht. Sie betrachtete ihn aufmerksam und konzentrierte sich auf seine Schultern und die definierten Muskeln seiner sehnigen Arme. Ohne den Kohlenstaub war seine Haut sehr hell.
    
  "Danke trotzdem, Alice", sagte Paul und deutete ihr Schweigen als stillen Vorwurf.
    
  "Du erinnerst dich an meinen Namen."
    
  Nun war es an Paul, zu schweigen. Der Glanz in Alices Augen war verblüffend, und er musste wegschauen.
    
  "Du hast ganz schön zugenommen", fuhr sie nach einer Pause fort.
    
  "Diese Körbe. Sie wiegen eine Tonne, aber das Tragen macht dich stärker."
    
  "Wie kam es, dass Sie Kohle verkauften?"
    
  "Das ist eine lange Geschichte."
    
  Sie nahm einen Hocker aus der Ecke des Badezimmers und setzte sich neben ihn.
    
  "Sag es mir. Wir haben Zeit."
    
  "Hast du keine Angst, dass sie dich hier erwischen?"
    
  "Ich bin vor einer halben Stunde ins Bett gegangen. Die Haushälterin hat nach mir gesehen. Aber es war nicht schwer, an ihr vorbeizuschlüpfen."
    
  Paul nahm ein Stück Seife und begann, es in seiner Hand zu drehen.
    
  "Nach der Party hatte ich einen heftigen Streit mit meiner Tante."
    
  "Wegen deines Cousins?"
    
  "Es lag an etwas, das vor Jahren passiert war, etwas, das mit meinem Vater zu tun hatte. Meine Mutter hatte mir erzählt, er sei bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen, aber am Tag der Feier fand ich heraus, dass sie mich jahrelang belogen hatte."
    
  "So verhalten sich Erwachsene", sagte Alice seufzend.
    
  "Sie haben uns rausgeschmissen, meine Mutter und mich. Dieser Job war der beste, den ich bekommen konnte."
    
  "Ich schätze, du hast Glück."
    
  "Das nennst du Glück?", sagte Paul und verzog das Gesicht. "Von früh bis spät arbeiten und nichts haben, worauf man sich freuen kann, außer ein paar Cent in der Tasche. Ein bisschen Glück!"
    
  "Du hast einen Job, du hast deine Unabhängigkeit, deinen Selbstrespekt. Das ist doch schon mal was", erwiderte sie verärgert.
    
  "Ich würde es gegen jedes dieser Dinger tauschen", sagte er und deutete um sich herum.
    
  "Du hast keine Ahnung, was ich meine, Paul, oder?"
    
  "Mehr als du denkst", spuckte er hervor, außer sich vor Wut. "Du bist schön und intelligent, und du ruinierst alles, indem du so tust, als wärst du unglücklich, eine Rebellin, und mehr Zeit damit verbringst, dich über deine luxuriöse Situation zu beklagen und dir Sorgen darüber zu machen, was andere Leute von dir denken, als Risiken einzugehen und für das zu kämpfen, was du wirklich willst."
    
  Er hielt inne, als ihm plötzlich bewusst wurde, was er gesagt hatte, und er die Gefühle in ihren Augen sah. Er öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, dachte aber, es würde alles nur noch schlimmer machen.
    
  Alice erhob sich langsam von ihrem Stuhl. Einen Moment lang dachte Paul, sie wolle gehen, doch das war nur das erste von vielen Malen, dass er ihre Gefühle im Laufe der Jahre falsch gedeutet hatte. Sie ging zur Badewanne, kniete sich daneben und küsste ihn, sich über das Wasser beugend, auf die Lippen. Zuerst erstarrte Paul, doch dann reagierte er.
    
  Alice wich zurück und starrte ihn an. Paul verstand ihre Schönheit: den herausfordernden Glanz in ihren Augen. Er beugte sich vor und küsste sie, doch diesmal waren seine Lippen leicht geöffnet. Nach einem Augenblick löste sie sich von ihm.
    
  Dann hörte sie das Geräusch der sich öffnenden Tür.
    
    
  15
    
    
  Alice sprang sofort auf und wich vor Paul zurück, doch es war zu spät. Ihr Vater betrat das Badezimmer. Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu; es war nicht nötig. Der Ärmel ihres Kleides war völlig durchnässt, und selbst jemand mit Joseph Tannenbaums beschränkter Fantasie konnte sich erahnen, was kurz zuvor geschehen war.
    
  "Geh in dein Zimmer."
    
  "Aber, Papa...", stammelte sie.
    
  "Jetzt!"
    
  Alice brach in Tränen aus und rannte aus dem Zimmer. Auf dem Weg dorthin wäre sie beinahe über Doris gestolpert, die ihr ein triumphierendes Lächeln schenkte.
    
  "Wie Sie sehen, Fräulein, ist Ihr Vater früher als erwartet nach Hause zurückgekehrt. Ist das nicht wunderbar?"
    
  Paul fühlte sich völlig hilflos, nackt im schnell abkühlenden Wasser sitzend. Als Tannenbaum näher kam, versuchte er aufzustehen, doch der Geschäftsmann packte ihn grob an der Schulter. Obwohl kleiner als Paul, war er kräftiger, als sein korpulentes Äußeres vermuten ließ, und Paul fand keinen Halt auf der glitschigen Badewanne.
    
  Tannenbaum setzte sich auf den Hocker, auf dem Alice nur wenige Minuten zuvor gesessen hatte. Er ließ Pauls Schulter keinen Moment los, und Paul fürchtete, er könnte ihn plötzlich unter Wasser drücken und seinen Kopf unter Wasser drücken.
    
  "Wie heißt du, Bergmann?"
    
  "Paul Reiner."
    
  "Du bist nicht jüdisch, Rainer, oder?"
    
  "Nein, Sir."
    
  "Jetzt pass mal auf", sagte Tannenbaum mit sanfterer Stimme, wie ein Hundetrainer, der mit dem letzten Welpen im Wurf spricht, dem, der am langsamsten lernt. "Meine Tochter ist die Erbin eines großen Vermögens; sie gehört einer Klasse an, die weit über deiner steht. Du bist nur ein Stück Dreck, das an ihrem Schuh klebt. Verstanden?"
    
  Paul antwortete nicht. Er überwand seine Scham und starrte ihn wütend mit zusammengebissenen Zähnen an. In diesem Moment gab es niemanden auf der Welt, den er mehr hasste als diesen Mann.
    
  "Natürlich verstehst du das nicht", sagte Tannenbaum und ließ seine Schulter los. "Nun ja, wenigstens war ich zurück, bevor sie etwas Dummes angestellt hat."
    
  Seine Hand griff nach seinem Portemonnaie und er zog einen dicken Stapel Geldscheine heraus. Er faltete sie ordentlich zusammen und legte sie auf das Marmorwaschbecken.
    
  "Das ist eine Entschädigung für die Unannehmlichkeiten, die Manfreds Ball verursacht hat. Jetzt können Sie gehen."
    
  Tannenbaum ging zur Tür, aber bevor er ging, warf er noch einen letzten Blick auf Paul.
    
  "Natürlich, Rainer, obwohl es dich wahrscheinlich nicht interessieren würde, habe ich den Tag mit dem zukünftigen Schwiegervater meiner Tochter verbracht, um die letzten Details ihrer Hochzeit zu klären. Sie wird im Frühling einen Adligen heiraten."
    
  "Ich schätze, du hast Glück... du bist unabhängig", sagte sie zu ihm.
    
  "Weiß Alice Bescheid?", fragte er.
    
  Tannenbaum schnaubte verächtlich.
    
  "Sprich ihren Namen nie wieder aus."
    
  Paul stieg aus der Badewanne und zog sich an, ohne sich groß abzutrocknen. Es war ihm egal, ob er sich eine Lungenentzündung einfangen würde. Er schnappte sich einen Geldscheinbündel aus dem Waschbecken und ging ins Schlafzimmer, wo Doris ihn von der anderen Seite des Zimmers aus beobachtete.
    
  "Ich begleite Sie zur Tür."
    
  "Lass es", erwiderte der junge Mann und bog in den Flur ein. Die Haustür war am anderen Ende deutlich zu sehen.
    
  "Oh, wir möchten ja nicht, dass Sie versehentlich etwas einstecken", sagte die Haushälterin mit einem spöttischen Grinsen.
    
  "Geben Sie diese Ihrem Herrn zurück, gnädige Frau. Sagen Sie ihm, ich brauche sie nicht", erwiderte Paul mit zitternder Stimme, als er ihm die Geldscheine überreichte.
    
  Er rannte beinahe zum Ausgang, obwohl Doris ihn nicht mehr ansah. Sie betrachtete das Geld, und ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
    
    
  16
    
    
  Die folgenden Wochen waren für Paul eine schwere Zeit. Als er im Stall auftauchte, musste er sich eine widerwillige Entschuldigung von Klaus anhören, der zwar einer Geldstrafe entgangen war, aber dennoch Reue empfand, den jungen Mann im Stich gelassen zu haben. Wenigstens besänftigte das seinen Ärger über Pauls gebrochenen Arm.
    
  "Mitten im Winter sind nur ich und der arme Halbert beim Entladen, angesichts all der Bestellungen, die wir haben. Es ist eine Tragödie."
    
  Paul erwähnte nicht, dass sie nur dank seines Plans und des zweiten Wagens so viele Bestellungen hatten. Er hatte keine Lust zu reden und verfiel in ein Schweigen, so tief wie das von Halbert, stundenlang wie erstarrt auf dem Fahrersitz, seine Gedanken ganz woanders.
    
  Er versuchte einmal, zum Prinzregentenplatz zurückzukehren, als er glaubte, Herr Tannenbaum sei nicht da, doch ein Diener knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Er steckte Alice mehrere Zettel in den Briefkasten und bat sie, ihn in einem nahegelegenen Café zu treffen, aber sie erschien nicht. Gelegentlich ging er an ihrem Haus vorbei, doch sie kam nicht. Schließlich war es ein Polizist, zweifellos von Joseph Tannenbaum angewiesen, der sie dort antraf; er riet Paul, nicht mehr in die Gegend zurückzukehren, es sei denn, er wolle sich am Ende die Zähne im Asphalt auskratzen.
    
  Paul zog sich immer mehr zurück, und die wenigen Male, als er seiner Mutter in der Pension begegnete, wechselten sie kaum ein Wort. Er aß wenig, schlief fast gar nicht und nahm seine Umgebung kaum wahr. Eines Tages verfehlte das Hinterrad eines Karrens den Wagen nur knapp. Während er die Flüche der Fahrgäste ertragen musste, die ihm zuriefen, er hätte sie alle umbringen können, sagte sich Paul, er müsse etwas unternehmen, um den dichten, stürmischen Wolken der Melancholie zu entfliehen, die in seinem Kopf hingen.
    
  Kein Wunder, dass er die Gestalt nicht bemerkte, die ihn eines Nachmittags in der Frauenstraße beobachtete. Der Fremde näherte sich dem Karren zunächst langsam, um ihn genauer zu betrachten, und achtete darauf, Paul nicht zu sehen. Der Mann machte sich Notizen in einem Büchlein, das er in der Tasche trug, und schrieb sorgfältig den Namen "Klaus Graf". Da Paul nun mehr Zeit und eine gesunde Hand hatte, waren die Seiten des Karrens stets sauber und die Buchstaben gut lesbar, was den Ärger des Kohlenhändlers etwas milderte. Schließlich setzte sich der Beobachter in eine nahegelegene Bierhalle, bis die Karren abfuhren. Erst dann näherte er sich dem Anwesen, das sie ihm boten, um diskret Nachforschungen anzustellen.
    
  Jürgen war besonders schlecht gelaunt. Er hatte gerade seine Noten für die ersten vier Monate des Jahres erhalten, und die waren alles andere als ermutigend.
    
  "Ich sollte diesen Idioten Kurt bitten, mir Privatstunden zu geben", dachte er. "Vielleicht erledigt er ja ein paar Aufträge für mich. Ich frage ihn, ob er zu mir nach Hause kommen und meine Schreibmaschine benutzen kann, damit es niemand merkt."
    
  Es war sein letztes Schuljahr, und es ging um einen Studienplatz mit allem, was dazugehörte. Er hatte kein besonderes Interesse an einem Abschluss, aber ihm gefiel die Vorstellung, auf dem Campus zu stolzieren und seinen Adelstitel zur Schau zu stellen. Auch wenn er noch gar keinen hatte.
    
  Dort werden viele hübsche Mädchen sein. Ich werde sie abwehren.
    
  Er saß in seinem Schlafzimmer und fantasierte über Mädchen von der Universität, als das Dienstmädchen - die neue, die seine Mutter eingestellt hatte, nachdem sie die Reiners rausgeschmissen hatte - von der Tür her nach ihm rief.
    
  "Der junge Meister Kron ist hier, um Sie zu sehen, Meister Jürgen."
    
  "Lasst ihn herein."
    
  Jürgen begrüßte seinen Freund mit einem Grunzen.
    
  "Genau den Mann wollte ich sprechen. Ich brauche Ihre Unterschrift auf meinem Zeugnis; wenn mein Vater das sieht, wird er wütend sein. Ich habe den ganzen Morgen versucht, seine Unterschrift zu fälschen, aber sie sieht überhaupt nicht echt aus", sagte er und deutete auf den Boden, der mit zerknüllten Papierfetzen bedeckt war.
    
  Kron warf einen Blick auf den auf dem Tisch aufgeschlagenen Bericht und pfiff überrascht.
    
  "Na ja, wir hatten unseren Spaß, nicht wahr?"
    
  "Du weißt, dass Waburg mich hasst."
    
  "Soweit ich das beurteilen kann, teilt die Hälfte der Lehrer seine Abneigung. Aber mach dir jetzt keine Sorgen um deine schulischen Leistungen, Jürgen, denn ich habe Neuigkeiten für dich. Du musst dich auf die Jagd vorbereiten."
    
  "Wovon redest du? Wen jagen wir?"
    
  Kron lächelte und freute sich schon jetzt über die Anerkennung, die er für seine Entdeckung erhalten würde.
    
  "Der Vogel, der aus dem Nest geflogen ist, mein Freund. Der Vogel mit dem gebrochenen Flügel."
    
    
  17
    
    
  Paul hatte absolut keine Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmte, bis es zu spät war.
    
  Sein Tag begann wie immer mit einer Fahrt mit der Straßenbahn von der Pension zu Klaus Grafs Stallungen am Isarufer. Es war jeden Tag noch dunkel, wenn er ankam, und manchmal musste er Halbert wecken. Er und der Stumme hatten sich nach anfänglichem Misstrauen angefreundet, und Paul genoss diese Momente vor Tagesanbruch, wenn sie die Pferde vor die Wagen spannten und zum Kohlenlager fuhren. Dort beluden sie den Wagen in der Verladehalle, wo ein breites Metallrohr ihn in weniger als zehn Minuten füllte. Ein Angestellter notierte, wie oft die Graf-Männer täglich zum Beladen kamen, damit die Gesamtzahl wöchentlich ermittelt werden konnte. Dann machten sich Paul und Halbert auf den Weg zu ihrem ersten Treffen. Klaus erwartete sie bereits und zog ungeduldig an seiner Pfeife. Eine einfache, aber anstrengende Routine.
    
  An jenem Tag erreichte Paul den Stall und stieß die Tür auf, wie jeden Morgen. Sie war nie abgeschlossen, da sich darin außer den Sicherheitsgurten nichts Wertvolles befand. Halbert schlief nur einen halben Meter von den Pferden entfernt, in einem Zimmer mit einem klapprigen alten Bett rechts neben den Boxen.
    
  "Wach auf, Halbert! Heute schneit es mehr als sonst. Wir müssen etwas früher aufbrechen, wenn wir Musakh rechtzeitig erreichen wollen."
    
  Von seinem stummen Begleiter war keine Spur, aber das war normal. Es dauerte immer eine Weile, bis er auftauchte.
    
  Plötzlich hörte Paul die Pferde nervös in ihren Boxen stampfen, und etwas in ihm verkrampfte sich - ein Gefühl, das er lange nicht mehr verspürt hatte. Seine Lungen fühlten sich bleiern an, und ein saurer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus.
    
  Jürgen.
    
  Er machte einen Schritt auf die Tür zu, blieb aber stehen. Da waren sie, aus jeder Ritze hervorgekommen, und er verfluchte sich, sie nicht früher bemerkt zu haben. Aus dem Schaufelschrank, aus den Pferdeställen, unter den Wagen hervor. Es waren sieben - dieselben sieben, die ihn schon auf Jürgens Geburtstagsfeier heimgesucht hatten. Es schien eine Ewigkeit her. Ihre Gesichter waren breiter und härter geworden, und sie trugen keine Schuljacken mehr, sondern dicke Pullover und Stiefel. Kleidung, die ihrer Aufgabe besser gewachsen war.
    
  "Diesmal wirst du nicht auf Marmor ausrutschen, Cousin", sagte Jürgen und deutete abweisend auf den Lehmboden.
    
  "Halbert!", rief Paul verzweifelt.
    
  "Euer geistig behinderter Freund ist gefesselt im Bett. Wir hätten ihn ganz sicher nicht knebeln müssen", sagte einer der Schläger. Die anderen schienen das sehr amüsant zu finden.
    
  Als die Jungen auf ihn zukamen, sprang Paul auf einen der Karren. Einer von ihnen versuchte, ihn am Knöchel zu packen, doch Paul hob gerade noch rechtzeitig den Fuß und trat dem Jungen auf die Zehen. Es gab ein knirschendes Geräusch.
    
  "Er hat sie kaputt gemacht! Dieser verdammte Mistkerl!"
    
  "Halt die Klappe! In einer halben Stunde wird sich dieser kleine Mistkerl wünschen, er wäre an deiner Stelle", sagte Jürgen.
    
  Mehrere Jungen gingen um den Wagen herum. Aus dem Augenwinkel sah Paul, wie einer von ihnen den Fahrersitz ergriff und versuchte, einzusteigen. Er spürte das Aufblitzen einer Taschenmesserklinge.
    
  Plötzlich erinnerte er sich an eines der vielen Szenarien, die er sich im Zusammenhang mit dem Untergang des Bootes seines Vaters ausgemalt hatte: sein Vater, umzingelt von Feinden, die versuchten, an Bord zu gelangen. Er redete sich ein, dass der Karren sein Boot sei.
    
  Ich lasse sie nicht an Bord.
    
  Er blickte sich verzweifelt um, auf der Suche nach einer Waffe, doch das Einzige, was er finden konnte, waren die Kohlereste, die über den Karren verstreut lagen. Die Splitter waren so klein, dass er vierzig oder fünfzig werfen müsste, um Schaden anzurichten. Mit seinem gebrochenen Arm war Pauls einziger Vorteil die Höhe des Karrens, die ihm genau die richtige Höhe bot, um jeden Angreifer ins Gesicht zu schlagen.
    
  Ein anderer Junge versuchte, sich hinten auf den Einkaufswagen zu schleichen, aber Paul ahnte etwas. Der Junge neben dem Fahrersitz nutzte die kurze Ablenkung und zog sich hoch, zweifellos bereit, Paul auf den Rücken zu springen. Blitzschnell schraubte Paul den Deckel seiner Thermoskanne ab und schüttete dem Jungen heißen Kaffee ins Gesicht. Der Topf war nicht mehr kochend heiß, wie noch vor einer Stunde, als er ihn auf dem Herd in seinem Zimmer gekocht hatte, aber heiß genug, dass der Junge sich die Hände vors Gesicht presste, als hätte er sich verbrüht. Paul stürzte sich auf ihn und stieß ihn vom Wagen. Der Junge fiel mit einem Stöhnen nach hinten.
    
  "Worauf warten wir denn noch? Alle her, schnappt ihn euch!", schrie Jürgen.
    
  Paul sah das Glitzern seines Taschenmessers wieder. Er wirbelte herum, reckte die Fäuste in die Luft und wollte ihnen zeigen, dass er keine Angst hatte, aber jeder in dem schmutzigen Stall wusste, dass es eine Lüge war.
    
  Zehn Hände packten den Einkaufswagen an zehn Stellen. Paul stampfte mit dem Fuß auf, doch innerhalb von Sekunden hatten sie ihn umzingelt. Einer der Schläger packte seinen linken Arm, und als Paul versuchte, sich zu befreien, spürte er einen Faustschlag ins Gesicht. Es knackte und ein stechender Schmerz durchfuhr ihn, als seine Nase gebrochen wurde.
    
  Einen Moment lang sah er nur ein pulsierendes rotes Licht. Er flog hinaus und verfehlte seinen Cousin Jürgen um mehrere Meilen.
    
  "Halt ihn fest, Kron!"
    
  Paul spürte, wie sie ihn von hinten packten. Er versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien, doch es war vergeblich. Innerhalb von Sekunden hatten sie seine Arme auf dem Rücken fixiert und sein Gesicht und seine Brust seinem Cousin schutzlos ausgeliefert. Einer seiner Entführer hielt ihn mit eiserner Faust am Hals fest und zwang Paul, Jürgen direkt anzusehen.
    
  "Kein Weglaufen mehr, was?"
    
  Jürgen verlagerte vorsichtig sein Gewicht auf das rechte Bein und holte mit dem Arm aus. Der Schlag traf Paul mitten in den Magen. Er spürte, wie ihm die Luft aus den Lungen wich, als wäre ein Reifen geplatzt.
    
  "Schlag mich so oft du willst, Jürgen", krächzte Paul, als er wieder zu Atem gekommen war. "Es wird dich nicht davon abhalten, ein nutzloses Schwein zu sein."
    
  Ein weiterer Schlag, diesmal ins Gesicht, spaltete seine Augenbraue. Sein Cousin schüttelte ihm die Hand und massierte seine verletzten Knöchel.
    
  "Seht ihr? Ihr seid sieben für jeden von mir, irgendjemand hält mich zurück, und ihr benehmt euch immer noch schlimmer als ich", sagte Paul.
    
  Jürgen stürzte sich nach vorn und packte seinen Cousin so fest an den Haaren, dass Paul dachte, er würde sie ihm ausreißen.
    
  "Du hast Edward getötet, du Hurensohn."
    
  "Ich habe ihm lediglich geholfen. Das Gleiche kann man von euch anderen nicht behaupten."
    
  "Also, Cousin, behauptest du plötzlich, du hättest etwas mit den Schroeders zu tun? Ich dachte, du hättest dem allem abgeschworen. Hast du das nicht auch der kleinen jüdischen Schlampe erzählt?"
    
  "Nenn sie nicht so."
    
  Jürgen rückte noch näher, bis Paul seinen Atem auf dem Gesicht spürte. Seine Augen ruhten auf Paul, er genoss den Schmerz, den er ihm mit seinen Worten gleich zufügen würde.
    
  "Keine Sorge, sie wird nicht lange eine Hure bleiben. Sie wird jetzt eine anständige Dame sein. Die zukünftige Baronin von Schroeder."
    
  Paul begriff sofort, dass es stimmte, es war nicht nur das übliche Prahlen seines Cousins. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Magen und entlockte ihm einen formlosen, verzweifelten Schrei. Jürgen lachte laut auf, die Augen weit aufgerissen. Schließlich ließ er Pauls Haare los, und Pauls Kopf sank auf seine Brust.
    
  "Na dann, Leute, geben wir ihm, was er verdient."
    
  In diesem Moment warf Paul den Kopf mit aller Kraft zurück. Der Mann hinter ihm lockerte nach Jürgens Schlägen seinen Griff, wohl in der Annahme, den Sieg schon errungen zu haben. Pauls Schädel traf den Banditen mitten ins Gesicht, woraufhin dieser Paul losließ und auf die Knie sank. Die anderen stürzten sich auf Paul, landeten aber alle zusammengekauert auf dem Boden.
    
  Paul schlug wild um sich. Mitten im Chaos spürte er etwas Hartes unter seinen Fingern und packte es. Er versuchte aufzustehen und schaffte es beinahe, als Jürgen ihn bemerkte und auf seinen Cousin losging. Reflexartig bedeckte Paul sein Gesicht, ohne zu ahnen, dass er den Gegenstand, den er gerade aufgehoben hatte, noch in der Hand hielt.
    
  Es ertönte ein furchtbarer Schrei, dann Stille.
    
  Paul zog sich an den Rand des Wagens. Sein Cousin kniete auf dem Boden und wand sich. Der hölzerne Griff eines Taschenmessers ragte aus seiner rechten Augenhöhle. Der Junge hatte Glück: Wären seine Freunde auf die geniale Idee gekommen, etwas Neues zu erschaffen, wäre Jürgen tot.
    
  "Raus damit! Raus damit!", schrie er.
    
  Die anderen starrten ihn wie gelähmt an. Sie wollten nicht mehr dort sein. Für sie war es kein Spiel mehr.
    
  "Es tut weh! Helft mir um Gottes Willen!"
    
  Schließlich gelang es einem der Schläger, aufzustehen und auf Jürgen zuzugehen.
    
  "Tu das nicht!", sagte Paul entsetzt. "Bring ihn ins Krankenhaus und lass es entfernen."
    
  Der andere Junge warf Paul einen ausdruckslosen Blick zu. Es wirkte fast, als wäre er gar nicht da oder hätte keine Kontrolle über sein Handeln. Er ging auf Jürgen zu und legte die Hand auf den Griff seines Taschenmessers. Doch als er es umklammerte, zuckte Jürgen plötzlich in die entgegengesetzte Richtung, und die Klinge des Taschenmessers schlug ihm fast den gesamten Augapfel aus.
    
  Jürgen verstummte plötzlich und hob die Hand zu der Stelle, wo sich das Taschenmesser noch vor einem Augenblick befunden hatte.
    
  "Ich kann nichts sehen. Warum kann ich nichts sehen?"
    
  Dann verlor er das Bewusstsein.
    
  Der Junge, der das Taschenmesser herausgezogen hatte, starrte es ausdruckslos an, während die rosafarbene Masse, die das rechte Auge des zukünftigen Barons war, die Klinge hinunter zu Boden glitt.
    
  "Du musst ihn ins Krankenhaus bringen!", rief Paul.
    
  Die übrigen Bandenmitglieder erhoben sich langsam, noch immer ratlos, was mit ihrem Anführer geschehen war. Sie waren in die Ställe gegangen, in der Erwartung eines einfachen, vernichtenden Sieges; stattdessen geschah das Undenkbare.
    
  Zwei von ihnen packten Jürgen an Armen und Beinen und trugen ihn zur Tür. Die anderen folgten ihnen. Keiner sagte ein Wort.
    
  Nur der Junge mit dem Taschenmesser blieb an Ort und Stelle und blickte Paul fragend an.
    
  "Dann tu es doch, wenn du dich traust", sagte Paul und betete zum Himmel, dass er es nicht tun würde.
    
  Der Junge ließ los, sein Taschenmesser fiel zu Boden, und er rannte auf die Straße. Paul sah ihm nach; dann, endlich allein, begann er zu weinen.
    
    
  18
    
    
  "Ich habe keinerlei Absicht, dies zu tun."
    
  "Du bist meine Tochter, du wirst tun, was ich sage."
    
  "Ich bin kein Gegenstand, den man kaufen oder verkaufen kann."
    
  "Das ist die größte Chance deines Lebens."
    
  "In deinem Leben, meinst du."
    
  "Du bist diejenige, die Baroness werden wird."
    
  "Du kennst ihn nicht, Vater. Er ist ein Schwein, unhöflich, arrogant..."
    
  "Ihre Mutter hat mich bei unserer ersten Begegnung mit sehr ähnlichen Worten beschrieben."
    
  "Haltet sie da raus. Sie würde niemals..."
    
  Wollte ich das Beste für dich? Habe ich versucht, mein eigenes Glück zu sichern?
    
  "... zwang ihre Tochter, einen Mann zu heiraten, den sie hasst. Und dann noch einen Nichtjuden."
    
  "Würdest du lieber jemanden Besseren haben? Einen verhungernden Bettler wie deinen Bergmannsfreund? Der ist ja auch nicht jüdisch, Alice."
    
  "Zumindest ist er ein guter Mensch."
    
  "Es ist das, was du denkst."
    
  "Ich bedeute ihm etwas."
    
  "Du meinst genau dreitausend Mark für ihn."
    
  "Was?"
    
  "An dem Tag, als Ihr Freund zu Besuch kam, habe ich einen Stapel Geldscheine auf dem Waschbecken hinterlassen. Dreitausend Mark für seine Mühen, unter der Bedingung, dass er nie wieder hier auftaucht."
    
  Alice war sprachlos.
    
  "Ich weiß, mein Kind. Ich weiß, es ist schwer..."
    
  "Du lügst."
    
  "Ich schwöre dir, Alice, beim Grab deiner Mutter, dass dein Bergmannsfreund das Geld aus dem Waschbecken genommen hat. Weißt du, über so etwas würde ich keine Witze machen."
    
  "ICH..."
    
  "Die Menschen werden dich immer enttäuschen, Alice. Komm her, umarme mich."
    
  ..."
    
  "Fass mich nicht an!"
    
  "Du wirst das überstehen. Und du wirst lernen, Baron von Schroeders Sohn so zu lieben, wie deine Mutter mich schließlich geliebt hat."
    
  "Ich hasse dich!"
    
  "Alice! Alice, komm zurück!"
    
  Zwei Tage später, im dämmrigen Morgenlicht, verließ sie ihr Zuhause inmitten eines Schneesturms, der die Straßen bereits mit Schnee bedeckt hatte.
    
  Sie packte einen großen Koffer voller Kleidung und all das Geld, das sie zusammenkratzen konnte. Es war nicht viel, aber es würde für ein paar Monate reichen, bis sie einen anständigen Job fand. Ihr absurder, kindischer Plan, nach Prescott zurückzukehren - aus einer Zeit, als es noch normal schien, erste Klasse zu reisen und sich mit Hummer vollzustopfen -, war Vergangenheit. Jetzt fühlte sie sich wie eine andere Alice, jemand, die ihren eigenen Weg gehen musste.
    
  Sie nahm auch ein Medaillon mit, das ihrer Mutter gehört hatte. Es enthielt ein Foto von Alice und ein weiteres von Manfred. Ihre Mutter hatte es bis zu ihrem Tod um den Hals getragen.
    
  Bevor Alice ging, hielt sie einen Moment vor der Tür ihres Bruders inne. Sie legte die Hand auf den Türknauf, öffnete die Tür aber nicht. Sie fürchtete, der Anblick von Manfreds rundem, unschuldigem Gesicht würde ihren Entschluss schwächen. Ihre Willenskraft erwies sich bereits als deutlich schwächer als erwartet.
    
  Jetzt war es an der Zeit, all das zu ändern, dachte sie, als sie auf die Straße hinaustrat.
    
  Ihre Lederstiefel hinterließen schlammige Spuren im Schnee, aber der Schneesturm erledigte das und spülte sie beim Vorbeiziehen weg.
    
    
  19
    
    
  Am Tag des Angriffs kamen Paul und Halbert eine Stunde zu spät zu ihrer ersten Lieferung. Klaus Graf wurde vor Wut kreidebleich. Als er Pauls zerschundenes Gesicht sah und seine Geschichte hörte - bestätigt durch Halberts ständiges Nicken, als Paul ihn gefesselt ans Bett gefesselt und mit einem Ausdruck tiefer Demütigung im Gesicht vorfand -, schickte er ihn nach Hause.
    
  Am nächsten Morgen war Paul überrascht, den Grafen im Stall anzutreffen, einem Ort, den er normalerweise erst später am Tag aufsuchte. Noch immer verwirrt von den jüngsten Ereignissen, bemerkte er den seltsamen Blick des Köhlers nicht.
    
  "Guten Tag, Herr Graf. Was machen Sie hier?", fragte er vorsichtig.
    
  "Nun ja, ich wollte nur sichergehen, dass es keine weiteren Probleme gibt. Können Sie mir versichern, dass diese Typen nicht zurückkommen werden, Paul?"
    
  Der junge Mann zögerte einen Moment, bevor er antwortete.
    
  "Nein, Sir. Das kann ich nicht."
    
  "Das dachte ich mir auch."
    
  Klaus durchwühlte seinen Mantel und zog ein paar zerknitterte, schmutzige Geldscheine heraus. Schuldbewusst reichte er sie Paul.
    
  Paul nahm sie und zählte sie im Kopf.
    
  "Ein Teil meines Monatsgehalts, einschließlich des heutigen. Herr, kündigen Sie mir?"
    
  "Ich habe über das nachgedacht, was gestern passiert ist... Ich will keinen Ärger, verstehen Sie?"
    
  "Selbstverständlich, Sir."
    
  "Du scheinst nicht überrascht zu sein", sagte Klaus, der tiefe Augenringe hatte, zweifellos die Folge einer schlaflosen Nacht, in der er sich überlegt hatte, ob er den Kerl feuern sollte oder nicht.
    
  Paul sah ihn an und überlegte, ob er ihm erklären sollte, in welch tiefen Abgrund ihn die Geldscheine in seiner Hand gestürzt hatten. Er entschied sich dagegen, da der Bergmann bereits um seine missliche Lage wusste. Stattdessen wählte er Ironie, die ihm immer häufiger als Mittel zum Zweck diente.
    
  "Das ist das zweite Mal, dass Sie mich verraten haben, Herr Graf. Verrat verliert beim zweiten Mal seinen Reiz."
    
    
  20
    
    
  "Das kannst du mir nicht antun!"
    
  Der Baron lächelte und nippte an seinem Kräutertee. Er genoss die Situation, und was noch schlimmer war, er unternahm nicht einmal den Versuch, es zu verbergen. Zum ersten Mal sah er eine Gelegenheit, an jüdisches Geld zu kommen, ohne Jürgen verheiraten zu müssen.
    
  "Mein lieber Tannenbaum, ich verstehe überhaupt nicht, wie ich irgendetwas tue."
    
  "Genau!"
    
  "Es gibt keine Braut, oder?"
    
  "Nun ja, nein", gab Tannenbaum widerwillig zu.
    
  "Dann kann es keine Hochzeit geben. Und da die Abwesenheit der Braut", sagte er und räusperte sich, "in Ihrer Verantwortung liegt, ist es angemessen, dass Sie die Kosten übernehmen."
    
  Tannenbaum rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und suchte nach einer Antwort. Er schenkte sich noch mehr Tee und eine halbe Schale Zucker ein.
    
  "Ich sehe, es gefällt Ihnen", sagte der Baron und hob eine Augenbraue. Der Ekel, den Joseph in ihm ausgelöst hatte, wandelte sich mit der Verschiebung des Machtverhältnisses allmählich in eine seltsame Faszination.
    
  "Nun ja, schließlich habe ich ja den Zucker bezahlt."
    
  Der Baron reagierte mit einer Grimasse.
    
  "Es besteht kein Grund, unhöflich zu sein."
    
  "Halten Sie mich für einen Idioten, Baron? Sie haben mir versprochen, mit dem Geld eine Gummifabrik zu bauen, wie die, die Sie vor fünf Jahren verloren haben. Ich habe Ihnen geglaubt und Ihnen die enorme Summe überwiesen, die Sie verlangt haben. Und was sehe ich zwei Jahre später? Sie haben die Fabrik nicht nur nicht gebaut, sondern das Geld ist auch noch in einem Aktienportfolio gelandet, zu dem nur Sie Zugang haben."
    
  "Das sind sichere Reserven, Tannenbaum."
    
  "Das mag sein. Aber ich traue ihrem Hüter nicht. Es wäre nicht das erste Mal, dass Sie die Zukunft Ihrer Familie auf eine vermeintlich erfolgversprechende Kombination setzen."
    
  Ein Ausdruck des Grolls huschte über Baron Otto von Schröders Gesicht, den er sich jedoch nicht eingestehen wollte. Er war vor Kurzem wieder dem Spielfieber verfallen und verbrachte lange Nächte damit, den Lederordner mit den Investitionen zu betrachten, die er mit Tannenbaums Geld getätigt hatte. Jede einzelne enthielt eine Sofortliquiditätsklausel, die es ihm ermöglichte, sie innerhalb von gut einer Stunde in Bündel von Banknoten umzuwandeln - mit nur seiner Unterschrift und einer empfindlichen Strafe. Er machte sich nichts vor: Er wusste, warum diese Klausel enthalten war. Er kannte das Risiko, das er einging. Er trank immer mehr vor dem Schlafengehen, und letzte Woche kehrte er an die Spieltische zurück.
    
  Nicht in einem Münchner Casino; so dumm war er nicht. Er zog sich die schlichtesten Kleider an, die er finden konnte, und suchte ein Etablissement in der Altstadt auf. Ein Keller mit Sägespänen auf dem Boden und Prostituierten, die mehr Farbe an den Körpern hatten als man in der Alten Pinakothek finden würde. Er bestellte ein Glas Korn und setzte sich an einen Tisch, an dem der Mindesteinsatz nur zwei Mark betrug. Er hatte fünfhundert Dollar in der Tasche - mehr wollte er nicht ausgeben.
    
  Das Schlimmste, was passieren konnte, ist eingetreten: Er hat gewonnen.
    
  Selbst mit den schmutzigen, zusammengeklebten Karten wie frisch Verheiratete in den Flitterwochen, selbst berauscht vom selbstgebrannten Schnaps und dem Rauch, der ihm in den Augen brannte, selbst mit dem üblen Gestank, der in der Luft des Kellers hing, gewann er. Nicht viel - gerade genug, um diesen Ort ohne Messerstich zu verlassen. Aber er gewann, und nun wollte er immer öfter spielen. "Ich fürchte, du musst meinem Urteilsvermögen in Geldangelegenheiten einfach vertrauen, Tannenbaum."
    
  Der Industrielle lächelte skeptisch.
    
  "Ich sehe ein, dass ich am Ende ohne Geld und ohne Hochzeit dastehen werde. Obwohl ich ja immer noch den von Ihnen für mich ausgestellten Akkreditivbrief einlösen könnte, Baron."
    
  Schroeder schluckte. Er würde niemandem erlauben, die Mappe aus der Schublade in seinem Büro zu nehmen. Und das nicht nur deshalb, weil die Dividenden nach und nach seine Schulden deckten.
    
  NEIN.
    
  Dieser Ordner - während er ihn streichelte und sich vorstellte, was er mit dem Geld alles anstellen könnte - war das Einzige, was ihm durch die langen Nächte half.
    
  "Wie ich schon sagte, es gibt keinen Grund, unhöflich zu sein. Ich habe Ihnen eine Hochzeit zwischen unseren Familien versprochen, und genau das werden Sie bekommen. Bringen Sie mir eine Braut, und mein Sohn wird auf sie warten."
    
  Jürgen sprach drei Tage lang nicht mit seiner Mutter.
    
  Als der Baron vor einer Woche seinen Sohn aus dem Krankenhaus abholte, hörte er sich die stark einseitige Geschichte des jungen Mannes an. Er war betroffen von dem Geschehenen - noch mehr als von Eduards schwer entstellter Rückkehr, dachte Jürgen töricht -, weigerte sich aber, die Polizei einzuschalten.
    
  "Wir dürfen nicht vergessen, dass es die Jungen waren, die das Taschenmesser mitgebracht haben", sagte der Baron und rechtfertigte damit seine Position.
    
  Jürgen wusste jedoch, dass sein Vater log und einen viel wichtigeren Grund verbarg. Er versuchte, mit Brunhilda zu sprechen, doch sie wich dem Thema immer wieder aus und bestätigte damit seinen Verdacht, dass sie ihm nur einen Teil der Wahrheit erzählten. Wütend schloss sich Jürgen in völliger Stille ein, in der Hoffnung, seine Mutter so zu besänftigen.
    
  Brunhilda litt, gab aber nicht auf.
    
  Stattdessen konterte sie, indem sie ihren Sohn mit Aufmerksamkeit überschüttete und ihm unzählige Geschenke, Süßigkeiten und seine Lieblingsspeisen brachte. Es ging so weit, dass selbst jemand so verwöhnt, ungezogen und egozentrisch wie Jürgen sich eingeengt fühlte und sich danach sehnte, das Haus zu verlassen.
    
  Als Krohn also mit einem seiner üblichen Vorschläge an Jürgen herantrat - nämlich, dass er an einer politischen Versammlung teilnehmen solle -, reagierte Jürgen anders als sonst.
    
  "Los geht"s", sagte er und griff nach seinem Mantel.
    
  Krohn, der jahrelang versucht hatte, Jürgen für die Politik zu gewinnen und selbst Mitglied verschiedener nationalistischer Parteien war, freute sich sehr über die Entscheidung seines Freundes.
    
  "Ich bin sicher, das wird dich von den Dingen ablenken", sagte er, immer noch beschämt über das, was vor einer Woche im Stall passiert war, als sieben gegen einen verloren hatten.
    
  Jürgen hatte geringe Erwartungen. Er nahm immer noch Beruhigungsmittel gegen die Schmerzen seiner Wunde, und während sie mit dem Trolleybus in Richtung Stadtzentrum fuhren, berührte er nervös den dicken Verband, den er noch einige Tage tragen musste.
    
  Und dann noch eine Auszeichnung für den Rest seines Lebens, alles wegen dieses armen Schweins Paul, dachte er und empfand unglaubliches Selbstmitleid.
    
  Zu allem Überfluss verschwand sein Cousin spurlos. Zwei seiner Freunde spionierten im Stall nach und stellten fest, dass er dort nicht mehr arbeitete. Jürgen ahnte, dass er Paul so schnell nicht finden würde, und das quälte ihn zutiefst.
    
  Verloren in seinem eigenen Hass und Selbstmitleid, hörte der Sohn des Barons auf dem Weg zum Hofbräuhaus kaum, was Kron sagte.
    
  "Er ist ein hervorragender Redner. Ein großartiger Mann. Du wirst sehen, Jürgen."
    
  Auch die prachtvolle Kulisse, die alte Brauerei, die vor über drei Jahrhunderten für die bayerischen Könige erbaut worden war, und die Fresken an den Wänden beachtete er nicht. Er setzte sich neben Kron auf eine der Bänke in der riesigen Halle und nippte in ernster Stille an seinem Bier.
    
  Als der Redner, von dem Kron so geschwärmt hatte, die Bühne betrat, dachte Jürgen, sein Freund sei verrückt geworden. Der Mann schlurfte, als hätte ihn eine Biene in den Hintern gestochen, und sah nicht so aus, als hätte er etwas zu sagen. Er strahlte alles aus, was Jürgen verabscheute, von seiner Frisur und seinem Schnurrbart bis hin zu seinem billigen, zerknitterten Anzug.
    
  Fünf Minuten später blickte Jürgen ehrfürchtig umher. Die Menge, mindestens tausend Personen, stand in der Halle und herrschte absolute Stille. Die Lippen bewegten sich kaum, außer um zu flüstern: "Gut gesagt" oder "Er hat Recht." Die Hände der Menge sprachen für sich; bei jeder Pause klatschten sie laut.
    
  Fast widerwillig begann Jürgen zuzuhören. Er verstand kaum, worüber gesprochen wurde; er lebte am Rande der Welt um ihn herum, nur mit seinem eigenen Vergnügen beschäftigt. Er erkannte verstreute Bruchstücke, Fetzen von Sätzen, die sein Vater beim Frühstück hinter seiner Zeitung verschluckt hatte. Flüche gegen die Franzosen, die Engländer, die Russen. Reiner Unsinn, alles.
    
  Doch aus diesem Durcheinander begann Jürgen, eine einfache Bedeutung herauszulesen. Nicht aus den Worten, die er kaum verstand, sondern aus der Emotion in der Stimme des kleinen Mannes, aus seinen übertriebenen Gesten, aus den geballten Fäusten am Ende jeder Zeile.
    
  Es ist ein schreckliches Unrecht geschehen.
    
  Deutschland wurde in den Rücken gestochen.
    
  Juden und Freimaurer bewahrten diesen Dolch in Versailles auf.
    
  Deutschland war verloren.
    
  Die Schuld für Armut, Arbeitslosigkeit und die Barfußlaufen deutscher Kinder wurde den Juden zugeschrieben, die die Regierung in Berlin wie eine riesige, gedankenlose Marionette kontrollierten.
    
  Jürgen, dem die nackten Füße deutscher Kinder völlig egal waren, dem Versailles gleichgültig war - dem außer Jürgen von Schröder nie jemand etwas bedeutet hatte -, stand fünfzehn Minuten später auf und applaudierte dem Redner begeistert. Noch bevor die Rede zu Ende war, schwor er sich, diesem Mann überallhin zu folgen.
    
  Nach der Besprechung entschuldigte sich Kron mit den Worten, er käme bald zurück. Jürgen verstummte, bis sein Freund ihm auf die Schulter klopfte. Er führte den Redner herein, der erneut ärmlich und zerzaust aussah und misstrauisch und abweisend wirkte. Doch der Erbe des Barons konnte ihn nicht länger so sehen und trat vor, um ihn zu begrüßen. Kron sagte lächelnd:
    
  "Mein lieber Jürgen, darf ich Ihnen Adolf Hitler vorstellen?"
    
    
  ZUGELASSENER STUDENT
    
  1923
    
    
  In der der Eingeweihte eine neue Realität mit neuen Regeln entdeckt
    
  Dies ist der geheime Handschlag eines neuen Lehrlings, mit dem man andere Freimaurer als solche erkennt. Dabei drückt man den Daumen gegen den Knöchel des Zeigefingers des Begrüßten, der dann erwidert. Der geheime Name lautet "BOOZ", nach der Mondsäule im Tempel Salomos. Hat ein Freimaurer Zweifel an der Echtheit einer Person, die behauptet, ebenfalls Freimaurer zu sein, bittet er sie, ihren Namen zu buchstabieren. Betrüger beginnen mit dem Buchstaben B, wahre Eingeweihte hingegen mit dem dritten Buchstaben: ABOZ.
    
    
  21
    
    
  "Guten Tag, Frau Schmidt", sagte Paul. "Was darf ich Ihnen bringen?"
    
  Die Frau blickte sich hastig um und versuchte, den Anschein zu erwecken, sie überlege sich etwas, doch in Wahrheit hatte sie den Sack Kartoffeln im Visier, in der Hoffnung, das Preisschild zu entdecken. Vergeblich. Da Paul es leid war, die Preise täglich ändern zu müssen, begann er, sie sich jeden Morgen einzuprägen.
    
  "Zwei Kilo Kartoffeln, bitte", sagte sie und wagte es nicht zu fragen, wie viel.
    
  Paul begann, die Knollen auf die Waage zu legen. Hinter der Dame betrachteten ein paar Jungen die ausgestellten Süßigkeiten, ihre Hände fest in ihren leeren Taschen vergraben.
    
  "Sechzigtausend Mark kosten sie das Kilo!", dröhnte eine raue Stimme hinter dem Tresen.
    
  Die Frau warf Herrn Ziegler, dem Inhaber des Lebensmittelgeschäfts, nur einen kurzen Blick zu, doch ihr Gesicht rötete sich angesichts des hohen Preises.
    
  "Es tut mir leid, gnädige Frau ... ich habe nicht mehr viele Kartoffeln", log Paul, um ihr die Peinlichkeit zu ersparen, ihre Bestellung kürzen zu müssen. Er hatte sich den ganzen Morgen verausgabt, um im Garten Säcke voller Kartoffeln zu stapeln. "Viele unserer Stammkunden kommen noch. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Ihnen nur ein Kilo gebe?"
    
  Die Erleichterung in ihrem Gesicht war so deutlich zu sehen, dass Paul sich abwenden musste, um sein Lächeln zu verbergen.
    
  "Na schön. Dann muss ich mich wohl damit abfinden."
    
  Paul nahm so lange Kartoffeln aus dem Sack, bis die Waage bei 1000 Gramm stehen blieb. Die letzte, besonders große Kartoffel nahm er nicht heraus, sondern hielt sie in der Hand, während er das Gewicht überprüfte, und legte sie dann zurück in den Sack, den er Paul reichte.
    
  Die Frau bemerkte die Geste; ihre Hand zitterte leicht, als sie bezahlte und ihre Tasche vom Tresen nahm. Gerade als sie gehen wollten, rief Herr Ziegler sie zurück.
    
  "Nur einen Moment!"
    
  Die Frau drehte sich um und wurde kreidebleich.
    
  "Ja?"
    
  "Ihr Sohn hat das verloren, Madam", sagte der Ladenbesitzer und reichte ihm die Mütze des kleinsten Jungen.
    
  Die Frau murmelte Worte des Dankes und rannte praktisch hinaus.
    
  Herr Ziegler ging zurück hinter den Tresen. Er rückte seine kleine runde Brille zurecht und wischte die Erbsenkonserven weiter mit einem weichen Tuch ab. Der Laden war blitzsauber, denn Paul hielt ihn penibel sauber, und damals blieb nichts lange genug im Laden stehen, um Staub anzusetzen.
    
  "Ich habe Sie gesehen", sagte der Ladenbesitzer, ohne aufzusehen.
    
  Paul zog eine Zeitung unter der Theke hervor und begann darin zu blättern. An diesem Donnerstag würden keine Kunden mehr kommen, und die meisten Leute hatten schon vor einigen Tagen kein Geld mehr bekommen. Aber der nächste Tag würde die Hölle werden.
    
  "Ich weiß, Sir."
    
  "Warum hast du dann so getan?"
    
  "Es musste so aussehen, als ob Sie nicht bemerkt hätten, dass ich ihr eine Kartoffel gab, Sir. Sonst müssten wir ja jedem ein kostenloses Abzeichen geben."
    
  "Diese Kartoffeln werden von Ihrem Gehalt abgezogen", sagte Ziegler und versuchte, drohend zu klingen.
    
  Paul nickte und las weiter. Er hatte schon lange keine Angst mehr vor dem Ladenbesitzer, nicht nur, weil dieser seine Drohungen nie wahr machte, sondern auch, weil dessen raue Art nur eine Maske war. Paul lächelte in sich hinein, als er sich daran erinnerte, dass er kurz zuvor beobachtet hatte, wie Ziegler dem Jungen eine Handvoll Süßigkeiten in die Mütze stopfte.
    
  "Ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie an diesen Zeitungen so interessant fanden", sagte der Ladenbesitzer kopfschüttelnd.
    
  Was Paul schon seit einiger Zeit verzweifelt in den Zeitungen suchte, war ein Weg, Herrn Zieglers Geschäft zu retten. Wenn er keinen fand, würde der Laden innerhalb von zwei Wochen bankrottgehen.
    
  Plötzlich blieb er zwischen zwei Seiten der Allgemeinen Zeitung stehen. Sein Herz machte einen Sprung. Da war sie: die Idee, präsentiert in einem kleinen, zweispaltigen Artikel, fast unbedeutend neben den großen Schlagzeilen, die endlose Katastrophen und den möglichen Zusammenbruch der Regierung verkündeten. Er hätte sie womöglich übersehen, hätte er nicht genau danach gesucht.
    
  Es war Wahnsinn.
    
  Es war unmöglich.
    
  Aber wenn es klappt... werden wir reich sein.
    
  Es würde funktionieren. Paul war sich sicher. Die größte Herausforderung wäre es, Herrn Ziegler zu überzeugen. Ein konservativer alter Preuße wie er würde einem solchen Plan niemals zustimmen, nicht einmal in Pauls kühnsten Träumen. Paul konnte sich nicht einmal vorstellen, ihn vorzuschlagen.
    
  "Also muss ich mir schnell etwas einfallen lassen", sagte er sich und biss sich auf die Lippe.
    
    
  22
    
    
  Alles begann mit dem Attentat auf Minister Walther Rathenau, einen prominenten jüdischen Industriellen. Die Verzweiflung, die Deutschland zwischen 1922 und 1923 erfasste, als zwei Generationen den Zusammenbruch ihrer Werte miterlebten, nahm ihren Anfang an einem Morgen, als drei Studenten mit ihrem Auto vor Rathenaus Wagen fuhren, ihn mit Maschinengewehrfeuer beschossen und eine Handgranate nach ihm warfen. Am 24. Juni 1922 wurde ein schrecklicher Samen gesät; mehr als zwei Jahrzehnte später sollte er zum Tod von über fünfzig Millionen Menschen führen.
    
  Bis zu jenem Tag dachten die Deutschen, die Lage sei bereits schlimm. Doch von diesem Moment an, als das ganze Land im Chaos versank, wollten sie nur noch zurück zum Alten. Rathenau leitete das Auswärtige Amt. In jenen turbulenten Zeiten, als Deutschland seinen Gläubigern ausgeliefert war, war dies ein Amt, das sogar wichtiger war als das des Staatspräsidenten.
    
  Am Tag von Rathenaus Ermordung fragte sich Paul, ob die Studenten es getan hatten, weil er Jude war, weil er Politiker war oder um Deutschland bei der Bewältigung der Versailler Katastrophe zu helfen. Die unmöglichen Reparationszahlungen, die das Land - bis 1984! - leisten musste, hatten die Bevölkerung in Armut gestürzt, und Rathenau war die letzte Bastion der Vernunft.
    
  Nach seinem Tod begann das Land, Geld zu drucken, nur um seine Schulden zu begleichen. War den Verantwortlichen bewusst, dass jede gedruckte Münze die anderen entwertete? Wahrscheinlich schon, aber was hätten sie sonst tun sollen?
    
  Im Juni 1922 kostete eine Mark zwei Zigaretten; 272 Mark entsprachen einem US-Dollar. Im März 1923, genau an dem Tag, als Paul Frau Schmidt unachtsam eine zusätzliche Kartoffel in die Tasche steckte, brauchte man bereits 5.000 Mark für Zigaretten und 20.000, um mit einem frischen Dollarschein zur Bank zu gehen.
    
  Familien kämpften darum, mit dem immer größer werdenden Wahnsinn Schritt zu halten. Jeden Freitag, dem Zahltag, warteten die Frauen vor den Fabriktoren auf ihre Männer. Dann stürmten sie plötzlich die Läden und Lebensmittelgeschäfte, überfluteten den Viktualienmarkt am Marienplatz und gaben ihren letzten Cent für das Nötigste aus. Sie kehrten mit vollen Taschen nach Hause zurück und versuchten, bis zum Ende der Woche durchzuhalten. An den anderen Wochentagen herrschte in Deutschland kaum Geschäftsverkehr. Die Taschen waren leer. Und am Donnerstagabend hatte der Produktionschef von BMW so viel Geld wie ein alter Landstreicher, der seine Stümpfe durch den Schlamm unter den Isarbrücken schleppte.
    
  Viele konnten es nicht ertragen.
    
  Am meisten litten die Alten, die Menschen mit wenig Fantasie, die vieles für selbstverständlich hielten. Ihr Verstand konnte all diese Veränderungen, dieses ständige Hin und Her in der Welt, nicht verkraften. Viele begingen Selbstmord. Andere verarmten.
    
  Andere haben sich verändert.
    
  Paul war einer von denen, die sich veränderten.
    
  Nach seiner Entlassung durch Herrn Graf erlebte Paul einen furchtbaren Monat. Er hatte kaum Zeit, seinen Zorn über Jürgens Angriff und die Enthüllung von Alices Schicksal zu überwinden oder sich mehr als flüchtig mit dem Geheimnis um den Tod seines Vaters auseinanderzusetzen. Wieder einmal war der Überlebenswille so stark, dass er seine Gefühle unterdrücken musste. Doch nachts flammte oft ein stechender Schmerz auf, der seine Träume mit Gespenstern erfüllte. Er konnte oft nicht schlafen, und oft dachte er morgens, wenn er in seinen abgewetzten, schneebedeckten Stiefeln durch die Straßen Münchens ging, an den Tod.
    
  Manchmal, wenn er arbeitslos in die Pension zurückkehrte, ertappte er sich dabei, wie er mit leerem Blick auf Isar von Ludwigsbrücke starrte. Er wollte sich in die eisigen Fluten stürzen, sich von der Strömung zur Donau und von dort ins Meer treiben lassen. Diese unwirkliche Wasserfläche hatte er nie gesehen, aber dort, so glaubte er immer, hatte sein Vater sein Ende gefunden.
    
  In solchen Fällen musste er sich eine Ausrede einfallen lassen, um nicht die Mauer zu erklimmen oder zu springen. Das Bild seiner Mutter, die jeden Abend im Internat auf ihn wartete, und die Gewissheit, dass sie ohne ihn nicht überleben würde, hinderten ihn daran, das Feuer in sich endgültig zu löschen. In anderen Fällen hielt ihn das Feuer selbst und die Gründe für seinen Ursprung zurück.
    
  Bis schließlich ein Hoffnungsschimmer aufleuchtete. Doch er führte zum Tod.
    
  Eines Morgens brach ein Lieferant mitten auf der Straße vor Pauls Füßen zusammen. Sein leerer Einkaufswagen war umgekippt. Die Räder drehten sich noch, als Paul sich hinhockte und versuchte, dem Mann aufzuhelfen, doch dieser konnte sich nicht bewegen. Er rang verzweifelt nach Luft, seine Augen waren glasig. Ein anderer Passant kam hinzu. Er war dunkel gekleidet und trug eine Lederaktentasche.
    
  "Platz da! Ich bin Arzt!"
    
  Der Arzt versuchte eine Zeitlang, den Gefallenen wiederzubeleben, jedoch vergeblich. Schließlich stand er auf und schüttelte den Kopf.
    
  "Herzinfarkt oder Embolie. Kaum zu glauben bei jemandem, der so jung ist."
    
  Paul betrachtete das Gesicht des Toten. Er musste höchstens neunzehn Jahre alt gewesen sein, vielleicht auch jünger.
    
  Ich auch, dachte Paul.
    
  "Doktor, werden Sie sich um die Leiche kümmern?"
    
  "Das geht nicht, wir müssen auf die Polizei warten."
    
  Als die Beamten eintrafen, schilderte Paul geduldig den Hergang des Geschehens. Der Arzt bestätigte seine Aussage.
    
  "Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich das Auto an den Besitzer zurückgebe?"
    
  Der Beamte warf einen Blick auf den leeren Einkaufswagen und musterte dann Paul lange und eindringlich. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, den Einkaufswagen zurück zur Polizeiwache zu schleppen.
    
  "Wie heißt du, Kumpel?"
    
  "Paul Reiner."
    
  "Und warum sollte ich Ihnen vertrauen, Paul Reiner?"
    
  "Weil ich mehr Geld verdiene, wenn ich das dem Ladenbesitzer bringe, als wenn ich versuche, diese schlecht vernagelten Holzstücke auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen", sagte Paul ganz ehrlich.
    
  "Sehr gut. Sagen Sie ihm, er soll sich bei der Polizei melden. Wir müssen seine nächsten Angehörigen kennen. Wenn er sich nicht innerhalb von drei Stunden meldet, werden Sie sich bei mir verantworten müssen."
    
  Der Beamte gab ihm die Rechnung, die er gefunden hatte. Darauf war in sauberer Handschrift die Adresse eines Lebensmittelgeschäfts in einer Straße in der Nähe des Isartors vermerkt, zusammen mit den letzten Gegenständen, die der tote Junge transportiert hatte: 1 Kilogramm Kaffee, 3 Kilogramm Kartoffeln, 1 Beutel Zitronen, 1 Dose Krunz-Suppe, 1 Kilogramm Salz, 2 Flaschen Maisalkohol.
    
  Als Paul mit einer Schubkarre im Laden ankam und nach der Stelle des toten Jungen fragte, warf ihm Herr Ziegler einen ungläubigen Blick zu, ähnlich dem, den er Paul sechs Monate später zuwarf, als der junge Mann ihm seinen Plan erklärte, sie vor dem Ruin zu retten.
    
  "Wir müssen den Laden in eine Bank umwandeln."
    
  Dem Ladenbesitzer fiel das Marmeladenglas, das er gerade putzte, aus der Hand, und es wäre auf dem Boden zerbrochen, wenn Paul es nicht in der Luft aufgefangen hätte.
    
  "Wovon redest du? Warst du betrunken?", sagte er und blickte auf die riesigen Ringe unter den Augen des Jungen.
    
  "Nein, Sir", sagte Paul, der die ganze Nacht kein Auge zugetan und den Plan immer wieder im Kopf durchgespielt hatte. Er verließ sein Zimmer im Morgengrauen und bezog eine halbe Stunde vor der Öffnung des Rathauses Stellung. Dann rannte er von Fenster zu Fenster und sammelte Informationen über Genehmigungen, Steuern und die allgemeinen Bedingungen. Er kehrte mit einem dicken Pappordner zurück. "Ich weiß, das mag verrückt klingen, ist es aber nicht. Im Moment ist Geld wertlos. Die Löhne steigen täglich, und wir müssen jeden Morgen unsere Preise neu kalkulieren."
    
  "Ja, das erinnert mich daran: Ich musste das alles heute Morgen selbst machen", sagte der Ladenbesitzer genervt. "Sie können sich nicht vorstellen, wie anstrengend das war. Und das an einem Freitag! In zwei Stunden wird der Laden brechend voll sein."
    
  "Ich weiß, Sir. Und wir müssen alles daransetzen, den gesamten Lagerbestand heute noch loszuwerden. Heute Nachmittag werde ich mit einigen unserer Kunden sprechen und ihnen Waren im Tausch gegen Arbeitsleistung anbieten, da die Arbeiten am Montag fällig sind. Wir werden die behördliche Abnahme am Dienstagmorgen bestehen und am Mittwoch eröffnen."
    
  Ziegler sah aus, als hätte Paul ihn gebeten, seinen Körper mit Marmelade zu beschmieren und nackt über den Marienplatz zu laufen.
    
  "Absolut nicht. Dieses Geschäft gibt es seit 73 Jahren. Es wurde von meinem Urgroßvater gegründet, dann an meinen Großvater weitergegeben, der es wiederum an meinen Vater weitergab, und schließlich an mich."
    
  Paul sah die Besorgnis in den Augen des Ladenbesitzers. Er wusste, dass er kurz davor stand, wegen Ungehorsams und Wahnsinns gefeuert zu werden. Also beschloss er, alles zu riskieren.
    
  "Das ist eine wunderbare Geschichte, mein Herr. Aber leider wird diese ganze Tradition in zwei Wochen, wenn jemand, der nicht Ziegler heißt, bei einer Gläubigerversammlung das Geschäft übernimmt, als wertlos gelten."
    
  Der Ladenbesitzer hob anklagend den Finger, bereit, Paul für seine Bemerkungen zu tadeln, doch dann erinnerte er sich an seine Lage und sank in einen Stuhl. Seine Schulden hatten sich seit Beginn der Krise angehäuft - Schulden, die, anders als bei so vielen anderen, nicht einfach in Luft aufgelöst waren. Der Silberstreif am Horizont dieses ganzen Wahnsinns war - für manche -, dass diejenigen mit Hypotheken und jährlichen Zinsen diese angesichts der starken Zinsschwankungen schnell abbezahlen konnten. Leider konnten diejenigen wie Ziegler, die einen Teil ihres Einkommens anstatt eines festen Geldbetrags gespendet hatten, am Ende nur verlieren.
    
  "Ich verstehe das nicht, Paul. Wie soll das mein Unternehmen retten?"
    
  Der junge Mann brachte ihm ein Glas Wasser und zeigte ihm dann einen Artikel, den er aus der gestrigen Zeitung ausgerissen hatte. Paul hatte ihn schon so oft gelesen, dass die Tinte stellenweise verschmiert war. "Es ist ein Artikel von einem Universitätsprofessor. Er sagt, dass wir in Zeiten wie diesen, in denen die Menschen sich nicht auf Geld verlassen können, in die Vergangenheit blicken sollten. In eine Zeit, in der es kein Geld gab. Einen Tauschhandel."
    
  "Aber..."
    
  "Bitte, mein Herr, geben Sie mir einen Moment. Leider kann niemand einen Nachttisch oder drei Flaschen Schnaps gegen andere Dinge eintauschen, und die Pfandhäuser sind voll. Daher müssen wir uns auf Versprechungen verlassen. In Form von Dividenden."
    
  "Ich verstehe das nicht", sagte der Ladenbesitzer, und ihm wurde schwindelig.
    
  "Aktien, Herr Ziegler. Der Aktienmarkt wird sich davon erholen. Aktien werden Geld ersetzen. Und wir werden sie verkaufen."
    
  Ziegler gab auf.
    
  Paul schlief die nächsten fünf Nächte kaum. Es war überhaupt nicht schwer, die Handwerker - Zimmerleute, Stuckateure, Schreiner - davon zu überzeugen, am Freitag kostenlos Lebensmittel anzunehmen und dafür am Wochenende zu arbeiten. Manche waren sogar so dankbar, dass Paul ihnen mehrmals sein Taschentuch anbieten musste.
    
  "Wir müssen in einer echten Zwickmühle stecken, wenn ein stämmiger Klempner in Tränen ausbricht, nur weil man ihm eine Wurst für eine Stunde Arbeit anbietet", dachte er. Die größte Schwierigkeit war die Bürokratie, aber selbst in dieser Hinsicht hatte Paul Glück. Er studierte die Richtlinien und Anweisungen der Regierungsbeamten so lange, bis er die Kernpunkte verinnerlicht hatte. Seine größte Angst war, auf eine Formulierung zu stoßen, die all seine Hoffnungen zunichtemachen würde. Nachdem er seitenweise Notizen in einem kleinen Notizbuch mit den notwendigen Schritten gemacht hatte, reduzierten sich die Anforderungen für die Gründung der Ziegler Bank auf zwei Punkte:
    
  1) Der Regisseur musste deutscher Staatsbürger und über einundzwanzig Jahre alt sein.
    
  2) Eine Garantie in Höhe von einer halben Million deutscher Mark musste im Rathaus hinterlegt werden.
    
  Die erste Regelung war simpel: Herr Ziegler sollte Geschäftsführer werden, obwohl Paul bereits vollkommen klar war, dass er sich so lange wie möglich in seinem Büro verschanzen sollte. Was die zweite Regelung betraf ... ein Jahr zuvor wären eine halbe Million Mark eine astronomische Summe gewesen, ein Mittel, um sicherzustellen, dass nur zahlungsfähige Personen ein auf Vertrauen basierendes Unternehmen gründen konnten. Heute waren eine halbe Million Mark ein Witz.
    
  "Niemand hat die Zeichnung aktualisiert!", schrie Paul und sprang in der Werkstatt herum, was die Schreiner erschreckte, die bereits damit begonnen hatten, Regale von den Wänden zu reißen.
    
  "Ob Regierungsangestellte nicht lieber ein paar Hähnchenschenkel hätten?", dachte Paul amüsiert. "Die könnten wenigstens etwas damit anfangen."
    
    
  23
    
    
  Der Lastwagen war offen, und die Personen, die hinten mitfuhren, waren der Nachtluft schutzlos ausgeliefert.
    
  Fast alle schwiegen und konzentrierten sich auf das, was gleich geschehen würde. Ihre braunen Hemden schützten sie kaum vor der Kälte, aber das spielte keine Rolle, da sie bald aufbrechen würden.
    
  Jürgen hockte sich hin und begann, mit seinem Knüppel auf den Metallboden des Lastwagens zu hämmern. Diese Angewohnheit hatte er sich bei seinem ersten Einsatz angewöhnt, als seine Kameraden ihm noch skeptisch begegneten. Die Sturmabteilung, kurz SA - die "Sturmtruppen" der NSDAP - bestand aus abgehärteten Ex-Soldaten, Männern aus den unteren Schichten, die kaum einen Absatz flüssig lesen konnten. Ihre erste Reaktion auf das Erscheinen dieses eleganten jungen Mannes - immerhin der Sohn eines Barons! - war Ablehnung. Und als Jürgen den Lastwagenboden zum ersten Mal als Trommel benutzte, zeigte ihm einer seiner Kameraden den Mittelfinger.
    
  "Ein Telegramm an die Baronin schicken, was, Junge?"
    
  Die Übrigen lachten hämisch.
    
  In jener Nacht schämte er sich. Doch heute Abend, als er zu Boden sank, folgten ihm alle anderen schnell. Zuerst war der Rhythmus langsam, gemessen, deutlich, die Schläge perfekt synchronisiert. Doch als der Lastwagen sich seinem Ziel näherte, einem Hotel nahe dem Hauptbahnhof, steigerte sich das Dröhnen bis zur Ohrenbetäubenden Lautstärke, das Getöse erfüllte sie alle mit Adrenalin.
    
  Jürgen lächelte. Es war nicht leicht gewesen, ihr Vertrauen zu gewinnen, aber jetzt hatte er das Gefühl, sie alle in der Hand zu haben. Als er fast ein Jahr zuvor Adolf Hitler zum ersten Mal hatte sprechen hören und darauf bestanden hatte, dass der Parteisekretär seine Mitgliedschaft in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) sofort registrierte, war Krohn begeistert gewesen. Doch als Jürgen wenige Tage später die SA bewarb, schlug diese Begeisterung in Enttäuschung um.
    
  "Was zum Teufel haben Sie mit diesen braunen Gorillas gemeinsam?" Sie sind intelligent; Sie könnten eine politische Karriere machen. Und diese Augenklappe ... Wenn Sie die richtigen Gerüchte verbreiten, könnte sie zu Ihrer Visitenkarte werden. Wir könnten behaupten, Sie hätten bei der Verteidigung des Ruhrgebiets ein Auge verloren.
    
  Der Sohn des Barons beachtete ihn nicht. Er trat impulsiv der SA bei, doch seinen Handlungen lag eine gewisse unbewusste Logik zugrunde. Ihn zog die Brutalität des paramilitärischen Arms der Nazis, ihr Gruppenstolz und die Straflosigkeit für Gewalttaten, die ihnen gewährt wurden, an. Eine Gruppe, in die er von Anfang an nicht hineinpasste und in der er Zielscheibe von Beleidigungen und Spott war, wie "Baron Zyklop" und "Einäugige Schwuchtel".
    
  Eingeschüchtert legte Jürgen seine Gangster-Attitüde gegenüber seinen Schulfreunden ab. Sie waren echte harte Kerle und hätten sich sofort hinter ihn gestellt, hätte er versucht, mit Gewalt etwas zu erreichen. Stattdessen verdiente er sich nach und nach ihren Respekt, indem er ihnen und ihren Feinden gegenüber keinerlei Reue zeigte.
    
  Das Kreischen der Bremsen übertönte den wütenden Lärm der Schlagstöcke. Der Lastwagen kam abrupt zum Stehen.
    
  "Raus hier! Raus hier!"
    
  Die Sturmtruppen drängten sich auf die Ladefläche des Lastwagens. Dann stampften zwanzig Paar schwarze Stiefel über das nasse Kopfsteinpflaster. Einer der Sturmtruppen rutschte in einer Schlammpfütze aus, und Jurgen reichte ihm schnell die Hand, um ihm aufzuhelfen. Er hatte gelernt, dass ihm solche Gesten Pluspunkte einbrachten.
    
  Das Gebäude gegenüber hatte keinen Namen, nur das Wort "Taverne" prangte über der Tür, daneben ein roter bayerischer Hut. Der Ort diente oft als Treffpunkt der Kommunistischen Partei, und gerade in diesem Moment neigte sich eine solche Versammlung dem Ende zu. Mehr als dreißig Personen saßen drinnen und hörten einer Rede zu. Als sie das Quietschen von Lkw-Bremsen hörten, blickten einige auf, aber es war zu spät. Die Taverne hatte keinen Hintereingang.
    
  Die Sturmtruppen marschierten in geordneten Reihen ein und machten dabei so viel Lärm wie möglich. Der Kellner versteckte sich voller Angst hinter der Theke, während die ersten Eintreffenden Biergläser und Teller von den Tischen rissen und sie gegen die Theke, den Spiegel darüber und die Flaschenregale warfen.
    
  "Was machst du da?", fragte ein kleiner Mann, vermutlich der Wirt.
    
  "Wir sind hier, um eine illegale Versammlung aufzulösen", sagte der SA-Zugführer und trat mit einem unangebrachten Lächeln vor.
    
  "Sie haben keine Befugnis dazu!"
    
  Der Zugführer hob seinen Schlagstock und schlug dem Mann in den Magen. Dieser fiel stöhnend zu Boden. Der Zugführer trat ihm noch ein paar Mal nach, bevor er sich seinen Männern zuwandte.
    
  "Fallt zusammen!"
    
  Jürgen stürmte sofort vor. Das tat er immer, nur um dann vorsichtig zurückzutreten und jemand anderem die Führung zu überlassen - oder ihn eine Kugel oder ein Messer abfangen zu lassen. Schusswaffen waren in Deutschland - jenem Deutschland, dem die Alliierten die Zähne gezogen hatten - nun verboten, doch viele Kriegsveteranen besaßen noch ihre Dienstpistolen oder Waffen, die sie dem Feind abgenommen hatten.
    
  Schulter an Schulter rückten die Sturmtruppen auf den hinteren Teil der Taverne vor. Verängstigt bewarfen die Kommunisten ihre Feinde mit allem, was sie in die Finger bekamen. Ein Mann neben Jürgen wurde mit einem Glaskrug im Gesicht getroffen. Er taumelte, doch die Männer hinter ihm fingen ihn auf, und ein anderer trat vor, um seinen Platz in der ersten Reihe einzunehmen.
    
  "Ihr Hurensöhne! Leckt euren Führer am Arsch!", schrie ein junger Mann mit Lederkappe und hob eine Bank hoch.
    
  Die Sturmtruppen waren keine drei Meter entfernt und konnten jedes nach ihnen geworfene Möbelstück problemlos erreichen. Deshalb nutzte Jürgen diesen Moment, um einen Stolperer vorzutäuschen. Der Mann trat vor und stellte sich an die vorderste Front.
    
  Gerade noch rechtzeitig. Die Bänke flogen durch den Raum, ein Stöhnen ertönte, und der Mann, der gerade Jürgens Platz eingenommen hatte, brach mit geplatztem Schädel zusammen.
    
  "Bereit?", rief der Zugführer. "Für Hitler und Deutschland!"
    
  "Hitler und Deutschland!", riefen die anderen im Chor.
    
  Die beiden Gruppen stürmten aufeinander zu wie spielende Kinder. Jürgen wich einem Riesen in Mechanikeroverall aus, der auf ihn zukam, und stieß dabei mit den Knien gegen die Wand. Der Mechaniker fiel zu Boden, und die, die hinter Jürgen standen, begannen, ihn gnadenlos zu verprügeln.
    
  Jürgen setzte seinen Vormarsch fort. Er sprang über einen umgestürzten Stuhl und trat gegen einen Tisch, der einem älteren, bebrillten Mann gegen den Oberschenkel krachte. Dieser stürzte zu Boden und riss den Tisch mit sich. Er hielt noch immer ein paar beschriebene Zettel in der Hand, woraus der Sohn des Barons schloss, dass dies der Redner sein musste, den sie unterbrechen wollten. Es war ihm egal. Er kannte nicht einmal den Namen des alten Mannes.
    
  Jürgen ging direkt auf ihn zu und versuchte, ihn mit beiden Füßen zu zertreten, während er sich seinem eigentlichen Ziel näherte.
    
  Ein junger Mann mit Ledermütze wehrte zwei Sturmtruppen mit einer der Bänke ab. Der erste versuchte, ihn zu flankieren, doch der junge Mann kippte die Bank zu ihm und traf ihn am Hals, sodass er zu Boden ging. Der andere schwang seinen Schlagstock, um den Angreifer zu überraschen, doch der junge Kommunist wich aus und traf den Sturmtruppler mit dem Ellbogen in die Niere. Während er sich vor Schmerzen krümmte, zerbrach die Bank über seinem Rücken.
    
  "Der hier weiß also, wie man kämpft", dachte der Sohn des Barons.
    
  Normalerweise hätte er die stärksten Gegner jemand anderem überlassen, aber irgendetwas an diesem dünnen, eingefallenen jungen Mann stieß Jürgen ab.
    
  Er blickte Jürgen trotzig an.
    
  "Na los, Nazi-Hure. Angst, dir einen Nagel abzubrechen?"
    
  Jürgen holte tief Luft, aber er war zu gerissen, als dass ihn die Beleidigung beeindrucken würde. Er konterte.
    
  "Es wundert mich nicht, dass du so auf Rote stehst, du dürrer kleiner Scheißer. Dein Karl-Marx-Bart sieht genauso aus wie der Arsch deiner Mutter."
    
  Das Gesicht des jungen Mannes erstrahlte vor Wut, und er hob die Überreste der Bank hoch und stürmte auf Jürgen zu.
    
  Jürgen stand seitlich zu seinem Angreifer und wartete auf den Angriff. Als der Mann auf ihn losging, wich Jürgen aus, und der Kommunist fiel zu Boden und verlor seine Mütze. Jürgen schlug ihm dreimal hintereinander mit seinem Schlagstock auf den Rücken - nicht sehr fest, aber genug, um ihn außer Atem zu bringen, sodass er noch in die Knie gehen konnte. Der junge Mann versuchte wegzukriechen, was genau Jürgens Absicht war. Er holte mit dem rechten Bein aus und trat ihm kräftig in den Magen. Die Stiefelspitze traf den Mann in den Magen und hob ihn mehr als einen halben Meter vom Boden ab. Er fiel rückwärts und rang nach Luft.
    
  Jürgen grinste und stürzte sich auf den Kommunisten. Unter den Schlägen brachen seine Rippen, und als Jürgen auf seinen Arm trat, brach dieser wie ein trockener Zweig.
    
  Jürgen packte den jungen Mann an den Haaren und zwang ihn aufzustehen.
    
  "Sag jetzt doch mal das, was du über den Führer gesagt hast, du kommunistischer Abschaum!"
    
  "Fahr zur Hölle!", murmelte der Junge.
    
  "Willst du immer noch solchen Unsinn reden?", rief Jürgen ungläubig.
    
  Er packte den Jungen noch fester an den Haaren, hob den Knüppel und zielte damit auf den Mund seines Opfers.
    
  Einmal.
    
  Zweimal.
    
  Dreimal.
    
  Die Zähne des Jungen lagen nur noch als blutiger Haufen auf dem Holzboden der Taverne, sein Gesicht war geschwollen. Augenblicklich erlosch die Aggression, die Jürgens Muskeln angetrieben hatte. Endlich verstand er, warum er diesen Mann gewählt hatte.
    
  Er hatte etwas von seinem Cousin an sich.
    
  Er ließ die Haare des Kommunisten los und sah zu, wie dieser leblos zu Boden fiel.
    
  Er sieht niemandem ähnlich, dachte Jürgen.
    
  Er blickte auf und sah, dass die Kämpfe um ihn herum aufgehört hatten. Nur die Sturmtruppen standen noch und beobachteten ihn mit einer Mischung aus Anerkennung und Furcht.
    
  "Lasst uns von hier verschwinden!", rief der Zugführer.
    
  Zurück im Truck setzte sich ein Sturmtruppler, den Jurgen noch nie zuvor gesehen hatte und der nicht mit ihnen reiste, neben ihn. Der Sohn des Barons warf seinem Begleiter nur einen kurzen Blick zu. Nach solch einem brutalen Ereignis verfiel er gewöhnlich in melancholische Isolation und mochte es nicht, gestört zu werden. Deshalb knurrte er missmutig, als der andere Mann leise mit ihm sprach.
    
  "Wie heißt du?"
    
  "Jürgen von Schroeder", antwortete er widerwillig.
    
  "Aha, Sie sind es also. Man hat mir von Ihnen erzählt. Ich bin heute extra hierhergekommen, um Sie kennenzulernen. Mein Name ist Julius Schreck."
    
  Jürgen bemerkte subtile Unterschiede in der Uniform des Mannes. Er trug ein Totenkopf-Emblem und eine schwarze Krawatte.
    
  "Um mich zu treffen? Warum?"
    
  "Ich stelle eine besondere Gruppe zusammen ... Menschen mit Mut, Können und Intelligenz. Ohne bürgerliche Skrupel."
    
  "Woher wissen Sie, dass ich diese Dinge habe?"
    
  "Ich habe dich dort hinten im Einsatz gesehen. Du hast klug gehandelt, ganz anders als der ganze andere Kanonenfutter. Und dann ist da natürlich noch die Sache mit deiner Familie. Deine Anwesenheit in unserem Team würde uns Prestige verleihen. Sie würde uns vom Pöbel abheben."
    
  "Was willst du?"
    
  "Ich möchte, dass Sie sich meiner Unterstützergruppe anschließen. Der SA-Elite, die nur dem Führer untersteht."
    
    
  24
    
    
  Alice hatte eine schreckliche Nacht, seit sie Paul am anderen Ende des Cabaret-Clubs entdeckt hatte. Es war der letzte Ort, an dem sie ihn erwartet hatte. Sie sah noch einmal hin, nur um sicherzugehen, da die Lichter und der Rauch sie hätten täuschen können, aber ihre Augen täuschten sie nicht.
    
  Was zum Teufel macht der hier?
    
  Ihr erster Impuls war, die Kodak-Kamera aus Scham hinter ihrem Rücken zu verstecken, aber sie konnte nicht lange so bleiben, weil Kamera und Blitz zu schwer waren.
    
  Außerdem arbeite ich. Verdammt, darauf sollte ich doch stolz sein.
    
  "Hey, schöner Körper! Mach ein Foto von mir, Schönheit!"
    
  Alice lächelte, hob den Blitz - an einem langen Stab - und drückte ab, sodass er auslöste, ohne einen einzigen Film zu verbrauchen. Zwei Betrunkene, die ihr die Sicht auf Pauls Tische versperrten, kippten um. Obwohl sie den Blitz von Zeit zu Zeit mit Magnesiumpulver aufladen musste, war dies immer noch die effektivste Methode, um die Störenfriede loszuwerden.
    
  An Abenden wie diesem drängte sich eine Menschentraube um sie, denn sie musste zwei- oder dreihundert Fotos von den Gästen des BeldaKlubs machen. Nachdem die Aufnahmen im Kasten waren, wählte der Besitzer ein halbes Dutzend Bilder aus, die er am Eingang aufhängte - Aufnahmen, die die Gäste beim Vergnügen mit den Tänzerinnen des Clubs zeigten. Laut dem Besitzer entstanden die besten Fotos frühmorgens, wenn man oft die berüchtigtsten Verschwender dabei beobachten konnte, wie sie Champagner aus Damenschuhen tranken. Alice hasste den ganzen Laden: die laute Musik, die Paillettenkostüme, die anzüglichen Lieder, den Alkohol und die Leute, die ihn in Unmengen konsumierten. Aber es war nun mal ihr Job.
    
  Sie zögerte, bevor sie auf Paul zuging. In ihrem dunkelblauen Secondhand-Kostüm und dem kleinen Hut, der ihr nicht so recht stand, fühlte sie sich unattraktiv, doch sie zog weiterhin Verlierer magisch an. Sie war längst zu dem Schluss gekommen, dass Männer es genossen, im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu stehen, und beschloss, diese Tatsache zu nutzen, um das Eis mit Paul zu brechen. Sie schämte sich immer noch dafür, wie ihr Vater ihn aus dem Haus geworfen hatte, und war etwas beunruhigt über die Lüge, die man ihr erzählt hatte, er würde das Geld für sich behalten.
    
  Ich werde ihm einen Streich spielen. Ich werde mit einer Kamera hinter meinem Gesicht auf ihn zugehen, ein Foto machen und dann meine Identität preisgeben. Ich bin sicher, er wird sich freuen.
    
  Sie trat ihre Reise mit einem Lächeln an.
    
  Acht Monate zuvor war Alice noch auf der Straße auf der Suche nach Arbeit.
    
  Anders als Paul war ihre Suche nicht verzweifelt, da sie genug Geld für ein paar Monate hatte. Trotzdem war es schwer. Die einzige Arbeit, die Frauen zur Verfügung stand - ob auf der Straße angeworben oder hinter vorgehaltener Hand in Hinterzimmern besprochen - war Prostitution oder die Tätigkeit als Geliebte, und diesen Weg wollte Alice unter keinen Umständen gehen.
    
  "Nicht das, und ich gehe auch nicht nach Hause", schwor sie.
    
  Sie überlegte, in eine andere Stadt zu reisen: Hamburg, Düsseldorf, Berlin. Doch die Nachrichten von dort waren genauso schlimm wie die aus München, wenn nicht sogar noch schlimmer. Und da war etwas - vielleicht die Hoffnung, eine bestimmte Person wiederzusehen -, das ihr Kraft gab. Doch als ihre Kräfte schwanden, versank Alice immer tiefer in Verzweiflung. Und dann, eines Nachmittags, als sie die Agnesstraße entlangschlenderte, auf der Suche nach einer Schneiderei, von der man ihr erzählt hatte, sah Alice eine Anzeige im Schaufenster: Gesucht: Aushilfe
    
  Frauen müssen das nicht verwenden.
    
  Sie schaute gar nicht erst nach, um was für ein Geschäft es sich handelte. Empört riss sie die Tür auf und ging auf die einzige Person hinter dem Tresen zu: einen hageren, älteren Mann mit stark schütterem, grauem Haar.
    
  "Guten Tag, Fräulein."
    
  "Guten Tag. Ich bin wegen der Arbeit hier."
    
  Der kleine Mann betrachtete sie aufmerksam.
    
  "Darf ich vermuten, dass Sie tatsächlich lesen können, Fräulein?"
    
  "Ja, obwohl ich mit Unsinn generell Schwierigkeiten habe."
    
  Bei diesen Worten veränderte sich der Gesichtsausdruck des Mannes. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem freundlichen Lächeln, dem ein Lachen folgte. "Sie sind eingestellt!"
    
  Alice blickte ihn völlig verdutzt an. Sie war in das Lokal gegangen, um den Besitzer wegen seines lächerlichen Schildes zur Rede zu stellen, und dachte, sie würde sich damit nur lächerlich machen.
    
  "Überrascht?"
    
  "Ja, ich bin ziemlich überrascht."
    
  "Siehst du, Fräulein..."
    
  "Alys Tannenbaum."
    
  "August Münz", sagte der Mann mit einer eleganten Verbeugung. "Sehen Sie, Fräulein Tannenbaum, ich habe dieses Schild aufgestellt, damit eine Frau wie Sie sich meldet. Die Stelle, die ich anbiete, erfordert technisches Geschick, Geistesgegenwart und vor allem eine gehörige Portion Chuzpe. Die beiden letztgenannten Eigenschaften scheinen Sie zu besitzen, und die erste kann man lernen, insbesondere angesichts meiner eigenen Erfahrung ..."
    
  "Und es stört dich nicht, dass ich..."
    
  "Jüdisch? Du wirst bald merken, dass ich nicht sehr traditionell bin, meine Liebe."
    
  "Was genau soll ich tun?", fragte Alice misstrauisch.
    
  "Ist das nicht offensichtlich?", sagte der Mann und deutete um sich. Alice sah zum ersten Mal in den Laden und erkannte, dass es ein Fotostudio war. "Machen Sie Fotos."
    
  Obwohl sich Paul mit jedem Job veränderte, den er annahm, wurde Alice durch ihren Job völlig verwandelt. Die junge Frau verliebte sich sofort in die Fotografie. Sie hatte noch nie zuvor eine Kamera benutzt, aber nachdem sie die Grundlagen gelernt hatte, wusste sie, dass sie nichts anderes mehr im Leben wollte. Besonders fasziniert war sie von der Dunkelkammer, wo sich die Chemikalien in Schalen vermischten. Sie konnte den Blick nicht von dem Bild abwenden, als es auf dem Papier Gestalt annahm und Gesichtszüge und Konturen deutlicher wurden.
    
  Auch sie verstand sich auf Anhieb gut mit dem Fotografen. Obwohl an der Tür "MUNTZ AND SONS" stand, stellte Alice bald fest, dass sie keine Söhne hatten und auch nie welche bekommen würden. August wohnte in einer Wohnung über einem Laden mit einem hageren, blassen jungen Mann, den er "meinen Neffen Ernst" nannte. Alice verbrachte lange Abende damit, mit den beiden Backgammon zu spielen, und schließlich kehrte ihr Lächeln zurück.
    
  Es gab nur einen Aspekt an dem Job, der ihr nicht gefiel, und genau dafür hatte August sie eingestellt. Der Besitzer eines nahegelegenen Kabarettclubs - August vertraute Alice an, dass der Mann sein ehemaliger Liebhaber war - bot eine stattliche Summe Geld, um drei Abende pro Woche eine Fotografin dort zu haben.
    
  "Er würde sich natürlich wünschen, dass ich es wäre. Aber ich denke, es wäre besser, wenn es ein hübsches Mädchen wäre ... jemand, der sich von niemandem einschüchtern lässt", sagte Augusta mit einem Augenzwinkern.
    
  Der Clubbesitzer war begeistert. Fotos, die vor seinem Lokal aushingen, trugen dazu bei, dass sich der BeldaKlub schnell herumsprach und zu einem der angesagtesten Treffpunkte des Münchner Nachtlebens wurde. Sicher, er konnte nicht mit Berliner Clubs mithalten, aber in diesen düsteren Zeiten war jedes Geschäft, das auf Alkohol und Sex basierte, zum Erfolg verurteilt. Gerüchte machten die Runde, dass viele Gäste in fünf Stunden ihr gesamtes Gehalt verprassten, bevor sie zu Drogen, Seilen oder Tabletten griffen.
    
  Als Alice sich Paul näherte, glaubte sie nicht, dass er einer jener Klienten sei, die nur auf der Suche nach einem letzten Abenteuer wären.
    
  Zweifellos war er in Begleitung eines Freundes gekommen. Oder aus Neugier, dachte sie. Schließlich kamen heutzutage alle in den BeldaKlub, selbst wenn es nur darum ging, stundenlang ein einziges Bier zu trinken. Die Barkeeper waren verständnisvoll und dafür bekannt, Verlobungsringe im Tausch gegen ein paar Pints anzunehmen.
    
  Sie ging näher heran und hielt die Kamera vor ihr Gesicht. Fünf Personen saßen am Tisch, zwei Männer und drei Frauen. Auf der Tischdecke standen mehrere halb leere oder umgekippte Champagnerflaschen und ein Berg fast unberührter Speisen.
    
  "Hey, Paul! Du solltest für die Nachwelt posieren!", sagte der Mann, der neben Alice stand.
    
  Paul blickte auf. Er trug einen schwarzen Smoking, der ihm schlecht auf den Schultern saß, und eine Fliege, die offen war und über sein Hemd hing. Als er sprach, war seine Stimme heiser, seine Worte undeutlich.
    
  "Habt ihr das gehört, Mädels? Setzt ein Lächeln auf eure Gesichter!"
    
  Die beiden Frauen neben Paul trugen silberne Abendkleider und dazu passende Hüte. Eine von ihnen packte ihn am Kinn, zwang ihn, sie anzusehen, und gab ihm einen schlampigen Zungenkuss, genau in dem Moment, als der Auslöser klickte. Der überraschte Paul erwiderte den Kuss und brach dann in Gelächter aus.
    
  "Siehst du? Die bringen dich wirklich zum Lächeln!", sagte sein Freund und brach in Gelächter aus.
    
  Alice war schockiert, als sie das sah, und Kodak wäre ihr beinahe aus den Händen gerutscht. Ihr wurde übel. Dieser Trunkenbold, nur einer von denen, die sie wochenlang Abend für Abend verachtet hatte, entsprach so gar nicht ihrem Bild vom schüchternen Bergmann, dass Alice nicht glauben konnte, dass es wirklich Paul war.
    
  Und dennoch geschah es.
    
  Im alkoholbedingten Rausch erkannte der junge Mann sie plötzlich und rappelte sich wankend auf.
    
  "Alice!"
    
  Der Mann, der bei ihm war, wandte sich ihr zu und hob sein Glas.
    
  "Kennt ihr euch?"
    
  "Ich dachte, ich kenne ihn", sagte Alice kühl.
    
  "Ausgezeichnet! Dann sollten Sie wissen, dass Ihr Freund der erfolgreichste Banker in Isartor ist ... Wir verkaufen mehr Aktien als jede andere Bank, die in letzter Zeit aufgetaucht ist! Ich bin sein stolzer Buchhalter."
    
  ... Kommt schon, stoßt mit uns an!
    
  Alice spürte einen Anflug von Verachtung. Sie hatte von den neuen Banken gehört. Fast alle Etablissements, die in den letzten Monaten eröffnet hatten, waren von jungen Leuten gegründet worden, und jeden Abend strömten Scharen von Studenten in den Club, um ihr Geld für Champagner und Prostituierte auszugeben, bevor es endgültig an Wert verlor.
    
  "Als mein Vater mir erzählte, dass du das Geld genommen hast, habe ich ihm nicht geglaubt. Wie sehr ich mich doch geirrt habe! Jetzt sehe ich, dass dir nur das wichtig ist", sagte sie und wandte sich ab.
    
  "Alice, warte ...", murmelte der junge Mann verlegen. Er stolperte um den Tisch herum und versuchte, ihre Hand zu ergreifen.
    
  Alice drehte sich um und gab ihm eine Ohrfeige, deren Klang wie ein Glockenschlag widerhallte. Obwohl Paul sich am Tischtuch festzuhalten versuchte, um sich zu retten, stürzte er und landete unter einem Hagel aus zerbrochenen Flaschen und dem Gelächter dreier Chormädchen auf dem Boden.
    
  "Übrigens", sagte Alice beim Weggehen, "in dem Smoking siehst du immer noch aus wie ein Kellner."
    
  Paul stützte sich am Stuhl ab und sah gerade noch, wie Alices Rücken in der Menge verschwand. Sein Freund, der Buchhalter, führte die Mädchen nun auf die Tanzfläche. Plötzlich packte ihn jemand fest und zog ihn zurück auf den Stuhl.
    
  "Sieht so aus, als hättest du sie falsch herum gestreichelt, was?"
    
  Der Mann, der ihm geholfen hatte, kam mir irgendwie bekannt vor.
    
  "Wer zum Teufel bist du?"
    
  "Ich bin der Freund deines Vaters, Paul. Derjenige, der sich gerade fragt, ob du seines Namens würdig bist."
    
  "Was wissen Sie über meinen Vater?"
    
  Der Mann holte eine Visitenkarte heraus und steckte sie in die Innentasche von Pauls Smoking.
    
  "Komm zu mir, wenn du wieder nüchtern bist."
    
    
  25
    
    
  Paul blickte von der Postkarte auf und starrte auf das Schild über der Buchhandlung, immer noch unsicher, was er dort eigentlich tat.
    
  Der Laden lag nur wenige Schritte vom Marienplatz entfernt, mitten im kleinen Zentrum Münchens. Hier hatten die Metzger und Hausierer von Schwabing Uhrmachern, Hutmachern und Korbmachern Platz gemacht. Neben Kellers Geschäft gab es sogar ein kleines Kino, das F.W. Murnaus "Nosferatu" zeigte, mehr als ein Jahr nach dessen Erstveröffentlichung. Es war Mittag, und sie waren wohl mitten in der zweiten Vorstellung. Paul stellte sich den Filmvorführer in seiner Kabine vor, wie er abgenutzte Filmrollen wechselte. Er tat ihm leid. Er hatte sich ins Kino neben der Pension geschlichen, um diesen Film zu sehen - den ersten und einzigen Film, den er je gesehen hatte -, als er in aller Munde war. Die kaum verhüllte Adaption von Bram Stokers "Dracula" hatte ihm nicht besonders gefallen. Für ihn lag die wahre Emotion der Geschichte in ihren Worten und in der Stille, im Weiß, das die schwarzen Buchstaben auf dem Papier umgab. Die filmische Version erschien ihm zu simpel, wie ein Puzzle aus nur zwei Teilen.
    
  Paul betrat die Buchhandlung vorsichtig, vergaß aber bald seine Bedenken, als er die ordentlich in den raumhohen Bücherregalen und auf den großen Tischen am Fenster aufgereihten Bücher betrachtete. Von einer Theke war weit und breit keine Rede.
    
  Er blätterte gerade in der ersten Ausgabe von "Tod in Venedig", als er hinter sich eine Stimme hörte.
    
  "Thomas Mann ist eine gute Wahl, aber ich bin sicher, Sie haben ihn schon gelesen."
    
  Paul drehte sich um. Da stand Keller und lächelte ihn an. Sein Haar war schneeweiß, er trug einen altmodischen Spitzbart und kratzte sich immer wieder an seinen großen Ohren, wodurch diese noch mehr Aufmerksamkeit erregten. Paul hatte das Gefühl, den Mann zu kennen, obwohl er sich nicht erinnern konnte, woher.
    
  "Ja, ich habe es gelesen, aber in Eile. Jemand aus der Pension, in der ich wohne, hat es mir geliehen. Bücher bleiben normalerweise nicht lange in meinen Händen, egal wie sehr ich sie noch einmal lesen möchte."
    
  "Ah. Aber lies nicht noch einmal, Paul. Du bist noch zu jung, und wer Dinge wiederholt liest, neigt dazu, sich schnell mit unzureichender Weisheit zu füllen. Lies jetzt lieber alles, was du in die Finger bekommst, und zwar so viel wie möglich. Erst wenn du mein Alter erreichst, wirst du erkennen, dass Wiederlesen keine Zeitverschwendung ist."
    
  Paul betrachtete ihn erneut aufmerksam. Keller war weit über fünfzig, doch sein Rücken war kerzengerade, und sein Körper wirkte in dem altmodischen Dreiteiler schlank. Sein weißes Haar verlieh ihm ein respektables Aussehen, obwohl Paul vermutete, dass es gefärbt war. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Woher kannte er diesen Mann?
    
  "Du warst vor vier Jahren auf Jürgens Geburtstagsfeier."
    
  "Du hast ein gutes Gedächtnis, Paul."
    
  "Du hast mir gesagt, ich solle so schnell wie möglich gehen... dass sie draußen wartet", sagte Paul traurig.
    
  "Ich erinnere mich noch genau daran, wie du mitten im Ballsaal ein Mädchen gerettet hast. Ich hatte in meinem Leben auch meine Momente ... und meine Fehler, obwohl ich noch nie einen so großen Fehler gemacht habe wie den, den du gestern gemacht hast, Paul."
    
  "Erinnere mich nicht daran. Woher zum Teufel sollte ich wissen, dass sie da war? Ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen!"
    
  "Nun, dann lautet die eigentliche Frage wohl: Was zum Teufel hast du da gemacht, dich wie ein Seemann zu betrinken?"
    
  Paul verlagerte sein Gewicht unruhig von einem Fuß auf den anderen. Es war ihm unangenehm, diese Angelegenheiten mit einem völlig Fremden zu besprechen, doch gleichzeitig empfand er in der Gegenwart des Buchhändlers eine seltsame Ruhe.
    
  "Wie dem auch sei", fuhr Keller fort, "ich möchte Sie nicht quälen, denn die Tränensäcke unter Ihren Augen und Ihr blasses Gesicht sagen mir, dass Sie sich schon genug selbst gequält haben."
    
  "Du sagtest, du wolltest mit mir über meinen Vater sprechen", sagte Paul ängstlich.
    
  "Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, du solltest mich besuchen kommen."
    
  "Warum dann?"
    
  Diesmal war es Keller, der schwieg. Er führte Paul zu einer Vitrine und deutete auf die St.-Michael-Kirche, die sich direkt gegenüber der Buchhandlung befand. Eine Bronzetafel mit dem Stammbaum der Wittelsbacher ragte über der Statue des Erzengels empor, der dem Gebäude seinen Namen gegeben hatte. Im Nachmittagslicht waren die Schatten der Statue lang und bedrohlich.
    
  "Sieh nur ... dreieinhalb Jahrhunderte Pracht. Und das ist nur ein kurzer Prolog. Im Jahr 1825 beschloss Ludwig I., unsere Stadt in ein neues Athen zu verwandeln. Gassen und Boulevards voller Licht, Weite und Harmonie. Nun schau ein wenig nach unten, Paul."
    
  Bettler hatten sich vor der Kirchentür versammelt und standen Schlange für die Suppe, die die Gemeinde bei Sonnenuntergang verteilte. Die Schlange hatte sich gerade erst gebildet und reichte schon weiter, als Paul vom Schaufenster aus sehen konnte. Es überraschte ihn nicht, Kriegsveteranen in ihren abgetragenen Uniformen zu sehen, die vor fast fünf Jahren verboten worden waren. Auch der Anblick der Landstreicher, deren Gesichter von Armut und Trunkenheit gezeichnet waren, schockierte ihn nicht. Was ihn aber wirklich erstaunte, waren Dutzende erwachsene Männer in abgetragenen Anzügen, aber mit perfekt gebügelten Hemden, die trotz des starken Windes an diesem Juniabend keinen Mantel trugen.
    
  Der Mantel eines Familienvaters, der jeden Tag Brot für seine Kinder besorgen muss, gehört immer zu den letzten Dingen, die er verpfändet, dachte Paul und schob nervös die Hände in seine Manteltaschen. Er hatte den Mantel gebraucht gekauft und war überrascht gewesen, für den Preis eines mittelgroßen Käses so guten Stoff zu finden.
    
  Genau wie ein Smoking.
    
  "Fünf Jahre nach dem Sturz der Monarchie: Terror, Straßenmorde, Hunger, Armut. Welche Version von München bevorzugst du, Junge?"
    
  "Echt, nehme ich an."
    
  Keller sah ihn an, sichtlich zufrieden mit seiner Antwort. Paul bemerkte, wie sich seine Haltung leicht veränderte, als wäre die Frage ein Test für etwas viel Größeres, das noch kommen sollte.
    
  "Ich habe Hans Reiner vor vielen Jahren kennengelernt. Ich erinnere mich nicht mehr an das genaue Datum, aber ich glaube, es war um 1895, denn er ging in eine Buchhandlung und kaufte ein Exemplar von Vernes "Das Karpatenschloss", das gerade erschienen war."
    
  "Hat er auch gern gelesen?", fragte Paul, unfähig, seine Gefühle zu verbergen. Er wusste so wenig über den Mann, der ihm das Leben geschenkt hatte, dass jede noch so kleine Ähnlichkeit ihn mit einer Mischung aus Stolz und Verwirrung erfüllte, wie ein Echo aus einer anderen Zeit. Er verspürte ein blindes Bedürfnis, dem Buchhändler zu vertrauen, jede Spur des Vaters, den er nie kennengelernt hatte, aus dessen Erinnerung hervorzuholen.
    
  "Er war ein richtiger Bücherwurm! Dein Vater und ich haben uns am ersten Tag ein paar Stunden unterhalten. Damals dauerte das lange, denn meine Buchhandlung war von morgens bis abends voll, nicht so verlassen wie heute. Wir entdeckten gemeinsame Interessen, wie zum Beispiel die Poesie. Obwohl er sehr intelligent war, fiel ihm das Reden eher schwer, und er bewunderte, was Leute wie Hölderlin und Rilke konnten. Einmal bat er mich sogar, ihm bei einem kurzen Gedicht zu helfen, das er für deine Mutter geschrieben hatte."
    
  "Ich erinnere mich daran, dass sie mir von diesem Gedicht erzählt hat", sagte Paul mürrisch, "obwohl sie mich es nie lesen ließ."
    
  "Vielleicht befindet es sich noch unter den Papieren Ihres Vaters?", schlug der Buchhändler vor.
    
  "Leider war das Wenige, was wir noch besaßen, in dem Haus zurückgeblieben, in dem wir früher gewohnt hatten. Wir mussten überstürzt weg."
    
  "Es ist schade. Jedenfalls... jedes Mal, wenn er nach München kam, verbrachten wir interessante Abende zusammen. So habe ich zum ersten Mal von der Großloge der Aufgehenden Sonne gehört."
    
  "Was ist das?"
    
  Der Buchhändler senkte die Stimme.
    
  "Weißt du, wer die Freimaurer sind, Paul?"
    
  Der junge Mann blickte ihn überrascht an.
    
  "Die Zeitungen schreiben, dass sie eine mächtige Geheimgesellschaft sind."
    
  "Beherrscht von Juden, die das Schicksal der Welt bestimmen?", fragte Keller mit einem ironischen Unterton. "Diese Geschichte habe ich auch schon oft gehört, Paul. Besonders heutzutage, wo die Leute nach einem Sündenbock für all das Schlechte suchen, das passiert."
    
  "Was ist also die Wahrheit?"
    
  "Die Freimaurer sind eine Geheimgesellschaft, keine Sekte, bestehend aus ausgewählten Individuen, die nach Erleuchtung und dem Triumph der Moral in der Welt streben."
    
  "Mit ‚auserwählt" meinen Sie ‚mächtig"?"
    
  "Nein. Diese Leute entscheiden selbst. Kein Freimaurer darf einen Laien bitten, Freimaurer zu werden. Es ist der Laie, der fragen muss, genau wie ich Ihren Vater gebeten habe, mir die Aufnahme in die Loge zu gewähren."
    
  "Mein Vater war Freimaurer?", fragte Paul überrascht.
    
  "Moment mal", sagte Keller. Er schloss die Ladentür ab, drehte das Schild auf "GESCHLOSSEN" und ging in den Hinterraum. Als er zurückkam, zeigte er Paul ein altes Studiofoto. Es zeigte einen jungen Hans Reiner, Keller und drei weitere Männer, die Paul nicht kannte. Alle drei starrten konzentriert in die Kamera. Ihre starre Pose war typisch für die Fotografie der Jahrhundertwende, als die Modelle mindestens eine Minute lang stillhalten mussten, um Verwacklungen zu vermeiden. Einer der Männer hielt ein seltsames Symbol in der Hand, das Paul vor Jahren im Büro seines Onkels gesehen hatte: ein Winkelmaß und ein Zirkel, die einander zugewandt waren, mit einem großen "L" in der Mitte.
    
  "Ihr Vater war der Hüter des Tempels der Großloge der Aufgehenden Sonne. Der Hüter sorgt dafür, dass die Tür zum Tempel geschlossen wird, bevor die Arbeit beginnt... Laienhaft ausgedrückt: bevor das Ritual beginnt."
    
  "Ich dachte, du hättest gesagt, es hätte nichts mit Religion zu tun."
    
  "Als Freimaurer glauben wir an ein übernatürliches Wesen, das wir den Großen Baumeister des Universums nennen. Das ist alles, was es an Dogma zu sagen gibt. Jeder Freimaurer verehrt den Großen Baumeister nach eigenem Ermessen. In meiner Loge gibt es Juden, Katholiken und Protestanten, obwohl wir darüber nicht offen sprechen. Zwei Themen sind in der Loge verboten: Religion und Politik."
    
  "Hatte die Lodge irgendetwas mit dem Tod meines Vaters zu tun?"
    
  Der Buchhändler zögerte einen Moment, bevor er antwortete.
    
  "Ich weiß nicht viel über seinen Tod, außer dass das, was man Ihnen erzählt hat, eine Lüge ist. An dem Tag, als ich ihn das letzte Mal sah, schickte er mir eine Nachricht, und wir trafen uns in der Nähe einer Buchhandlung. Wir sprachen hastig mitten auf der Straße. Er sagte mir, er sei in Gefahr und fürchte um Ihr Leben und das Ihrer Mutter. Zwei Wochen später hörte ich Gerüchte, sein Schiff sei in den Kolonien gesunken."
    
  Paul überlegte, Keller von den letzten Worten seines Cousins Eduard zu erzählen, von der Nacht, in der sein Vater das Anwesen der Schroeders besucht hatte, und von dem Schuss, den Eduard gehört hatte, entschied sich aber dagegen. Er hatte die Beweise geprüft, aber nichts Überzeugendes gefunden, das seinen Onkel für das Verschwinden seines Vaters verantwortlich machte. Tief in seinem Inneren glaubte er, dass an der Sache etwas Wahres dran war, aber solange er sich nicht völlig sicher war, wollte er diese Last mit niemandem teilen.
    
  "Er hat mich auch gebeten, dir etwas zu geben, wenn du alt genug bist. Ich habe monatelang nach dir gesucht", fuhr Keller fort.
    
  Paul spürte, wie sein Herz einen Sprung machte.
    
  "Was ist das?"
    
  "Ich weiß es nicht, Paul."
    
  "Na, worauf wartest du noch? Gib sie mir!", sagte Paul fast schreiend.
    
  Der Buchhändler warf Paul einen kalten Blick zu und machte damit deutlich, dass er es nicht mochte, wenn ihm in seinem eigenen Haus jemand Befehle erteilte.
    
  "Glaubst du, du bist des Vermächtnisses deines Vaters würdig, Paul? Der Mann, den ich neulich im BeldaKlub gesehen habe, schien nichts weiter als ein betrunkener Rüpel zu sein."
    
  Paul öffnete den Mund, um zu antworten, um diesem Mann von dem Hunger und der Kälte zu erzählen, die er erlitten hatte, als sie aus dem Haus der Schroeders vertrieben worden waren. Von der Erschöpfung, die das Schleppen von Kohle die feuchten Treppen hinauf und hinunter mit sich brachte. Von der Verzweiflung, nichts zu besitzen, wissend, dass man trotz aller Hindernisse seine Suche fortsetzen musste. Von der Versuchung des eiskalten Wassers der Isar. Doch schließlich bereute er, denn das, was er erlitten hatte, gab ihm nicht das Recht, sich so zu verhalten wie in den vergangenen Wochen.
    
  Im Gegenteil, es verstärkte sein Schuldgefühl nur noch.
    
  "Herr Keller... wenn ich einer Loge angehören würde, wäre ich dann würdiger?"
    
  "Wenn du es dir von ganzem Herzen gewünscht hättest, wäre das ein Anfang. Aber ich versichere dir, es wird nicht einfach sein, selbst für jemanden wie dich."
    
  Paul schluckte, bevor er antwortete.
    
  "Dann bitte ich Sie demütig um Ihre Hilfe. Ich möchte Freimaurer werden, wie mein Vater."
    
    
  26
    
    
  Alice hatte das Papier in der Entwicklerschale hin und her bewegt und es dann in die Fixierlösung gelegt. Beim Betrachten des Bildes überkam sie ein seltsames Gefühl. Einerseits war sie stolz auf die technische Perfektion des Fotos. Die Geste dieser Hure, wie sie sich an Paul klammerte. Das Funkeln in ihren Augen, seine halbgeschlossenen... Die Details ließen es so greifbar erscheinen, doch trotz ihres beruflichen Stolzes nagte das Bild an Alices innerem Kern.
    
  Versunken in ihre Gedanken im dunklen Raum, bemerkte sie kaum das Klingeln der Glocke, die einen neuen Kunden ankündigte. Doch als sie eine vertraute Stimme hörte, blickte sie auf. Sie spähte durch den roten Glasspion, der einen klaren Blick in den Laden bot, und ihre Augen bestätigten, was ihre Ohren und ihr Herz ihr gesagt hatten.
    
  "Guten Tag", rief Paul erneut und trat an den Tresen heran.
    
  Da Paul erkannte, dass das Aktiengeschäft nur von kurzer Dauer sein könnte, wohnte er immer noch mit seiner Mutter in einer Pension und machte deshalb einen langen Umweg, um bei Münz & Sons vorbeizuschauen. Die Adresse des Fotostudios bekam er von einem Angestellten des Clubs, nachdem er ihm ein paar Geldscheine gegeben hatte, um ihn zum Reden zu bringen.
    
  Er trug ein sorgfältig verpacktes Päckchen unter dem Arm. Darin befand sich ein dickes, schwarzes Buch mit Goldprägung. Sebastian hatte ihm erklärt, es enthalte die Grundlagen, die jeder Laie vor dem Eintritt in die Freimaurerei kennen sollte. Zuerst Hans Rainer, dann Sebastian selbst waren damit initiiert worden. Pauls Finger juckten es, die Zeilen zu überfliegen, die auch sein Vater gelesen hatte, doch zuvor musste etwas Dringenderes erledigt werden.
    
  "Wir haben geschlossen", sagte der Fotograf zu Paul.
    
  "Wirklich? Ich dachte, es wären noch zehn Minuten bis Ladenschluss", sagte Paul und warf einen misstrauischen Blick auf die Uhr an der Wand.
    
  "Wir haben für Sie geschlossen."
    
  "Für mich?"
    
  "Sie sind also nicht Paul Rainer?"
    
  "Woher kennen Sie meinen Namen?"
    
  "Du passt genau auf die Beschreibung. Groß, schlank, mit glasigen Augen, verdammt gutaussehend. Es gab noch andere Adjektive, aber ich wiederhole sie lieber nicht."
    
  Aus dem Hinterzimmer ertönte ein Krach. Als Paul das hörte, versuchte er, über die Schulter des Fotografen zu spähen.
    
  "Ist Alice da?"
    
  "Das muss eine Katze sein."
    
  "Es sah nicht wie eine Katze aus."
    
  "Nein, es klang, als wäre eine leere Entwicklerschale auf den Boden gefallen. Aber Alice ist nicht da, also muss es die Katze gewesen sein."
    
  Es gab einen weiteren Knall, diesmal lauter.
    
  "Hier ist noch eine. Gut, dass sie aus Metall sind", sagte August Münz und zündete sich mit einer eleganten Geste eine Zigarette an.
    
  "Du solltest die Katze füttern. Sie sieht hungrig aus."
    
  "Eher wütend."
    
  "Das kann ich verstehen", sagte Paul und senkte den Kopf.
    
  "Hör mal, mein Freund, sie hat tatsächlich etwas für dich hinterlassen."
    
  Der Fotograf reichte ihm ein Foto mit der Bildseite nach unten. Paul drehte es um und sah ein leicht verschwommenes Foto, das in einem Park aufgenommen worden war.
    
  "Das ist eine Frau, die auf einer Bank in einem englischen Garten schläft."
    
  August nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
    
  "An dem Tag, als sie dieses Foto machte ... war es ihr erster Spaziergang allein. Ich hatte ihr meine Kamera geliehen, damit sie die Stadt erkunden und nach einem Bild suchen konnte, das mich berühren würde. Sie schlenderte durch den Park, wie alle Neuankömmlinge. Plötzlich bemerkte sie eine Frau, die auf einer Bank saß, und Alice war von deren Ruhe fasziniert. Sie machte ein Foto und ging dann zu ihr, um sich zu bedanken. Die Frau reagierte nicht, und als Alice ihre Schulter berührte, fiel sie zu Boden."
    
  "Sie war tot", sagte Paul entsetzt, als ihm plötzlich die Wahrheit über das bewusst wurde, was er da sah.
    
  "Ich bin verhungert", antwortete Augustus, nahm einen letzten Zug und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
    
  Paul umklammerte einen Moment lang die Theke, den Blick auf das Foto gerichtet. Schließlich gab er es zurück.
    
  "Vielen Dank, dass Sie mir das gezeigt haben. Bitte sagen Sie Alice, dass sie, wenn sie übermorgen zu dieser Adresse kommt", sagte er, nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift vom Tresen und machte sich eine Notiz, "sehen wird, wie gut ich es verstanden habe."
    
  Eine Minute nachdem Paul gegangen war, verließ Alice das Fotolabor.
    
  "Ich hoffe, du hast diese Tabletts nicht verbeult. Sonst musst du sie wieder in Form bringen."
    
  "Du hast zu viel gesagt, August. Und diese Sache mit dem Foto... Ich habe dich nicht gebeten, ihm irgendetwas zu geben."
    
  "Er ist in dich verliebt."
    
  "Woher weißt du das?"
    
  "Ich weiß viel über verliebte Männer. Vor allem darüber, wie schwer es ist, sie zu finden."
    
  "Es hat zwischen uns schon schlecht angefangen", sagte Alice und schüttelte den Kopf.
    
  "Na und? Der Tag beginnt um Mitternacht, mitten in der Dunkelheit. Von diesem Moment an wird alles hell."
    
    
  27
    
    
  Am Eingang der Ziegler Bank hatte sich eine riesige Schlange gebildet.
    
  Als Alice gestern Abend in ihrem Zimmer in der Nähe des Studios zu Bett ging, hatte sie beschlossen, Paul nicht zu treffen. Sie wiederholte diesen Gedanken immer wieder, während sie sich fertig machte, ihre Hutsammlung (die nur aus zwei Stücken bestand) anprobierte und sich in den Einkaufswagen setzte, den sie sonst nie benutzte. Umso überraschter war sie, als sie plötzlich in der Schlange bei der Bank stand.
    
  Als sie näher kam, bemerkte sie, dass es tatsächlich zwei Schlangen gab. Eine führte in die Bank hinein, die andere zum Eingang nebenan. Aus der zweiten Tür kamen Menschen mit einem Lächeln im Gesicht und trugen Taschen voller Würstchen, Brot und dicken Stangen Sellerie.
    
  Paul befand sich im Nachbarladen mit einem anderen Mann, der Gemüse und Schinken abwog und seine Kunden bediente. Als er Alice sah, drängte er sich durch die Menschenmenge, die darauf wartete, in den Laden zu gelangen.
    
  "Der Tabakladen nebenan musste schließen, als die Geschäfte schlecht liefen. Wir haben ihn wiedereröffnet und für Herrn Ziegler in einen weiteren Lebensmittelladen umgewandelt. Er hat Glück."
    
  "Soweit ich das beurteilen kann, sind die Leute auch glücklich."
    
  "Wir verkaufen Waren zum Selbstkostenpreis und bieten allen Bankkunden Kredite an. Wir verbrauchen jeden Cent unserer Gewinne, aber Arbeiter und Rentner - alle, die mit der horrenden Inflation nicht mithalten können - sind uns sehr dankbar. Heute ist der Dollar über drei Millionen Mark wert."
    
  "Du verlierst ein Vermögen."
    
  Paul zuckte mit den Achseln.
    
  "Wir werden ab nächster Woche abends Suppe an Bedürftige verteilen. Es wird nicht so sein wie bei den Jesuiten, da wir nur genug für fünfhundert Portionen haben, aber wir haben bereits eine Gruppe von Freiwilligen."
    
  Alice blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
    
  "Tust du das alles für mich?"
    
  "Ich tue das, weil ich es kann. Weil es das Richtige ist. Weil mich das Foto der Frau im Park berührt hat. Weil diese Stadt den Bach runtergeht. Und ja, weil ich mich wie ein Idiot benommen habe, und ich möchte, dass ihr mir verzeiht."
    
  "Ich habe dir schon vergeben", antwortete sie beim Weggehen.
    
  "Warum gehst du dann?", fragte er und warf ungläubig die Hände in die Luft.
    
  "Weil ich immer noch sauer auf dich bin!"
    
  Paul wollte ihr gerade nachlaufen, als Alice sich umdrehte und ihn anlächelte.
    
  "Aber du kannst mich morgen Abend abholen und nachsehen, ob es weg ist."
    
    
  28
    
    
  "Ich glaube also, dass du bereit bist, diese Reise anzutreten, auf der dein Wert auf die Probe gestellt wird. Beuge dich vor."
    
  Paul gehorchte, und der Mann im Anzug zog ihm eine dicke schwarze Kapuze über den Kopf. Mit einem kräftigen Ruck justierte er die beiden Lederriemen um Pauls Hals.
    
  "Siehst du irgendetwas?"
    
  "NEIN".
    
  Pauls eigene Stimme klang unter der Kapuze seltsam, und die Geräusche um ihn herum schienen aus einer anderen Welt zu kommen.
    
  "Auf der Rückseite befinden sich zwei Löcher. Falls Sie mehr Luft benötigen, ziehen Sie es etwas von Ihrem Hals weg."
    
  "Danke schön".
    
  "Schlinge nun deinen rechten Arm fest um meinen linken. Wir werden gemeinsam eine große Strecke zurücklegen. Es ist wichtig, dass du dich ohne Zögern vorwärts bewegst, wenn ich es dir sage. Du brauchst dich nicht zu beeilen, aber du musst genau auf meine Anweisungen hören. Manchmal sage ich dir, dass du einen Fuß vor den anderen setzen sollst. Manchmal sage ich dir, dass du die Knie anheben sollst, um Treppen zu steigen oder hinunterzugehen. Bist du bereit?"
    
  Paul nickte.
    
  "Beantworten Sie die Fragen laut und deutlich."
    
  "Ich bin bereit."
    
  "Los geht"s."
    
  Paul bewegte sich langsam, dankbar, sich endlich bewegen zu können. Die vorherige halbe Stunde hatte er damit verbracht, Fragen des Mannes im Anzug zu beantworten, obwohl er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er kannte die Antworten, die er hätte geben sollen, denn sie standen alle in dem Buch, das Keller ihm vor drei Wochen gegeben hatte.
    
  "Soll ich sie auswendig lernen?", fragte er den Buchhändler.
    
  "Diese Formeln sind Teil eines Rituals, das wir bewahren und respektieren müssen. Sie werden bald feststellen, dass Initiationszeremonien und die Art und Weise, wie sie Sie verändern, ein wichtiger Aspekt der Freimaurerei sind."
    
  "Gibt es mehr als einen?"
    
  "Es gibt jeweils einen für jeden der drei Grade: Angenommener Lehrling, Geselle und Meistermaurer. Nach dem dritten Grad gibt es noch dreißig weitere, aber das sind Ehrengrade, über die Sie zu gegebener Zeit mehr erfahren werden."
    
  "Welchen akademischen Grad haben Sie, Herr Keller?"
    
  Der Buchhändler ignorierte seine Frage.
    
  "Ich möchte, dass du das Buch liest und seinen Inhalt sorgfältig studierst."
    
  Paul tat genau das. Das Buch erzählt die Geschichte der Ursprünge der Freimaurerei: die Bauzünfte des Mittelalters und davor die mythischen Baumeister des Alten Ägyptens. Sie alle entdeckten die Weisheit, die in den Symbolen des Bauens und der Geometrie verborgen liegt. Dieses Wort muss immer mit großem G geschrieben werden, denn G ist das Symbol des Großen Architekten des Universums. Wie Sie ihn verehren, bleibt Ihnen überlassen. In der Loge bearbeiten Sie nur Ihr Gewissen und alles, was Sie darin tragen. Ihre Brüder werden Ihnen nach der Initiation die Werkzeuge dafür geben ... vorausgesetzt, Sie bestehen die vier Prüfungen.
    
  "Wird es schwierig sein?"
    
  "Hast du Angst?"
    
  "Nein. Nun ja, ein bisschen schon."
    
  "Es wird schwierig werden", gab der Buchhändler nach einem Moment zu. "Aber Sie sind mutig und werden gut vorbereitet sein."
    
  Bislang hatte niemand Pauls Mut infrage gestellt, obwohl die Prüfungen noch nicht begonnen hatten. Er wurde an einem Freitagabend um neun Uhr in eine Gasse in der Altstadt vorgeladen. Von außen wirkte das Haus wie ein gewöhnliches Anwesen, wenn auch etwas heruntergekommen. Neben der Türklingel hing ein rostiger Briefkasten mit einem unleserlichen Namen, doch das Schloss schien neu und gut geölt. Ein Mann im Anzug näherte sich allein der Tür und führte Paul in einen Flur, der mit verschiedenen Holzmöbeln vollgestellt war. Dort wurde Paul seinem ersten rituellen Verhör unterzogen.
    
  Unter der schwarzen Kapuze fragte sich Paul, wo Keller wohl sein mochte. Er nahm an, der Buchhändler, seine einzige Verbindung zur Loge, würde ihn vorstellen. Stattdessen wurde er von einem völlig Fremden begrüßt, und er wurde das Gefühl der Verletzlichkeit nicht los, als er blindlings, gestützt auf den Arm eines Mannes, dem er erst eine halbe Stunde zuvor begegnet war, umherirrte.
    
  Nach einer gefühlt endlosen Strecke - er stieg unzählige Treppen hinauf und hinunter und durchquerte mehrere lange Korridore - blieb sein Führer schließlich stehen.
    
  Paul hörte drei laute Klopfzeichen, dann fragte eine unbekannte Stimme: "Wer klingelt da an der Tür des Tempels?"
    
  "Ein Bruder, der einen bösen Mann mitbringt, der in unsere Geheimnisse eingeweiht werden möchte."
    
  War er ausreichend vorbereitet?
    
  "Das hat er."
    
  "Wie heißt er?"
    
  "Paul, Sohn des Hans Rainer."
    
  Sie brachen wieder auf. Paul bemerkte, dass der Boden unter seinen Füßen härter und glatter war, vielleicht aus Stein oder Marmor. Sie gingen lange, doch unter der Kapuze schien die Zeit anders zu vergehen. Manchmal hatte Paul - eher intuitiv als mit Gewissheit - das Gefühl, dass sie dasselbe durchmachten wie zuvor, als würden sie im Kreis laufen und dann gezwungen sein, ihren Weg zurückzuverfolgen.
    
  Sein Führer blieb erneut stehen und begann, die Riemen von Pauls Kapuze zu lösen.
    
  Paul blinzelte, als das schwarze Tuch zurückgezogen wurde, und er erkannte, dass er in einem kleinen, kalten Raum mit niedriger Decke stand. Die Wände waren vollständig mit Kalkstein verkleidet, auf dem wirre Sätze zu lesen waren, die von verschiedenen Händen und in unterschiedlichen Höhen geschrieben worden waren. Paul erkannte verschiedene Versionen der Freimaurergebote.
    
  Der Mann im Anzug nahm ihm derweil Metallgegenstände ab, darunter Gürtel und Stiefelschnallen, die er gedankenlos abriss. Paul bereute, seine anderen Schuhe nicht mitgenommen zu haben.
    
  "Trägst du etwas aus Gold? Das Betreten der Loge mit Edelmetallen ist eine schwere Beleidigung."
    
  "Nein, Sir", antwortete Paul.
    
  "Dort drüben finden Sie Stift, Papier und Tinte", sagte der Mann. Dann verschwand er wortlos durch die Tür und schloss sie hinter sich.
    
  Eine kleine Kerze erhellte den Tisch, auf dem Schreibutensilien lagen. Daneben stand ein Totenkopf, und Paul schauderte, als er erkannte, dass er echt war. Außerdem standen dort mehrere Krüge mit Elementen, die Wandel und Initiation symbolisierten: Brot und Wasser, Salz und Schwefel, Asche.
    
  Er befand sich im Raum der Besinnung, dem Ort, an dem er als Laie sein Zeugnis verfassen sollte. Er nahm einen Stift und begann, eine alte Formel niederzuschreiben, die er selbst nicht ganz verstand.
    
  Das ist alles schlecht. All diese Symbolik, diese Wiederholungen... Ich habe das Gefühl, es sind nichts weiter als leere Worte; es steckt keine Seele darin, dachte er.
    
  Plötzlich überkam ihn der verzweifelte Wunsch, die Ludwigstraße unter den Straßenlaternen entlangzugehen, das Gesicht dem Wind ausgesetzt. Seine Angst vor der Dunkelheit, die ihn selbst im Erwachsenenalter nicht verlassen hatte, kroch unter seiner Kapuze hervor. Sie würden in einer halben Stunde zurück sein, um ihn abzuholen, und er könnte sie einfach bitten, ihn gehen zu lassen.
    
  Es war noch Zeit umzukehren.
    
  Aber in diesem Fall hätte ich die Wahrheit über meinen Vater nie erfahren.
    
    
  29
    
    
  Der Mann im Anzug kehrte zurück.
    
  "Ich bin bereit", sagte Paul.
    
  Er wusste nichts von der eigentlichen Zeremonie, die folgen sollte. Er kannte nur die Antworten auf die ihm gestellten Fragen, nichts weiter. Und dann war es Zeit für die Prüfungen.
    
  Sein Führer legte ihm ein Seil um den Hals und verband ihm erneut die Augen. Diesmal benutzte er keine schwarze Kapuze, sondern eine Augenbinde aus demselben Material, die er mit drei festen Knoten zuzog. Paul war dankbar, wieder atmen zu können, und sein Gefühl der Verletzlichkeit ließ nach, aber nur kurz. Plötzlich riss der Mann Paul die Jacke herunter und den linken Ärmel seines Hemdes ab. Dann knöpfte er die Vorderseite seines Hemdes auf und entblößte Pauls Oberkörper. Schließlich krempelte er Pauls linkes Hosenbein hoch und zog ihm Schuh und Socke aus.
    
  "Lass uns gehen."
    
  Sie gingen weiter. Paul verspürte ein seltsames Gefühl, als seine nackte Sohle den kalten Boden berührte, von dem er nun sicher war, dass es sich um Marmor handelte.
    
  "Stoppen!"
    
  Er spürte einen spitzen Gegenstand an seiner Brust und spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.
    
  "Hat der Antragsteller seine Aussage mitgebracht?"
    
  "Das hat er."
    
  "Er soll es auf die Schwertspitze setzen."
    
  Paul hob seine linke Hand, in der er den Zettel hielt, den er in der Kammer beschrieben hatte. Vorsichtig befestigte er ihn an dem spitzen Gegenstand.
    
  "Paul Rainer, sind Sie freiwillig hierher gekommen?"
    
  Diese Stimme... das ist Sebastian Keller!, dachte Paul.
    
  "Ja".
    
  "Sind Sie bereit, sich den Herausforderungen zu stellen?"
    
  "Ich", sagte Paul und konnte ein Schaudern nicht unterdrücken.
    
  Von diesem Moment an schwankte Pauls Bewusstsein zwischen Bewusstlosigkeit und Ohnmacht. Er verstand die Fragen und beantwortete sie, doch seine Angst und seine Blindheit verstärkten seine anderen Sinne so sehr, dass sie die Oberhand gewannen. Seine Atmung beschleunigte sich.
    
  Er stieg die Treppe hinauf. Er versuchte, seine Angst durch das Zählen seiner Schritte zu kontrollieren, verlor aber schnell den Überblick.
    
  "Hier beginnt der Atemtest. Atem ist das Erste, was wir bei der Geburt erhalten!", dröhnte Kellers Stimme.
    
  Ein Mann im Anzug flüsterte ihm ins Ohr: "Du bist in einem engen Durchgang. Halt! Dann mach noch einen Schritt, aber mach ihn entschlossen, sonst brichst du dir das Genick!"
    
  Der Boden gehorchte. Unter ihm schien sich der Untergrund von Marmor in raues Holz zu verwandeln. Bevor er den letzten Schritt tat, bewegte er seine nackten Zehen und spürte, wie sie am Rand des Ganges ruhten. Er fragte sich, wie hoch er wohl sein mochte, und in Gedanken schien sich die Zahl der Stufen, die er bereits erklommen hatte, zu vervielfachen. Er stellte sich vor, er stünde auf den Türmen der Frauenkirche, hörte das Gurren der Tauben um sich herum, während unten, in der Ewigkeit, das Treiben auf dem Marienplatz herrschte.
    
  Mach es.
    
  Tu es jetzt.
    
  Er machte einen Schritt und verlor das Gleichgewicht, stürzte kopfüber in einem Sekundenbruchteil. Sein Gesicht prallte gegen das dicke Gitter, und der Aufprall ließ seine Zähne klappern. Er biss sich in die Wangeninnenseiten, und sein Mund füllte sich mit dem Geschmack seines eigenen Blutes.
    
  Als er wieder zu sich kam, merkte er, dass er sich an einem Netz festklammerte. Er wollte sich die Augenbinde abnehmen, um sich zu vergewissern, dass es stimmte, dass das Netz seinen Fall tatsächlich abgefedert hatte. Er musste der Dunkelheit entfliehen.
    
  Paul hatte kaum Zeit, seine Panik zu äußern, da zogen ihn schon mehrere Hände aus dem Netz und richteten ihn auf. Er stand schon wieder auf den Beinen und ging, als Kellers Stimme die nächste Herausforderung ankündigte.
    
  "Die zweite Prüfung ist die Prüfung des Wassers. Das ist, was wir sind, woher wir kommen."
    
  Paul gehorchte, als man ihm sagte, er solle seine Beine heben, zuerst das linke, dann das rechte. Er begann zu zittern. Er stieg in einen riesigen Behälter mit kaltem Wasser, und das Wasser reichte ihm bis zu den Knien.
    
  Er hörte seinen Führer wieder in sein Ohr flüstern.
    
  "Duck dich. Fülle deine Lungen. Dann lass dich zurückziehen und bleib unter Wasser. Beweg dich nicht und versuche nicht aufzutauchen, sonst fällst du durch den Test."
    
  Der junge Mann beugte die Knie und krümmte sich zusammen, als das Wasser seinen Hodensack und Bauch bedeckte. Schmerzwellen durchfuhren seinen Rücken. Er atmete tief durch und lehnte sich zurück.
    
  Das Wasser schloss sich wie eine Decke um ihn.
    
  Zuerst überwog die Kälte. So etwas hatte er noch nie gespürt. Sein Körper schien zu verhärten, sich in Eis oder Stein zu verwandeln.
    
  Dann fingen seine Lungen an zu schmerzen.
    
  Es begann mit einem heiseren Stöhnen, dann einem trockenen Krächzen und schließlich einem verzweifelten Flehen. Unachtsam bewegte er die Hand, und es kostete ihn all seine Willenskraft, sich nicht am Boden des Behälters abzustützen und sich zur Oberfläche zu drücken, die ihm wie eine offene Tür vor der Tür lag, durch die er entkommen konnte. Gerade als er dachte, er halte es keine Sekunde länger aus, spürte er einen heftigen Ruck und fand sich an der Oberfläche wieder, nach Luft schnappend, die Brust voller Luft.
    
  Sie gingen weiter. Er war noch immer klatschnass, Haare und Kleidung tropften. Sein rechter Fuß machte ein seltsames Geräusch, als sein Stiefel auf den Boden aufschlug.
    
  Kellers Stimme:
    
  "Die dritte Prüfung ist die Feuerprobe. Dies ist der Funke des Schöpfers und das, was uns antreibt."
    
  Dann spürte man Hände, die seinen Körper verdrehten und ihn nach vorn schoben. Diejenige, die ihn festhielt, kam ihm sehr nahe, als wollte sie ihn umarmen.
    
  "Vor dir befindet sich ein Feuerkreis. Mach drei Schritte zurück, um Schwung zu holen. Strecke dann deine Arme nach vorn aus, laufe los und springe so weit du kannst nach vorn."
    
  Paul spürte die heiße Luft auf seinem Gesicht, die seine Haut und Haare austrocknete. Er hörte ein unheilvolles Knistern, und in seiner Vorstellung wuchs der brennende Kreis enorm an, bis er zum Maul eines riesigen Drachen wurde.
    
  Als er drei Schritte zurücktrat, fragte er sich, wie er über die Flammen springen sollte, ohne lebendig zu verbrennen, und sich dabei auf seine Kleidung verlassen musste, um trocken zu bleiben. Es wäre noch schlimmer, wenn er den Sprung falsch einschätzte und kopfüber in die Flammen stürzte.
    
  Ich muss mir nur eine imaginäre Linie auf dem Boden markieren und von dort springen.
    
  Er versuchte, sich den Sprung vorzustellen, sich vorzustellen, wie er durch die Luft sauste, als könne ihm nichts etwas anhaben. Er spannte die Waden an, beugte und streckte die Arme. Dann machte er drei Anlaufschritte nach vorn.
    
  ...
    
  ... und sprang.
    
    
  30
    
    
  Er spürte die Hitze an Händen und Gesicht, als er in der Luft war, sogar das Zischen seines Hemdes, als das Feuer einen Teil des Wassers verdampfte. Er fiel zu Boden und klopfte sich Gesicht und Brust ab, um nach Brandspuren zu suchen. Abgesehen von seinen geprellten Ellbogen und Knien waren keine Verletzungen zu sehen.
    
  Diesmal ließen sie ihn nicht einmal aufstehen. Sie hoben ihn bereits wie einen zitternden Sack hoch und zerrten ihn in den engen Raum.
    
  "Die letzte Prüfung ist die Prüfung der Erde, zu der wir zurückkehren müssen."
    
  Sein Führer gab ihm keinerlei Ratschläge. Er hörte lediglich das Geräusch eines Steins, der den Eingang versperrte.
    
  Er spürte alles um sich herum. Er befand sich in einem winzigen Raum, der nicht einmal groß genug war, um darin zu stehen. Aus seiner geduckten Position konnte er drei Wände berühren und, indem er seinen Arm leicht ausstreckte, die vierte und die Decke.
    
  "Entspann dich", sagte er sich. "Das ist die Abschlussprüfung. In wenigen Minuten ist alles vorbei."
    
  Er versuchte gerade, seinen Atem zu beruhigen, als er plötzlich hörte, wie die Decke sich senkte.
    
  "NEIN!"
    
  Bevor er das Wort aussprechen konnte, biss sich Paul auf die Lippe. Es war ihm verboten, bei den Verhandlungen zu sprechen - das war die Regel. Kurz fragte er sich, ob sie ihn gehört hatten.
    
  Er versuchte, sich von der Decke abzustoßen, um ihren Fall zu stoppen, doch in seiner Position konnte er dem enormen Gewicht, das auf ihm lastete, nicht widerstehen. Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen, aber vergeblich. Die Decke senkte sich weiter, und bald war er gezwungen, seinen Rücken gegen den Boden zu pressen.
    
  Ich muss schreien. Sagt ihnen, sie sollen aufhören!
    
  Plötzlich, als ob die Zeit stillgestanden hätte, blitzte eine Erinnerung in seinem Kopf auf: ein flüchtiges Bild aus seiner Kindheit, der Heimweg von der Schule, mit der absoluten Gewissheit, dass er gleich einen Rüffel bekommen würde. Jeder Schritt brachte ihn näher an das heran, was er am meisten fürchtete. Er blickte nie zurück. Es gibt Möglichkeiten, die einfach keine sind.
    
  NEIN.
    
  Er hörte auf, gegen die Decke zu schlagen.
    
  In diesem Moment begann sie aufzustehen.
    
  "Die Abstimmung kann beginnen."
    
  Paul war wieder auf den Beinen und klammerte sich an seinen Führer. Die Prüfungen waren vorbei, aber er wusste nicht, ob er sie bestanden hatte. Bei der Luftprüfung war er wie ein Stein zusammengebrochen und hatte den entscheidenden Schritt, den man ihm befohlen hatte, nicht getan. Bei der Wasserprüfung hatte er sich bewegt, obwohl es verboten war. Und bei der Erdprüfung hatte er gesprochen, was der schwerwiegendste Fehler von allen war.
    
  Er konnte ein Geräusch hören, als würde man ein Glas mit Steinen schütteln.
    
  Er wusste aus dem Buch, dass sich alle anwesenden Logenmitglieder in die Mitte des Tempels begeben würden, wo eine Holzkiste stand. Sie würden eine kleine Elfenbeinkugel hineinwerfen: weiß, wenn sie zustimmten, schwarz, wenn sie ablehnten. Das Urteil musste einstimmig sein. Schon eine einzige schwarze Kugel würde genügen, um ihn, immer noch mit verbundenen Augen, zum Ausgang zu führen.
    
  Das Geräusch der Stimmabgabe verstummte und wurde von einem lauten Stampfen abgelöst, das fast sofort wieder verstummte. Paul nahm an, jemand hätte die Stimmen auf einen Teller oder ein Tablett gekippt. Die Ergebnisse lagen für alle sichtbar vor, nur nicht für ihn. Vielleicht würde es eine einzelne schwarze Kugel geben, die all seine Mühen zunichtemachen würde.
    
  "Paul Reiner, die Abstimmung ist endgültig und kann nicht angefochten werden", dröhnte Kellers Stimme.
    
  Es herrschte einen Moment lang Stille.
    
  "Du wurdest in die Geheimnisse der Freimaurerei eingeweiht. Nimm ihm die Augenbinde ab!"
    
  Paul blinzelte, als seine Augen wieder ins Licht traten. Eine Welle der Gefühle überkam ihn, eine wilde Euphorie. Er versuchte, die gesamte Szene auf einmal zu erfassen:
    
  Der riesige Raum, in dem er stand, hatte einen schachbrettartig gemusterten Marmorboden, einen Altar und zwei Reihen von Bänken entlang der Wände.
    
  Die Logenmitglieder, fast hundert formell gekleidete Männer in aufwendigen Schürzen und mit Medaillen, stehen alle auf und applaudieren ihm mit weiß behandschuhten Händen.
    
  Die Testausrüstung, die, nachdem sein Sehvermögen wiederhergestellt war, lächerlich harmlos wirkte: eine Holzleiter über einem Netz, eine Badewanne, zwei Männer mit Taschenlampen, eine große Kiste mit Deckel.
    
  Sebastian Keller steht in der Mitte neben einem Altar, der mit Winkelmaß und Zirkel verziert ist, und hält ein geschlossenes Buch, auf das er schwören kann.
    
  Paul Rainer legte daraufhin seine linke Hand auf das Buch, hob seine rechte Hand und schwor, niemals die Geheimnisse der Freimaurerei preiszugeben.
    
  "...unter der Drohung, mir die Zunge herauszureißen, mir die Kehle durchzuschneiden und meinen Körper im Meeressand zu begraben", schloss Paul.
    
  Er blickte sich um, sah die hundert anonymen Gesichter um sich herum und fragte sich, wie viele von ihnen seinen Vater kannten.
    
  Und wenn sich unter ihnen jemand befand, der ihn verriet.
    
    
  31
    
    
  Nach seiner Aufnahme kehrte Pauls Leben wieder in den Alltag zurück. Noch in derselben Nacht kam er im Morgengrauen nach Hause. Nach der Zeremonie genossen die Freimaurerbrüder im Nebenraum ein Festmahl, das bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Sebastian Keller leitete das Festmahl, denn, wie Paul zu seiner großen Überraschung erfuhr, war er der Großmeister, das ranghöchste Mitglied der Loge.
    
  Trotz all seiner Bemühungen konnte Paul nichts über seinen Vater herausfinden, daher beschloss er, abzuwarten und das Vertrauen seiner Freimaurerbrüder zu gewinnen, bevor er Fragen stellte. Stattdessen widmete er sich Alice.
    
  Sie sprach ihn erneut an, und sie unternahmen sogar etwas zusammen. Sie stellten fest, dass sie wenig Gemeinsamkeiten hatten, doch überraschenderweise schien sie gerade diese Verschiedenheit einander näher zu bringen. Paul hörte aufmerksam ihrer Geschichte zu, wie sie von zu Hause weggelaufen war, um einer geplanten Heirat mit seinem Cousin zu entgehen. Er bewunderte Alices Mut zutiefst.
    
  "Was wirst du als Nächstes tun? Du wirst ja nicht dein ganzes Leben damit verbringen, im Club Fotos zu machen."
    
  "Ich mag Fotografie. Ich denke, ich werde versuchen, einen Job bei einer internationalen Presseagentur zu bekommen... Sie zahlen gutes Geld für Fotografie, obwohl der Markt sehr umkämpft ist."
    
  Im Gegenzug erzählte er Alice von den vergangenen vier Jahren und wie seine Suche nach der Wahrheit über das Schicksal von Hans Reiner zu einer Obsession geworden war.
    
  "Wir passen gut zusammen", sagte Alice, "du versuchst, die Erinnerung an deinen Vater wiederzuerlangen, und ich bete, dass ich meine nie wiedersehe."
    
  Paul grinste über beide Ohren, aber nicht wegen des Vergleichs. Sie hatte "Paar" gesagt, dachte er.
    
  Zu Pauls Pech war Alice immer noch verärgert über die Szene mit dem Mädchen im Club. Als er sie eines Abends nach Hause begleitete und versuchte, sie zu küssen, gab sie ihm eine Ohrfeige, sodass seine Zähne klapperten.
    
  "Verdammt noch mal", sagte Paul und hielt sich den Kiefer. "Was zum Teufel ist los mit dir?"
    
  "Versuch es gar nicht erst."
    
  "Nein, wenn du mir noch so einen gibst, dann mache ich das nicht. Du schlägst offensichtlich nicht wie ein Mädchen", sagte er.
    
  Alice lächelte, packte ihn an den Revers seines Jacketts und küsste ihn. Ein intensiver, leidenschaftlicher und flüchtiger Kuss. Dann stieß sie ihn plötzlich von sich und verschwand oben auf der Treppe. Paul blieb verwirrt zurück, mit leicht geöffneten Lippen, während er zu begreifen versuchte, was gerade geschehen war.
    
  Paul musste um jeden noch so kleinen Schritt in Richtung Versöhnung kämpfen, selbst in Angelegenheiten, die einfach und unkompliziert schienen, wie zum Beispiel sie zuerst durch die Tür gehen zu lassen - etwas, das Alice hasste - oder anzubieten, ein schweres Paket zu tragen oder die Rechnung zu bezahlen, nachdem sie ein Bier getrunken und etwas gegessen hatten.
    
  Zwei Wochen nach seiner Aufnahme in die Bruderschaft holte Paul sie gegen drei Uhr morgens im Club ab. Auf dem Rückweg zu Alices nahegelegener Pension fragte er sie, warum sie sein höfliches Verhalten beanstandete.
    
  "Weil ich diese Dinge sehr wohl selbst erledigen kann. Ich brauche niemanden, der mich zuerst gehen lässt oder mich nach Hause begleitet."
    
  "Aber letzten Mittwoch, als ich eingeschlafen bin und dich nicht abgeholt habe, bist du wütend geworden."
    
  "In mancher Hinsicht bist du so klug, Paul, und in anderer so dumm", sagte sie und fuchtelte mit den Armen. "Du gehst mir auf die Nerven!"
    
  "Da sind wir schon zu zweit."
    
  "Warum hörst du dann nicht auf, mich zu stalken?"
    
  "Weil ich Angst davor habe, was du tun wirst, wenn ich aufhöre."
    
  Alice starrte ihn schweigend an. Der Rand ihres Hutes warf einen Schatten auf ihr Gesicht, und Paul konnte nicht deuten, wie sie auf seine letzte Bemerkung reagiert hatte. Er befürchtete das Schlimmste. Wenn Alice etwas verärgerte, konnten sie tagelang kein Wort miteinander wechseln.
    
  Sie erreichten die Tür ihrer Pension in der Stahlstraße, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Die Stille, die über der Stadt lag, verstärkte das Gefühl der Gesprächsfreiheit. München verabschiedete sich vom heißesten September seit Jahrzehnten, einer kurzen Atempause nach einem Jahr voller Unglück. Die Stille der Straßen, die späte Stunde und Alices Stimmung erfüllten Paul mit einer seltsamen Melancholie. Er spürte, dass sie ihn verlassen würde.
    
  "Du bist aber still", sagte sie und suchte in ihrer Handtasche nach ihren Schlüsseln.
    
  "Ich habe als Letzter gesprochen."
    
  "Glauben Sie, Sie können beim Treppensteigen so leise bleiben? Meine Vermieterin hat sehr strenge Regeln für Männer, und die alte Kuh hat ein außergewöhnlich gutes Gehör."
    
  "Ladest du mich etwa ein?", fragte Paul überrascht.
    
  "Sie können hier bleiben, wenn Sie möchten."
    
  Paul verlor beinahe seinen Hut, als er durch die Tür rannte.
    
  Da es im Gebäude keinen Aufzug gab, mussten sie drei Stockwerke einer knarrenden Holztreppe hinaufsteigen. Alice hielt sich beim Aufstieg dicht an der Wand, was weniger Lärm verursachte, doch als sie das zweite Stockwerk erreichten, hörten sie Schritte aus einer der Wohnungen.
    
  "Sie ist es! Vorwärts, schnell!"
    
  Paul rannte an Alice vorbei und erreichte den Treppenabsatz, kurz bevor ein Lichtkegel erschien, der Alices schlanke Gestalt vor dem abblätternden Farbanstrich der Treppe umriss.
    
  "Wer ist da?", fragte eine heisere Stimme.
    
  "Guten Tag, Frau Kasin."
    
  "Fräulein Tannenbaum. Welch ein ungünstiger Zeitpunkt für die Heimkehr!"
    
  "Das ist meine Aufgabe, Frau Kasin, wie Sie wissen."
    
  "Ich kann nicht sagen, dass ich dieses Verhalten gutheiße."
    
  "Ich bin auch nicht wirklich einverstanden mit Lecks in meinem Badezimmer, Frau Kassin, aber die Welt ist kein perfekter Ort."
    
  In diesem Moment bewegte sich Paul ein wenig, und der Baum ächzte unter seinen Füßen.
    
  "Ist da oben jemand?", fragte der Wohnungsbesitzer entrüstet.
    
  "Lass mich nachsehen!", rief Alice und rannte die Treppe hinauf, die sie von Paul trennte und ihn zu ihrer Wohnung führte. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und hatte kaum Zeit, die Tür zu öffnen und Paul hineinzuschieben, als die ältere Frau, die hinter ihr humpelte, ihren Kopf über die Treppenkante streckte.
    
  "Ich bin mir sicher, ich habe jemanden gehört. Haben Sie dort einen Mann?"
    
  "Ach, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Frau Kasin. Es ist nur die Katze", sagte Alice und schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
    
  "Dein Katzentrick funktioniert immer, nicht wahr?", flüsterte Paul, umarmte sie und küsste ihren langen Hals. Sein Atem war heiß. Sie schauderte und spürte, wie sich Gänsehaut auf ihrer linken Seite ausbreitete.
    
  "Ich dachte schon, wir würden wieder unterbrochen werden, wie damals in der Badewanne."
    
  "Hör auf zu reden und küss mich", sagte er, packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich um.
    
  Alice küsste ihn und rückte näher. Dann fielen sie auf die Matratze, ihr Körper unter seinem.
    
  "Stoppen."
    
  Paul blieb abrupt stehen und sah sie mit einem Anflug von Enttäuschung und Überraschung an. Doch Alice schlüpfte zwischen seine Arme und setzte sich auf ihn, um ihnen beiden die restlichen Kleider vom Leib zu reißen.
    
  "Was ist das?"
    
  "Nichts", antwortete sie.
    
  "Du weinst."
    
  Alice zögerte einen Moment. Ihm den Grund für ihre Tränen zu nennen, hieße, ihr Innerstes preiszugeben, und sie glaubte nicht, dass sie dazu in der Lage wäre, selbst in einem Moment wie diesem.
    
  "Es ist einfach so ... ich bin so glücklich."
    
    
  32
    
    
  Als Paul den Umschlag von Sebastian Keller erhielt, konnte er ein Schaudern nicht unterdrücken.
    
  Die Monate seit seiner Aufnahme in die Freimaurerloge waren frustrierend gewesen. Anfangs hatte es etwas fast Romantisches, beinahe blind einer Geheimgesellschaft beizutreten, einen gewissen Abenteuergeist. Doch als die anfängliche Euphorie verflogen war, begann Paul, den Sinn des Ganzen zu hinterfragen. Zunächst einmal war es ihm verboten, in den Logensitzungen zu sprechen, bis er drei Jahre als Lehrling absolviert hatte. Aber das war nicht das Schlimmste: Das Schlimmste waren die extrem langwierigen Rituale, die ihm wie reine Zeitverschwendung vorkamen.
    
  Ohne ihre Rituale glichen die Treffen kaum mehr als einer Reihe von Konferenzen und Debatten über die Symbolik der Freimaurerei und deren praktische Anwendung zur Förderung der Tugendhaftigkeit ihrer Brüder. Das Einzige, was Paul auch nur annähernd interessant fand, war die Entscheidung der Teilnehmer, an welche Wohltätigkeitsorganisationen sie das am Ende jedes Treffens gesammelte Geld spenden wollten.
    
  Für Paul wurden die Treffen zu einer lästigen Pflicht, die er alle zwei Wochen besuchte, um die Logenmitglieder besser kennenzulernen. Selbst dieses Ziel war schwer zu erreichen, da die älteren Freimaurer, die seinen Vater zweifellos kannten, im großen Speisesaal an getrennten Tischen saßen. Manchmal versuchte er, Keller näherzukommen, in der Hoffnung, den Buchhändler unter Druck zu setzen, sein Versprechen einzulösen und ihm alles zu geben, was sein Vater ihm hinterlassen hatte. In der Loge hielt Keller Abstand, und in der Buchhandlung wies er Paul mit vagen Ausreden ab.
    
  Keller hatte ihm noch nie zuvor geschrieben, und Paul wusste sofort, dass das, was auch immer sich in dem braunen Umschlag befand, den ihm der Besitzer der Pension gegeben hatte, genau das war, worauf er gewartet hatte.
    
  Paul saß schwer atmend auf der Bettkante. Er war sich sicher, dass der Umschlag einen Brief seines Vaters enthalten würde. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten, als er sich vorstellte, was Hans Reiner wohl dazu bewegt haben musste, seinem erst wenige Monate alten Sohn diese Nachricht zu schreiben. Er versuchte, seine Stimme zu unterdrücken, bis sein Sohn bereit war, ihn zu verstehen.
    
  Er versuchte sich vorzustellen, was sein Vater ihm wohl hätte sagen wollen. Vielleicht hätte er ihm weise Ratschläge gegeben. Vielleicht hätte er sie, mit der Zeit, angenommen.
    
  Vielleicht kann er mir Hinweise auf die Person oder die Personen geben, die ihn umbringen wollten, dachte Paul und knirschte mit den Zähnen.
    
  Mit äußerster Vorsicht riss er den Umschlag auf und griff hinein. Darin befand sich ein weiterer, kleinerer, weißer Umschlag sowie eine handgeschriebene Notiz auf der Rückseite einer Visitenkarte des Buchhändlers. "Lieber Paul, herzlichen Glückwunsch. Hans wäre stolz. Das hat dir dein Vater hinterlassen. Ich weiß nicht, was drin ist, aber ich hoffe, es hilft dir. SK"
    
  Paul öffnete den zweiten Umschlag, und ein kleines Stück weißes Papier mit blauer Schrift fiel zu Boden. Er war wie gelähmt vor Enttäuschung, als er es aufhob und sah, was darauf war.
    
    
  33
    
    
  Metzgers Pfandhaus war ein kalter Ort, kälter noch als die Luft Anfang November. Paul wischte sich die Füße an der Fußmatte ab, während es draußen regnete. Er ließ seinen Regenschirm auf dem Tresen liegen und sah sich neugierig um. Er erinnerte sich vage an jenen Morgen vor vier Jahren, als er und seine Mutter in den Laden in Schwabing gegangen waren, um die Uhr seines Vaters zu verpfänden. Es war ein steriler Ort mit Glasregalen und Angestellten in Krawatten gewesen.
    
  Metzgers Laden glich einem großen Nähkasten und roch nach Mottenkugeln. Von außen wirkte er klein und unscheinbar, doch sobald man ihn betrat, offenbarte sich seine immense Tiefe: ein vollgestopfter Raum mit Möbeln, Kristallradios, Porzellanfiguren und sogar einem goldenen Vogelkäfig. Rost und Staub bedeckten die verschiedenen Gegenstände, die dort ihr letztes Zuhause gefunden hatten. Erstaunt betrachtete Paul eine ausgestopfte Katze, die gerade einen Spatz im Flug schnappte. Zwischen dem ausgestreckten Bein der Katze und dem Flügel des Vogels hatte sich ein Spinnennetz gebildet.
    
  "Das ist kein Museum, Mann."
    
  Paul drehte sich erschrocken um. Neben ihm war ein hagerer, eingefallener alter Mann aufgetaucht, der einen blauen Overall trug, der viel zu groß für seine Statur war und seine Magerkeit noch betonte.
    
  "Sind Sie Metzger?", fragte ich.
    
  "Das bin ich. Und wenn das, was du mir gebracht hast, kein Gold ist, brauche ich es nicht."
    
  "Ehrlich gesagt bin ich nicht gekommen, um etwas zu verpfänden. Ich wollte etwas abholen", erwiderte Paul. Er mochte diesen Mann und sein verdächtiges Verhalten schon lange nicht mehr.
    
  Ein Anflug von Gier huschte in den kleinen Augen des alten Mannes vorbei. Es war offensichtlich, dass etwas nicht gut lief.
    
  "Tut mir leid, Mann... Jeden Tag kommen zwanzig Leute hierher und denken, die alte Kupferkamee ihrer Urgroßmutter sei tausend Mark wert. Aber mal sehen... mal sehen, warum du hier bist."
    
  Paul reichte einen blau-weißen Zettel, den er in dem Umschlag gefunden hatte, den ihm der Buchhändler geschickt hatte. In der oberen linken Ecke standen Metzgers Name und Adresse. Paul eilte so schnell er konnte dorthin, noch immer überrascht, keinen Brief darin vorgefunden zu haben. Stattdessen standen dort vier handschriftliche Wörter: Artikelnummer 91231
    
  21 Zeichen
    
  Der alte Mann deutete auf das Blatt Papier. "Hier fehlt ein kleines Stück. Beschädigte Formulare akzeptieren wir nicht."
    
  Die obere rechte Ecke, in der eigentlich der Name der Person, die die Einzahlung getätigt hat, hätte stehen sollen, war abgerissen.
    
  "Die Teilenummer ist sehr gut lesbar", sagte Paul.
    
  "Wir können aber die von unseren Kunden zurückgelassenen Gegenstände nicht an die erste Person aushändigen, die durch die Tür kommt."
    
  "Was auch immer das war, es gehörte meinem Vater."
    
  Der alte Mann kratzte sich am Kinn und tat so, als studiere er das Stück Papier mit Interesse.
    
  "Die Menge ist jedenfalls sehr gering: Der Gegenstand muss vor vielen Jahren verpfändet worden sein. Ich bin sicher, er wird versteigert."
    
  "Ich verstehe. Und wie können wir uns da sicher sein?"
    
  "Ich glaube, wenn ein Kunde bereit wäre, den Artikel zurückzugeben, unter Berücksichtigung der Inflation..."
    
  Paul zuckte zusammen, als der Geldverleiher endlich seine Karten aufdeckte: Es war offensichtlich, dass er so viel wie möglich aus dem Geschäft herausholen wollte. Doch Paul war fest entschlossen, den Gegenstand zurückzubekommen, koste es, was es wolle.
    
  "Sehr gut".
    
  "Warte hier", sagte der andere Mann mit einem triumphierenden Lächeln.
    
  Der alte Mann verschwand und kehrte eine halbe Minute später mit einem mottenzerfressenen Pappkarton zurück, auf dem ein vergilbter Zettel stand.
    
  "Bitteschön, Junge."
    
  Paul streckte die Hand aus, um es zu nehmen, doch der alte Mann packte sein Handgelenk fest. Die Berührung seiner kalten, faltigen Haut war abstoßend.
    
  "Was zum Teufel machst du da?"
    
  "Geld zuerst."
    
  "Zeig mir zuerst, was da drin ist."
    
  "Das lasse ich mir nicht gefallen", sagte der alte Mann und schüttelte langsam den Kopf. "Ich glaube, Sie sind der rechtmäßige Besitzer dieser Kiste, und Sie glauben, dass der Inhalt die Mühe wert ist. Ein doppelter Akt des Vertrauens, sozusagen."
    
  Paul haderte einige Augenblicke mit sich selbst, aber er wusste, dass er keine Wahl hatte.
    
  "Lass mich gehen."
    
  Metzger ließ ihn los, und Paul griff in die Innentasche seines Mantels. Er zog seine Brieftasche heraus.
    
  "Wie viele?"
    
  "Vierzig Millionen Mark."
    
  Zum damaligen Wechselkurs entsprach dies zehn Dollar - genug, um eine Familie viele Wochen lang zu ernähren.
    
  "Das ist eine Menge Geld", sagte Paul und spitzte die Lippen.
    
  "Friss oder stirb."
    
  Paul seufzte. Er hatte das Geld dabei, da er am nächsten Tag einige Bankzahlungen leisten musste. Er würde es in den nächsten sechs Monaten von seinem Gehalt abziehen müssen, von dem wenigen, was ihm nach der Überweisung all seiner Geschäftsgewinne an Herrn Zieglers Gebrauchtwarenladen geblieben war. Zu allem Übel stagnierten oder fielen die Aktienkurse in letzter Zeit, und die Zahl der Investoren schwand, was dazu führte, dass die Schlangen vor den Sozialhilfe-Kassen täglich länger wurden, ohne dass ein Ende in Sicht war.
    
  Paul zog einen riesigen Stapel frisch gedruckter Banknoten hervor. Damals verlor Papiergeld nie seine Gültigkeit. Tatsächlich waren die Banknoten des vorherigen Quartals bereits wertlos und dienten als Brennstoff in Münchens Schornsteinen, da sie billiger waren als Brennholz.
    
  Der Geldverleiher riss Paul die Geldscheine aus der Hand und begann, sie langsam gegen das Licht zu zählen. Schließlich sah er den jungen Mann an und lächelte, wobei seine Zahnlücke sichtbar wurde.
    
  "Zufrieden?", fragte Paul sarkastisch.
    
  Metzger zog seine Hand zurück.
    
  Vorsichtig öffnete Paul die Schachtel und wirbelte dabei eine Staubwolke auf, die im Licht der Glühbirne um ihn herumschwebte. Er zog eine flache, quadratische Schachtel aus glattem, dunklem Mahagoni heraus. Sie war schmucklos und unlackiert, nur mit einem Verschluss versehen, der sich öffnete, sobald Paul ihn drückte. Der Deckel hob sich langsam und lautlos, als wäre er nicht neunzehn Jahre lang zuletzt geöffnet gewesen.
    
  Paul verspürte ein eisiges Grauen im Herzen, als er den Inhalt betrachtete.
    
  "Pass bloß auf, Junge", sagte der Geldverleiher, aus dessen Händen die Geldscheine wie von Zauberhand verschwunden waren. "Du könntest in große Schwierigkeiten geraten, wenn sie dich mit diesem Spielzeug auf der Straße erwischen."
    
  Was wolltest du mir damit sagen, Vater?
    
  Auf einem mit rotem Samt bezogenen Ständer lagen eine glänzende Pistole und ein Magazin mit zehn Patronen.
    
    
  34
    
    
  "Es sollte besser wichtig sein, Metzger. Ich bin extrem beschäftigt. Wenn es um Gebühren geht, kommen Sie ein anderes Mal wieder."
    
  Otto von Schröder saß am Kamin in seinem Büro und bot dem Geldverleiher weder einen Platz noch etwas zu trinken an. Metzger, der gezwungen war, mit dem Hut in der Hand stehen zu bleiben, unterdrückte seinen Zorn und setzte eine scheinheilige Verbeugung und ein aufgesetztes Lächeln auf.
    
  "Die Wahrheit ist, Herr Baron, ich bin aus einem anderen Grund gekommen. Das Geld, das Sie all die Jahre investiert haben, wird nun Früchte tragen."
    
  "Ist er zurück in München? Ist Nagel zurück?", fragte der Baron angespannt.
    
  "Es ist viel komplizierter, Eure Gnaden."
    
  "Na gut, dann lass mich nicht raten. Sag mir, was du willst."
    
  "Euer Ehren, bevor ich Ihnen diese wichtige Information mitteile, möchte ich Sie daran erinnern, dass ich den Verkauf der Artikel, die ich in dieser Zeit vom Markt genommen habe, eingestellt habe, was meinem Unternehmen teuer zu stehen gekommen ist..."
    
  "Weiter so, Metzger."
    
  "-ist im Preis erheblich gestiegen. Eure Lordschaft hat mir eine jährliche Summe versprochen, und im Gegenzug sollte ich Euch mitteilen, ob Clovis Nagel welche davon kaufen würde. Und mit allem gebührenden Respekt, Eure Lordschaft hat weder dieses noch letztes Jahr gezahlt."
    
  Der Baron senkte die Stimme.
    
  "Wage es ja nicht, mich zu erpressen, Metzger. Was ich dir in den letzten zwei Jahrzehnten gezahlt habe, macht den ganzen Schrott, den du auf deiner Müllkippe lagerst, mehr als wett."
    
  "Was soll ich sagen? Eure Lordschaft hat Ihr Wort gegeben und es nicht gehalten. Nun gut, dann betrachten wir unsere Abmachung als abgeschlossen. Guten Tag", sagte der alte Mann und setzte seinen Hut auf.
    
  "Wartet!", sagte der Baron und hob die Hand.
    
  Der Geldverleiher drehte sich um und unterdrückte ein Lächeln.
    
  "Ja, Herr Baron?"
    
  "Ich habe kein Geld, Metzger. Ich bin pleite."
    
  "Ihr überrascht mich, Eure Hoheit!"
    
  "Ich besitze Staatsanleihen, die etwas wert sein könnten, wenn die Regierung Dividenden zahlt oder die Wirtschaft stabilisiert. Bis dahin sind sie so viel wert wie das Papier, auf dem sie geschrieben stehen."
    
  Der alte Mann blickte sich um, seine Augen verengten sich.
    
  "In diesem Fall, Eure Gnaden... könnte ich wohl als Bezahlung jenen kleinen Tisch aus Bronze und Marmor annehmen, der neben Eurem Stuhl steht."
    
  "Das ist weit mehr wert als Ihre Jahresgebühr, Metzger."
    
  Der alte Mann zuckte mit den Achseln, sagte aber nichts.
    
  "Sehr gut. Sprich."
    
  "Selbstverständlich müssten Sie Ihre Zahlungen für viele Jahre garantieren, Eure Gnaden. Ich nehme an, das verzierte silberne Teeservice auf dem kleinen Tisch wäre angemessen."
    
  "Du bist ein Mistkerl, Metzger", sagte der Baron und warf ihm einen Blick voller unverhohlenen Hasses zu.
    
  "Geschäft ist Geschäft, Herr Baron."
    
  Otto schwieg einige Augenblicke. Er sah keinen anderen Ausweg, als der Erpressung des alten Mannes nachzugeben.
    
  "Du hast gewonnen. Ich hoffe für dich, dass es sich gelohnt hat", sagte er schließlich.
    
  "Heute kam jemand, um einen der von Ihrem Freund verpfändeten Gegenstände abzuholen."
    
  "War es Nagel?"
    
  "Nur wenn er einen Weg fände, die Zeit um dreißig Jahre zurückzudrehen. Es war ein Junge."
    
  "Hat er seinen Namen genannt?"
    
  "Er war schlank, hatte blaue Augen und dunkelblondes Haar."
    
  "Boden..."
    
  "Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass er seinen Namen nicht genannt hat."
    
  "Und was genau hat er gesammelt?"
    
  "Schwarze Mahagoni-Kiste mit Pistole."
    
  Der Baron sprang so schnell von seinem Stuhl auf, dass dieser nach hinten umkippte und gegen die niedrige Querstange über dem Kamin krachte.
    
  "Was hast du gesagt?", fragte er und packte den Geldverleiher am Hals.
    
  "Du tust mir weh!"
    
  "Sprich endlich, um Gottes Willen, oder ich drehe dir jetzt gleich den Hals um."
    
  "Eine schlichte schwarze Kiste aus Mahagoni", flüsterte der alte Mann.
    
  "Eine Pistole! Beschreibe sie!"
    
  "Eine Mauser C96 mit einem besenförmigen Griff. Das Griffholz war nicht wie beim Originalmodell aus Eiche, sondern aus schwarzem Mahagoni, passend zum Korpus. Eine wunderschöne Waffe."
    
  "Wie kann das sein?", fragte der Baron.
    
  Plötzlich geschwächt, ließ er den Geldverleiher los und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
    
  Der alte Metzger richtete sich auf und rieb sich den Nacken.
    
  "Der ist verrückt geworden. Der ist völlig durchgedreht", sagte Metzger und stürmte zur Tür.
    
  Der Baron bemerkte seinen Weggang nicht. Er blieb sitzen, den Kopf in den Händen, versunken in düstere Gedanken.
    
    
  35
    
    
  Ilse fegte gerade den Flur, als sie den Schatten eines Besuchers bemerkte, der vom Licht der Wandlampen auf den Boden geworfen wurde. Noch bevor sie aufblickte, erkannte sie, wer es war, und erstarrte.
    
  Heiliger Gott, wie hast du uns gefunden?
    
  Als sie und ihr Sohn in die Pension zogen, musste Ilse arbeiten, um einen Teil der Miete zu bezahlen, da Pauls Verdienst als Kohletransporteur nicht ausreichte. Später, als Paul Zieglers Lebensmittelladen in eine Bank umwandelte, bestand der junge Mann darauf, dass sie sich eine bessere Wohnung suchten. Ilse weigerte sich. Ihr Leben hatte sich zu oft verändert, und sie klammerte sich an alles, was ihr Sicherheit bot.
    
  Einer dieser Gegenstände war ein Besenstiel. Paul - und der Wirt der Pension, dem Ilse nicht viel geholfen hatte - drängten sie, mit der Arbeit aufzuhören, doch sie ignorierte sie. Sie musste sich irgendwie nützlich fühlen. Das Schweigen, in das sie verfiel, nachdem sie aus dem Herrenhaus geworfen worden waren, war zunächst Ausdruck ihrer Angst, wurde aber später zu einem bewussten Ausdruck ihrer Liebe zu Paul. Sie vermied es, mit ihm zu sprechen, weil sie seine Fragen fürchtete. Wenn sie sprach, ging es um Belanglosigkeiten, die sie mit all der Zärtlichkeit, die sie aufbringen konnte, zu vermitteln suchte. Die restliche Zeit betrachtete sie ihn einfach aus der Ferne, schweigend, und trauerte um das, was ihr genommen worden war.
    
  Deshalb war ihr Leid so intensiv, als sie einem der Verantwortlichen für ihren Verlust gegenüberstand.
    
  "Hallo, Ilse."
    
  Sie trat vorsichtig einen Schritt zurück.
    
  "Was willst du, Otto?"
    
  Der Baron klopfte mit dem Ende seines Spazierstocks auf den Boden. Er fühlte sich hier unwohl, so viel war klar, ebenso wie die Tatsache, dass sein Besuch auf finstere Absichten hindeutete.
    
  "Können wir an einem privateren Ort sprechen?"
    
  "Ich will nirgendwo mit dir hingehen. Sag, was du zu sagen hast, und geh."
    
  Der Baron schnaubte verärgert. Dann deutete er abfällig auf die schimmelige Tapete, den unebenen Boden und die schwachen Lampen, die mehr Schatten als Licht warfen.
    
  "Sieh dich nur an, Ilse. Du fegst den Flur in einem drittklassigen Internat. Du solltest dich schämen."
    
  "Fußfegen ist Fußfegen, egal ob in einer Villa oder einer Pension. Und es gibt Linoleumböden, die respektabler sind als Marmor."
    
  "Ilsa, Liebling, du weißt, dass es dir sehr schlecht ging, als wir dich aufgenommen haben. Ich möchte nicht, dass..."
    
  "Halt, Otto. Ich weiß, wessen Idee das war. Aber glaub ja nicht, ich falle auf die Masche herein, dass du nur eine Marionette bist. Du hast meine Schwester von Anfang an manipuliert und sie teuer für ihren Fehler bezahlen lassen. Und für das, was du getan hast, indem du dich hinter diesem Fehler versteckt hast."
    
  Otto wich erschrocken zurück, überwältigt von dem Zorn, der Ilses Lippen entfuhr. Sein Monokel fiel ihm vom Auge und baumelte an seinem Mantel, wie bei einem zum Tode Verurteilten am Galgen.
    
  "Du überraschst mich, Ilse. Man sagte mir, dass du..."
    
  Ilze lachte freudlos.
    
  "Verloren? Den Verstand verloren? Nein, Otto. Ich bin bei klarem Verstand. Ich habe mich die ganze Zeit zum Schweigen entschlossen, weil ich Angst davor habe, was mein Sohn tun könnte, wenn er die Wahrheit herausfindet."
    
  "Dann haltet ihn auf. Denn er geht zu weit."
    
  "Deshalb sind Sie also gekommen", sagte sie und konnte ihre Verachtung nicht verbergen. "Sie haben Angst, dass die Vergangenheit Sie endlich einholt."
    
  Der Baron machte einen Schritt auf Ilsa zu. Pauls Mutter wich zur Wand zurück, als Otto sein Gesicht dicht an ihres heranführte.
    
  "Hör gut zu, Ilse. Du bist das Einzige, was uns mit jener Nacht verbindet. Wenn du ihn nicht aufhältst, bevor es zu spät ist, muss ich diese Verbindung kappen."
    
  "Dann tu nur, Otto, bring mich um", sagte Ilse und gab sich mutig, obwohl sie es nicht war. "Aber du musst wissen, dass ich einen Brief geschrieben habe, in dem ich die ganze Sache offenlege. Alles. Wenn mir etwas zustößt, wird Paul ihn bekommen."
    
  "Aber... das ist doch nicht dein Ernst! Das kannst du doch nicht aufschreiben! Was, wenn es in die falschen Hände gerät?"
    
  Ilse antwortete nicht. Sie starrte ihn nur an. Otto versuchte, ihrem Blick standzuhalten; der große, kräftige, gut gekleidete Mann blickte auf die zerbrechliche Frau in ihren zerlumpten Kleidern herab, die sich an ihren Besen klammerte, um nicht zu fallen.
    
  Schließlich gab der Baron nach.
    
  "Das ist noch nicht alles", sagte Otto, drehte sich um und rannte hinaus.
    
    
  36
    
    
  "Hast du mich gerufen, Vater?"
    
  Otto blickte Jürgen zweifelnd an. Mehrere Wochen waren vergangen, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte, und es fiel ihm immer noch schwer, die uniformierte Gestalt in seinem Esszimmer als seinen Sohn zu erkennen. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie Jürgens braunes Hemd an seinen Schultern klebte, wie die rote Armbinde mit dem gebogenen Kreuz seine kräftigen Oberarme betonte und wie seine schwarzen Stiefel ihn größer machten, sodass er sich leicht ducken musste, um unter dem Türrahmen hindurchzugehen. Er verspürte einen Anflug von Stolz, doch gleichzeitig überkam ihn eine Welle des Selbstmitleids. Er konnte nicht umhin, Vergleiche anzustellen: Otto war zweiundfünfzig, und er fühlte sich alt und müde.
    
  "Du warst lange weg, Jürgen."
    
  "Ich hatte wichtige Dinge zu erledigen."
    
  Der Baron antwortete nicht. Obwohl er die Ideale der Nazis verstand, hatte er nie wirklich an sie geglaubt. Wie die überwiegende Mehrheit der Münchner Oberschicht hielt er sie für eine Partei mit geringen Zukunftsaussichten, die dem Untergang geweiht war. Wenn sie so weit gekommen waren, dann nur, weil sie von einer so verzweifelten sozialen Lage profitierten, dass die Besitzlosen jedem Extremisten vertrauten, der ihnen vollmundige Versprechungen machte. Doch in diesem Moment hatte er keine Zeit für Spitzfindigkeiten.
    
  "So sehr, dass du deine Mutter vernachlässigst? Sie hat sich Sorgen um dich gemacht. Können wir herausfinden, wo du geschlafen hast?"
    
  "Auf dem Gelände der SA."
    
  "Du hättest dieses Jahr mit dem Studium anfangen sollen, zwei Jahre zu spät!", sagte Otto kopfschüttelnd. "Es ist schon November, und du bist noch zu keiner einzigen Vorlesung erschienen."
    
  "Ich befinde mich in einer verantwortungsvollen Position."
    
  Otto sah zu, wie die Bruchstücke des Bildes, das er von diesem ungezogenen Teenager behalten hatte - der vor nicht allzu langer Zeit noch seine Tasse auf den Boden geworfen hätte, weil der Tee zu süß war -, endgültig zerfielen. Er fragte sich, wie er am besten mit ihm umgehen sollte. Vieles hing davon ab, ob Jürgen gehorchen würde.
    
  Er lag mehrere Nächte wach und wälzte sich unruhig auf seiner Matratze hin und her, bevor er beschloss, seinen Sohn zu besuchen.
    
  "Ein verantwortungsvoller Posten, sagen Sie?"
    
  "Ich beschütze den wichtigsten Mann Deutschlands."
    
  "Der wichtigste Mann in Deutschland", ahmte sein Vater ihn nach. "Du, der zukünftige Baron von Schröder, hast einen Schläger für einen unbekannten österreichischen Korporal mit Größenwahn angeheuert. Darauf solltest du stolz sein."
    
  Jürgen zuckte zusammen, als wäre er gerade getroffen worden.
    
  "Du verstehst das nicht..."
    
  "Genug! Ich möchte, dass du etwas Wichtiges tust. Du bist die einzige Person, der ich das anvertrauen kann."
    
  Jürgen war über den Kurswechsel verwirrt. Seine Antwort blieb ihm im Halse stecken, denn seine Neugierde siegte.
    
  "Was ist das?"
    
  "Ich habe deine Tante und deinen Cousin gefunden."
    
  Jürgen antwortete nicht. Er setzte sich neben seinen Vater und entfernte den Verband vom Auge, wodurch die unnatürliche Leere unter der faltigen Haut seines Augenlids sichtbar wurde. Langsam strich er über die Haut.
    
  "Wo?", fragte er mit kalter, distanzierter Stimme.
    
  "In der Pension in Schwabing. Aber ich verbiete dir, auch nur an Rache zu denken. Wir haben etwas viel Wichtigeres zu erledigen. Ich möchte, dass du in das Zimmer deiner Tante gehst, es von oben bis unten durchsuchst und mir jedes Papier bringst, das du findest. Besonders handgeschriebene. Briefe, Notizen - alles."
    
  "Warum?"
    
  "Das kann ich Ihnen nicht sagen."
    
  "Du kannst es mir nicht sagen? Du hast mich hierhergebracht, du bittest mich um Hilfe, nachdem du meine Chance zerstört hast, den Mann zu finden, der mir das angetan hat - denselben Mann, der meinem kranken Bruder eine Pistole gab, damit er sich erschießen konnte. Du verbietest mir all das und erwartest dann, dass ich dir ohne Erklärung gehorche?" Jetzt schrie Jürgen.
    
  "Du wirst tun, was ich dir sage, es sei denn, du willst, dass ich dich abschalte!"
    
  "Nur zu, Vater. Schulden waren mir immer egal. Es gibt nur noch einen Wertgegenstand, und den kannst du mir nicht nehmen. Ich werde deinen Titel erben, ob es dir passt oder nicht." Jürgen verließ das Esszimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Er wollte gerade hinausgehen, als ihn eine Stimme aufhielt.
    
  "Sohn, warte."
    
  Er drehte sich um. Brunhilde kam die Treppe herunter.
    
  "Mutter".
    
  Sie ging auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange. Dafür musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Sie richtete seine schwarze Krawatte und strich mit den Fingerspitzen über die Stelle, wo einst sein rechtes Auge gewesen war. Jürgen trat zurück und nahm seine Augenklappe ab.
    
  "Du musst tun, was dein Vater verlangt."
    
  "ICH..."
    
  "Du musst tun, was dir gesagt wird, Jürgen. Er wird stolz auf dich sein, wenn du es tust. Und ich auch."
    
  Brunhilde sprach noch eine Weile weiter. Ihre Stimme war sanft, und in Jürgen weckte sie Bilder und Gefühle, die er schon lange nicht mehr erlebt hatte. Er war immer ihr Liebling gewesen. Sie hatte ihn immer anders behandelt, ihm nie etwas verweigert. Er wollte sich in ihren Schoß kuscheln, wie in seiner Kindheit, und der Sommer schien endlos.
    
  "Wann?"
    
  "Morgen".
    
  "Morgen ist der 8. November, Mama. Ich kann nicht..."
    
  "Es sollte morgen Nachmittag passieren. Dein Vater hat die Pension bewacht, und Paul ist um diese Zeit nie dort."
    
  "Aber ich habe schon Pläne!"
    
  "Sind sie dir wichtiger als deine eigene Familie, Jürgen?"
    
  Brunhilde hob erneut die Hand zu seinem Gesicht. Diesmal zuckte Jürgen nicht zusammen.
    
  "Ich denke, ich könnte es schaffen, wenn ich schnell handle."
    
  "Braver Junge. Und wenn du die Papiere hast", sagte sie und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, "bring sie mir zuerst. Sag kein Wort zu deinem Vater."
    
    
  37
    
    
  Alice beobachtete Manfred von der Ecke aus, als er aus der Straßenbahn stieg. Wie jede Woche in den letzten zwei Jahren stellte sie sich in der Nähe ihres alten Hauses auf, um ihren Bruder für ein paar Minuten zu sehen. Nie zuvor hatte sie ein so starkes Bedürfnis verspürt, sich ihm zu nähern, mit ihm zu reden, sich ihm endgültig zu ergeben und nach Hause zurückzukehren. Sie fragte sich, was ihr Vater wohl tun würde, wenn sie auftauchte.
    
  Das kann ich nicht tun, vor allem nicht so... so. Es wäre, als würde ich endlich zugeben, dass er Recht hatte. Es wäre wie der Tod.
    
  Ihr Blick folgte Manfred, der sich in einen stattlichen jungen Mann verwandelte. Unbändiges Haar lugte unter seiner Mütze hervor, seine Hände steckten in den Taschen, und er trug ein Notenblatt unter dem Arm.
    
  "Ich wette, er ist immer noch ein furchtbarer Pianist", dachte Alice mit einer Mischung aus Verärgerung und Bedauern.
    
  Manfred ging den Bürgersteig entlang und blieb, bevor er sein Haustor erreichte, vor der Konditorei stehen. Alice lächelte. Sie hatte ihn das vor zwei Jahren zum ersten Mal tun sehen, als sie zufällig herausgefunden hatte, dass ihr Bruder donnerstags nach dem Klavierunterricht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause kam, anstatt in der Limousine ihres Vaters mit Chauffeur. Eine halbe Stunde später ging Alice in die Konditorei und bestach die Verkäuferin, Manfred in der folgenden Woche eine Tüte Toffees mit einer Nachricht darin zu geben. Hastig kritzelte sie: "Ich bin"s. Komm jeden Donnerstag vorbei, ich hinterlasse dir eine Nachricht. Frag Ingrid, gib ihr deine Antwort. Ich liebe dich - A."
    
  Sie wartete ungeduldig die nächsten sieben Tage ab, in der Angst, ihr Bruder würde nicht antworten oder ihr böse sein, dass sie gegangen war, ohne sich zu verabschieden. Seine Antwort jedoch war typisch Manfred. Als hätte er sie erst vor zehn Minuten gesehen, begann sein Brief mit einer lustigen Geschichte über die Schweizer und Italiener und endete mit einer Erzählung über die Schule und was seit ihrem letzten Kontakt mit ihr geschehen war. Die Nachricht von ihrem Bruder erfüllte Alice erneut mit Freude, doch eine Zeile, die letzte, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen: "Papa sucht dich immer noch."
    
  Sie rannte aus der Konditorei, voller Angst, erkannt zu werden. Doch trotz der Gefahr kehrte sie jede Woche zurück, zog ihren Hut tief ins Gesicht und verbarg ihre Gesichtszüge unter einem Mantel oder Schal. Nie hob sie den Blick zum Fenster ihres Vaters, aus Furcht, er könnte sie erkennen. Und jede Woche, so verzweifelt ihre eigene Lage auch war, fand sie Trost in den kleinen Erfolgen und Niederlagen in Manfreds Leben. Als er mit zwölf Jahren eine Leichtathletikmedaille gewann, weinte sie vor Freude. Als er auf dem Schulhof ausgeschimpft wurde, weil er sich gegen einige Kinder zur Wehr gesetzt hatte, die ihn einen "dreckigen Juden" nannten, schrie sie vor Wut. So unbedeutend diese Erinnerungen auch waren, sie verbanden sie mit den Erinnerungen an eine glückliche Vergangenheit.
    
  An jenem Donnerstag, dem 8. November, wartete Alice etwas kürzer als sonst. Sie fürchtete, wenn sie zu lange auf dem Prinzregentenplatz verweilte, würden Zweifel sie übermannen und sie würde den einfachsten - und schlechtesten - Weg wählen. Sie betrat den Laden, bestellte eine Packung Pfefferminzbonbons und zahlte wie immer das Dreifache des üblichen Preises. Sie wartete, bis sie in den Einkaufswagen konnte, doch an diesem Tag warf sie sofort einen Blick auf den Zettel in der Packung. Es standen nur fünf Worte darauf, aber sie reichten aus, um ihre Hände zittern zu lassen. "Sie haben mich durchschaut. Lauf!"
    
  Sie musste sich beherrschen, nicht loszuschreien.
    
  Kopf runter, langsam gehen, nicht wegschauen. Sie könnten den Laden nicht im Blick haben.
    
  Sie öffnete die Tür und trat hinaus. Beim Hinausgehen konnte sie nicht umhin, sich noch einmal umzudrehen.
    
  Zwei Männer in Mänteln folgten ihr in einem Abstand von weniger als sechzig Metern. Als einer von ihnen merkte, dass sie sie gesehen hatte, gab er dem anderen ein Zeichen, und beide beschleunigten ihre Schritte.
    
  Mist!
    
  Alice versuchte, so schnell wie möglich zu gehen, ohne zu rennen. Sie wollte nicht riskieren, die Aufmerksamkeit eines Polizisten zu erregen, denn wenn er sie anhielt, würden die beiden Männer sie einholen, und dann wäre es um sie geschehen. Zweifellos handelte es sich um von ihrem Vater angeheuerte Detektive, die sich eine Geschichte ausdenken würden, um sie festzuhalten oder ins Elternhaus zurückzubringen. Sie war noch nicht volljährig - sie hatte noch elf Monate bis zu ihrem 21. Geburtstag -, also wäre sie ihrem Vater völlig ausgeliefert.
    
  Sie überquerte die Straße, ohne anzuhalten und zu schauen. Ein Fahrrad raste an ihr vorbei, der Junge darauf verlor die Kontrolle und stürzte, wodurch Alices Verfolger behindert wurden.
    
  "Bist du verrückt oder so?", schrie der Mann und umfasste seine verletzten Knie.
    
  Alice blickte noch einmal zurück und sah, dass zwei Männer es geschafft hatten, die Straße zu überqueren, indem sie eine Verkehrslücke ausnutzten. Sie waren weniger als zehn Meter entfernt und gewannen rasch an Höhe.
    
  Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Oberleitungsbus.
    
  Sie verfluchte ihre Schuhe mit den Holzsohlen, die sie auf dem nassen Bürgersteig leicht ausrutschen ließen. Die Tasche, in der sie ihre Kamera aufbewahrte, schlug gegen ihre Oberschenkel, und sie verfing sich mit dem Gurt, den sie schräg über der Brust trug.
    
  Es war klar, dass sie nicht erfolgreich sein würde, wenn ihr nicht schnell etwas einfiel. Sie spürte ihre Verfolger dicht hinter sich.
    
  Das darf nicht passieren. Nicht jetzt, wo ich so nah dran bin.
    
  In diesem Moment tauchte vor ihr eine Gruppe uniformierter Schulkinder um die Ecke auf, angeführt von einem Lehrer, der sie zur Haltestelle des Oberleitungsbusses begleitete. Die Jungen, etwa zwanzig an der Zahl, stellten sich in einer Reihe auf und versperrten ihr den Weg.
    
  Alice schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich durchzudrängen und die andere Seite der Gruppe zu erreichen. Der Wagen rollte auf den Schienen entlang und läutete dabei eine Glocke.
    
  Alice griff nach der Stange und stieg auf die Vorderseite des Wagens. Der Fahrer bremste daraufhin etwas ab. Sicher im vollbesetzten Wagen angekommen, drehte sich Alice um und blickte auf die Straße.
    
  Ihre Verfolger waren nirgends zu sehen.
    
  Mit einem erleichterten Seufzer bezahlte Alice und griff mit zitternden Händen nach dem Tresen, völlig ahnungslos von den beiden Gestalten in Hüten und Regenmänteln, die in diesem Moment in den hinteren Teil des Oberleitungsbusses einstiegen.
    
  Paul wartete auf sie in der Rosenheimerstraße, nahe der Ludwigsbrücke. Als er sie aus dem Oberleitungsbus steigen sah, ging er auf sie zu, um sie zu küssen, hielt aber inne, als er die Sorge in ihrem Gesicht bemerkte.
    
  "Was ist passiert?"
    
  Alice schloss die Augen und sank in Pauls feste Umarmung. Geborgen in seinen Armen bemerkte sie nicht, wie ihre beiden Verfolger aus dem Oberleitungsbus stiegen und ein nahegelegenes Café betraten.
    
  "Ich wollte wie jeden Donnerstag den Brief meines Bruders abholen, aber ich wurde verfolgt. Ich kann diese Kontaktmethode nicht mehr nutzen."
    
  "Das ist ja furchtbar! Geht es Ihnen gut?"
    
  Alice zögerte, bevor sie antwortete. Sollte sie ihm alles erzählen?
    
  Es wäre so einfach, es ihm zu sagen. Einfach den Mund aufmachen und diese zwei Worte aussprechen. So einfach ... und so unmöglich.
    
  "Ja, ich denke schon. Ich habe sie verloren, bevor ich in die Straßenbahn gestiegen bin."
    
  "Okay dann... Aber ich denke, du solltest heute Abend absagen", sagte Paul.
    
  "Das geht nicht, das ist mein erster Auftrag."
    
  Nach monatelangem Drängen gelang es ihr endlich, die Aufmerksamkeit des Leiters der Fotoabteilung der Münchner Tageszeitung "Allgemeine" zu erregen. Er riet ihr, noch am selben Abend in den Burgerbräukeller zu kommen, eine Bierhalle, die keine dreißig Schritte von ihrem jetzigen Standort entfernt lag. Der bayerische Staatskommissar Gustav Ritter von Kahr würde in einer halben Stunde eine Rede halten. Für Alice war die Chance, ihre Nächte nicht länger in Clubs zu verbringen und stattdessen ihren Lebensunterhalt mit ihrer größten Leidenschaft - der Fotografie - zu verdienen, ein wahr gewordener Traum.
    
  "Aber nach dem, was passiert ist... willst du nicht einfach nur in deine Wohnung gehen?", fragte Paul.
    
  "Ist Ihnen eigentlich bewusst, wie wichtig mir dieser Abend ist? Ich habe monatelang auf eine solche Gelegenheit gewartet!"
    
  "Beruhig dich, Alice. Du machst hier eine Szene."
    
  "Sag mir nicht, ich soll mich beruhigen! Du musst dich beruhigen!"
    
  "Bitte, Alice. Du übertreibst", sagte Paul.
    
  "Du übertreibst! Das ist genau das, was ich hören musste", schnaubte sie, drehte sich um und ging in Richtung Kneipe.
    
  "Moment mal! Wollten wir nicht erst Kaffee trinken?"
    
  "Nimm dir auch so eins!"
    
  "Willst du nicht wenigstens, dass ich mitkomme? Diese politischen Versammlungen können gefährlich sein: Die Leute betrinken sich, und manchmal kommt es zu Streitigkeiten."
    
  In dem Moment, als die Worte seine Lippen verließen, wusste Paul, dass er seine Aufgabe erfüllt hatte. Er wünschte, er könnte sie in der Luft auffangen und zurückschlucken, aber es war zu spät.
    
  "Ich brauche deinen Schutz nicht, Paul", erwiderte Alice eisig.
    
  "Es tut mir leid, Alice, ich wollte nicht..."
    
  "Guten Abend, Paul", sagte sie und reihte sich in die lachende Menge der Menschen ein, die ins Innere strömten.
    
  Paul war mitten auf einer belebten Straße allein und hatte das Bedürfnis, jemanden zu erwürgen, zu schreien, mit den Füßen auf den Boden zu schlagen und zu weinen.
    
  Es war sieben Uhr abends.
    
    
  38
    
    
  Am schwierigsten war es, unbemerkt in die Pension zu gelangen.
    
  Die Wohnungsbesitzerin lauerte wie ein Spürhund am Eingang, in Latzhose und mit einem Besen. Jürgen musste ein paar Stunden warten, während er durch die Gegend streifte und den Eingang des Gebäudes heimlich beobachtete. Er konnte es nicht riskieren, so dreist vorzugehen, da er sichergehen musste, später nicht erkannt zu werden. Auf einer belebten Straße würde kaum jemand einem Mann in schwarzem Mantel und Hut, der eine Zeitung unter dem Arm trug, große Beachtung schenken.
    
  Er versteckte seinen Schlagstock in einem gefalteten Stück Papier und presste ihn, aus Angst, er könnte herausfallen, so fest gegen seine Achselhöhle, dass er am nächsten Tag einen deutlichen blauen Fleck haben würde. Unter seiner Zivilkleidung trug er eine braune SA-Uniform, die in einem jüdischen Viertel wie diesem zweifellos zu viel Aufmerksamkeit erregen würde. Seine Mütze steckte in der Tasche, und seine Schuhe hatte er in der Kaserne gelassen und stattdessen ein Paar robuste Stiefel angezogen.
    
  Nach mehrmaligem Vorbeigehen gelang es ihm schließlich, eine Lücke in der Verteidigungslinie zu entdecken. Die Frau hatte ihren Besen an die Wand gelehnt und war durch eine kleine Innentür verschwunden, vielleicht um das Abendessen vorzubereiten. Jürgen nutzte diese Gelegenheit, um ins Haus zu schlüpfen und die Treppe hinauf ins oberste Stockwerk zu rennen. Nachdem er mehrere Treppenabsätze und Flure passiert hatte, stand er vor Ilse Rainers Tür.
    
  Er klopfte.
    
  Wäre sie nicht hier, wäre alles einfacher, dachte Jürgen. Er wollte die Mission so schnell wie möglich abschließen und zum Ostufer der Isar übersetzen, wo sich die Stoßtrupp-Mitglieder zwei Stunden zuvor treffen sollten. Es war ein historischer Tag gewesen, und nun verschwendete er seine Zeit mit einer Intrige, die ihn nicht im Geringsten interessierte.
    
  Wenn ich wenigstens gegen Paul kämpfen könnte... dann wäre alles anders.
    
  Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. In diesem Moment öffnete seine Tante die Tür und sah ihm direkt in die Augen. Vielleicht las sie Verrat und Mord darin; vielleicht fürchtete sie einfach nur Jürgens Anwesenheit. Was auch immer der Grund war, sie reagierte, indem sie versuchte, die Tür zuzuschlagen.
    
  Jürgen war schnell. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, seine linke Hand durchzuschieben. Der Türrahmen knallte hart gegen seine Knöchel, und er unterdrückte einen Schmerzensschrei, aber es gelang ihm. So sehr sich Ilse auch wehrte, ihr schwacher Körper war Jürgens brutaler Kraft hilflos ausgeliefert. Er stemmte sich mit seinem vollen Gewicht gegen die Tür, sodass seine Tante und die Kette, die sie schützte, zu Boden stürzten.
    
  "Wenn du schreist, bringe ich dich um, alte Frau", sagte Jürgen mit leiser, ernster Stimme, während er die Tür hinter sich schloss.
    
  "Habt ein bisschen Respekt: Ich bin jünger als eure Mutter", sagte Ilse vom Boden aus.
    
  Jürgen antwortete nicht. Seine Knöchel bluteten; der Schlag war heftiger gewesen, als er ausgesehen hatte. Er legte Zeitung und Schlagstock auf den Boden und ging zu dem ordentlich gemachten Bett. Er riss ein Stück Laken ab und wickelte es sich um die Hand, als Ilse, die ihn für abgelenkt hielt, die Tür öffnete. Gerade als sie weglaufen wollte, riss Jürgen sie am Kleid und zog sie zurück.
    
  "Netter Versuch. Können wir jetzt reden?"
    
  "Du bist nicht hierher gekommen, um zu reden."
    
  "Das ist wahr".
    
  Er packte sie an den Haaren und zwang sie, wieder aufzustehen und ihm in die Augen zu sehen.
    
  "Also, Tante, wo sind die Dokumente?"
    
  "Wie typisch für den Baron, dass er dich losschickt, um das zu tun, wozu er sich selbst nicht traut", schnaubte Ilse. "Weißt du überhaupt, wozu er dich geschickt hat?"
    
  "Ihr Leute und eure Geheimnisse. Nein, mein Vater hat mir nichts gesagt, er hat mich nur gebeten, eure Unterlagen zu besorgen. Zum Glück hat mir meine Mutter mehr Details erzählt. Sie sagte, ich solle euren Brief voller Lügen finden und noch einen von eurem Mann."
    
  "Ich habe keinerlei Absicht, Ihnen irgendetwas zu geben."
    
  "Du scheinst nicht zu verstehen, wozu ich bereit bin, Tante."
    
  Er zog seinen Mantel aus und legte ihn auf einen Stuhl. Dann zog er ein Jagdmesser mit rotem Griff hervor. Die scharfe Klinge glänzte silbern im Licht der Öllampe und spiegelte sich in den flackernden Augen seiner Tante.
    
  "Das würdest du dich nicht trauen."
    
  "Oh, ich denke, Sie werden feststellen, dass ich das tun würde."
    
  Trotz all seiner Prahlerei war die Situation komplexer, als Jurgen angenommen hatte. Das war keine Kneipenschlägerei, bei der er sich von seinen Instinkten und dem Adrenalin leiten ließ und seinen Körper in eine wilde, brutale Maschine verwandelte.
    
  Er empfand fast keine Regung, als er die rechte Hand der Frau nahm und sie auf den Nachttisch legte. Doch dann überkam ihn eine tiefe Traurigkeit wie die scharfen Zähne einer Säge, die an seinem Unterleib kratzte und ihm genauso wenig Mitleid schenkte wie damals, als er seiner Tante das Messer an die Finger hielt und ihr zwei schmutzige Schnitte in den Zeigefinger schnitt.
    
  Ilse schrie vor Schmerz auf, doch Jürgen war vorbereitet und hielt ihr den Mund zu. Er fragte sich, woher die Aufregung kam, die sonst die Gewalt entfachte, und was ihn ursprünglich zur SA geführt hatte.
    
  Könnte es am Mangel an Herausforderung liegen? Denn diese verängstigte alte Krähe war überhaupt keine Herausforderung.
    
  Die Schreie, von Jürgens Handfläche erstickt, verstummten zu stummen Schluchzern. Er starrte in die tränenüberströmten Augen der Frau und versuchte, aus dieser Situation dieselbe Befriedigung zu ziehen, die er empfunden hatte, als er dem jungen Kommunisten einige Wochen zuvor die Zähne ausgeschlagen hatte. Aber nein. Er seufzte resigniert.
    
  "Werden Sie jetzt kooperieren? Das macht uns beiden keinen Spaß."
    
  Ilze nickte heftig.
    
  "Das freut mich zu hören. Gib mir, worum ich dich gebeten habe", sagte er und ließ sie los.
    
  Sie wandte sich von Jürgen ab und ging unsicher auf den Kleiderschrank zu. Die verletzte Hand, die sie an ihre Brust hielt, hinterließ einen immer größer werdenden Fleck auf ihrem cremefarbenen Kleid. Mit der anderen Hand durchwühlte sie ihre Kleidung, bis sie einen kleinen weißen Umschlag fand.
    
  "Das ist mein Brief", sagte sie und reichte ihn Jürgen.
    
  Der junge Mann hob einen Umschlag mit einem Blutfleck auf. Auf der Rückseite stand der Name seines Cousins. Er riss eine Seite des Umschlags auf und zog fünf Blätter Papier heraus, die in einer sauberen, runden Handschrift beschrieben waren.
    
  Jürgen überflog die ersten Zeilen, doch dann fesselte ihn das Gelesene. Nach der Hälfte weiteten sich seine Augen, und sein Atem ging stoßweise. Misstrauisch warf er Ilse einen Blick zu; er konnte nicht fassen, was er da sah.
    
  "Das ist eine Lüge! Eine dreckige Lüge!", schrie er, machte einen Schritt auf seine Tante zu und setzte ihr das Messer an die Kehle.
    
  "Das stimmt nicht, Jürgen. Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musstest", sagte sie.
    
  "Es tut dir leid? Du hast Mitleid mit mir, nicht wahr? Ich habe dir gerade den Finger abgeschnitten, du alte Hexe! Was hält mich davon ab, dir die Kehle durchzuschneiden, hm? Sag mir, dass es eine Lüge ist", zischte Jürgen mit einem kalten Flüstern, das Ilse die Haare zu Berge stehen ließ.
    
  "Ich war jahrelang ein Opfer dieser Wahrheit. Sie hat dich mit dazu beigetragen, dass du zu dem Monster geworden bist, das du bist."
    
  Weiß er es?
    
  Diese letzte Frage war zu viel für Ilse. Sie taumelte, ihr Kopf dröhnte vor lauter Aufregung und Blutverlust, und Jürgen musste sie auffangen.
    
  "Wage es ja nicht, jetzt in Ohnmacht zu fallen, du nutzlose alte Frau!"
    
  In der Nähe stand ein Waschbecken. Jürgen schubste seine Tante aufs Bett und spritzte ihr etwas Wasser ins Gesicht.
    
  "Das reicht", sagte sie schwach.
    
  "Antworte mir. Weiß Paul es?"
    
  "NEIN".
    
  Jürgen gab ihr einen Moment Zeit, sich zu sammeln. Eine Flut widersprüchlicher Gefühle durchfuhr seinen Kopf, als er den Brief erneut las, diesmal bis zum Ende.
    
  Als er fertig war, faltete er die Seiten sorgfältig zusammen und steckte sie in seine Tasche. Jetzt verstand er, warum sein Vater so darauf bestanden hatte, diese Papiere zu bekommen, und warum seine Mutter ihn gebeten hatte, sie ihr zuerst zu bringen.
    
  Sie wollten mich ausnutzen. Sie halten mich für einen Idioten. Dieser Brief geht nur an mich ... und ich werde ihn im richtigen Moment verwenden. Ja, sie ist es. Wenn sie es am wenigsten erwarten ...
    
  Aber er brauchte noch etwas anderes. Langsam ging er zum Bett und beugte sich über die Matratze.
    
  "Ich brauche Hans" Brief."
    
  "Ich habe es nicht. Ich schwöre bei Gott. Dein Vater hat immer danach gesucht, aber ich habe es nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt existiert", murmelte Ilse stotternd und umklammerte ihren zerschmetterten Arm.
    
  "Ich glaube dir nicht", log Jürgen. In diesem Moment schien Ilse nichts mehr verbergen zu können, doch er wollte trotzdem sehen, welche Reaktion sein Unglaube hervorrufen würde. Er hob das Messer erneut an ihr Gesicht.
    
  Ilse versuchte, seine Hand wegzuschieben, aber ihre Kraft war fast erschöpft, und es war, als würde ein Kind eine Tonne Granit schieben.
    
  "Lass mich in Ruhe. Um Gottes Willen, hast du mir nicht schon genug angetan?"
    
  Jürgen sah sich um. Er trat vom Bett zurück, griff nach einer Öllampe auf dem nächsten Tisch und warf sie in den Schrank. Das Glas zersprang und brennendes Kerosin ergoss sich überall hin.
    
  Er kehrte zum Bett zurück, sah Ilse direkt in die Augen und setzte die Messerspitze an ihren Bauch. Er atmete ein.
    
  Dann stieß er die Klinge bis zum Griff hinein.
    
  "Jetzt habe ich es."
    
    
  39
    
    
  Nach seinem Streit mit Alice war Paul schlecht gelaunt. Er beschloss, die Kälte zu ignorieren und nach Hause zu laufen - eine Entscheidung, die er später zutiefst bereuen sollte.
    
  Paul brauchte fast eine Stunde, um die sieben Kilometer zwischen dem Pub und der Pension zurückzulegen. Er nahm seine Umgebung kaum wahr, seine Gedanken kreisten um die Erinnerungen an sein Gespräch mit Alice. Er malte sich aus, was er hätte sagen können, um alles anders zu machen. Mal bereute er, nicht versöhnlich gewesen zu sein, mal, nicht so reagiert zu haben, dass sie ihn verletzt hätte und er seine Gefühle gestand. Verloren in diesem endlosen Strudel der Gefühle, bemerkte er erst, als er nur noch wenige Schritte vom Tor entfernt war, was um ihn herum geschah.
    
  Dann roch er Rauch und sah Menschen rennen. Ein Feuerwehrauto stand vor dem Gebäude.
    
  Paul blickte auf. Im dritten Stock brannte es.
    
  "Oh, heilige Mutter Gottes!"
    
  Auf der anderen Straßenseite hatte sich eine Schar neugieriger Passanten und Gäste der Pension versammelt. Paul rannte auf sie zu, suchte nach bekannten Gesichtern und rief Ilses Namen. Schließlich fand er die Wirtin auf dem Bordstein sitzen, ihr Gesicht rußverschmiert und von Tränen gezeichnet. Paul rüttelte sie.
    
  "Meine Mutter! Wo ist sie?"
    
  Die Wohnungsbesitzerin begann erneut zu weinen und konnte ihm nicht in die Augen sehen.
    
  "Niemand konnte aus dem dritten Stock entkommen. Oh, wenn doch nur mein Vater, möge er in Frieden ruhen, sehen könnte, was aus seinem Gebäude geworden ist!"
    
  "Was ist mit den Feuerwehrleuten?"
    
  "Sie sind noch nicht drin, aber sie können nichts tun. Das Feuer hat das Treppenhaus versperrt."
    
  "Und vom anderen Dach? Dem von Hausnummer 22?"
    
  "Vielleicht", sagte die Gastgeberin und rang verzweifelt ihre schwieligen Hände. "Man könnte von dort springen ..."
    
  Paul hörte den Rest ihres Satzes nicht mehr, denn er rannte bereits zur Tür der Nachbarn. Dort stand ein finster dreinblickender Polizist, der einen der Bewohner des Gästehauses verhörte. Er runzelte die Stirn, als er Paul auf sich zustürmen sah.
    
  "Wo willst du denn hin? Wir räumen gerade auf - Hey!"
    
  Paul stieß den Polizisten beiseite, sodass dieser zu Boden ging.
    
  Das Gebäude hatte fünf Stockwerke, eines mehr als die Pension. Jedes Stockwerk war eine Privatwohnung, obwohl sie zu dem Zeitpunkt wohl alle leer standen. Paul tastete sich die Treppe hinauf, da der Strom im Gebäude offensichtlich abgestellt war.
    
  Er musste im obersten Stockwerk anhalten, weil er den Weg zum Dach nicht finden konnte. Da wurde ihm klar, dass er die Luke in der Mitte der Decke erreichen musste. Er sprang hoch und versuchte, den Griff zu greifen, aber es fehlten noch ein paar Zentimeter. Verzweifelt suchte er nach etwas, das ihm helfen könnte, aber er fand nichts Brauchbares.
    
  Mir bleibt keine andere Wahl, als die Tür einer der Wohnungen aufzubrechen.
    
  Er stürzte sich auf die nächste Tür und rammte sie mit der Schulter, erreichte aber nichts außer einem stechenden Schmerz, der ihm den Arm hinauffuhr. Also begann er, gegen das Schloss zu treten und schaffte es nach etwa sechs Schlägen, die Tür zu öffnen. Er griff nach dem ersten Gegenstand, den er in dem dunklen Vorraum finden konnte, und entdeckte einen Stuhl. Darauf steigend, erreichte er die Dachluke und ließ eine Holzleiter herunter, die zum Flachdach führte.
    
  Die Luft draußen war unerträglich. Der Wind trieb Rauch in seine Richtung, und Paul musste sich ein Taschentuch vor den Mund halten. Beinahe wäre er in den Spalt zwischen zwei Gebäuden gefallen, der kaum einen Meter breit war. Er konnte das benachbarte Dach nur noch schemenhaft erkennen.
    
  Wo zum Teufel soll ich springen?
    
  Er zog die Schlüssel aus der Tasche und warf sie vor sich hin. Da hörte er ein Geräusch, das Paul als Aufprall eines Steins oder Baumes erkannte, und er sprang in diese Richtung.
    
  Einen kurzen Moment lang fühlte er, wie sein Körper im Rauch schwebte. Dann sank er auf alle Viere und schürfte sich die Handflächen auf. Schließlich erreichte er die Pension.
    
  Halt durch, Mama. Ich bin jetzt da.
    
  Er musste mit ausgestreckten Armen gehen, bis er den verrauchten Bereich hinter sich gelassen hatte, der sich an der Vorderseite des Gebäudes, nahe der Straße, befand. Selbst durch seine Stiefel spürte er die intensive Hitze des Daches. Dahinter standen eine Markise, ein Schaukelstuhl ohne Beine und das, wonach Paul verzweifelt suchte.
    
  Zugang zum nächsten Stockwerk darunter!
    
  Er rannte zur Tür, aus Angst, sie könnte verschlossen sein. Seine Kräfte schwanden, und seine Beine fühlten sich schwer an.
    
  Bitte, Gott, lass das Feuer nicht ihr Zimmer erreichen. Bitte. Mama, sag mir, dass du klug genug warst, den Wasserhahn aufzudrehen und etwas Nasses in die Türritzen zu gießen.
    
  Die Tür zum Treppenhaus stand offen. Es war dicht verraucht, aber erträglich. Paul eilte so schnell er konnte hinunter, doch auf der vorletzten Stufe stolperte er. Schnell stand er auf und erkannte, dass er nur noch bis zum Ende des Flurs gehen und rechts abbiegen musste, dann wäre er vor dem Eingang zu Mutters Zimmer.
    
  Er versuchte, vorwärtszukommen, aber es war unmöglich. Der Rauch war schmutzig orange, es gab nicht genug Luft, und die Hitze des Feuers war so intensiv, dass er keinen weiteren Schritt tun konnte.
    
  "Mama!", sagte er, er wollte schreien, aber alles, was über seine Lippen kam, war ein trockenes, schmerzhaftes Keuchen.
    
  Die gemusterte Tapete um ihn herum fing Feuer, und Paul erkannte, dass er bald von Flammen umgeben sein würde, wenn er nicht schnell verschwand. Er wich zurück, als die Flammen das Treppenhaus erhellten. Nun konnte Paul sehen, worüber er gestolpert war: die dunklen Flecken auf dem Teppich.
    
  Dort, auf dem Boden, auf der untersten Stufe, lag seine Mutter. Und sie hatte Schmerzen.
    
  "Mama! Nein!"
    
  Er hockte sich neben sie und prüfte ihren Puls. Ilse schien zu reagieren.
    
  "Paul", flüsterte sie.
    
  "Halt durch, Mama! Ich hole dich hier raus!"
    
  Der junge Mann hob ihren kleinen Körper hoch und rannte die Treppe hinauf. Draußen angekommen, entfernte er sich so weit wie möglich von der Treppe, doch der Rauch breitete sich überall aus.
    
  Paul blieb stehen. Er konnte sich mit seiner Mutter in ihrem Zustand nicht durch den Rauch drängen, geschweige denn blindlings mit ihr im Arm zwischen zwei Gebäuden hin und her springen. Sie konnten auch nicht dort bleiben, wo sie waren. Ganze Teile des Daches waren bereits eingestürzt, scharfe rote Splitter züngelten an den Rissen. Das Dach würde in wenigen Minuten zusammenbrechen.
    
  "Du musst durchhalten, Mama. Ich hole dich hier raus. Ich bringe dich ins Krankenhaus, und du wirst bald wieder gesund sein. Versprochen. Also halte durch."
    
  "Erde...", sagte Ilze und hustete leicht. "Lass mich gehen."
    
  Paul kniete nieder und stellte ihre Füße auf den Boden. Es war das erste Mal, dass er den Zustand seiner Mutter sah. Ihr Kleid war blutbefleckt. Ein Finger ihrer rechten Hand war abgetrennt.
    
  "Wer hat dir das angetan?", fragte er mit grimmigem Gesicht.
    
  Die Frau konnte kaum sprechen. Ihr Gesicht war bleich, ihre Lippen zitterten. Sie kroch aus dem Schlafzimmer, um dem Feuer zu entkommen, und hinterließ eine rote Spur. Die Verletzung, die sie zwang, auf allen Vieren zu kriechen, hatte paradoxerweise ihr Leben verlängert, da ihre Lungen in dieser Position weniger Rauch aufnahmen. Doch zu diesem Zeitpunkt war Ilsa Rainer dem Tode nahe.
    
  "Wer, Mama?", wiederholte Paul. "War es Jürgen?"
    
  Ilze öffnete die Augen. Sie waren rot und geschwollen.
    
  "NEIN..."
    
  "Wer dann? Erkennen Sie sie?"
    
  Ilse hob zitternd die Hand zum Gesicht ihres Sohnes und streichelte ihn sanft. Ihre Fingerspitzen waren kalt. Von Schmerz überwältigt, wusste Paul, dass dies das letzte Mal war, dass seine Mutter ihn berühren würde, und er hatte Angst.
    
  "Es war nicht so..."
    
  "WHO?"
    
  "Es war nicht Jürgen."
    
  "Sag mir, Mama. Sag mir, wer. Ich bringe sie um."
    
  "Das darfst du nicht..."
    
  Ein weiterer Hustenanfall unterbrach sie. Ilses Arme fielen schlaff an ihre Seiten.
    
  "Du darfst Jürgen nicht verletzen, Paul."
    
  "Warum, Mama?"
    
  Seine Mutter rang nun um jeden Atemzug, doch innerlich tobte ein Kampf. Paul sah den Kampf in ihren Augen. Es kostete sie ungeheure Kraft, Luft in ihre Lungen zu bekommen. Aber es kostete sie noch viel mehr Kraft, diese letzten drei Worte aus ihrem Herzen zu reißen.
    
  "Er ist dein Bruder."
    
    
  40
    
    
  Bruder.
    
  Paul saß auf dem Bordstein, neben dem Platz, wo seine Geliebte eine Stunde zuvor gesessen hatte, und versuchte, das Gesagte zu verarbeiten. In weniger als dreißig Minuten war sein Leben gleich zweimal völlig auf den Kopf gestellt worden - zuerst durch den Tod seiner Mutter und dann durch die Offenbarung, die sie mit ihrem letzten Atemzug gemacht hatte.
    
  Als Ilse starb, umarmte Paul sie und war versucht, sich ebenfalls sterben zu lassen. Dort zu verharren, bis die Flammen die Erde unter ihm verzehrten.
    
  So ist das Leben. Während er über ein Dach rannte, das zum Einsturz verurteilt war, dachte Paul und ertrank in einem Schmerz, der bitter, dunkel und dickflüssig wie Öl war.
    
  War es die Angst, die ihn in den Augenblicken nach dem Tod seiner Mutter auf dem Dach festhielt? Vielleicht fürchtete er sich davor, der Welt allein gegenüberzutreten. Wären ihre letzten Worte "Ich liebe dich so sehr" gewesen, hätte Paul sich vielleicht dem Tod hingegeben. Doch Ilses Worte verliehen den Fragen, die Paul sein Leben lang gequält hatten, eine völlig neue Bedeutung.
    
  War es Hass, Rache oder die Neugier, die ihn schließlich zum Handeln trieb? Vielleicht eine Mischung aus allem. Sicher ist nur, dass Paul seiner Mutter einen letzten Kuss auf die Stirn gab und dann zum anderen Ende des Daches rannte.
    
  Er wäre beinahe über die Kante gestürzt, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig festhalten. Die Kinder aus der Nachbarschaft spielten manchmal auf dem Gebäude, und Paul fragte sich, wie sie es immer wieder hinaufgeschafft hatten. Er vermutete, dass sie irgendwo ein Brett zurückgelassen hatten. Da er im Rauch keine Zeit hatte, danach zu suchen, zog er Mantel und Jacke aus, um sein Gewicht für den Sprung zu reduzieren. Wenn er verfehlte oder die gegenüberliegende Dachseite unter seinem Gewicht einstürzte, würde er fünf Stockwerke tief fallen. Ohne zu zögern, nahm er Anlauf und sprang, felsenfest davon überzeugt, dass er es schaffen würde.
    
  Jetzt, wo er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, versuchte Paul, das Puzzle zusammenzusetzen, wobei Jürgen - mein Bruder! - das schwierigste Puzzleteil war. Konnte Jürgen wirklich Ilses Sohn sein? Paul hielt das für unmöglich, da ihre Geburtsdaten nur acht Monate auseinander lagen. Rein äußerlich wäre es möglich gewesen, aber Paul glaubte eher, dass Jürgen der Sohn von Hans und Brünnhilde war. Eduard, mit seinem dunkleren, runderen Teint, sah Jürgen überhaupt nicht ähnlich, und auch vom Temperament her unterschieden sie sich stark. Jürgen hingegen ähnelte Paul. Beide hatten blaue Augen und hohe Wangenknochen, obwohl Jürgens Haar dunkler war.
    
  Wie konnte mein Vater mit Brunhilde schlafen? Und warum hat meine Mutter es mir all die Zeit verschwiegen? Ich wusste immer, dass sie mich beschützen wollte, aber warum hat sie es mir nicht gesagt? Und wie hätte ich die Wahrheit herausfinden sollen, ohne zu den Schroeders zu gehen?
    
  Die Vermieterin unterbrach Pauls Gedanken. Sie schluchzte immer noch.
    
  "Herr Rainer, die Feuerwehr sagt, das Feuer sei unter Kontrolle, aber das Gebäude müsse abgerissen werden, da es nicht mehr sicher sei. Sie baten mich, den Bewohnern mitzuteilen, dass sie abwechselnd kommen können, um ihre Kleidung zu holen, da alle die Nacht woanders verbringen müssen."
    
  Wie ein Roboter schloss sich Paul den etwa zwölf Personen an, die gerade im Begriff waren, einige ihrer Habseligkeiten zu bergen. Er stieg über noch immer Wasser zuführende Schläuche, ging in Begleitung eines Feuerwehrmanns durch durchnässte Flure und Treppenhäuser und erreichte schließlich sein Zimmer, wo er wahllos ein paar Kleidungsstücke auswählte und sie in eine kleine Tasche stopfte.
    
  "Das reicht jetzt", beharrte der Feuerwehrmann, der ungeduldig im Türrahmen wartete. "Wir müssen gehen."
    
  Noch immer fassungslos folgte Paul ihm. Doch nach wenigen Metern blitzte in seinem Kopf eine vage Idee auf, wie der Rand einer Goldmünze in einem Eimer Sand. Er drehte sich um und rannte los.
    
  "Hey, hört mal! Wir müssen hier weg!"
    
  Paul ignorierte den Mann. Er rannte in sein Zimmer und tauchte unter sein Bett. In dem engen Raum mühte er sich ab, den Bücherstapel beiseitezuschieben, den er dort platziert hatte, um zu verbergen, was sich dahinter verbarg.
    
  "Ich hab dir doch gesagt, du sollst raus! Sieh mal, hier ist es nicht sicher", sagte der Feuerwehrmann und zog Pauls Beine hoch, bis sein Körper herauskam.
    
  Paul hatte nichts dagegen. Er hatte bekommen, was er wollte.
    
  Die Schachtel ist aus schwarzem Mahagoni gefertigt, glatt und schlicht.
    
  Es war halb zehn Uhr abends.
    
  Paul nahm seine kleine Tasche und rannte quer durch die Stadt.
    
  Wäre er nicht in diesem Zustand gewesen, hätte er zweifellos bemerkt, dass in München mehr als nur seine eigene Tragödie vor sich ging. Für diese Uhrzeit waren ungewöhnlich viele Menschen unterwegs. In den Bars und Kneipen herrschte reges Treiben, und von dort drangen wütende Stimmen herüber. Ängstliche Menschen drängten sich an Straßenecken zusammen, und kein einziger Polizist war zu sehen.
    
  Doch Paul achtete nicht auf seine Umgebung; er wollte einfach nur so schnell wie möglich die Strecke zu seinem Ziel zurücklegen. Das war im Moment sein einziger Anhaltspunkt. Er verfluchte sich bitterlich, ihn nicht gesehen, nicht früher erkannt zu haben.
    
  Metzgers Pfandhaus war geschlossen. Die Türen waren dick und massiv, deshalb klopfte Paul gar nicht erst. Er rief auch nicht, obwohl er - richtigerweise - annahm, dass ein gieriger alter Mann wie der Pfandleiher dort wohnen würde, vielleicht auf einem klapprigen alten Bett im Hinterzimmer.
    
  Paul stellte seine Tasche neben die Tür und suchte nach etwas Festem. Auf dem Bürgersteig lagen keine Steine, aber er fand einen Mülltonnendeckel, etwa so groß wie ein kleines Tablett. Er hob ihn auf und warf ihn gegen das Schaufenster, sodass es in tausend Stücke zersprang. Pauls Herz hämmerte ihm bis in die Brust und in die Ohren, aber er ignorierte es. Wenn jemand die Polizei rief, könnten sie eintreffen, bevor er bekam, was er wollte; vielleicht aber auch nicht.
    
  Hoffentlich nicht, dachte Paul. Sonst laufe ich weg, und mein nächster Anlaufpunkt für Antworten wird Schroeders Villa sein. Selbst wenn mich die Freunde meines Onkels für den Rest meines Lebens ins Gefängnis schicken.
    
  Paul sprang hinein, seine Stiefel knirschten auf einem Teppich aus Glasscherben, einer Mischung aus Scherben des zerbrochenen Fensters und des böhmischen Kristall-Tafelservices, das ebenfalls von seinem Wurfgeschoss zersplittert worden war.
    
  Im Laden war es stockdunkel. Das einzige Licht kam aus dem Hinterzimmer, aus dem laute Schreie zu hören waren.
    
  "Wer ist da? Ich rufe die Polizei!"
    
  "Vorwärts!", rief Paul zurück.
    
  Ein Lichtrechteck erschien auf dem Boden und hob die geisterhaften Umrisse der Pfandwaren scharf hervor. Paul stand inmitten davon und wartete auf Metzgers Erscheinen.
    
  "Verschwindet von hier, ihr verdammten Nazis!", schrie der Geldverleiher, als er mit noch halb geschlossenen Augen im Türrahmen erschien.
    
  "Ich bin kein Nazi, Herr Metzger."
    
  "Wer zum Teufel sind Sie?" Metzger betrat den Laden, schaltete das Licht an und vergewisserte sich, dass der Eindringling allein war. "Hier gibt es nichts Wertvolles!"
    
  "Vielleicht nicht, aber da ist etwas, das ich brauche."
    
  In diesem Moment fokussierten sich die Augen des alten Mannes und er erkannte Paul.
    
  "Wer bist du... Oh."
    
  "Ich sehe, du erinnerst dich an mich."
    
  "Sie waren doch erst kürzlich hier", sagte Metzger.
    
  "Denken Sie immer an alle Ihre Kunden?"
    
  "Was zum Teufel willst du? Du musst mir dieses Fenster bezahlen!"
    
  "Versuchen Sie nicht, das Thema zu wechseln. Ich möchte wissen, wer die Waffe verpfändet hat, die ich genommen habe."
    
  "Ich erinnere mich nicht."
    
  Paul antwortete nicht. Er zog einfach eine Pistole aus seiner Hosentasche und richtete sie auf den alten Mann. Metzger wich zurück und hielt die Hände schützend vor sich.
    
  "Nicht schießen! Ich schwöre Ihnen, ich erinnere mich nicht! Es ist fast zwanzig Jahre her!"
    
  "Nehmen wir an, ich glaube Ihnen. Was ist mit Ihren Notizen?"
    
  "Legen Sie bitte die Waffe weg... Ich kann Ihnen meine Notizen nicht zeigen; diese Informationen sind vertraulich. Bitte, mein Sohn, seien Sie vernünftig..."
    
  Paul machte sechs Schritte auf ihn zu und hob die Pistole auf Schulterhöhe. Der Lauf war nun nur noch zwei Zentimeter von der schweißnassen Stirn des Geldverleihers entfernt.
    
  "Herr Metzger, lassen Sie mich das erklären. Entweder Sie zeigen mir die Bänder, oder ich erschieße Sie. Es ist eine einfache Entscheidung."
    
  "Sehr gut! Sehr gut!"
    
  Immer noch mit erhobenen Händen ging der alte Mann in den Hinterraum. Sie durchquerten einen großen Lagerraum, der voller Spinnweben und noch staubiger war als der Laden selbst. Pappkartons stapelten sich vom Boden bis zur Decke auf rostigen Metallregalen, und der Gestank von Schimmel und Feuchtigkeit war erdrückend. Doch da war noch etwas anderes in dem Geruch, etwas Undefinierbares und Verdorbenes.
    
  "Wie können Sie diesen Geruch ertragen, Metzger?"
    
  "Riecht es? Ich rieche nichts", sagte der alte Mann, ohne sich umzudrehen.
    
  Paul vermutete, der Geldverleiher habe sich an den Gestank gewöhnt, schließlich hatte er unzählige Jahre zwischen dem Hab und Gut anderer Leute verbracht. Der Mann hatte sein Leben offensichtlich nie genossen, und Paul empfand ein gewisses Mitleid mit ihm. Er musste diese Gedanken verdrängen, um die Pistole seines Vaters weiterhin entschlossen umklammert zu halten.
    
  Am hinteren Ende des Abstellraums befand sich eine Metalltür. Metzger zog ein paar Schlüssel aus der Tasche und öffnete sie. Er bedeutete Paul, hereinzukommen.
    
  "Du zuerst", antwortete Paul.
    
  Der alte Mann musterte ihn neugierig mit verhärteten Pupillen. In seiner Vorstellung sah Paul ihn als Drachen, der seine Schatzhöhle bewachte, und ermahnte sich, wachsamer denn je zu sein. Der Geizkragen war so gefährlich wie eine in die Enge getriebene Ratte, und jeden Moment konnte er zubeißen.
    
  "Schwöre, dass du mir nichts stehlen wirst."
    
  "Was sollte das bringen? Vergessen Sie nicht, ich bin derjenige, der die Waffe hält."
    
  "Schwöre es", beharrte der Mann.
    
  "Ich schwöre, ich werde dir nichts stehlen, Metzger. Sag mir, was ich wissen muss, und ich lasse dich in Ruhe."
    
  Rechts stand ein hölzernes Bücherregal voller schwarzgebundener Bücher, links ein riesiger Tresor. Der Geldverleiher stellte sich sofort vor sie und schützte sie mit seinem Körper.
    
  "Bitteschön", sagte er und deutete auf das Bücherregal.
    
  "Du wirst es für mich finden."
    
  "Nein", antwortete der alte Mann mit angespannter Stimme. Er war noch nicht bereit, seine Ecke zu verlassen.
    
  Er wird immer dreister. Wenn ich ihn zu sehr bedränge, greift er mich vielleicht an. Verdammt, warum habe ich die Waffe nicht geladen? Ich hätte ihn damit überwältigen können.
    
  "Sagen Sie mir wenigstens, in welchem Band ich nachschauen soll."
    
  "Es steht im Regal, auf Kopfhöhe, das vierte von links."
    
  Ohne Metzger aus den Augen zu lassen, fand Paul das Buch. Vorsichtig nahm er es heraus und reichte es dem Geldverleiher.
    
  "Finde den Zusammenhang."
    
  "Ich erinnere mich nicht an die Nummer."
    
  "Neun eins zwei drei eins. Beeil dich."
    
  Der alte Mann nahm widerwillig das Buch entgegen und blätterte vorsichtig darin. Paul blickte sich im Lagerhaus um und fürchtete, jeden Moment könnte eine Gruppe Polizisten auftauchen, um ihn zu verhaften. Er war schon viel zu lange hier.
    
  "Hier ist es", sagte der alte Mann und reichte ihm das Buch zurück, das auf einer der ersten Seiten aufgeschlagen war.
    
  Es gab keinen Datumseintrag, nur die kurze Angabe 1905 / Woche 16. Paul fand die Nummer unten auf der Seite.
    
  "Es ist nur ein Name. Clovis Nagel. Keine Adresse."
    
  "Der Kunde wollte keine weiteren Details preisgeben."
    
  "Ist das legal, Metzger?"
    
  "Die Rechtslage in dieser Frage ist verwirrend."
    
  Dies war nicht der einzige Eintrag, in dem Nagels Name auftauchte. Er wurde in zehn weiteren Konten als "Einzahlkunde" aufgeführt.
    
  "Ich möchte mir noch andere Dinge ansehen, die er eingebracht hat."
    
  Erleichtert, dass der Einbrecher mit seinem Tresor entkommen war, führte der Pfandleiher Paul zu einem der Bücherregale im äußeren Abstellraum. Er zog einen Karton heraus und zeigte Paul dessen Inhalt.
    
  "Hier sind sie."
    
  Zwei billige Uhren, ein Goldring, ein Silberarmband ... Paul betrachtete die Schmuckstücke, konnte aber keinen Zusammenhang zwischen Nagels Objekten erkennen. Er begann zu verzweifeln; nach all der Mühe, die er sich gegeben hatte, hatte er nun noch mehr Fragen als zuvor.
    
  Warum sollte ein Mann so viele Gegenstände am selben Tag verpfänden? Er muss vor jemandem geflohen sein - vielleicht vor meinem Vater. Aber wenn ich mehr erfahren will, muss ich diesen Mann finden, und ein Name allein hilft mir nicht viel.
    
  "Ich möchte wissen, wo ich Nagel finden kann."
    
  "Das hast du schon gesehen, mein Junge. Ich habe keine Adresse..."
    
  Paul hob die rechte Hand und schlug den alten Mann. Metzger fiel zu Boden und vergrub das Gesicht in den Händen. Zwischen seinen Fingern trat ein Rinnsal Blut hervor.
    
  "Nein, bitte, nein - schlag mich nicht noch einmal!"
    
  Paul musste sich beherrschen, den Mann nicht erneut zu schlagen. Sein ganzer Körper war von einer widerwärtigen Energie erfüllt, einem diffusen Hass, der sich über Jahre angestaut hatte und nun in der jämmerlichen, blutenden Gestalt zu seinen Füßen sein Ziel fand.
    
  Was mache ich hier eigentlich?
    
  Ihm wurde plötzlich übel wegen dem, was er getan hatte. Das musste so schnell wie möglich ein Ende haben.
    
  "Sprich, Metzger. Ich weiß, dass du mir etwas verheimlichst."
    
  "Ich kann mich nicht mehr so gut an ihn erinnern. Er war Soldat, das konnte ich an seiner Art zu sprechen erkennen. Vielleicht ein Seemann. Er sagte, er würde nach Südwestafrika zurückkehren und dort würde er all diese Dinge nicht brauchen."
    
  "Wie war er so?"
    
  "Eher klein, mit feinen Gesichtszügen. Ich erinnere mich nicht mehr an viel... Bitte schlag mich nicht mehr!"
    
  Klein, mit feinen Gesichtszügen ... Edward beschrieb den Mann, der mit meinem Vater und meinem Onkel im Zimmer war, als klein und mit zarten, mädchenhaften Gesichtszügen. Es hätte Clovis Nagel sein können. Was, wenn mein Vater ihn beim Stehlen von Dingen vom Boot erwischt hatte? Vielleicht war er ein Spion. Oder hatte mein Vater ihn gebeten, die Pistole in seinem Namen zu verpfänden? Er wusste ganz sicher, dass er in Gefahr war.
    
  Paul hatte das Gefühl, sein Kopf würde gleich explodieren, und verließ die Speisekammer, während Metzger wimmernd auf dem Boden zurückblieb. Er sprang auf das Fensterbrett, erinnerte sich aber plötzlich, dass er seine Tasche neben der Tür stehen gelassen hatte. Zum Glück war sie noch da.
    
  Doch alles andere um ihn herum veränderte sich.
    
  Trotz der späten Stunde waren die Straßen voller Menschen. Sie drängten sich auf dem Bürgersteig, manche wechselten von einer Gruppe zur anderen und tauschten Informationen aus, etwa über Bienen, die Blumen bestäuben. Paul ging auf die nächste Gruppe zu.
    
  "Man sagt, die Nazis hätten in Schwabing ein Gebäude in Brand gesteckt..."
    
  "Nein, es waren die Kommunisten..."
    
  "Sie errichten Kontrollpunkte..."
    
  Besorgt packte Paul einen der Männer am Arm und zog ihn beiseite.
    
  "Was passiert?"
    
  Der Mann nahm die Zigarette aus dem Mund und lächelte ihn schief an. Er war froh, jemanden gefunden zu haben, der ihm zuhörte, um ihm die schlechte Nachricht zu überbringen.
    
  "Hast du es denn nicht gehört? Hitler und seine Nazis putschen. Es ist Zeit für eine Revolution. Endlich werden sich etwas ändern."
    
  "Sie sagen, das sei ein Staatsstreich?"
    
  "Sie stürmten mit Hunderten von Mann den Burgerbräukeller und schlossen alle Anwesenden ein, angefangen beim bayerischen Staatskommissar."
    
  Pauls Herz machte einen Purzelbaum.
    
  "Alice!"
    
    
  41
    
    
  Bis die Schießerei begann, glaubte Alice, die Nacht gehöre ihr.
    
  Der Streit mit Paul hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Ihr wurde klar, dass sie unsterblich in ihn verliebt war; das sah sie jetzt ganz deutlich. Deshalb hatte sie mehr Angst als je zuvor.
    
  Also beschloss sie, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Sie betrat den Hauptraum der Bierhalle, der bereits zu mehr als drei Vierteln gefüllt war. Über tausend Menschen drängten sich um die Tische, und bald würden es mindestens fünfhundert mehr sein. Deutsche Fahnen hingen von der Wand und waren im Tabakrauch kaum zu erkennen. Es war feucht und stickig, weshalb die Gäste die Kellnerinnen ständig bedrängten, die sich mit Tabletts voller Biergläser über dem Kopf durch die Menge schlängelten, ohne einen Tropfen zu verschütten.
    
  Das war harte Arbeit, dachte Alice und war erneut dankbar für alles, was ihr der heutige Tag ermöglicht hatte.
    
  Sie drängte sich durch die Menge und ergatterte einen Platz am Fuße des Rednerpults. Drei oder vier andere Fotografen hatten bereits ihre Positionen eingenommen. Einer von ihnen sah Alice überrascht an und stieß seine Kollegen an.
    
  "Sei vorsichtig, Schöne. Vergiss nicht, deinen Finger von der Linse zu nehmen."
    
  "Und vergiss nicht, deine Nägel aus deinem Hintern zu ziehen. Deine Nägel sind dreckig."
    
  Der Fotograf betrachtete seine Fingerspitzen und errötete. Die anderen jubelten.
    
  "Geschieht dir recht, Fritz!"
    
  Alice lächelte in sich hinein und suchte sich einen Platz mit guter Aussicht. Sie prüfte die Lichtverhältnisse und rechnete kurz nach. Mit etwas Glück würde ihr ein gutes Foto gelingen. Langsam machte sie sich Sorgen. Diesem Idioten die Meinung zu sagen, hatte ihr gutgetan. Außerdem würde es von nun an besser werden. Sie würde mit Paul reden; sie würden ihre Probleme gemeinsam angehen. Und mit einem neuen, sicheren Job würde sie sich wirklich erfolgreich fühlen.
    
  Sie war noch immer in Gedanken versunken, als Gustav Ritter von Kahr, der bayerische Staatskommissar, die Bühne betrat. Sie machte mehrere Fotos, darunter eines, das sie für recht interessant hielt und das Kahr mit wilden Gesten zeigte.
    
  Plötzlich brach hinten im Raum ein Tumult aus. Alice reckte den Hals, um zu sehen, was los war, aber zwischen den hellen Lichtern um das Podium und der Menschenmenge hinter ihr konnte sie nichts erkennen. Der Lärm der Menge, das Krachen umfallender Tische und Stühle und das Klirren Dutzender zerbrochener Gläser waren ohrenbetäubend.
    
  Neben Alice trat aus der Menge ein kleiner, verschwitzter Mann in einem zerknitterten Regenmantel hervor. Er schob den Mann am Tisch neben dem Podium beiseite, kletterte auf seinen Stuhl und dann auf den Tisch.
    
  Alice richtete die Kamera auf ihn und fing im selben Augenblick den wilden Blick in seinen Augen, das leichte Zittern seiner linken Hand, die billige Kleidung, die Zuhälterfrisur, die ihm an der Stirn klebte, den grausamen kleinen Schnurrbart, die erhobene Hand und die Pistole, die auf die Decke gerichtet war, ein.
    
  Sie hatte keine Angst und zögerte nicht. Alles, was ihr durch den Kopf ging, waren die Worte, die August Müntz vor vielen Jahren zu ihr gesprochen hatte:
    
  Es gibt Momente im Leben eines Fotografen, in denen ein Foto vor einem vorbeizieht, nur ein einziges Foto, das das eigene Leben und das der Menschen um einen herum verändern kann. Das ist der entscheidende Moment, Alice. Du wirst ihn vorhersehen. Und wenn er da ist, drück ab. Nicht nachdenken, einfach abdrücken.
    
  Sie drückte den Knopf genau in dem Moment, als der Mann abdrückte.
    
  "Die nationale Revolution hat begonnen!", rief der kleine Mann mit kräftiger, rauer Stimme. "Dieser Ort ist von sechshundert bewaffneten Männern umstellt! Niemand wird hier wegkommen. Und wenn nicht sofort Ruhe einkehrt, werde ich meinen Männern befehlen, ein Maschinengewehr auf der Galerie aufzustellen."
    
  Die Menge verstummte, aber Alice bemerkte es nicht und ließ sich auch nicht von den Sturmtruppen beunruhigen, die von allen Seiten auftauchten.
    
  "Ich erkläre die bayerische Regierung für abgesetzt! Polizei und Armee haben sich unserer Fahne, dem Hakenkreuz, angeschlossen: Lasst sie in jeder Kaserne und Polizeiwache hängen!"
    
  Ein weiterer panischer Schrei hallte durch den Raum. Applaus brandete auf, unterbrochen von Pfiffen und Rufen wie "Mexiko! Mexiko!" und "Südamerika!". Alice schenkte ihm keine Beachtung. Der Schuss hallte ihr noch in den Ohren nach, das Bild des kleinen Mannes, der schoss, hatte sich ihr unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt, und ihre Gedanken kreisten nur noch um diese drei Worte.
    
  Der entscheidende Moment.
    
  "Ich hab"s geschafft", dachte sie.
    
  Alice presste ihre Kamera an die Brust und tauchte in die Menge ein. Ihr einziges Ziel war es jetzt, von dort wegzukommen und in die Dunkelkammer zu gelangen. Sie konnte sich nicht genau an den Namen des Mannes erinnern, der geschossen hatte, obwohl sein Gesicht ihr sehr vertraut vorkam; er war einer der vielen fanatischen Antisemiten, die in den Kneipen der Stadt ihre Ansichten lautstark verkündeten.
    
  Ziegler: Nein ... Hitler. Das ist alles - Hitler. Der verrückte Österreicher.
    
  Alice glaubte nicht, dass dieser Putsch auch nur die geringste Chance hatte. Wer würde schon einem Wahnsinnigen folgen, der verkündete, die Juden vom Angesicht der Erde zu tilgen? In den Synagogen machte man sich über Idioten wie Hitler lustig. Und das Bild, das sie von ihm aufgenommen hatte - mit Schweißperlen auf der Stirn und einem wilden Blick in den Augen -, würde diesen Mann in seine Schranken weisen.
    
  Damit meinte sie ein Irrenhaus.
    
  Alice konnte sich kaum durch die Menschenmenge bewegen. Erneut fingen die Leute an zu schreien, und einige begannen zu kämpfen. Ein Mann schlug einem anderen ein Bierglas über den Kopf, und der Müll durchnässte Alices Jacke. Fast zwanzig Minuten brauchte sie, um das andere Ende des Ganges zu erreichen, doch dort versperrte eine Mauer aus SA-Männern mit Gewehren und Pistolen den Ausgang. Sie versuchte, mit ihnen zu reden, aber die SA-Männer ließen sie nicht durch.
    
  Hitler und die von ihm gestörten Würdenträger verschwanden durch eine Seitentür. Ein neuer Redner nahm seinen Platz ein, und die Temperatur im Saal stieg weiter an.
    
  Mit finsterer Miene suchte Alice sich einen Ort, an dem sie so gut wie möglich geschützt sein würde, und überlegte, wie sie entkommen könnte.
    
  Drei Stunden später grenzte ihre Stimmung an Verzweiflung. Hitler und seine Schergen hatten mehrere Reden gehalten, und das Orchester auf der Galerie hatte das Deutschlandlied mehr als ein Dutzend Mal gespielt. Alice versuchte, leise in den Hauptsaal zurückzukehren, um ein Fenster zu finden, durch das sie hinausklettern konnte, doch auch dort versperrten ihr die SA-Männer den Weg. Sie erlaubten nicht einmal, die Toilette zu benutzen, was in einem so überfüllten Saal, wo die Kellnerinnen unentwegt Bier nach Bier ausschenkten, bald zu einem Problem werden würde. Sie hatte bereits mehrere Personen gesehen, die sich an der Rückwand erleichterten.
    
  Aber Moment mal: Kellnerinnen...
    
  Plötzlich hatte Alice eine Eingebung. Sie ging zum Serviertisch, nahm ein leeres Tablett, zog ihre Jacke aus, wickelte die Kamera darin ein und legte sie unter das Tablett. Dann sammelte sie noch ein paar leere Biergläser ein und ging in die Küche.
    
  Vielleicht fällt es ihnen gar nicht auf. Ich trage eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock, genau wie die Kellnerinnen. Vielleicht bemerken sie nicht einmal, dass ich keine Schürze trage. Bis sie meine Jacke unter dem Tablett entdecken ...
    
  Alice bahnte sich mit ihrem Tablett in der Hand einen Weg durch die Menge und musste sich beherrschen, als ein paar Gäste ihr an den Po fassten. Sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen. An den Drehtüren angekommen, stellte sie sich hinter eine andere Kellnerin und ging an den Sicherheitsbeamten vorbei, von denen sie glücklicherweise keinen zweiten Blick warf.
    
  Die Küche war lang und sehr groß. Dieselbe angespannte Atmosphäre herrschte auch hier, nur ohne Rauch und Fahnen. Ein paar Kellner füllten Biergläser, während die Küchenjungen und Köche sich an den Herden unter den strengen Blicken zweier Sturmtruppen unterhielten, die erneut den Ausgang versperrten. Beide trugen Gewehre und Pistolen.
    
  Mist.
    
  Alice war ratlos und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie konnte nicht einfach mitten in der Küche stehen bleiben. Jemand würde merken, dass sie nicht zum Personal gehörte und sie rauswerfen. Sie ließ die Gläser in der großen Metallspüle stehen und griff nach einem schmutzigen Lappen, der in der Nähe lag. Sie hielt ihn unter den Wasserhahn, befeuchtete ihn, wringte ihn aus und tat so, als würde sie sich waschen, während sie überlegte, was sie tun sollte. Vorsichtig sah sie sich um, da kam ihr eine Idee.
    
  Sie schlich zu einem der Mülleimer neben der Spüle. Er war fast voll mit Essensresten. Sie legte ihre Jacke hinein, schloss den Deckel und hob den Eimer hoch. Dann ging sie ungeniert zur Tür.
    
  "Sie können hier nicht vorbeigehen, Fräulein", sagte einer der Sturmtruppen.
    
  "Ich muss den Müll rausbringen."
    
  "Lass es hier."
    
  "Aber die Gläser sind voll. Küchenmülleimer dürfen nicht voll sein: Das ist illegal."
    
  "Keine Sorge, Fräulein, wir sind jetzt das Gesetz. Stellen Sie die Dose wieder an ihren Platz."
    
  Alice beschloss, alles auf eine Karte zu setzen, stellte das Glas auf den Boden und verschränkte die Arme.
    
  "Wenn du es bewegen willst, dann beweg es selbst."
    
  "Ich sage dir, du sollst das Ding hier rausholen."
    
  Der junge Mann fixierte Alice mit den Augen. Die Küchenangestellten bemerkten die Szene und warfen ihm finstere Blicke zu. Da Alice ihnen den Rücken zugewandt hatte, konnten sie nicht erkennen, dass sie nicht zu ihnen gehörte.
    
  "Komm schon, Mann, lass sie durch", warf ein anderer Sturmtruppler ein. "Es ist schon schlimm genug, hier in der Küche festzusitzen. Wir müssen diese Klamotten die ganze Nacht tragen, und der Geruch wird sich in meinem Hemd festsetzen."
    
  Derjenige, der zuerst gesprochen hatte, zuckte mit den Achseln und trat beiseite.
    
  "Dann geh du. Bring sie zum Mülleimer draußen und komm dann so schnell wie möglich zurück."
    
  Leise fluchend ging Alice voran. Eine schmale Tür führte in eine noch schmalere Gasse. Das einzige Licht kam von einer einzelnen Glühbirne am anderen Ende, näher zur Straße. Dort stand ein Mülleimer, umringt von abgemagerten Katzen.
    
  "Also ... wie lange arbeiten Sie schon hier, Fräulein?", fragte der Sturmtruppler mit leicht verlegener Stimme.
    
  Ich kann es nicht fassen: Wir gehen durch eine Gasse, ich trage einen Mülleimer, er hat ein Maschinengewehr in den Händen, und dieser Idiot flirtet mit mir.
    
  "Man könnte sagen, ich bin neu hier", erwiderte Alice und gab sich freundlich. "Und du: Führst du schon seit Langem Staatsstreiche durch?"
    
  "Nein, das ist mein erstes Mal", antwortete der Mann ernst und bemerkte ihre Ironie nicht.
    
  Sie erreichten den Mülleimer.
    
  "Okay, okay, du kannst jetzt zurückgehen. Ich bleibe hier und leere das Glas aus."
    
  "Oh nein, Fräulein. Leeren Sie das Gefäß, dann muss ich Sie zurückbegleiten."
    
  "Ich möchte nicht, dass du auf mich warten musst."
    
  "Ich würde jederzeit auf dich warten. Du bist wunderschön..."
    
  Er wollte sie küssen. Alice versuchte sich zurückzuziehen, fand sich aber zwischen einer Mülltonne und einem Sturmtruppler eingeklemmt.
    
  "Nein, bitte", sagte Alice.
    
  "Na los, Fräulein..."
    
  "Bitte nicht."
    
  Der Sturmtruppler zögerte, voller Reue.
    
  "Es tut mir leid, falls ich Sie beleidigt habe. Ich dachte nur ..."
    
  "Mach dir keine Sorgen. Ich bin ja schon verlobt."
    
  "Es tut mir leid. Er ist ein glücklicher Mann."
    
  "Mach dir keine Sorgen", wiederholte Alice schockiert.
    
  "Lassen Sie mich Ihnen mit dem Mülleimer helfen."
    
  "NEIN!"
    
  Alice versuchte, die Hand des Braunhemds wegzuziehen, doch er ließ in Verwirrung die Dose fallen. Sie stürzte und rollte auf dem Boden.
    
  Einige der Überreste sind in einem Halbkreis verstreut und geben den Blick auf Alices Jacke und ihre wertvolle Fracht frei.
    
  "Was zum Teufel ist das?"
    
  Das Paket war leicht geöffnet, und die Kameralinse war deutlich zu sehen. Der Soldat sah Alice an, die schuldbewusst dreinblickte. Sie brauchte nichts zu gestehen.
    
  "Du verdammte Hure! Du bist eine kommunistische Spionin!", sagte der Sturmtruppler und tastete nach seinem Schlagstock.
    
  Bevor er sie packen konnte, hob Alice den Metalldeckel des Mülleimers an und versuchte, den Sturmtruppler damit auf den Kopf zu schlagen. Als er den Angriff kommen sah, hob er die rechte Hand. Der Deckel traf sein Handgelenk mit einem ohrenbetäubenden Knall.
    
  "Aaaaah!"
    
  Mit der linken Hand packte er den Deckel und schleuderte ihn weit weg. Alice versuchte auszuweichen und zu fliehen, doch die Gasse war zu eng. Der Nazi packte ihre Bluse und riss heftig daran. Alices Körper verdrehte sich, und ihr Hemd riss an einer Seite ab, sodass ihr BH zum Vorschein kam. Der Nazi, der die Hand zum Schlag erhoben hatte, erstarrte einen Moment lang, hin- und hergerissen zwischen Erregung und Wut. Dieser Anblick erfüllte sie mit Angst.
    
  "Alice!"
    
  Sie blickte in Richtung des Eingangs zur Gasse.
    
  Paul war da, in einem erbärmlichen Zustand, aber er war noch da. Trotz der Kälte trug er nur einen Pullover. Er atmete schwer und hatte Krämpfe vom Laufen durch die Stadt. Vor einer halben Stunde hatte er geplant, den Burgerbräukeller durch den Hintereingang zu betreten, aber er konnte die Ludwigsbrücke nicht einmal überqueren, weil die Nazis eine Straßensperre errichtet hatten.
    
  Also nahm er einen langen Umweg. Er suchte nach Polizisten, Soldaten, nach irgendjemandem, der seine Fragen zu den Geschehnissen in der Kneipe beantworten könnte, aber alles, was er fand, waren Bürger, die die am Putsch Beteiligten bejubelten oder ausbuhten - aus angemessener Entfernung.
    
  Nachdem er über die Maximilianbrücke ans gegenüberliegende Ufer gelangt war, befragte er Passanten. Schließlich erwähnte jemand eine Gasse, die zur Küche führte, und Paul rannte dorthin, in der Hoffnung, noch rechtzeitig anzukommen.
    
  Er war so überrascht, Alice draußen im Kampf mit einem Sturmtruppler zu sehen, dass er, anstatt einen Überraschungsangriff zu starten, seine Ankunft wie ein Idiot ankündigte. Als ein anderer Mann seine Pistole zog, blieb Paul nichts anderes übrig, als vorzustürmen. Seine Schulter traf den Nazi in den Magen und warf ihn zu Boden.
    
  Die beiden rangen am Boden um die Waffe. Der andere Mann war stärker als Paul, der von den Ereignissen der vergangenen Stunden völlig erschöpft war. Der Kampf dauerte keine fünf Sekunden; dann stieß der andere Mann Paul beiseite, kniete nieder und richtete seine Waffe auf ihn.
    
  Alice, die inzwischen den Metalldeckel des Mülleimers angehoben hatte, griff ein und schlug ihn wütend gegen den Soldaten. Die Schläge hallten wie Beckenschläge durch die Gasse. Der Nazi starrte sie an, doch er fiel nicht. Alice schlug erneut zu, und schließlich kippte er nach vorn und landete unsanft auf dem Gesicht.
    
  Paul stand auf und rannte zu ihr, um sie zu umarmen, aber sie stieß ihn weg und setzte sich auf den Boden.
    
  "Was ist los mit dir? Geht es dir gut?"
    
  Alice stand wütend auf. In ihren Händen hielt sie die Überreste der Kamera, die völlig zerstört worden war. Sie war während Pauls Kampf mit den Nazis zerquetscht worden.
    
  "Sehen".
    
  "Es ist kaputt. Keine Sorge, wir kaufen etwas Besseres."
    
  "Du verstehst das nicht! Es gab Fotos!"
    
  "Alice, dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen los, bevor seine Freunde ihn suchen kommen."
    
  Er versuchte, ihre Hand zu nehmen, aber sie riss sich los und rannte vor ihm her.
    
    
  42
    
    
  Sie blickten erst zurück, als sie weit vom Burgerbräukeller entfernt waren. Schließlich hielten sie an der St.-Johann-Nepomuk-Kirche, deren imposanter Turm wie ein anklagender Finger in den Nachthimmel ragte. Paul führte Alice unter den Bogen über dem Haupteingang, um sie vor der Kälte zu schützen.
    
  "Gott, Alice, du glaubst gar nicht, wie verängstigt ich war", sagte er und küsste sie auf die Lippen. Sie erwiderte den Kuss nur halbherzig.
    
  "Was passiert?"
    
  "Nichts".
    
  "Ich glaube nicht, dass es so ist, wie es aussieht", sagte Paul gereizt.
    
  "Ich sagte, das sei Unsinn."
    
  Paul beschloss, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Wenn Alice in dieser Stimmung war, war es, als versuche man, aus Treibsand herauszukommen: Je mehr man sich wehrte, desto tiefer sank man.
    
  "Geht es dir gut? Haben sie dir wehgetan oder... etwas anderes?"
    
  Sie schüttelte den Kopf. Erst jetzt begriff sie Pauls Aussehen in seiner ganzen Tragweite. Sein Hemd war blutbefleckt, sein Gesicht rußig, seine Augen blutunterlaufen.
    
  "Was ist mit dir geschehen, Paul?"
    
  "Meine Mutter ist gestorben", antwortete er und senkte den Kopf.
    
  Während Paul die Ereignisse jener Nacht schilderte, empfand Alice Trauer für ihn und Scham über ihr Verhalten ihm gegenüber. Mehr als einmal öffnete sie den Mund, um ihn um Vergebung zu bitten, doch sie glaubte nie an die Bedeutung dieses Wortes. Es war ein Unglaube, genährt von Stolz.
    
  Als er ihr die letzten Worte seiner Mutter erzählte, war Alice wie gelähmt. Sie konnte nicht begreifen, wie der grausame, bösartige Jürgen Pauls Bruder sein konnte, und doch überraschte es sie im Grunde nicht. Paul hatte eine dunkle Seite, die in bestimmten Momenten zum Vorschein kam, wie ein plötzlicher Herbstwind, der in einem gemütlichen Zuhause die Vorhänge rascheln lässt.
    
  Als Paul erzählte, wie er in den Pfandladen eingebrochen war und Metzger schlagen musste, um ihn zum Reden zu bringen, bekam Alice große Angst um ihn. Alles, was mit diesem Geheimnis zu tun hatte, schien unerträglich, und sie wollte ihn so schnell wie möglich davon abbringen, bevor es ihn völlig vereinnahmte.
    
  Paul schloss seine Geschichte mit der Schilderung seines Sprints zum Pub ab.
    
  "Und das ist alles."
    
  "Ich denke, das ist mehr als genug."
    
  "Wie meinst du das?"
    
  "Sie planen doch nicht ernsthaft, hier weiter nachzuforschen, oder? Offensichtlich gibt es da draußen jemanden, der bereit ist, alles zu tun, um die Wahrheit zu vertuschen."
    
  "Genau deshalb müssen wir weitergraben. Es beweist, dass jemand für den Mord an meinem Vater verantwortlich ist..."
    
  Es entstand eine kurze Pause.
    
  "...meine Eltern."
    
  Paul weinte nicht. Nach dem, was gerade geschehen war, schrie sein Körper nach Tränen, seine Seele verlangte danach, und sein Herz war voller Tränen. Doch Paul verschloss sie alle, umhüllte sein Herz mit einer kleinen Hülle. Vielleicht hinderte ihn ein absurdes Männlichkeitsgefühl daran, der Frau, die er liebte, seine Gefühle zu zeigen. Vielleicht war es genau das, was Augenblicke später geschah.
    
  "Paul, du musst nachgeben", sagte Alice und wurde zunehmend besorgt.
    
  "Ich habe keinerlei Absicht, dies zu tun."
    
  "Aber Sie haben keine Beweise. Keine Spuren."
    
  "Ich habe einen Namen: Clovis Nagel. Ich habe eine Heimat: Südwestafrika."
    
  "Südwestafrika ist ein sehr großes Gebiet."
    
  "Ich fange mit Windhoek an. Dort sollte es nicht schwer sein, einen weißen Mann zu entdecken."
    
  "Südwestafrika ist sehr groß... und sehr weit weg", wiederholte Alice und betonte jedes Wort.
    
  "Ich muss das tun. Ich nehme das erste Boot."
    
  "Das war also alles?"
    
  "Ja, Alice. Hast du denn kein Wort von dem gehört, was ich seit unserem Kennenlernen gesagt habe? Verstehst du denn nicht, wie wichtig es für mich ist, herauszufinden, was vor neunzehn Jahren passiert ist? Und jetzt... jetzt das."
    
  Einen Moment lang überlegte Alice, ihn aufzuhalten. Ihm zu erklären, wie sehr sie ihn vermissen würde, wie sehr sie ihn brauchte. Wie tief sie sich in ihn verliebt hatte. Doch ihr Stolz hielt sie zurück. Genauso wie er sie daran gehindert hatte, Paul die Wahrheit über ihr eigenes Verhalten in den letzten Tagen zu sagen.
    
  "Dann geh, Paul. Tu, was immer du tun musst."
    
  Paul blickte sie völlig verwirrt an. Der eisige Tonfall ihrer Stimme ließ ihn fühlen, als sei ihm das Herz herausgerissen und im Schnee begraben worden.
    
  "Alice..."
    
  "Geh sofort. Verschwinde jetzt."
    
  "Alice, bitte!"
    
  "Geh weg, ich sag"s dir."
    
  Paul schien den Tränen nahe, und sie betete, dass er weinte, dass er seine Meinung änderte und ihr sagte, dass er sie liebte und dass seine Liebe zu ihr wichtiger war als eine Suche, die ihm nichts als Schmerz und Tod gebracht hatte. Vielleicht hatte Paul auf so etwas gewartet, vielleicht versuchte er aber auch nur, Alices Gesicht in sein Gedächtnis einzuprägen. Lange, bittere Jahre lang verfluchte sie sich für die Arroganz, die sie ergriffen hatte, genau wie Paul sich die Schuld gegeben hatte, nicht mit der Straßenbahn zurück zum Internat gefahren zu sein, bevor seine Mutter erstochen wurde...
    
  ...und dass er sich umgedreht und gegangen ist.
    
  "Weißt du was? Ich bin froh. So kannst du wenigstens nicht mehr in meine Träume eindringen und sie zerstören", sagte Alice und warf die Scherben der Kamera, an der sie sich geklammert hatte, vor ihre Füße. "Seit ich dich kenne, ist mir nur noch Schlimmes passiert. Ich will dich aus meinem Leben verbannen, Paul."
    
  Paul zögerte einen Moment, dann sagte er, ohne sich umzudrehen: "So sei es."
    
  Alice stand mehrere Minuten im Kircheneingang und kämpfte still gegen ihre Tränen an. Plötzlich tauchte aus der Dunkelheit, aus derselben Richtung, aus der Paul verschwunden war, eine Gestalt auf. Alice versuchte, sich zu fassen und ein Lächeln aufzusetzen.
    
  Er kommt zurück. Er hat es verstanden, und er kommt zurück, dachte sie und machte einen Schritt auf die Gestalt zu.
    
  Doch die Straßenlaternen enthüllten, dass es sich bei der sich nähernden Gestalt um einen Mann in einem grauen Mantel und Hut handelte. Zu spät erkannte Alice, dass es einer der Männer war, die sie den ganzen Tag verfolgt hatten.
    
  Sie drehte sich um und wollte fliehen, doch in diesem Moment sah sie seinen Begleiter um die Ecke kommen, keine drei Meter entfernt. Sie versuchte zu fliehen, aber zwei Männer stürzten sich auf sie und packten sie an der Taille.
    
  "Dein Vater sucht dich, Fräulein Tannenbaum."
    
  Alice kämpfte vergeblich. Sie konnte nichts tun.
    
  Ein Auto bog aus einer nahegelegenen Straße ab, und einer der Gorillas ihres Vaters öffnete die Tür. Der andere schob sie zu sich und versuchte, ihren Kopf nach unten zu ziehen.
    
  "Passt bloß auf, was ihr von mir haltet, ihr Idioten", sagte Alice mit einem verächtlichen Blick. "Ich bin schwanger."
    
    
  43
    
    
  Elizabeth Bay, 28. August 1933
    
  Liebe Alice,
    
  Ich habe den Überblick verloren, wie oft ich Ihnen schon geschrieben habe. Ich bekomme bestimmt über hundert Briefe im Monat, alle unbeantwortet.
    
  Ich weiß nicht, ob die Briefe dich erreicht haben und du mich vergessen hast. Oder vielleicht bist du umgezogen und hast keine neue Adresse hinterlassen. Dieser Brief geht an das Haus deines Vaters. Ich schreibe dir dort ab und zu, obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist. Ich hoffe immer noch, dass einer der Briefe irgendwie an deinem Vater vorbeikommt. Auf jeden Fall werde ich dir weiterhin schreiben. Diese Briefe sind mein einziger Kontakt zu meinem früheren Leben geworden.
    
  Ich möchte, wie immer, zunächst um Verzeihung bitten für mein damaliges Verhalten. Ich habe so oft an jene Nacht vor zehn Jahren gedacht und weiß, dass ich mich nicht so hätte verhalten sollen. Es tut mir leid, dass ich deine Träume zerstört habe. Ich habe jeden Tag für dich gebetet, dass du deinen Traum, Fotografin zu werden, verwirklichen würdest, und ich hoffe, dass du es im Laufe der Jahre geschafft hast.
    
  Das Leben in den Kolonien ist nicht einfach. Seit Deutschland diese Gebiete verloren hat, herrscht in Südafrika ein Mandatsgebiet über das ehemalige deutsche Territorium. Wir sind hier nicht willkommen, auch wenn man uns toleriert.
    
  Es gibt nicht viele Möglichkeiten. Ich arbeite jeweils ein paar Wochen auf Bauernhöfen und in Diamantminen. Wenn ich etwas Geld gespart habe, reise ich durchs Land auf der Suche nach Clovis Nagel. Das ist keine leichte Aufgabe. Ich habe Spuren von ihm in den Dörfern des Oranje-Flussbeckens gefunden. Einmal besuchte ich eine Mine, die er kurz zuvor verlassen hatte. Ich verpasste ihn nur um wenige Minuten.
    
  Ich folgte auch einem Hinweis, der mich nach Norden zum Waterberg-Plateau führte. Dort traf ich auf einen seltsamen, stolzen Stamm, die Herero. Ich verbrachte mehrere Monate bei ihnen, und sie lehrten mich das Jagen und Sammeln in der Wüste. Ich bekam Fieber und war lange Zeit sehr schwach, aber sie kümmerten sich um mich. Ich lernte viel von diesen Menschen, weit über körperliche Fertigkeiten hinaus. Sie sind außergewöhnlich. Sie leben im Schatten des Todes, in einem ständigen Kampf um Wasser und darum, ihr Leben dem Druck der Weißen anzupassen.
    
  Mir ist das Papier ausgegangen; das ist das letzte Stück von einem Stapel, den ich einem Händler auf dem Weg nach Swakopmund abgekauft habe. Morgen mache ich mich wieder auf den Weg dorthin, um neue Spuren zu finden. Ich werde zu Fuß gehen, da ich kein Geld mehr habe, daher muss meine Suche kurz sein. Das Schwierigste hier ist neben der fehlenden Nachricht von dir, wie lange ich brauche, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich war schon oft kurz davor aufzugeben. Aber ich werde nicht aufgeben. Früher oder später werde ich ihn finden.
    
  Ich denke an dich und alles, was in den letzten zehn Jahren passiert ist. Ich hoffe, es geht dir gut und du bist glücklich. Falls du mir schreiben möchtest, schicke deinen Brief bitte an die Post in Windhoek. Die Adresse steht auf dem Umschlag.
    
  Nochmals, verzeihen Sie mir.
    
  Ich liebe dich,
    
  Boden
    
    
  FREUND IM HANDWERK
    
  1934
    
    
  In der der Eingeweihte lernt, dass der Weg nicht allein beschritten werden kann.
    
  Der geheime Handschlag des Gesellengrades besteht aus festem Druck auf den Knöchel des Mittelfingers und endet damit, dass der Bruder den Gruß erwidert. Der geheime Name dieses Handschlags lautet JACHIN, benannt nach der Sonnensäule im Tempel Salomos. Auch hier gibt es einen kleinen Trick bei der Schreibweise: Es muss AJCHIN geschrieben werden.
    
    
  44
    
    
  Jürgen bewunderte sich im Spiegel.
    
  Er zupfte sanft an seinen Revers, die mit einem Totenkopf und dem SS-Emblem verziert waren. Er konnte sich nicht sattsehen an seinem neuen Anblick. Walter Hecks Entwürfe und die hervorragende Verarbeitung der Hugo-Boss-Kleidung, die in der Boulevardpresse hochgelobt wurde, flößten jedem, der sie sah, Bewunderung ein. Als Jürgen die Straße entlangging, blieben Kinder stramm stehen und salutierten. Letzte Woche hielten ihn zwei ältere Damen an und sagten, wie schön es sei, starke, gesunde junge Männer zu sehen, die Deutschland wieder auf den richtigen Weg brachten. Sie fragten, ob er im Kampf gegen die Kommunisten ein Auge verloren habe. Erfreut half Jürgen ihnen, ihre Einkaufstüten zum nächsten Gebäude zu tragen.
    
  In diesem Moment klopfte es an der Tür.
    
  "Komm herein."
    
  "Du siehst gut aus", sagte seine Mutter, als sie das große Schlafzimmer betrat.
    
  "Ich weiß".
    
  "Wirst du heute Abend mit uns zu Abend essen?"
    
  "Ich glaube nicht, Mama. Ich wurde zu einem Treffen mit dem Sicherheitsdienst einbestellt."
    
  "Sie wollen Sie zweifellos für eine Beförderung empfehlen. Sie sind schon viel zu lange Untersturmführer."
    
  Jürgen nickte fröhlich und nahm seine Mütze.
    
  "Das Auto wartet schon vor der Tür auf Sie. Ich sage dem Koch Bescheid, er soll etwas für Sie vorbereiten, falls Sie früher zurückkommen."
    
  "Danke, Mutter", sagte Jürgen und küsste Brunhilde auf die Stirn. Er trat hinaus in den Flur, seine schwarzen Stiefel klapperten laut auf den Marmorstufen. Das Dienstmädchen wartete mit seinem Mantel im Flur auf ihn.
    
  Seit Otto und seine Karten vor elf Jahren aus ihrem Leben verschwunden waren, hatte sich ihre wirtschaftliche Lage allmählich verbessert. Ein Heer von Bediensteten kümmerte sich wieder um den Alltag im Herrenhaus, obwohl Jürgen nun das Familienoberhaupt war.
    
  "Werden Sie zum Abendessen zurück sein, mein Herr?"
    
  Jürgen schnappte nach Luft, als er diese Anrede hörte. Es passierte immer dann, wenn er nervös und unruhig war, so wie an jenem Morgen. Die kleinsten Details brachten seine eisige Fassade zum Schmelzen und enthüllten den Sturm der inneren Konflikte.
    
  "Die Baronin wird Ihnen Anweisungen geben."
    
  Bald würden sie mich mit meinem richtigen Titel ansprechen, dachte er, als er hinaustrat. Seine Hände zitterten leicht. Zum Glück hatte er seinen Mantel über den Arm gehängt, sodass der Fahrer es nicht bemerkte, als er ihm die Tür öffnete.
    
  Früher hätte Jürgen seine Impulse vielleicht durch Gewalt kanalisiert; doch nach dem Wahlsieg der NSDAP im vergangenen Jahr agierten die unliebsamen Gruppierungen vorsichtiger. Mit jedem Tag fiel es Jürgen schwerer, sich zu beherrschen. Während der Fahrt versuchte er, langsam zu atmen. Er wollte nicht aufgewühlt und nervös ankommen.
    
  Vor allem dann, wenn sie mich befördern wollen, wie meine Mutter sagt.
    
  "Ehrlich gesagt, mein lieber Schroeder, bereiten Sie mir ernsthafte Zweifel."
    
  "Zweifel, Sir?"
    
  "Zweifel an Ihrer Loyalität."
    
  Jürgen bemerkte, dass seine Hand wieder zu zittern begann, und er musste seine Knöchel fest zusammendrücken, um sie wieder unter Kontrolle zu bringen.
    
  Der Konferenzraum war bis auf Reinhard Heydrich und ihn selbst völlig leer. Der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, des Geheimdienstes der NSDAP, war ein großer Mann mit markanten Augenbrauen, nur wenige Monate älter als Jürgen. Trotz seiner Jugend zählte er zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Deutschlands. Seine Organisation hatte die Aufgabe, Bedrohungen - ob real oder eingebildet - für die Partei aufzudecken. Jürgen hatte dies bereits am Tag seines Vorstellungsgesprächs erfahren.
    
  Heinrich Himmler fragte Heydrich, wie er einen nationalsozialistischen Geheimdienst organisieren würde, woraufhin Heydrich alle Spionageromane, die er je gelesen hatte, nacherzählte. Das Reichssicherheitshauptamt war bereits in ganz Deutschland gefürchtet, wobei unklar blieb, ob dies eher auf billige Fiktion oder auf angeborenes Talent zurückzuführen war.
    
  "Warum sagen Sie das, Sir?"
    
  Heydrich legte seine Hand auf die Mappe vor sich, auf der Jürgens Name stand.
    
  "Sie waren in den Anfängen der Bewegung bei der SA. Das ist wunderbar, das ist interessant. Es ist allerdings überraschend, dass jemand aus Ihrer Familie ausdrücklich um einen Platz in einem SA-Bataillon gebeten hat. Und dann sind da noch die wiederholten Gewalttaten, die Ihre Vorgesetzten gemeldet haben. Ich habe einen Psychologen zu Ihnen befragt, und er vermutet, dass Sie eine schwere Persönlichkeitsstörung haben könnten. Das ist an sich jedoch kein Verbrechen, obwohl es", er betonte das Wort "könnte" mit einem halben Lächeln und hochgezogener Augenbraue, "ein Hindernis werden könnte. Aber nun zu dem, was mir am meisten Sorgen bereitet. Sie wurden - wie der Rest Ihrer Mitarbeiter - zu einer besonderen Veranstaltung am 8. November 1923 in den Burgerbräukeller eingeladen. Sie sind jedoch nicht erschienen."
    
  Heydrich hielt inne und ließ seine letzten Worte nachklingen. Jürgen begann zu schwitzen. Nach dem Wahlsieg hatten die Nazis langsam und systematisch begonnen, sich an allen zu rächen, die den Aufstand von 1923 behindert und Hitlers Machtergreifung um ein Jahr verzögert hatten. Jahrelang hatte Jürgen in ständiger Angst gelebt, beschuldigt zu werden, und nun war es soweit.
    
  Heydrich fuhr fort, sein Tonfall nun drohend.
    
  "Ihrem Vorgesetzten zufolge sind Sie nicht wie befohlen am Treffpunkt erschienen. Es scheint jedoch - und ich zitiere -, dass sich Sturmtruppler Jürgen von Schröder in der Nacht des 23. November bei einer Schwadron der 10. Kompanie befand. Sein Hemd war blutgetränkt, und er behauptete, von mehreren Kommunisten angegriffen worden zu sein und dass das Blut von einem von ihnen stamme, dem Mann, den er erstochen habe. Er bat darum, bis zum Ende des Putsches der Schwadron unter dem Kommando des Polizeikommissars aus dem Bezirk Schwabing beitreten zu dürfen." Stimmt das?
    
  "Bis zum letzten Komma, Sir."
    
  "Richtig. Das muss auch der Untersuchungsausschuss gedacht haben, denn er hat Ihnen das goldene Parteiabzeichen und den Blutorden verliehen", sagte Heydrich und deutete auf Jürgens Brust.
    
  Das goldene Emblem der Partei war eine der begehrtesten Auszeichnungen in Deutschland. Es bestand aus einer Hakenkreuzfahne in einem Kreis, umgeben von einem goldenen Lorbeerkranz. Es kennzeichnete jene Parteimitglieder, die vor Hitlers Machtergreifung 1933 beigetreten waren. Bis dahin mussten die Nationalsozialisten aktiv um neue Mitglieder werben. Von diesem Tag an bildeten sich endlose Schlangen vor der Parteizentrale. Nicht jedem wurde dieses Privileg zuteil.
    
  Der Blutorden war die wertvollste Auszeichnung im Reich. Er wurde ausschließlich von denjenigen getragen, die am Staatsstreich von 1923 teilgenommen hatten, der tragischerweise mit dem Tod von sechzehn Nazis durch die Polizei endete. Selbst Heydrich trug diese Auszeichnung nicht.
    
  "Ich frage mich wirklich", fuhr der Chef des Reichssicherheitshauptamtes fort und tippte sich mit der Kante eines Ordners an die Lippen, "ob wir nicht eine Untersuchungskommission gegen Sie einsetzen sollten, mein Freund."
    
  "Das wäre nicht nötig, Sir", sagte Jürgen flüsternd, wohl wissend, wie kurz und entschieden die Untersuchungskommissionen heutzutage arbeiteten.
    
  "Nein? Die jüngsten Berichte, die nach der Eingliederung der SA in die SS erschienen, besagen, dass Sie Ihre Pflichten etwas ‚kaltblütig" erfüllt haben, dass es an ‚Engagement" mangelte... Soll ich fortfahren?"
    
  "Das liegt daran, dass ich von der Straße ferngehalten wurde, Sir!"
    
  "Ist es dann möglich, dass sich andere Menschen Sorgen um dich machen?"
    
  "Ich versichere Ihnen, Sir, mein Engagement ist absolut."
    
  "Nun, es gibt einen Weg, das Vertrauen dieses Amtes zurückzugewinnen."
    
  Endlich dämmerte es ihm. Heydrich hatte Jürgen mit einem bestimmten Vorhaben vorgeladen. Er wollte etwas von ihm, und deshalb hatte er ihn von Anfang an unter Druck gesetzt. Er hatte wohl keine Ahnung, was Jürgen in jener Nacht des Jahres 1923 vorhatte, aber was Heydrich wusste oder nicht wusste, war irrelevant: Sein Wort war Gesetz.
    
  "Ich mache alles, Sir", sagte Jürgen, nun etwas ruhiger.
    
  "Na gut, Jürgen. Ich kann dich Jürgen nennen, nicht wahr?"
    
  "Selbstverständlich, Sir", sagte er und unterdrückte seinen Ärger darüber, dass der andere Mann ihm den Gefallen nicht erwidert hatte.
    
  "Hast du schon mal von der Freimaurerei gehört, Jürgen?"
    
  "Natürlich. Mein Vater war in seiner Jugend Mitglied einer Loge. Ich glaube, er hatte es bald satt."
    
  Heydrich nickte. Das überraschte ihn nicht, und Jürgen nahm an, er wisse das bereits.
    
  "Seit wir an die Macht gekommen sind, wurden die Freimaurer... aktiv behindert."
    
  "Ich weiß, Herr", sagte Jürgen und lächelte über die Umschreibung. In "Mein Kampf", einem Buch, das jeder Deutsche las - und, wenn er klug war, auch zu Hause aufstellte -, brachte Hitler seinen tiefen Hass auf die Freimaurerei zum Ausdruck.
    
  "Eine beträchtliche Anzahl von Logen löste sich freiwillig auf oder reorganisierte sich. Diese Logen waren für uns von geringer Bedeutung, da sie alle preußisch waren, arische Mitglieder hatten und nationalistische Tendenzen aufwiesen. Da sie sich freiwillig auflösten und ihre Mitgliederlisten aushändigten, wurden vorerst keine Maßnahmen gegen sie ergriffen."
    
  "Ich verstehe, dass einige Logen Sie immer noch belästigen, Sir?"
    
  "Uns ist völlig klar, dass viele Logen, die sogenannten humanitären Logen, weiterhin aktiv sind. Die meisten ihrer Mitglieder vertreten liberale Ansichten, sind Juden und so weiter..."
    
  "Warum verbieten Sie sie nicht einfach, Sir?"
    
  "Jürgen, Jürgen", sagte Heydrich herablassend, "das würde ihre Aktivitäten bestenfalls behindern. Solange sie auch nur einen Funken Hoffnung haben, werden sie sich weiterhin treffen und über ihre Zirkel, Winkelmaße und anderen jüdischen Unsinn reden. Was ich will, ist, dass jeder von ihnen einen kleinen Namen auf einer Karte im Format 14 x 7 hat."
    
  Heydrichs kleine Postkarten waren in der gesamten Partei bekannt. In einem großen Raum neben seinem Berliner Büro wurden Informationen über diejenigen aufbewahrt, die die Partei als "unerwünscht" betrachtete: Kommunisten, Homosexuelle, Juden, Freimaurer und alle anderen, die anmerkten, der Führer habe an diesem Tag in seiner Rede etwas müde gewirkt. Jedes Mal, wenn jemand denunziert wurde, kam eine neue Postkarte zu den Zehntausenden hinzu. Das Schicksal derer, die auf den Postkarten abgebildet waren, blieb weiterhin ungewiss.
    
  "Wenn die Freimaurerei verboten würde, würden sie einfach wie Ratten in den Untergrund gehen."
    
  "Absolut richtig!", rief Heydrich und schlug mit der Handfläche auf den Tisch. Er beugte sich zu Jürgen vor und sagte vertraulich: "Sag mal, weißt du, warum wir die Namen dieses Gesindels brauchen?"
    
  "Weil die Freimaurerei eine Marionette der internationalen jüdischen Verschwörung ist. Es ist bekannt, dass Bankiers wie die Rothschilds und ..."
    
  Ein lautes Kichern unterbrach Jürgens leidenschaftliche Rede. Als der Chef des Staatssicherheitsdienstes sah, wie sich das Gesicht des Baronssohnes verdüsterte, beherrschte er sich.
    
  "Wiederhole mir nicht die Leitartikel des Völkischen Beobachters, Jürgen. Ich habe selbst daran mitgeschrieben."
    
  "Aber, Herr, der Führer sagt..."
    
  "Ich frage mich, wie weit der Dolch, der dir das Auge ausgestochen hat, gereicht hat, mein Freund", sagte Heydrich und musterte seine Gesichtszüge.
    
  "Sir, es besteht kein Grund, beleidigend zu sein", sagte Jürgen wütend und verwirrt.
    
  Heydrich lächelte finster.
    
  "Du bist voller Tatendrang, Jürgen. Aber diese Leidenschaft muss von Vernunft geleitet werden. Tu mir einen Gefallen und werde nicht zu einem dieser Schafe, die bei Demonstrationen blöken. Erlaube mir, dir eine kleine Lektion aus unserer Geschichte zu erteilen." Heydrich stand auf und begann, um den großen Tisch herumzugehen. "1917 lösten die Bolschewiki alle Logen in Russland auf. 1919 beseitigte Béla Kun alle Freimaurer in Ungarn. 1925 verbot Primo de Rivera die Logen in Spanien. Im selben Jahr tat Mussolini dasselbe in Italien. Seine Schwarzhemden zerrten Freimaurer mitten in der Nacht aus ihren Betten und schlugen sie auf offener Straße zu Tode. Ein lehrreiches Beispiel, findest du nicht?"
    
  Jürgen nickte überrascht. Er wusste nichts davon.
    
  "Wie Sie sehen können", fuhr Heydrich fort, "besteht die erste Amtshandlung jeder starken Regierung, die an der Macht bleiben will, darin, unter anderem die Freimaurer zu beseitigen. Und zwar nicht, weil diese im Auftrag einer hypothetischen jüdischen Verschwörung handeln: Sie tun dies, weil Menschen, die selbstständig denken, viele Probleme verursachen."
    
  "Was genau wollen Sie von mir, Sir?"
    
  "Ich möchte, dass Sie die Freimaurer infiltrieren. Ich werde Ihnen einige gute Kontakte verschaffen. Sie sind ein Aristokrat, und Ihr Vater war vor einigen Jahren Mitglied einer Loge, daher werden sie Sie ohne Weiteres aufnehmen. Ihr Ziel wird es sein, eine Mitgliederliste zu beschaffen. Ich möchte den Namen jedes Freimaurers in Bayern kennen."
    
  "Habe ich freie Hand, Sir?"
    
  "Sofern Sie nichts Gegenteiliges hören, ja. Warten Sie hier eine Minute."
    
  Heydrich ging zur Tür, öffnete sie und bellte seinem Adjutanten, der auf einer Bank im Flur saß, einige Anweisungen zu. Der Adjutant klickte mit den Absätzen und kehrte wenige Augenblicke später mit einem anderen jungen Mann in seiner Oberbekleidung zurück.
    
  "Herein, Adolf, herein. Mein lieber Jürgen, gestatten Sie mir, Ihnen Adolf Eichmann vorzustellen. Er ist ein sehr vielversprechender junger Mann, der in unserem KZ Dachau arbeitet. Er ist spezialisiert auf, sagen wir mal... außergerichtliche Verfahren."
    
  "Freut mich, Sie kennenzulernen", sagte Jürgen und reichte ihm die Hand. "Sie sind also der Typ Mann, der weiß, wie man das Gesetz umgeht, was?"
    
  "Gleichfalls. Und ja, manchmal müssen wir die Regeln ein wenig dehnen, wenn wir Deutschland jemals seinen rechtmäßigen Besitzern zurückgeben wollen", sagte Eichmann lächelnd.
    
  "Adolf hat um eine Stelle in meinem Büro gebeten, und ich möchte ihm den Übergang erleichtern. Zunächst möchte ich ihn jedoch einige Monate mit Ihnen zusammenarbeiten lassen. Sie werden ihm alle Informationen, die Sie erhalten, weitergeben, und er wird dafür verantwortlich sein, diese auszuwerten. Sobald Sie diese Aufgabe abgeschlossen haben, bin ich überzeugt, dass ich Sie mit einer größeren Mission nach Berlin entsenden kann."
    
    
  45
    
    
  Ich habe ihn gesehen. Da bin ich mir sicher, dachte Clovis und drängte sich mit den Ellbogen aus der Taverne.
    
  Es war eine Julinacht, und sein Hemd war bereits schweißnass. Doch die Hitze machte ihm nicht viel aus. Er hatte gelernt, damit umzugehen, seit er in der Wüste bemerkt hatte, dass Rainer ihm folgte. Er hatte eine vielversprechende Diamantenmine im Oranje-Flussbecken aufgeben müssen, um Rainer von der Fährte abzulenken. Er hatte sein letztes Ausgrabungsmaterial zurückgelassen und nur das Nötigste mitgenommen. Auf einem niedrigen Hügelkamm, das Gewehr in der Hand, sah er zum ersten Mal Pauls Gesicht und legte den Finger an den Abzug. Aus Angst, zu verfehlen, glitt er wie eine Schlange im hohen Gras die andere Seite des Hügels hinunter.
    
  Dann verlor er Paul für mehrere Monate aus den Augen, bis er erneut zur Flucht gezwungen war, diesmal aus einem Bordell in Johannesburg. Rainer entdeckte ihn diesmal zuerst, allerdings aus der Ferne. Als sich ihre Blicke trafen, war Clovis töricht genug, seine Angst zu zeigen. Er erkannte sofort den kalten, harten Glanz in Rainers Augen als den Blick eines Jägers, der sich die Gestalt seiner Beute einprägte. Er konnte durch eine versteckte Hintertür entkommen und hatte sogar noch Zeit, in die heruntergekommene Hotelbude zurückzukehren, in der er wohnte, und seine Kleidung in einen Koffer zu werfen.
    
  Drei Jahre vergingen, bis Clovis Nagel Rainers Atem im Nacken nicht mehr ertragen konnte. Er konnte nicht schlafen ohne eine Pistole unter dem Kopfkissen. Er konnte nicht gehen, ohne sich ständig umzudrehen und zu prüfen, ob ihm jemand folgte. Und er blieb nie länger als ein paar Wochen an einem Ort, aus Angst, eines Nachts vom stählernen Blick jener blauen Augen geweckt zu werden, die ihn aus dem Lauf eines Revolvers beobachteten.
    
  Schließlich gab er nach. Ohne Geld konnte er nicht ewig fliehen, und das Geld des Barons war längst aufgebraucht. Er begann, dem Baron zu schreiben, doch keiner seiner Briefe blieb unbeantwortet. So bestieg Clovis ein Schiff nach Hamburg. Auf dem Rückweg nach Deutschland, auf dem Weg nach München, verspürte er einen Moment der Erleichterung. Die ersten drei Tage war er überzeugt, Rainer verloren zu haben ... bis er eines Abends eine Taverne nahe dem Bahnhof betrat und Pauls Gesicht in der Menge der Gäste erkannte.
    
  Clovis verspürte einen Knoten im Magen und floh.
    
  Während er so schnell rannte, wie ihn seine kurzen Beine trugen, wurde ihm sein schrecklicher Fehler bewusst. Er war ohne Schusswaffe nach Deutschland gereist, weil er befürchtete, am Zoll angehalten zu werden. Er hatte noch immer keine Zeit gehabt, etwas zu greifen, und nun besaß er zur Verteidigung nur noch sein Klappmesser.
    
  Er zog es aus der Tasche, während er die Straße entlangrannte. Er wich den Lichtkegeln der Straßenlaternen aus und huschte von einer zur nächsten, als wären sie Inseln der Sicherheit, bis ihm klar wurde, dass Clovis es Rainer zu einfach machte, falls dieser ihn verfolgte. Er bog rechts in eine dunkle Gasse ein, die parallel zu den Bahngleisen verlief. Ein Zug näherte sich und ratterte auf den Bahnhof zu. Clovis konnte sie nicht sehen, aber er roch den Rauch aus dem Schornstein und spürte die Erschütterungen im Boden.
    
  Ein Geräusch drang vom anderen Ende der Seitenstraße herüber. Der ehemalige Marine erschrak und biss sich auf die Zunge. Er rannte weiter, sein Herz raste. Er schmeckte Blut, ein unheilvolles Vorzeichen dessen, was ihm bevorstand, sollte der andere Mann ihn einholen.
    
  Clovis war in einer Sackgasse gelandet. Da er nicht mehr weiterkonnte, versteckte er sich hinter einem Stapel Holzkisten, die nach verrottendem Fisch rochen. Fliegen umschwirrten ihn und setzten sich auf sein Gesicht und seine Hände. Er versuchte, sie zu verscheuchen, doch ein weiteres Geräusch und ein Schatten am Eingang der Gasse ließen ihn erstarren. Er versuchte, seinen Atem zu beruhigen.
    
  Der Schatten nahm die Silhouette eines Mannes an. Clovis konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber das war auch nicht nötig. Er wusste genau, wer es war.
    
  Er hielt die Situation nicht länger aus und rannte zum Ende der Gasse, wobei er einen Stapel Holzkisten umstieß. Zwei Ratten huschten panisch zwischen seinen Beinen hindurch. Blindlings folgte Clovis ihnen und sah zu, wie sie durch eine halb geöffnete Tür verschwanden, an der er im Dunkeln unachtsam vorbeigegangen war. Er befand sich in einem dunklen Korridor und zückte sein Feuerzeug, um sich zu orientieren. Er gönnte sich ein paar Sekunden im Licht, bevor er wieder losrannte, doch am Ende des Korridors stolperte er und stürzte, wobei er sich die Hände an den feuchten Zementstufen aufschürfte. Er wagte es nicht, das Feuerzeug erneut zu benutzen, stand auf und begann zu steigen, wobei er ständig auf das leiseste Geräusch hinter sich lauschte.
    
  Er kletterte, was ihm wie eine Ewigkeit vorkam. Endlich stand er wieder festen Boden unter den Füßen und wagte es, sein Feuerzeug anzuzünden. Ein flackerndes gelbes Licht verriet ihm, dass er sich in einem weiteren Korridor befand, an dessen Ende eine Tür war. Er drückte sie auf, und sie war unverschlossen.
    
  Endlich hatte ich ihn von der Fährte abgebracht. Das hier sieht aus wie ein verlassenes Lagerhaus. Ich bleibe hier ein paar Stunden, bis ich sicher bin, dass er mir nicht folgt, dachte Clovis, während sich sein Atem wieder normalisierte.
    
  "Guten Abend, Clovis", sagte eine Stimme hinter ihm.
    
  Clovis drehte sich um und drückte den Knopf seines Springmessers. Die Klinge schnellte mit einem kaum hörbaren Klicken hervor, und Clovis stürzte sich mit ausgestrecktem Arm auf die Gestalt, die an der Tür wartete. Es war, als versuchte man, einen Mondstrahl zu berühren. Die Gestalt wich aus, und die Stahlklinge verfehlte sie um fast einen halben Meter und durchbohrte die Wand. Clovis versuchte, sie herauszureißen, schaffte es aber gerade noch, den schmutzigen Putz zu entfernen, bevor ihn der Schlag zu Boden riss.
    
  "Machen Sie es sich bequem. Wir werden eine Weile hier sein."
    
  Aus der Dunkelheit drang eine Stimme. Clovis versuchte aufzustehen, doch eine Hand drückte ihn zurück zu Boden. Plötzlich zerriss ein weißer Strahl die Dunkelheit. Sein Verfolger schaltete eine Taschenlampe ein und richtete sie auf sein Gesicht.
    
  "Kommt Ihnen dieses Gesicht bekannt vor?"
    
  Clovis studierte Paul Rainer über einen langen Zeitraum.
    
  "Du siehst ihm nicht ähnlich", sagte Clovis mit harter, müder Stimme.
    
  Rainer richtete die Taschenlampe auf Clovis, der sich mit der linken Hand die Augen zuhielt, um sich vor dem hellen Licht zu schützen.
    
  "Richten Sie das Ding woanders hin!"
    
  "Ich mache, was ich will. Ab jetzt gelten meine Regeln."
    
  Der Lichtstrahl wanderte von Clovis' Gesicht zu Pauls rechter Hand. In seinen Händen hielt er die Mauser C96 seines Vaters.
    
  "Sehr gut, Rainer. Du hast das Sagen."
    
  "Ich bin froh, dass wir eine Einigung erzielt haben."
    
  Clovis griff in seine Tasche. Paul machte einen drohenden Schritt auf ihn zu, doch der ehemalige Marine zog eine Zigarettenschachtel hervor und hielt sie gegen das Licht. Er griff auch nach ein paar Streichhölzern, die er für den Fall bei sich trug, dass ihm das Feuerzeugbenzin ausging. Es waren nur noch zwei übrig.
    
  "Du hast mir das Leben zur Hölle gemacht, Rainer", sagte er und zündete sich eine Zigarette ohne Filter an.
    
  "Ich selbst weiß wenig über zerstörte Leben. Du hast meins zerstört."
    
  Clovis lachte, ein wahnsinniges Lachen.
    
  "Amüsiert dich dein bevorstehender Tod, Chlodwig?", fragte Paulus.
    
  Clovis unterdrückte ein Lachen. Hätte Paul wütend geklungen, wäre Clovis nicht so verängstigt gewesen. Doch sein Tonfall war gelassen und ruhig. Clovis war sich sicher, dass Paul in der Dunkelheit lächelte.
    
  "Ganz einfach, so. Mal sehen..."
    
  "Wir werden nichts sehen. Ich will, dass du mir sagst, wie und warum du meinen Vater getötet hast."
    
  "Ich habe ihn nicht getötet."
    
  "Nein, natürlich nicht. Deshalb sind Sie ja seit neunundzwanzig Jahren auf der Flucht."
    
  "Ich war"s nicht, ich schwöre es!"
    
  "Wer dann?"
    
  Clovis zögerte einen Moment. Er fürchtete, der junge Mann würde ihn einfach erschießen, wenn er antwortete. Der Name war sein einziges Ass im Ärmel, und er musste ihn ausspielen.
    
  "Ich werde es dir sagen, wenn du mir versprichst, mich gehen zu lassen."
    
  Die einzige Antwort war das Geräusch einer Pistole, die in der Dunkelheit gespannt wurde.
    
  "Nein, Rainer!", rief Clovis. "Hör zu, es geht nicht nur darum, wer deinen Vater getötet hat. Was nützt dir das Wissen? Wichtig ist, was zuerst geschah. Warum?"
    
  Es herrschte einige Augenblicke Stille.
    
  "Dann fahren Sie fort. Ich höre zu."
    
    
  46
    
    
  "Alles begann am 11. August 1904. Bis dahin hatten wir zwei wundervolle Wochen in Swakopsmund verbracht. Das Bier war für afrikanische Verhältnisse anständig, das Wetter nicht zu heiß und die Mädchen sehr freundlich. Wir waren gerade aus Hamburg zurückgekehrt, und Kapitän Rainer hatte mich zu seinem Ersten Offizier ernannt. Unser Boot sollte einige Monate lang die Küste der Kolonien patrouillieren, in der Hoffnung, den Engländern Angst einzujagen."
    
  "Aber das Problem waren nicht die Engländer?"
    
  "Nein ... Die Einheimischen hatten sich einige Monate zuvor erhoben. Ein neuer General kam, um das Kommando zu übernehmen, und er war ein richtiger Mistkerl, der sadistischste Bastard, den ich je gesehen hatte. Sein Name war Lothar von Trotha. Er setzte die Einheimischen unter Druck. Er hatte Befehle aus Berlin erhalten, eine Art politisches Abkommen mit ihnen zu erzielen, aber das war ihm völlig egal. Er nannte die Einheimischen Untermenschen, Affen, die von den Bäumen heruntergekommen waren und den Umgang mit Gewehren nur durch Nachahmung gelernt hatten. Er verfolgte sie, bis wir anderen in Waterberg auftauchten, und da standen wir alle, wir aus Swakopmund und Windhoek, mit den Waffen in den Händen und verfluchten unser Pech."
    
  "Du hast gewonnen."
    
  "Sie waren uns drei zu eins überlegen, aber sie wussten nicht, wie man als Armee kämpft. Mehr als dreitausend fielen, und wir nahmen ihnen ihr gesamtes Vieh und ihre Waffen ab. Dann ..."
    
  Der ehemalige Marine zündete sich an dem Stummel der vorherigen Zigarette eine weitere an. Im Licht der Taschenlampe verlor sein Gesicht jeglichen Ausdruck.
    
  "Trota hat dir gesagt, du sollst vorrücken", sagte Paul und ermutigte ihn, fortzufahren.
    
  "Ich bin sicher, Ihnen wurde diese Geschichte erzählt, aber niemand, der nicht dabei war, weiß, wie es wirklich war. Wir trieben sie zurück in die Wüste. Kein Wasser, kein Essen. Wir sagten ihnen, sie sollten nicht zurückkommen. Wir vergifteten jeden Brunnen im Umkreis von Hunderten von Kilometern und warnten sie nicht. Diejenigen, die sich versteckten oder umkehrten, um Wasser zu holen, waren die ersten, die gewarnt wurden. Die Übrigen ... mehr als fünfundzwanzigtausend, hauptsächlich Frauen, Kinder und Alte, machten sich auf den Weg nach Omaheke. Ich will mir gar nicht vorstellen, was aus ihnen geworden ist."
    
  "Sie sind gestorben, Clovis. Niemand überquert den Omaheke ohne Wasser. Die einzigen Überlebenden waren einige wenige Herero-Stämme im Norden."
    
  "Wir bekamen Urlaub. Dein Vater und ich wollten so weit wie möglich von Windhoek weg. Wir stahlen Pferde und zogen gen Süden. Ich erinnere mich nicht mehr genau an unsere Route, denn die ersten Tage waren wir so betrunken, dass wir uns kaum noch an unsere Namen erinnerten. Ich weiß noch, dass wir durch Kolmanskop kamen und dass dort ein Telegramm aus Trotha auf deinen Vater wartete. Darin stand, dass sein Urlaub beendet sei und er nach Windhoek zurückkehren müsse. Dein Vater zerriss das Telegramm und sagte, er würde nie wiederkommen. Das alles hatte ihn zu sehr mitgenommen."
    
  "Hat es ihn wirklich beeinträchtigt?", fragte Paul. Clovis hörte die Besorgnis in seiner Stimme und wusste, dass er eine Schwachstelle in der Verteidigung seines Gegners gefunden hatte.
    
  "Das war"s dann, für uns beide. Wir tranken und fuhren immer weiter, um dem Ganzen zu entfliehen. Wir hatten keine Ahnung, wohin wir fuhren. Eines Morgens kamen wir auf einem abgelegenen Bauernhof im Oranje-Flussbecken an. Dort lebte eine deutsche Siedlerfamilie, und der Vater war der größte Dümmster, den ich je getroffen habe. Ein Bach floss durch ihr Grundstück, und die Mädchen beschwerten sich ständig, dass er voller kleiner Kieselsteine sei und ihnen beim Schwimmen die Füße weh täten. Der Vater sammelte diese kleinen Kieselsteine einzeln auf und häufte sie hinter dem Haus auf, angeblich um einen Kiesweg anzulegen. Nur waren es keine Kieselsteine."
    
  "Es waren Diamanten", sagte Paul, der nach jahrelanger Arbeit in den Minen wusste, dass dieser Fehler mehr als einmal vorgekommen war. Manche Diamantenarten sehen vor dem Schleifen und Polieren so rau aus, dass man sie oft für durchscheinende Steine hält.
    
  "Manche waren fett wie Taubeneier, mein Junge. Andere waren klein und weiß, und da war sogar ein rosafarbener, so groß wie dieser hier", sagte er und hob die Faust gegen den Lichtstrahl. "Damals fand man sie noch recht leicht in Orange, obwohl man Gefahr lief, von Regierungsinspektoren erschossen zu werden, wenn man sich einer Ausgrabungsstätte zu sehr näherte. Und es gab immer genug Leichen, die an Kreuzungen unter Schildern mit der Aufschrift ‚DIAMANTENDIEB" in der Sonne trockneten. Nun ja, es gab jede Menge orangefarbene Diamanten, aber ich habe noch nie so viele an einem Ort gesehen wie auf dieser Farm. Niemals."
    
  "Was sagte dieser Mann, als er es herausfand?"
    
  "Wie gesagt, er war ein Dummkopf. Ihm waren nur seine Bibel und seine Ernte wichtig, und er erlaubte nie einem Familienmitglied, in die Stadt zu fahren. Sie bekamen auch nie Besuch, da sie mitten im Nirgendwo lebten. Was auch gut so war, denn jeder mit etwas Verstand hätte gewusst, was diese Steine waren. Dein Vater sah einen Haufen Diamanten, als sie uns das Grundstück zeigten, und er stieß mir mit dem Ellbogen in die Rippen - gerade noch rechtzeitig, denn ich wollte etwas Dummes sagen, schwöre ich, wenn es nicht stimmte. Die Familie nahm uns auf, ohne Fragen zu stellen. Dein Vater war beim Abendessen schlecht gelaunt. Er sagte, er wolle schlafen, er sei müde; aber als der Bauer und seine Frau uns ihr Zimmer anboten, bestand dein Vater darauf, im Wohnzimmer unter mehreren Decken zu schlafen."
    
  "Damit Sie mitten in der Nacht aufstehen können."
    
  "Genau das haben wir gemacht. Neben dem Kamin stand eine Truhe mit Familienerbstücken. Wir schütteten sie leise auf den Boden. Dann ging ich ums Haus herum und lud die Steine in die Truhe. Glaub mir, obwohl die Truhe groß war, füllten die Steine sie zu drei Vierteln. Wir deckten sie mit einer Decke zu und hievten die Truhe dann auf den kleinen Planwagen, mit dem mein Vater immer Vorräte auslieferte. Alles wäre perfekt gelaufen, wenn da nicht dieser verdammte Hund gewesen wäre, der draußen schlief. Als wir unsere Pferde vor den Wagen spannten und losfuhren, überfuhren wir seinen Schwanz. Wie das Vieh gejault hat! Der Bauer sprang auf, die Schrotflinte in der Hand. Er war zwar nicht der Hellste, aber auch nicht völlig verrückt, und unsere noch so ausgeklügelten Erklärungen nützten nichts, denn er durchschaute uns. Dein Vater musste seine Pistole ziehen, dieselbe, die du gerade auf mich richtest, und ihm einen in den Kopf jagen."
    
  "Du lügst", sagte Paul. Der Lichtstrahl flackerte leicht.
    
  "Nein, mein Junge, ich schwöre, ich kriege einen Blitzschlag, wenn ich dir nicht die Wahrheit sage. Er hat einen Mann umgebracht, und zwar richtig, und ich musste die Pferde antreiben, weil eine Mutter mit ihren zwei Töchtern auf die Veranda kam und anfing zu schreien. Wir waren noch keine zehn Meilen gefahren, als dein Vater mir befahl, anzuhalten und aus dem Wagen zu steigen. Ich sagte ihm, er sei verrückt, und ich glaube, ich hatte recht. All die Gewalt und der Alkohol hatten ihn zu einem Schatten seiner selbst gemacht. Der Mord an dem Bauern war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es war mir egal: Er hatte eine Pistole, und ich hatte meine in einer durchzechten Nacht verloren, also dachte ich: ‚Zum Teufel damit!" und ging einfach."
    
  "Was würdest du tun, wenn du eine Waffe hättest, Clovis?"
    
  "Ich würde ihn erschießen", antwortete der ehemalige Marine ohne zu zögern. Clovis hatte eine Idee, wie er die Situation zu seinem Vorteil nutzen konnte.
    
  Ich muss ihn nur an den richtigen Ort bringen.
    
  "Also, was ist passiert?", fragte Paul, seine Stimme klang nun weniger zuversichtlich.
    
  "Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also ging ich den Weg weiter, der zurück in die Stadt führte. Dein Vater war früh am Morgen aufgebrochen, und als er zurückkam, war es bereits nach Mittag; nur hatte er jetzt keinen Wagen mehr, nur noch unsere Pferde. Er sagte mir, er habe die Truhe an einem Ort vergraben, den nur er kenne, und wir würden zurückkommen, um sie zu holen, wenn sich die Lage beruhigt habe."
    
  "Er hat dir nicht vertraut."
    
  "Natürlich nicht. Und er hatte Recht. Wir verließen die Straße, aus Angst, die Frau und die Kinder des toten Kolonisten könnten Alarm schlagen. Wir zogen nach Norden und schliefen im Freien, was nicht sehr komfortabel war, zumal dein Vater im Schlaf viel redete und schrie. Er konnte den Bauern einfach nicht vergessen. So ging es weiter, bis wir nach Swakopmund zurückkehrten und erfuhren, dass wir beide wegen Fahnenflucht gesucht wurden, weil dein Vater die Kontrolle über sein Boot verloren hatte. Wäre da nicht der Diamantenvorfall gewesen, hätte dein Vater sich zweifellos ergeben, aber wir fürchteten, man würde uns mit den Ereignissen in Orange Pool in Verbindung bringen, also versteckten wir uns weiter. Wir entkamen der Militärpolizei nur knapp, indem wir uns auf einem Schiff nach Deutschland versteckten. Irgendwie schafften wir es, unversehrt zurückzukehren."
    
  "War das der Zeitpunkt, als Sie sich an den Baron gewandt haben?"
    
  "Hans war, genau wie ich, besessen von der Idee, nach Orange zurückzukehren, um die Truhe zu holen. Wir verbrachten mehrere Tage versteckt im Herrenhaus des Barons. Dein Vater erzählte ihm alles, und der Baron drehte durch ... genau wie dein Vater, genau wie alle anderen. Er wollte den genauen Standort wissen, aber Hans weigerte sich, ihn preiszugeben. Der Baron war bankrott und hatte nicht das nötige Geld für die Rückreise, um die Truhe zu finden. Deshalb unterzeichnete Hans einige Papiere, mit denen das Haus, in dem du und deine Mutter gelebt hattet, sowie das kleine Geschäft, das ihnen beiden gehörte, übertragen wurden. Dein Vater schlug dem Baron vor, beides zu verkaufen, um die Rückreise der Truhe zu finanzieren. Keiner von uns konnte das tun, da wir zu diesem Zeitpunkt auch in Deutschland gesucht wurden."
    
  "Was geschah in der Nacht seines Todes?"
    
  "Es gab einen heftigen Streit. Viel Geld, vier Leute, die herumschrien. Dein Vater bekam am Ende eine Kugel in den Bauch."
    
  "Wie ist das passiert?"
    
  Clovis holte vorsichtig eine Zigarettenpackung und eine Streichholzschachtel hervor. Er nahm die letzte Zigarette und zündete sie an. Dann blies er den Rauch in den Lichtkegel der Taschenlampe.
    
  "Warum interessiert dich das so sehr, Paul? Warum beunruhigt dich das Leben eines Mörders so sehr?"
    
  "Nenn meinen Vater nicht so!"
    
  Komm schon... ein bisschen näher.
    
  "Nein? Wie würden Sie das nennen, was wir in Waterberg getan haben? Was hat er dem Bauern angetan? Er hat ihm den Kopf abgerissen; er hat es ihm gleich dort heimgezahlt", sagte er und berührte seine Stirn.
    
  "Ich sage dir, du sollst die Klappe halten!"
    
  Mit einem Wutschrei trat Paul vor und hob die rechte Hand, um Clovis zu schlagen. Blitzschnell warf Clovis ihm eine brennende Zigarette in die Augen. Paul zuckte zurück und schützte reflexartig sein Gesicht, was Clovis genug Zeit gab, aufzuspringen und hinauszurennen - sein letzter Trumpf, ein verzweifelter letzter Versuch.
    
  Er wird mir nicht in den Rücken schießen.
    
  "Warte, du Mistkerl!"
    
  Vor allem dann, wenn er nicht weiß, wer geschossen hat.
    
  Paul rannte ihm hinterher. Clovis wich dem Lichtkegel der Taschenlampe aus und rannte zur Rückseite des Lagerhauses, um auf demselben Weg zu entkommen, auf dem sein Verfolger gekommen war. Er konnte gerade noch eine kleine Tür neben einem getönten Fenster erkennen. Er beschleunigte seine Schritte und hatte die Tür fast erreicht, als er mit den Füßen an etwas hängen blieb.
    
  Er fiel mit dem Gesicht nach unten und versuchte aufzustehen, als Paul ihn einholte und an der Jacke packte. Clovis versuchte, Paul zu schlagen, verfehlte ihn aber und taumelte gefährlich in Richtung Fenster.
    
  "Nein!", schrie Paul und stürzte sich erneut auf Clovis.
    
  Der ehemalige Marine versuchte, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen und streckte die Hand nach Paul aus. Seine Finger berührten kurz die des Jüngeren, bevor er stürzte und gegen das Fenster prallte. Das alte Glas gab nach, und Clovis' Körper stürzte durch die Öffnung und verschwand in der Dunkelheit.
    
  Es ertönte ein kurzer Schrei, dann ein trockenes Klopfen.
    
  Paul lehnte sich aus dem Fenster und richtete die Taschenlampe auf den Boden. Zehn Meter unter ihm, inmitten einer immer größer werdenden Blutlache, lag Clovis' Leiche.
    
    
  47
    
    
  Jürgen rümpfte die Nase, als er die Anstalt betrat. Es stank bestialisch nach Urin und Exkrementen, der Geruch von Desinfektionsmittel nur unzureichend überdeckte.
    
  Er musste die Krankenschwester nach dem Weg fragen, da er Otto seit seiner Einlieferung vor elf Jahren zum ersten Mal besuchte. Die Frau am Empfang las gelangweilt in einer Zeitschrift, ihre Füße baumelten lässig in ihren weißen Holzschuhen. Als der neue Obersturmführer vor ihr erschien, sprang die Krankenschwester auf und hob so schnell die rechte Hand, dass ihr die Zigarette aus dem Mund fiel. Sie bestand darauf, ihn persönlich zu begleiten.
    
  "Hast du keine Angst, dass einer von ihnen entkommt?", fragte Jürgen, während sie durch die Gänge gingen, und deutete auf die alten Männer, die ziellos in der Nähe des Eingangs umherirrten.
    
  "Das passiert manchmal, meistens wenn ich auf die Toilette gehe. Aber das macht nichts, denn der Typ am Kiosk an der Ecke bringt sie mir normalerweise zurück."
    
  Die Krankenschwester ließ ihn vor der Tür des Zimmers des Barons zurück.
    
  "Er ist da, Sir, alles eingerichtet und bequem. Er hat sogar ein Fenster. Heil Hitler!", fügte sie kurz vor ihrer Abreise hinzu.
    
  Jürgen erwiderte den Gruß nur widerwillig, froh, sie gehen zu sehen. Er wollte diesen Moment allein genießen.
    
  Die Tür zum Zimmer stand offen, und Otto schlief, zusammengesunken in einem Rollstuhl neben dem Fenster. Ein dünner Speichelfaden rann ihm über die Brust, über seinen Morgenmantel und ein altes Monokel an einer Goldkette, dessen Linse inzwischen gesprungen war. Jürgen erinnerte sich, wie anders sein Vater am Tag nach dem Putschversuch ausgesehen hatte - wie wütend er gewesen war, dass der Versuch gescheitert war, obwohl er nichts dazu beigetragen hatte.
    
  Jürgen wurde kurzzeitig festgenommen und verhört, doch lange bevor das Verhör beendet war, hatte er den Verstand, sein blutbeflecktes braunes Hemd gegen ein sauberes zu tauschen, und er trug keine Schusswaffe bei sich. Es gab keine Konsequenzen für ihn oder irgendjemand anderen. Selbst Hitler verbrachte nur neun Monate im Gefängnis.
    
  Jürgen kehrte nach Hause zurück, da die SA-Kaserne geschlossen und die Organisation aufgelöst worden war. Er verbrachte mehrere Tage eingeschlossen in seinem Zimmer, ignorierte die Versuche seiner Mutter, herauszufinden, was mit Ilse Rainer geschehen war, und grübelte darüber nach, wie er den Brief, den er Pauls Mutter gestohlen hatte, am besten verwenden könnte.
    
  "Die Mutter meines Bruders", wiederholte er verwirrt vor sich hin.
    
  Schließlich bestellte er Fotokopien des Briefes und gab eines Morgens nach dem Frühstück je eine seiner Mutter und seinem Vater.
    
  "Was zum Teufel soll das sein?", fragte der Baron und nahm die Blätter Papier entgegen.
    
  "Das weißt du ganz genau, Otto."
    
  "Jürgen! Zeig mehr Respekt!", sagte seine Mutter entsetzt.
    
  "Nach dem, was ich hier gelesen habe, gibt es keinen Grund, warum ich das tun sollte."
    
  "Wo ist das Original?", fragte Otto mit heiserer Stimme.
    
  "Irgendwo sicher."
    
  "Bring es her!"
    
  "Das habe ich nicht vor. Das sind nur ein paar Exemplare. Den Rest habe ich an die Zeitungen und das Polizeipräsidium geschickt."
    
  "Was hast du getan?", rief Otto und ging um den Tisch herum. Er versuchte, die Faust zu heben, um Jürgen zu schlagen, doch sein Körper schien wie gelähmt. Jürgen und seine Mutter sahen fassungslos zu, wie der Baron die Hand senkte und erneut versuchte, sie zu heben - vergeblich.
    
  "Ich kann nichts sehen. Warum kann ich nichts sehen?", fragte Otto.
    
  Er taumelte vorwärts und riss dabei die Frühstückstischdecke mit sich. Besteck, Teller und Tassen fielen um und verstreuten ihren Inhalt, doch der Baron schien unbemerkt zu bleiben, als er regungslos auf dem Boden lag. Die einzigen Geräusche im Speisesaal waren die Rufe des Dienstmädchens, das soeben mit einem Tablett frisch geröstetem Toast hereingekommen war.
    
  Jürgen stand an der Tür zum Zimmer und konnte sich ein bitteres Lächeln nicht verkneifen, als er sich an seinen damaligen Einfallsreichtum erinnerte. Der Arzt erklärte, der Baron habe einen Schlaganfall erlitten, der ihn sprachlos und gehbehindert gemacht habe.
    
  "Angesichts der Exzesse, denen sich dieser Mann sein Leben lang hingegeben hat, wundert mich das nicht. Ich glaube nicht, dass er länger als sechs Monate lebt", sagte der Arzt und verstaute seine Instrumente in einer Ledertasche. Zum Glück, denn Otto sah nicht das grausame Lächeln, das über das Gesicht seines Sohnes huschte, als dieser die Diagnose hörte.
    
  Und nun sind Sie elf Jahre später hier.
    
  Nun trat er lautlos ein, holte einen Stuhl und setzte sich dem Kranken gegenüber. Das Licht, das durch das Fenster fiel, mochte wie ein idyllischer Sonnenstrahl gewirkt haben, doch es war nichts weiter als die Spiegelung der Sonne an der kahlen weißen Wand des gegenüberliegenden Gebäudes - der einzige Ausblick aus dem Zimmer des Barons.
    
  Jürgen, der es leid war, darauf zu warten, dass er wieder zu sich kam, räusperte sich mehrmals. Der Baron blinzelte und hob schließlich den Kopf. Er starrte Jürgen an, doch falls er Überraschung oder Angst empfand, ließen sich seine Augen nichts anmerken. Jürgen unterdrückte seine Enttäuschung.
    
  "Weißt du, Otto? Lange Zeit habe ich mich sehr bemüht, deine Anerkennung zu gewinnen. Natürlich war dir das völlig egal. Du hast dich nur um Eduard gekümmert."
    
  Er hielt kurz inne und wartete auf eine Reaktion, eine Bewegung, irgendetwas. Doch er erntete nur denselben Blick wie zuvor: misstrauisch, aber wie erstarrt.
    
  "Es war eine riesige Erleichterung zu erfahren, dass du nicht mein Vater bist. Plötzlich fühlte ich mich frei, das widerliche, betrogene Schwein zu hassen, das mich mein ganzes Leben lang ignoriert hatte."
    
  Auch die Beleidigungen zeigten keinerlei Wirkung.
    
  Dann hattest du einen Schlaganfall und hast mich und meine Mutter endlich allein gelassen. Aber natürlich hast du, wie alles, was du in deinem Leben angestellt hast, deine Versprechen nicht gehalten. Ich habe dir zu viel Spielraum gelassen und darauf gewartet, dass du deinen Fehler wiedergutmachst, und ich habe mir eine Weile überlegt, wie ich dich loswerden könnte. Und jetzt, wie praktisch ... kommt jemand daher, der mir diese Mühe erspart.
    
  Er nahm die Zeitung, die er unter dem Arm trug, und hielt sie dem alten Mann so nah vors Gesicht, dass dieser sie lesen konnte. Er rezitierte den Artikel aus dem Gedächtnis. Er hatte ihn die ganze Nacht zuvor immer wieder gelesen und auf den Moment gewartet, in dem der alte Mann ihn sehen würde.
    
    
  MYSTERIÖSE LEICHE IDENTIFIZIERT
    
    
  München (Redaktion) - Die Polizei hat die Leiche, die vergangene Woche in einer Gasse nahe dem Hauptbahnhof gefunden wurde, identifiziert. Es handelt sich um den ehemaligen Marineleutnant Clovis Nagel, der seit 1904 nicht mehr wegen Fahnenflucht während eines Einsatzes in Südwestafrika vor ein Kriegsgericht gestellt worden war. Obwohl er unter falschem Namen nach München zurückkehrte, konnten ihn die Behörden anhand der zahlreichen Tätowierungen an seinem Oberkörper identifizieren. Weitere Details zu den Umständen seines Todes liegen nicht vor. Wie unsere Leser sich erinnern werden, war sein Tod die Folge eines Sturzes aus großer Höhe, möglicherweise durch den Aufprall. Die Polizei erinnert die Öffentlichkeit daran, dass jeder, der Kontakt zu Nagel hatte, unter Verdacht steht und bittet Zeugen, sich umgehend bei den Behörden zu melden.
    
  "Paul ist zurück. Ist das nicht eine wunderbare Nachricht?"
    
  Ein Anflug von Angst huschte über die Augen des Barons. Es dauerte nur wenige Sekunden, aber Jürgen genoss den Moment, als wäre es die größte Demütigung, die sich sein verdrehter Verstand vorstellen konnte.
    
  Er stand auf und ging ins Badezimmer. Er nahm ein Glas und füllte es halbvoll mit Wasser aus dem Hahn. Dann setzte er sich wieder neben den Baron.
    
  "Du weißt, dass er dich jetzt holen will. Und ich glaube nicht, dass du deinen Namen in den Schlagzeilen sehen willst, oder, Otto?"
    
  Jürgen zog eine metallene Schachtel aus der Tasche, nicht größer als eine Briefmarke. Er öffnete sie und nahm eine kleine grüne Pille heraus, die er auf den Tisch legte.
    
  "Es gibt eine neue SS-Einheit, die mit diesen wunderbaren Dingen experimentiert. Wir haben Agenten auf der ganzen Welt, Leute, die jederzeit still und leise verschwinden müssen", sagte der junge Mann und vergaß zu erwähnen, dass Schmerzlosigkeit noch nicht erreicht war. "Erspare uns die Scham, Otto."
    
  Er hob seine Mütze auf, zog sie sich entschlossen wieder auf den Kopf und ging zur Tür. Dort angekommen, drehte er sich um und sah Otto, der nach dem Tablet tastete. Sein Vater hielt das Tablet zwischen den Fingern, sein Gesichtsausdruck so ausdruckslos wie bei Jürgens Besuch. Dann hob sich seine Hand so langsam zum Mund, dass die Bewegung kaum wahrnehmbar war.
    
  Jürgen ging. Einen Moment lang war er versucht, zu bleiben und zuzusehen, aber es war besser, sich an den Plan zu halten und mögliche Probleme zu vermeiden.
    
  Ab morgen wird mich das Personal mit Baron von Schroeder ansprechen. Und wenn mein Bruder Antworten sucht, muss er mich fragen.
    
    
  48
    
    
  Zwei Wochen nach Nagels Tod wagte Paul es endlich wieder, vor die Tür zu gehen.
    
  Der Aufprall des ehemaligen Marinesoldaten auf dem Boden hallte ihm die ganze Zeit im Kopf wider, die er in dem Zimmer in der Schwabing-Pension eingesperrt war. Er versuchte, in das alte Gebäude zurückzukehren, in dem er mit seiner Mutter gewohnt hatte, doch es war nun ein Privathaus.
    
  Das war nicht das Einzige, was sich in München während seiner Abwesenheit verändert hatte. Die Straßen waren sauberer, und es lungerten keine Gruppen von Arbeitslosen mehr an Straßenecken herum. Die Schlangen vor Kirchen und Arbeitsämtern waren verschwunden, und die Menschen mussten nicht mehr jedes Mal zwei Koffer voller Kleingeld mit sich herumschleppen, wenn sie Brot kaufen wollten. Es gab keine blutigen Schlägereien mehr in den Kneipen. Die riesigen Anschlagtafeln entlang der Hauptstraßen verkündeten nun andere Dinge. Früher hingen dort Ankündigungen von politischen Versammlungen, flammende Manifeste und Dutzende von Fahndungsplakaten. Jetzt wurden friedliche Angelegenheiten wie Treffen von Gartenvereinen bekanntgegeben.
    
  Statt all dieser Unheilsboten musste Pavel feststellen, dass sich die Prophezeiung erfüllt hatte. Wo immer er hinkam, sah er Gruppen von Jungen mit roten Armbinden, auf deren Ärmeln Hakenkreuze prangten. Passanten waren gezwungen, die Hand zu heben und "Heil Hitler!" zu rufen, um nicht von zwei Zivilbeamten an der Schulter berührt und aufgefordert zu werden, ihnen zu folgen. Einige wenige, eine Minderheit, eilten in Hauseingängen in Deckung, um dem Gruß zu entgehen, doch auch das war nicht immer möglich, und früher oder später musste jeder die Hand heben.
    
  Wo man auch hinsah, trugen die Menschen Hakenkreuzfahnen, diese boshafte schwarze Spinne, ob an Haarnadeln, Armbinden oder um den Hals gebundenen Schals. Sie wurden an Haltestellen von Oberleitungsbussen und an Kiosken zusammen mit Fahrkarten und Zeitungen verkauft. Diese Welle des Patriotismus begann Ende Juni, als Dutzende SA-Führer mitten in der Nacht wegen "Vaterlandsverrats" ermordet wurden. Mit dieser Tat sandte Hitler zwei Botschaften: Niemand war sicher, und in Deutschland hatte nur er das Sagen. Angst stand jedem ins Gesicht geschrieben, so sehr die Menschen sie auch zu verbergen suchten.
    
  Deutschland war für Juden zur Todesfalle geworden. Monat für Monat wurden die Gesetze gegen sie verschärft, die Ungerechtigkeiten um sie herum nahmen stillschweigend zu. Zuerst nahmen die Deutschen jüdische Ärzte, Anwälte und Lehrer ins Visier, beraubten sie ihrer Traumberufe und damit auch ihrer Existenzgrundlage. Neue Gesetze führten zur Annullierung hunderter Mischehen. Eine Selbstmordwelle, wie sie Deutschland noch nie erlebt hatte, erfasste das Land. Und doch gab es Juden, die wegschauten oder die Realität leugneten und darauf beharrten, dass es gar nicht so schlimm sei. Das lag zum Teil daran, dass nur wenige das Ausmaß des Problems kannten - die deutsche Presse berichtete kaum darüber -, zum Teil aber auch daran, dass die Alternative, die Auswanderung, immer schwieriger wurde. Die globale Wirtschaftskrise und das Überangebot an Fachkräften ließen die Auswanderung wie Wahnsinn erscheinen. Ob sie es nun wussten oder nicht: Die Nazis hielten die Juden in Geiselhaft.
    
  Ein Spaziergang durch die Stadt brachte Paul etwas Erleichterung, allerdings auf Kosten seiner Besorgnis über die Richtung, die Deutschland einschlug.
    
  "Brauchen Sie eine Krawattennadel, Sir?", fragte der junge Mann und musterte ihn von oben bis unten. Der Junge trug einen langen Ledergürtel, verziert mit verschiedenen Motiven, von einem einfachen gedrehten Kreuz bis hin zu einem Adler mit dem Wappen der Nazis.
    
  Paul schüttelte den Kopf und ging weiter.
    
  "Sie sollten es tragen, Sir. Es ist ein feines Zeichen Ihrer Unterstützung für unseren glorreichen Führer", beharrte der Junge, der ihm nachlief.
    
  Da Paulus nicht aufgab, streckte er ihm die Zunge heraus und machte sich auf die Suche nach neuer Beute.
    
  Lieber würde ich sterben, als dieses Symbol zu tragen, dachte Paul.
    
  Seine Gedanken verfielen zurück in den fiebrigen, nervösen Zustand, in dem er sich seit Nagels Tod befunden hatte. Die Geschichte des Mannes, der der erste Leutnant seines Vaters gewesen war, ließ ihn nicht nur die weitere Vorgehensweise bei den Ermittlungen, sondern auch den Sinn dieser Suche hinterfragen. Laut Nagel hatte Hans Rainer ein kompliziertes und verwickeltes Leben geführt und das Verbrechen aus Geldgier begangen.
    
  Nagel war natürlich keine besonders verlässliche Quelle. Trotzdem entsprach das Lied, das er sang, dem Ton, der in Pauls Herzen immer wieder nachklang, wenn er an seinen Vater dachte, den er nie kennengelernt hatte.
    
  Angesichts des ruhigen, klaren Albtraums, in den sich Deutschland mit solchem Enthusiasmus stürzte, fragte sich Paul, ob er endlich aufwachte.
    
  Ich bin letzte Woche dreißig geworden, dachte er bitter, während er am Ufer der Isar entlangspazierte, wo sich Paare auf Bänken versammelt hatten, und ich habe mehr als ein Drittel meines Lebens damit verbracht, nach einem Vater zu suchen, der die Mühe vielleicht gar nicht wert war. Ich verließ den Mann, den ich liebte, und fand im Gegenzug nichts als Kummer und Opfer.
    
  Vielleicht war das der Grund, warum er Hans in seinen Tagträumen idealisierte - weil er die düstere Realität, die er aus Ilses Schweigen schloss, kompensieren musste.
    
  Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er sich erneut von München verabschieden musste. Sein einziger Gedanke kreiste um den Wunsch, fortzugehen, Deutschland zu entfliehen und nach Afrika zurückzukehren, einem Ort, an dem er, obwohl er dort nicht glücklich war, wenigstens einen Teil seiner Seele wiederfinden konnte.
    
  Aber ich bin schon so weit gekommen... Wie kann ich es mir leisten, jetzt aufzugeben?
    
  Das Problem war zweifach. Er hatte auch keine Ahnung, wie er weitermachen sollte. Nagels Tod hatte nicht nur seine Hoffnungen, sondern auch seine letzte konkrete Spur zerstört. Er wünschte, seine Mutter hätte ihm mehr vertraut, denn dann wäre sie vielleicht noch am Leben.
    
  Ich könnte Jürgen aufsuchen und mit ihm darüber sprechen, was meine Mutter mir vor ihrem Tod erzählt hat. Vielleicht weiß er etwas.
    
  Nach einer Weile verwarf er den Gedanken. Er hatte die Schröders satt, und aller Wahrscheinlichkeit nach hasste Jürgen ihn immer noch wegen dem Vorfall im Bergmannsstall. Er bezweifelte, dass die Zeit seinen Zorn besänftigt hatte. Und hätte er Jürgen ohne jegliche Beweise angesprochen und ihm gesagt, er habe Grund zu der Annahme, sie könnten Brüder sein, wäre dessen Reaktion mit Sicherheit entsetzlich gewesen. Auch konnte er sich nicht vorstellen, mit dem Baron oder Brunhilde zu sprechen. Nein, das war eine Sackgasse.
    
  Es ist vorbei. Ich gehe.
    
  Seine ziellose Reise führte ihn zum Marienplatz. Er beschloss, Sebastian Keller ein letztes Mal zu besuchen, bevor er die Stadt für immer verließ. Unterwegs fragte er sich, ob die Buchhandlung noch existierte oder ob ihr Besitzer, wie so viele andere Geschäfte, der Krise der 1920er-Jahre zum Opfer gefallen war.
    
  Seine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Das Lokal wirkte so ordentlich wie eh und je, mit seinen großzügigen Vitrinen, die eine sorgfältig ausgewählte Sammlung klassischer deutscher Lyrik präsentierten. Paul zögerte kaum, bevor er eintrat, und Keller steckte sofort den Kopf durch die Hintertür, genau wie an jenem ersten Tag im Jahr 1923.
    
  "Paul! Mein Gott, was für eine Überraschung!"
    
  Der Buchhändler reichte ihm mit einem warmen Lächeln die Hand. Es schien, als sei kaum Zeit vergangen. Er färbte sich immer noch die Haare weiß und trug eine neue Brille mit Goldrand, aber abgesehen davon und den seltsamen Fältchen um seine Augen strahlte er weiterhin dieselbe Aura der Weisheit und Ruhe aus.
    
  "Guten Tag, Herr Keller."
    
  "Aber das ist ja eine große Freude, Paul! Wo hast du dich denn die ganze Zeit versteckt? Wir dachten schon, du wärst verschollen ... Ich habe in der Zeitung von dem Brand in der Pension gelesen und fürchtete, du wärst dort auch umgekommen. Du hättest uns doch schreiben können!"
    
  Etwas beschämt entschuldigte sich Paul dafür, all die Jahre geschwiegen zu haben. Anders als sonst schloss Keller die Buchhandlung und nahm den jungen Mann mit in den Hinterraum, wo sie ein paar Stunden lang Tee tranken und über alte Zeiten plauderten. Paul erzählte von seinen Reisen in Afrika, den verschiedenen Jobs, die er ausgeübt hatte, und seinen Erfahrungen mit unterschiedlichen Kulturen.
    
  "Sie haben wahre Abenteuer erlebt... Karl May, den Sie so sehr bewundern, wäre gern an Ihrer Stelle."
    
  "Ich nehme es an... Wobei Romane eine ganz andere Sache sind", sagte Paul mit einem bitteren Lächeln und dachte an Nagels tragisches Ende.
    
  "Und die Freimaurerei, Paul? Hattest du in dieser Zeit Verbindungen zu irgendeiner Loge?"
    
  "Nein, Sir."
    
  "Nun gut, im Grunde genommen ist Ordnung das Wesen unserer Bruderschaft. Es findet heute Abend ein Treffen statt. Du musst mitkommen; ich akzeptiere kein Nein. Du kannst da weitermachen, wo du aufgehört hast", sagte Keller und klopfte ihm auf die Schulter.
    
  Paul stimmte widerwillig zu.
    
    
  49
    
    
  Als Paul an diesem Abend zum Tempel zurückkehrte, überkam ihn das vertraute Gefühl der Künstlichkeit und Langeweile, das ihn schon Jahre zuvor ergriffen hatte, als er begann, Freimaurertreffen zu besuchen. Der Tempel war bis auf den letzten Platz gefüllt, über hundert Personen waren anwesend.
    
  Im passenden Moment erhob sich Keller, der noch immer Großmeister der Rising Sun Lodge war, und stellte Paul seinen Freimaurerbrüdern vor. Viele kannten ihn bereits, aber mindestens zehn Mitglieder begrüßten ihn zum ersten Mal.
    
  Bis auf den Moment, als Keller ihn direkt ansprach, war Paul den größten Teil des Treffens in seine eigenen Gedanken versunken... gegen Ende, als einer der älteren Brüder - jemand namens Furst - aufstand, um ein Thema anzusprechen, das nicht auf der Tagesordnung stand.
    
  "Hochverehrter Großmeister, eine Gruppe von Brüdern und ich haben die aktuelle Situation besprochen."
    
  "Was meinst du, Bruder Erster?"
    
  "Wegen des beunruhigenden Schattens, den der Nationalsozialismus auf die Freimaurerei wirft."
    
  "Bruder, du kennst die Regeln. Keine Politik im Tempel."
    
  "Aber der Großmeister wird mir zustimmen, dass die Nachrichten aus Berlin und Hamburg beunruhigend sind. Viele Logen dort haben sich von selbst aufgelöst. Hier in Bayern gibt es keine einzige preußische Loge mehr."
    
  "Schlägst du also die Auflösung dieser Loge vor, Bruder Erster?"
    
  "Natürlich nicht. Aber ich denke, es wäre an der Zeit, die Schritte zu unternehmen, die andere bereits unternommen haben, um ihren Fortbestand zu sichern."
    
  "Und um welche Maßnahmen handelt es sich?"
    
  "Die erste Maßnahme wäre, unsere Verbindungen zu Studentenverbindungen außerhalb Deutschlands abzubrechen."
    
  Auf diese Ankündigung folgte viel Unmut. Die Freimaurerei war traditionell eine internationale Bewegung gewesen, und je mehr Verbindungen eine Loge hatte, desto angesehener war sie.
    
  "Bitte seid still. Wenn mein Bruder fertig ist, kann jeder seine eigene Meinung zu diesem Thema äußern."
    
  "Die zweite Möglichkeit wäre, unsere Gesellschaft umzubenennen. Andere Logen in Berlin haben ihren Namen in Orden des Deutschen Ordens geändert."
    
  Dies löste eine neue Welle der Unzufriedenheit aus. Die Umbenennung des Ordens war schlichtweg inakzeptabel.
    
  "Und schließlich denke ich, dass wir jene Brüder, die unser Überleben gefährdet haben, ehrenvoll aus der Loge entlassen sollten."
    
  "Und was für Brüder wären sie?"
    
  Furst räusperte sich, bevor er fortfuhr, sichtlich unbehaglich.
    
  "Jüdische Brüder, natürlich."
    
  Paul sprang von seinem Platz auf. Er wollte das Wort ergreifen, doch die Kirche versank in einem Tumult aus Rufen und Flüchen. Das Chaos dauerte mehrere Minuten an, in denen jeder durcheinanderreden wollte. Keller schlug mehrmals mit seinem Streitkolben, den er nur selten benutzte, auf sein Rednerpult.
    
  "Gebt Befehle, gebt Befehle! Wir sprechen der Reihe nach, sonst muss ich die Sitzung auflösen!"
    
  Die Gemüter beruhigten sich etwas, und Redner ergriffen das Wort, um den Antrag zu unterstützen oder abzulehnen. Paul zählte die Abstimmenden und war überrascht, ein Patt zwischen den beiden Positionen festzustellen. Er versuchte, einen schlüssigen Beitrag zu verfassen. Er war fest entschlossen, zum Ausdruck zu bringen, wie unfair er die gesamte Debatte empfand.
    
  Schließlich richtete Keller seine Keule auf ihn. Paul stand auf.
    
  "Brüder, dies ist das erste Mal, dass ich in dieser Loge spreche. Es könnte durchaus das letzte Mal sein. Ich bin erstaunt über die Diskussion, die der Vorschlag von Bruder Ersten ausgelöst hat, und was mich am meisten erstaunt, ist nicht Ihre Meinung zu diesem Thema, sondern die Tatsache, dass wir überhaupt darüber diskutieren mussten."
    
  Es war ein Murmeln der Zustimmung zu hören.
    
  "Ich bin kein Jude. Arierblut fließt in meinen Adern, zumindest glaube ich das. Die Wahrheit ist, ich bin mir nicht ganz sicher, wer ich bin. Ich kam in diese ehrwürdige Institution, in die Fußstapfen meines Vaters tretend, mit keinem anderen Ziel, als mehr über mich selbst zu erfahren. Bestimmte Umstände in meinem Leben hielten mich lange von Ihnen fern, aber als ich zurückkehrte, hätte ich mir nie vorstellen können, dass alles so anders sein würde. Innerhalb dieser Mauern streben wir angeblich nach Erleuchtung. Können Sie mir also, Brüder, erklären, warum diese Institution Menschen aufgrund von etwas anderem als ihren Taten, ob richtig oder falsch, diskriminiert?"
    
  Erneut brach Jubel aus. Paul sah, wie First von seinem Platz aufstand.
    
  "Bruder, du warst lange weg und weißt gar nicht, was in Deutschland los ist!"
    
  "Du hast Recht. Wir durchleben schwere Zeiten. Aber gerade in Zeiten wie diesen müssen wir fest an dem festhalten, woran wir glauben."
    
  "Das Überleben der Lodge steht auf dem Spiel!"
    
  "Ja, aber um welchen Preis?"
    
  "Wenn es sein muss..."
    
  "Bruder, erstens, wenn du die Wüste durchqueren würdest und sähest, dass die Sonne immer heißer wird und deine Feldflasche leerer wird, würdest du hineinpinkeln, um zu verhindern, dass sie ausläuft?"
    
  Das Tempeldach erbebte vor Gelächter. Fürst verlor den Wettkampf und kochte vor Wut.
    
  "Und zu glauben, dass dies die Worte des verstoßenen Sohnes eines Deserteurs sind!", rief er wütend aus.
    
  Paul versuchte, den Schlag so gut wie möglich abzufedern und klammerte sich so fest an die Stuhllehne vor ihm, bis seine Knöchel weiß wurden.
    
  Ich muss mich beherrschen, sonst gewinnt er.
    
  "Hochverehrter Großmeister, werden Sie zulassen, dass Bruder Ferst meine Aussage dem Kreuzfeuer aussetzt?"
    
  "Bruder Rainer hat Recht. Haltet euch an die Debattenregeln."
    
  Furst nickte mit einem breiten Lächeln, das Paul misstrauisch machte.
    
  "Das freut mich. In diesem Fall bitte ich Sie, Bruder Rainer das Wort zu erteilen."
    
  "Was? Aus welchem Grund?", fragte Paul und versuchte, nicht zu schreien.
    
  "Bestreiten Sie, nur wenige Monate vor Ihrem Verschwinden an Logensitzungen teilgenommen zu haben?"
    
  Paul geriet in Aufregung.
    
  "Nein, ich leugne es nicht, aber..."
    
  "Sie haben also den Rang eines Gesellen noch nicht erreicht und sind daher nicht berechtigt, Beiträge zu den Treffen zu leisten", unterbrach First.
    
  "Ich war über elf Jahre lang Lehrling. Der Grad des Gesellen wird nach drei Jahren automatisch verliehen."
    
  "Ja, aber nur, wenn du regelmäßig zur Arbeit kommst. Andernfalls musst du von der Mehrheit der Brüder bestätigt werden. Daher hast du kein Recht, dich in dieser Debatte zu Wort zu melden", sagte First, der seine Genugtuung nicht verbergen konnte.
    
  Paul suchte nach Unterstützung. Alle starrten ihn schweigend an. Selbst Keller, der ihm noch vor wenigen Augenblicken so bereitwillig geholfen hatte, war ruhig.
    
  "Sehr gut. Wenn das die vorherrschende Stimmung ist, trete ich aus der Loge aus."
    
  Paul stand auf, verließ die Bank und ging zu Kellers Rednerpult. Er zog seine Schürze und seine Handschuhe aus und warf sie dem Großmeister zu Füßen.
    
  "Ich bin nicht mehr stolz auf diese Symbole."
    
  "Ich auch!"
    
  Einer der Anwesenden, ein Mann namens Joachim Hirsch, stand auf. Hirsch war Jude, erinnerte sich Paul. Auch er warf die Symbole zu Fuß vor das Lesepult.
    
  "Ich werde nicht auf eine Abstimmung darüber warten, ob ich aus der Loge ausgeschlossen werden soll, der ich seit zwanzig Jahren angehöre. Ich gehe lieber", sagte er und stand neben Paul.
    
  Als sie das hörten, erhoben sich viele andere. Die meisten von ihnen waren Juden, obwohl, wie Paulus zufrieden feststellte, auch einige Nichtjuden anwesend waren, die offensichtlich genauso empört waren wie er. Innerhalb einer Minute hatten sich mehr als dreißig Schürzen auf dem karierten Marmorboden angesammelt. Es herrschte Chaos.
    
  "Jetzt reicht"s!", rief Keller und schlug mit seinem Streitkolben auf den Boden, in dem vergeblichen Versuch, gehört zu werden. "Wenn ich könnte, würde ich diese Schürze auch abwerfen. Lasst uns diejenigen respektieren, die diese Entscheidung getroffen haben."
    
  Die Gruppe der Abtrünnigen begann, den Tempel zu verlassen. Paul gehörte zu den Letzten, die gingen, und er ging erhobenen Hauptes, obwohl es ihn betrübte. Die Mitgliedschaft in der Loge war nie seine besondere Leidenschaft gewesen, doch es schmerzte ihn, eine so Gruppe intelligenter, kultivierter Menschen durch Angst und Intoleranz gespalten zu sehen.
    
  Er ging schweigend in Richtung Lobby. Einige der Dissidenten hatten sich in Gruppen versammelt, die meisten jedoch hatten ihre Hüte abgenommen und gingen in Zweier- oder Dreiergruppen nach draußen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Paul wollte es ihnen gleichtun, als er eine Berührung an seinem Rücken spürte.
    
  "Gestatten Sie, dass ich Ihnen die Hand schüttle." Es war Hirsch, der Mann, der Paul seine Schürze hinterhergeworfen hatte. "Vielen Dank, dass Sie mit gutem Beispiel vorangegangen sind. Hätten Sie das nicht getan, hätte ich mich selbst nicht getraut, es zu tun."
    
  "Du brauchst mir nicht zu danken. Ich konnte die Ungerechtigkeit des Ganzen einfach nicht mehr ertragen."
    
  "Wenn doch nur mehr Menschen so wären wie du, Rainer, dann wäre Deutschland nicht in diesem Schlamassel. Hoffen wir einfach, dass es nur ein böser Wind ist."
    
  "Die Leute haben Angst", sagte Paul und zuckte mit den Achseln.
    
  "Das überrascht mich nicht. Vor drei oder vier Wochen erhielt die Gestapo die Befugnis, außergerichtlich zu handeln."
    
  "Wie meinst du das?"
    
  "Sie können jeden festnehmen, selbst wegen so etwas Simples wie ‚verdächtigem Gehen"."
    
  "Aber das ist doch lächerlich!", rief Paul erstaunt aus.
    
  "Das ist noch nicht alles", sagte ein anderer der Männer, der gerade gehen wollte. "Die Familie wird in ein paar Tagen benachrichtigt."
    
  "Oder sie werden zur Identifizierung der Leiche hinzugezogen", fügte ein Dritter düster hinzu. "Das ist bereits jemandem aus meinem Bekanntenkreis passiert, und die Liste wird immer länger. Krickstein, Cohen, Tannenbaum..."
    
  Als er diesen Namen hörte, stockte Paul der Atem.
    
  "Moment mal, haben Sie Tannenbaum gesagt? Welcher Tannenbaum?"
    
  "Joseph Tannenbaum, Industrieller. Kennen Sie ihn?"
    
  "So etwas in der Art. Man könnte sagen, ich bin... ein Freund der Familie."
    
  "Dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Joseph Tannenbaum verstorben ist. Die Beerdigung findet morgen früh statt."
    
    
  50
    
    
  "Regen sollte bei Beerdigungen Pflicht sein", sagte Manfred.
    
  Alice antwortete nicht. Sie nahm einfach seine Hand und drückte sie.
    
  Er hatte recht, dachte sie und blickte sich um. Die weißen Grabsteine glänzten in der Morgensonne und schufen eine Atmosphäre der Ruhe, die in völligem Widerspruch zu ihrer Stimmung stand.
    
  Alice, die so wenig über ihre eigenen Gefühle wusste und so oft dieser emotionalen Blindheit zum Opfer fiel, verstand an diesem Tag nicht recht, was sie fühlte. Seit er sie vor fünfzehn Jahren aus Ohio zurückgerufen hatte, hasste sie ihren Vater zutiefst. Im Laufe der Zeit hatte ihr Hass viele Facetten angenommen. Anfangs war er von dem Groll eines wütenden Teenagers durchzogen, dem ständig widersprochen wurde. Daraus entwickelte sich Verachtung, als sie ihren Vater in all seiner Selbstsucht und Gier sah, einen Geschäftsmann, der bereit war, alles für seinen Erfolg zu tun. Schließlich gab es noch den ausweichenden, ängstlichen Hass einer Frau, die sich davor fürchtete, abhängig zu werden.
    
  Seitdem sie in jener schicksalhaften Nacht des Jahres 1923 von den Handlangern ihres Vaters gefangen genommen worden war, hatte sich Alices Hass auf ihn in eine kalte, reinste Feindseligkeit verwandelt. Emotional erschöpft von der Trennung von Paul, hatte Alice ihre Beziehung zu ihm jeglicher Leidenschaft beraubt und sie nur noch rational betrachtet. Er - es war besser, ihn "er" zu nennen; das tat weniger weh - war krank. Er verstand nicht, dass sie ihr Leben selbstbestimmt leben sollte. Er wollte sie mit jemandem verheiraten, den sie verachtete.
    
  Er wollte das Kind töten, das sie in ihrem Bauch trug.
    
  Alice musste mit allen Mitteln dagegen ankämpfen. Ihr Vater schlug sie, beschimpfte sie als dreckige Hure und noch Schlimmeres.
    
  "Das wirst du nicht bekommen. Der Baron wird niemals eine schwangere Hure als Braut für seinen Sohn akzeptieren."
    
  Umso besser, dachte Alice. Sie zog sich in sich selbst zurück, weigerte sich kategorisch, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, und teilte ihren schockierten Dienern mit, dass sie schwanger sei.
    
  "Ich habe Zeugen. Wenn du mich zur Weißglut bringst, verpfeife ich dich, du Mistkerl", sagte sie zu ihm mit einer Gelassenheit und Zuversicht, die sie noch nie zuvor empfunden hatte.
    
  "Gott sei Dank hat deine Mutter es nicht mehr erlebt, ihre Tochter in einem solchen Zustand zu sehen."
    
  "Wie bitte? Hat ihr Vater sie für den Höchstpreis verkauft?"
    
  Joseph sah sich gezwungen, zum Anwesen der Schröders zu gehen und dem Baron die ganze Wahrheit zu beichten. Mit einem Ausdruck gespielter Trauer teilte ihm der Baron mit, dass der Vertrag unter diesen Umständen selbstverständlich annulliert werden müsse.
    
  Alice sprach nach jenem schicksalhaften Tag, an dem Joseph, voller Wut und Demütigung, von einem Treffen mit seiner zukünftigen Schwiegermutter zurückkehrte, nie wieder mit ihm. Eine Stunde nach seiner Rückkehr kam Doris, die Haushälterin, und sagte ihr, sie müsse sofort gehen.
    
  "Der Besitzer erlaubt Ihnen, einen Koffer mit Kleidung mitzunehmen, falls Sie welche benötigen." Der scharfe Tonfall ihrer Stimme ließ keinen Zweifel an ihren Gefühlen in dieser Angelegenheit.
    
  "Richten Sie dem Herrn bitte meinen herzlichen Dank aus, aber ich brauche nichts von ihm", sagte Alice.
    
  Sie ging zur Tür, drehte aber noch einmal um, bevor sie ging.
    
  "Übrigens, Doris ... Versuch nicht, den Koffer zu stehlen und zu behaupten, ich hätte ihn mitgenommen, so wie du es mit dem Geld gemacht hast, das mein Vater auf dem Waschbecken liegen gelassen hat."
    
  Ihre Worte durchbrachen die arrogante Haltung der Haushälterin. Sie errötete und begann zu würgen.
    
  "Hören Sie mir jetzt zu, ich kann Ihnen versichern, dass ich..."
    
  Die junge Frau ging hinaus und knallte die Tür zu, bevor sie ihren Satz beenden konnte.
    
  Obwohl sie auf sich allein gestellt war, trotz allem, was ihr widerfahren war, trotz der enormen Verantwortung, die in ihr wuchs, brachte der empörte Ausdruck in Doris' Gesicht Alice zum Lächeln. Das erste Lächeln, seit Paul sie verlassen hatte.
    
  Oder war ich es, die ihn dazu gebracht hat, mich zu verlassen?
    
  Die nächsten elf Jahre verbrachte sie damit, eine Antwort auf diese Frage zu finden.
    
  Als Paul auf dem von Bäumen gesäumten Weg zum Friedhof erschien, beantwortete sich die Frage von selbst. Alice beobachtete ihn, wie er näher kam und dann beiseite trat, um zu warten, bis der Priester das Totengebet gesprochen hatte.
    
  Alice vergaß völlig die zwanzig Menschen, die den Sarg umringten - einen Holzkasten, leer bis auf die Urne mit Josephs Asche. Sie vergaß, dass die Asche mit der Post gekommen war, zusammen mit einer Nachricht der Gestapo, in der stand, ihr Vater sei wegen Aufruhrs verhaftet worden und bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen. Sie vergaß, dass er unter einem Kreuz begraben worden war, nicht unter einem Stern, weil er als Katholik in einem Land von Katholiken gestorben war, die für Hitler gestimmt hatten. Sie vergaß ihre eigene Verwirrung und Angst, denn inmitten all dessen erschien ihr nun eine Gewissheit wie ein Leuchtfeuer im Sturm.
    
  Es war meine Schuld. Ich war es, die dich von mir gestoßen hat, Paul. Die unseren Sohn vor dir versteckt und dir deine eigene Entscheidung verwehrt hat. Und verdammt noch mal, ich liebe dich immer noch genauso wie damals, als ich dich vor fünfzehn Jahren zum ersten Mal sah, mit dieser lächerlichen Kellnerschürze.
    
  Sie wollte zu ihm rennen, aber sie dachte, wenn sie es täte, könnte sie ihn für immer verlieren. Und obwohl sie seit ihrer Mutterschaft sehr viel reifer geworden war, war sie immer noch von Stolz gefesselt.
    
  Ich muss mich ihm behutsam nähern. Herausfinden, wo er war, was er getan hat. Ob er überhaupt noch etwas spürt...
    
  Die Trauerfeier war beendet. Sie und Manfred nahmen die Beileidsbekundungen der Gäste entgegen. Paul stand als Letzter in der Reihe und näherte sich ihnen mit vorsichtiger Miene.
    
  "Guten Morgen. Danke fürs Kommen", sagte Manfred und reichte ihm die Hand, ohne ihn zu erkennen.
    
  "Ich teile deine Trauer", antwortete Paul.
    
  "Kanntest du meinen Vater?"
    
  "Ein bisschen. Mein Name ist Paul Rainer."
    
  Manfred ließ Pauls Hand los, als hätte sie ihn verbrannt.
    
  "Was machst du hier? Glaubst du, du kannst einfach so wieder in ihr Leben treten? Nach elf Jahren des Schweigens?"
    
  "Ich habe Dutzende von Briefen geschrieben und auf keinen einzigen eine Antwort erhalten", sagte Paul aufgeregt.
    
  "Das ändert nichts an dem, was du getan hast."
    
  "Schon gut, Manfred", sagte Alice und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Du gehst nach Hause."
    
  "Bist du sicher?", fragte er und sah Paul an.
    
  "Ja".
    
  "Okay. Ich gehe nach Hause und schaue, ob..."
    
  "Wunderbar", unterbrach sie ihn, bevor er den Namen aussprechen konnte. "Ich bin gleich da."
    
  Manfred warf Paul einen letzten wütenden Blick zu, setzte seinen Hut auf und ging. Alice bog in den Mittelweg des Friedhofs ein und folgte Paul schweigend. Ihr Blickkontakt war kurz, aber intensiv und schmerzhaft, weshalb sie beschloss, ihn vorerst nicht anzusehen.
    
  "Also, du bist wieder da."
    
  "Ich bin letzte Woche einer Spur nachgegangen und zurückgekommen, aber es hat sich alles zum Schlechten gewendet. Gestern bin ich jemandem begegnet, den Ihr Vater kannte, und er hat mir von seinem Tod erzählt. Ich hoffe, Sie konnten ihm im Laufe der Jahre näherkommen."
    
  "Manchmal ist Distanz das Beste."
    
  "Ich verstehe".
    
  Warum sollte ich so etwas sagen? Er könnte denken, ich spreche von ihm.
    
  "Und wie war deine Reise, Paul? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?"
    
  "NEIN".
    
  Sag mir, dass es falsch war, zu gehen. Sag mir, dass es falsch war, und ich werde meinen Fehler eingestehen, und du wirst deinen eingestehen, und dann werde ich wieder in deine Arme fallen. Sag es!
    
  "Ich habe mich endgültig dazu entschlossen, aufzugeben", fuhr Paul fort. "Ich bin in einer Sackgasse gelandet. Ich habe keine Familie, kein Geld, keinen Beruf, ich habe nicht einmal ein Land, in das ich zurückkehren könnte, denn es ist nicht Deutschland."
    
  Sie blieb stehen und drehte sich um, um ihn zum ersten Mal anzusehen. Sie war überrascht, dass sich sein Gesicht kaum verändert hatte. Seine Züge waren streng, tiefe Ringe lagen unter seinen Augen, und er hatte etwas zugenommen, aber er war immer noch Paul. Ihr Paul.
    
  "Hast du mir wirklich geschrieben?"
    
  "Viele Male. Ich habe Briefe sowohl an Ihre Adresse in der Pension als auch an das Haus Ihres Vaters geschickt."
    
  "Also ... was wirst du tun?", fragte sie. Ihre Lippen und ihre Stimme zitterten, aber sie konnte es nicht unterdrücken. Vielleicht sendete ihr Körper eine Botschaft, die sie nicht auszusprechen wagte. Als Paul antwortete, schwang auch in seiner Stimme eine gewisse Emotion mit.
    
  "Ich hatte überlegt, nach Afrika zurückzukehren, Alice. Aber als ich hörte, was deinem Vater zugestoßen ist, dachte ich..."
    
  "Was?"
    
  "Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich würde gerne in einem anderen Rahmen und mit mehr Zeit mit Ihnen sprechen... um Ihnen zu erzählen, was im Laufe der Jahre geschehen ist."
    
  "Das ist eine schlechte Idee", sagte sie gezwungen.
    
  "Alice, ich weiß, ich habe nicht das Recht, jederzeit wieder in dein Leben zu treten. Ich... Damals zu gehen war ein großer Fehler - ein riesiger Fehler - und ich schäme mich dafür. Ich habe eine Weile gebraucht, um das zu begreifen, und ich bitte dich nur, dich eines Tages auf einen Kaffee zusammenzusetzen."
    
  Was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass du einen Sohn hast, Paul? Einen wunderschönen Jungen mit himmelblauen Augen wie deinen, blonden Haaren und der Sturheit seines Vaters? Was würdest du tun, Paul? Was, wenn ich dich in unser Leben lasse und es dann nicht klappt? Egal wie sehr ich dich wollte, egal wie sehr sich mein Körper und meine Seele nach dir sehnten, ich kann nicht zulassen, dass du ihm weh tust.
    
  "Ich brauche etwas Zeit, um darüber nachzudenken."
    
  Er lächelte, und kleine Fältchen, die Alice noch nie zuvor gesehen hatte, sammelten sich um seine Augen.
    
  "Ich warte", sagte Paul und reichte ihm einen kleinen Zettel mit seiner Adresse. "Solange du mich brauchst."
    
  Alice nahm den Zettel und ihre Finger berührten sich.
    
  "Okay, Paul. Aber ich kann dir nichts versprechen. Geh jetzt."
    
  Leicht gekränkt von der unzeremoniellen Entlassung, ging Paul, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
    
  Als er den Weg entlang verschwand, betete Alice, dass er sich nicht umdrehen und sehen würde, wie sehr sie zitterte.
    
    
  51
    
    
  "Na, na. Sieht so aus, als ob die Ratte angebissen hat", sagte Jürgen und umklammerte sein Fernglas fest. Von seinem Aussichtspunkt auf dem Hügel, achtzig Meter von Josefs Grab entfernt, konnte er sehen, wie Paul die Reihe entlangging, um den Tannenbaums sein Beileid auszusprechen. Er erkannte ihn sofort. "Habe ich recht, Adolf?"
    
  "Sie hatten Recht, Sir", sagte Eichmann, etwas verlegen über diese Abweichung vom Programm. In den sechs Monaten seiner Zusammenarbeit mit Jürgen war es dem frischgebackenen Baron gelungen, dank seines Titels, seines Charmes und einer Reihe gefälschter Zeugnisse der Loge "Preußisches Schwert" zahlreiche Logen zu infiltrieren. Der Großmeister dieser Loge, ein überzeugter Nationalist und Bekannter Heydrichs, unterstützte die Nazis mit Leib und Seele. Er verlieh Jürgen schamlos den Meistergrad und gab ihm einen Schnellkurs, wie er sich als erfahrener Freimaurer ausgeben konnte. Anschließend verfasste er Empfehlungsschreiben an die Großmeister der humanitären Logen und bat sie um ihre Unterstützung, "um den gegenwärtigen politischen Sturm zu überstehen".
    
  Jürgen besuchte jede Woche eine andere Loge und lernte so die Namen von über dreitausend Mitgliedern. Heydrich war begeistert von den Fortschritten, und auch Eichmann freute sich, denn sein Traum, der grausamen Arbeit in Dachau zu entkommen, rückte näher. Er druckte in seiner Freizeit Postkarten für Heydrich und unternahm gelegentlich Wochenendausflüge mit Jürgen in nahegelegene Städte wie Augsburg, Ingolstadt und Stuttgart. Doch die Besessenheit, die in den letzten Tagen in Jürgen erwacht war, war zutiefst beunruhigend. Der Mann dachte fast an nichts anderes als an diesen Paul Rainer. Er erklärte nicht einmal Rainers Rolle in der Mission, die Heydrich ihnen aufgetragen hatte; er sagte nur, er wolle ihn finden.
    
  "Ich hatte Recht", wiederholte Jürgen, mehr zu sich selbst als zu seiner nervösen Begleiterin. "Sie ist der Schlüssel."
    
  Er justierte die Linsen seines Fernglases. Für Jürgen, der nur ein Auge hatte, war es schwierig zu benutzen, und er musste es gelegentlich absenken. Er bewegte sich leicht, und Alices Bild erschien in seinem Sichtfeld. Sie war sehr schön, reifer als beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte. Er bemerkte, wie ihre schwarze, kurzärmelige Bluse ihre Brüste betonte, und justierte das Fernglas für eine bessere Sicht.
    
  Wenn mein Vater sie doch nur nicht zurückgewiesen hätte! Was für eine schreckliche Demütigung es wäre, wenn diese kleine Schlampe mich heiraten und tun würde, was ich wollte, fantasierte Jürgen. Er hatte eine Erektion und musste seine Hand in die Tasche stecken, um sich unauffällig zu positionieren, damit Eichmann nichts bemerkte.
    
  Wenn ich so darüber nachdenke, ist es so besser. Eine Jüdin zu heiraten, wäre für meine SS-Karriere fatal gewesen. Und so schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe: Paul anlocken und sie kriegen. Die Hure wird es schon bald genug herausfinden.
    
  "Sollen wir wie geplant fortfahren, Herr?", fragte Eichmann.
    
  "Ja, Adolf. Folge ihm. Ich möchte wissen, wo er sich aufhält."
    
  "Und dann? Übergeben wir ihn der Gestapo?"
    
  Bei Alices Vater war alles so einfach. Ein Anruf bei einem bekannten Obersturmführer, ein zehnminütiges Gespräch, und vier Männer hatten den unverschämten Juden ohne jede Erklärung aus seiner Wohnung am Prinzregentenplatz weggebracht. Der Plan ging perfekt auf. Nun kam Paul zur Beerdigung, genau wie Jürgen es erwartet hatte.
    
  Es wäre so einfach, alles noch einmal zu tun: herausfinden, wo er schlief, eine Patrouille aussenden und dann in die Keller des Wittelsbach-Palastes, dem Gestapo-Hauptquartier in München, vordringen. Die gepolsterte Zelle betreten - gepolstert nicht, um Selbstverletzungen zu verhindern, sondern um Schreie zu dämpfen -, sich vor ihn setzen und ihm beim Sterben zusehen. Vielleicht würde er sogar eine Jüdin mitbringen und sie direkt vor Pauls Augen vergewaltigen, sich an ihr ergötzen, während Paul verzweifelt um seine Befreiung kämpfte.
    
  Aber er musste an seine Karriere denken. Er wollte nicht, dass die Leute über seine Grausamkeit sprachen, besonders jetzt, wo er immer berühmter wurde.
    
  Andererseits waren sein Titel und seine Leistungen so bedeutend, dass er kurz vor einer Beförderung und einer Reise nach Berlin stand, um dort Seite an Seite mit Heydrich zu arbeiten.
    
  Und dann war da noch sein Wunsch, Paul persönlich gegenüberzutreten. Dem kleinen Mistkerl all den Schmerz heimzuzahlen, den er ihm zugefügt hatte, ohne sich hinter dem Staatsapparat zu verstecken.
    
  Es muss einen besseren Weg geben.
    
  Plötzlich begriff er, was er tun wollte, und seine Lippen verzogen sich zu einem grausamen Lächeln.
    
  "Entschuldigen Sie, Sir", beharrte Eichmann, der glaubte, sich verhört zu haben. "Ich habe gefragt, ob wir Rainer ausliefern würden."
    
  "Nein, Adolf. Das erfordert einen persönlicheren Ansatz."
    
    
  52
    
    
  "Ich bin zu Hause!"
    
  Als Alice vom Friedhof zurückkam, betrat sie die kleine Wohnung und wappnete sich für Julians üblichen, heftigen Angriff. Doch diesmal tauchte er nicht auf.
    
  "Hallo?", rief sie verwirrt.
    
  "Wir sind im Studio, Mama!"
    
  Alice ging den schmalen Flur entlang. Es gab nur drei Schlafzimmer. Ihres, das kleinste, war so karg wie eine Abstellkammer. Manfreds Büro war fast genauso groß, nur dass das ihres Bruders immer vollgestopft war mit technischen Handbüchern, vereinzelten englischen Büchern und einem Stapel Notizen aus seinem Ingenieurstudium, das er im Vorjahr abgeschlossen hatte. Manfred wohnte bei ihnen, seit er mit dem Studium begonnen hatte, als sich seine Streitigkeiten mit seinem Vater verschärft hatten. Es war angeblich nur eine vorübergehende Lösung, aber sie waren schon so lange zusammen, dass Alice sich nicht vorstellen konnte, ihre Karriere als Fotografin und die Betreuung von Julian ohne seine Hilfe unter einen Hut zu bringen. Auch er hatte kaum Aufstiegschancen, denn trotz seines hervorragenden Abschlusses endeten Vorstellungsgespräche immer mit dem gleichen Satz: "Schade, dass Sie Jude sind." Das einzige Einkommen der Familie stammte von Alice, die ihre Fotos verkaufte, und die Miete zu bezahlen, wurde immer schwieriger.
    
  Das "Studio" entsprach dem Wohnzimmer eines normalen Hauses. Alices Lernmaterialien hatten es vollständig ersetzt. Das Fenster war mit schwarzen Laken verhängt, und die einzelne Glühbirne leuchtete rot.
    
  Alice klopfte an die Tür.
    
  "Komm rein, Mama! Wir sind gleich fertig!"
    
  Der Tisch war mit Entwicklungsschalen übersät. Ein halbes Dutzend Reihen Wäscheklammern erstreckten sich von Wand zu Wand und hielten die zum Trocknen ausgelegten Fotos. Alice rannte hinüber, um Julian und Manfred zu küssen.
    
  "Alles in Ordnung?", fragte ihr Bruder.
    
  Sie deutete an, dass sie später sprechen würden. Sie sagte Julian nicht, wohin sie gingen, als sie ihn bei einem Nachbarn zurückließen. Der Junge hatte seinen Großvater zu Lebzeiten nie kennenlernen dürfen, und dessen Tod hätte ihm kein Erbe eingebracht. Tatsächlich war Josefs gesamtes Vermögen, das sich in den letzten Jahren durch den Rückgang seines Geschäfts stark verringert hatte, einer Kulturstiftung gespendet worden.
    
  "Das sind die letzten Wünsche eines Mannes, der einst sagte, er tue alles für seine Familie", dachte Alice, während sie dem Anwalt ihres Vaters zuhörte. "Nun, ich habe nicht die Absicht, Julian vom Tod seines Großvaters zu erzählen. Wenigstens ersparen wir ihm diese Peinlichkeit."
    
  "Was ist das? Ich kann mich nicht erinnern, diese Fotos gemacht zu haben."
    
  "Sieht so aus, als hätte Julian deine alte Kodak benutzt, Schwester."
    
  "Wirklich? Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass der Bolzen klemmte."
    
  "Onkel Manfred hat das für mich geregelt", erwiderte Julian mit einem entschuldigenden Lächeln.
    
  "Gossip Girl!", sagte Manfred und gab ihm einen spielerischen Schubs. "Tja, so war das eben, oder lass ihn mit deiner Leica machen, was er will."
    
  "Ich würde dich lebendig häuten, Manfred", sagte Alice und tat gereizt. Kein Fotograf freut sich über die kleinen, klebrigen Finger eines Kindes in der Nähe seiner Kamera, aber weder sie noch ihr Bruder konnten Julian etwas abschlagen. Seit er sprechen konnte, hatte er immer seinen Willen bekommen, aber er war trotzdem der sensibelste und liebevollste der drei.
    
  Alice ging zu den Fotos und sah nach, ob die ältesten schon fertig zum Entwickeln waren. Sie nahm eines in die Hand und hielt es hoch. Es war eine Nahaufnahme von Manfreds Schreibtischlampe, daneben lag ein Stapel Bücher. Das Foto war außergewöhnlich gut gelungen; der Lichtkegel beleuchtete die Buchtitel zur Hälfte und sorgte für einen hervorragenden Kontrast. Das Bild war leicht unscharf, zweifellos, weil Julian den Auslöser versehentlich gedrückt hatte. Ein Anfängerfehler.
    
  Und er ist erst zehn. Wenn er groß ist, wird er ein großartiger Fotograf sein, dachte sie stolz.
    
  Sie warf einen Blick auf ihren Sohn, der sie aufmerksam beobachtete und unbedingt ihre Meinung hören wollte. Alice tat so, als bemerke sie nichts.
    
  "Was denkst du, Mama?"
    
  "Worüber?"
    
  "Zum Foto."
    
  "Es ist etwas verwackelt. Aber du hast Blende und Schärfentiefe sehr gut gewählt. Wenn du das nächste Mal ein Stillleben ohne viel Licht fotografieren möchtest, benutze ein Stativ."
    
  "Ja, Mama", sagte Julian und grinste über beide Ohren.
    
  Seit Julians Geburt war ihr Charakter deutlich milder geworden. Sie wuschelte ihm durch die blonden Haare, was ihn immer zum Lachen brachte.
    
  "Also, Julian, was würdest du zu einem Picknick im Park mit Onkel Manfred sagen?"
    
  "Heute? Würdest du mir die Kodak ausleihen?"
    
  "Wenn du versprichst, vorsichtig zu sein", sagte Alice resigniert.
    
  "Natürlich mache ich das! Parken, parken!"
    
  "Aber zuerst geh auf dein Zimmer und zieh dich um."
    
  Julian rannte hinaus; Manfred blieb zurück und beobachtete schweigend seine Schwester. Im roten Licht, das ihren Gesichtsausdruck verdunkelte, konnte er nicht erkennen, was sie dachte. Alice zog derweil Pauls Zettel aus der Tasche und starrte ihn an, als könnten ein paar Worte den Mann selbst verändern.
    
  "Hat er dir seine Adresse gegeben?", fragte Manfred und las über ihre Schulter. "Und als ob das nicht schon genug wäre, ist es auch noch eine Pension. Bitte ..."
    
  "Er meint es vielleicht gut, Manfred", sagte sie verteidigend.
    
  "Ich verstehe dich nicht, kleine Schwester. Du hast jahrelang kein Wort von ihm gehört, obwohl du wusstest, dass er tot oder Schlimmeres ist. Und jetzt taucht er plötzlich wieder auf ..."
    
  "Du weißt, was ich von ihm halte."
    
  "Das hättest du dir vorher überlegen sollen."
    
  Ihr Gesicht war verzerrt.
    
  Danke dafür, Manfred. Als ob ich es nicht schon genug bereuen würde.
    
  "Es tut mir leid", sagte Manfred, als er merkte, dass er sie verärgert hatte. Er klopfte ihr sanft auf die Schulter. "So meinte ich das nicht. Du kannst tun, was du willst. Ich möchte nur nicht, dass du verletzt wirst."
    
  "Ich muss es versuchen."
    
  Einen Moment lang herrschte Stille. Sie konnten hören, wie im Zimmer des Jungen Gegenstände auf den Boden geworfen wurden.
    
  "Hast du dir schon überlegt, wie du es Julian sagen wirst?"
    
  "Ich habe keine Ahnung. Ich denke ein bisschen nach."
    
  "Was soll das heißen, ‚nach und nach", Alice? Könntest du ihm nicht zuerst das Bein zeigen und sagen: ‚Das ist das Bein deines Vaters"? Und am nächsten Tag den Arm? Hör zu, du musst alles auf einmal tun; du musst zugeben, dass du ihn sein ganzes Leben lang belogen hast. Niemand hat gesagt, dass es nicht schwer wird."
    
  "Ich weiß", sagte sie nachdenklich.
    
  Ein weiteres Geräusch, lauter als das vorherige, kam von hinter der Wand.
    
  "Ich bin bereit!", rief Julian von der anderen Seite der Tür.
    
  "Geht ihr beiden schon mal vor", sagte Alice. "Ich mache noch ein paar Sandwiches, und wir treffen uns in einer halben Stunde am Brunnen."
    
  Nachdem sie gegangen waren, versuchte Alice, etwas Ordnung in ihre Gedanken und das Chaos in Julians Zimmer zu bringen. Sie gab auf, als ihr klar wurde, dass sie Socken in verschiedenen Farben zusammenstellte.
    
  Sie betrat die kleine Küche und füllte ihren Korb mit Obst, Käse, Marmeladenbroten und einer Flasche Saft. Sie überlegte gerade, ob sie sich ein oder zwei Bier holen sollte, als es an der Tür klingelte.
    
  Sie müssen etwas vergessen haben, dachte sie. So ist es besser: Wir können alle zusammen gehen.
    
  Sie öffnete die Haustür.
    
  "Du bist wirklich so vergesslich..."
    
  Das letzte Wort klang wie ein Seufzer. Jeder hätte beim Anblick einer SS-Uniform genauso reagiert.
    
  Doch Alices Angst hatte noch eine andere Dimension: Sie erkannte den Mann, der das Kleidungsstück trug.
    
  "Na, hast du mich vermisst, meine jüdische Hure?", sagte Jürgen mit einem Lächeln.
    
  Alice öffnete gerade noch rechtzeitig die Augen, um Jürgens erhobene Faust zu sehen, bereit zum Schlag. Sie hatte keine Zeit, sich zu ducken oder aus der Tür zu flüchten. Der Schlag traf sie mitten an der Schläfe und warf sie zu Boden. Sie versuchte aufzustehen und Jürgen ins Knie zu treten, konnte es aber nicht lange halten. Er riss ihren Kopf an den Haaren zurück und knurrte: "Es wäre so einfach, dich zu töten."
    
  "Dann tu es doch, du Mistkerl!", schluchzte Alice und versuchte, sich loszureißen, wobei eine Haarsträhne in seiner Hand hängen blieb. Jürgen schlug ihr in Mund und Magen, und Alice fiel keuchend zu Boden.
    
  "Alles zu seiner Zeit, meine Liebe", sagte er und knöpfte ihren Rock auf.
    
    
  53
    
    
  Als es an seiner Tür klopfte, hielt Paul einen halb aufgegessenen Apfel in der einen und eine Zeitung in der anderen Hand. Er hatte das Essen, das ihm seine Vermieterin gebracht hatte, nicht angerührt, da ihm die Begegnung mit Alice aufgewühlt war. Er zwang sich, den Apfel zu kauen, um sich zu beruhigen.
    
  Als Paul das Geräusch hörte, stand er auf, warf die Zeitung beiseite und zog die Pistole unter seinem Kissen hervor. Er hielt sie hinter dem Rücken und öffnete die Tür. Es war wieder seine Vermieterin.
    
  "Herr Rainer, es sind zwei Personen hier, die Sie sprechen möchten", sagte sie mit besorgter Miene.
    
  Sie trat beiseite. Manfred Tannenbaum stand mitten im Flur und hielt die Hand eines verängstigten Jungen, der sich an einen abgenutzten Fußball wie an einen Rettungsring klammerte. Paul starrte den Jungen an, und sein Herz machte einen Sprung. Dunkelblondes Haar, markante Gesichtszüge, ein Grübchen im Kinn und blaue Augen ... Die Art, wie er Paul ansah, ängstlich, aber seinen Blick nicht ausweichend ...
    
  "Ist das...?", fragte er und hielt inne, um eine Bestätigung zu suchen, die er nicht brauchte, denn sein Herz sagte ihm alles.
    
  Der andere Mann nickte, und zum dritten Mal in Pauls Leben zerbrach in einem Augenblick alles, was er zu wissen glaubte.
    
  "Oh Gott, was habe ich getan?"
    
  Er führte sie schnell hinein.
    
  Manfred, der mit Paul allein sein wollte, sagte zu Julian: "Geh und wasch dir Gesicht und Hände - fahr fort."
    
  "Was ist passiert?", fragte Paul. "Wo ist Alice?"
    
  "Wir wollten ein Picknick machen. Julian und ich gingen voraus, um auf seine Mutter zu warten, aber sie kam nicht, also gingen wir zurück nach Hause. Gerade als wir um die Ecke bogen, sagte uns ein Nachbar, dass ein Mann in SS-Uniform Alice mitgenommen hatte. Wir trauten uns nicht zurückzugehen, falls sie dort auf uns warteten, und ich dachte, dies sei der beste Ort für uns."
    
  Paul bemühte sich, in Julians Gegenwart ruhig zu bleiben, ging zum Sideboard und holte eine kleine Flasche mit goldenem Verschluss aus seinem Koffer. Mit einer Drehung des Handgelenks öffnete er sie und reichte sie Manfred, der einen tiefen Schluck nahm und zu husten begann.
    
  "Nicht so schnell, sonst singst du zu lange..."
    
  "Verdammt, das brennt! Was zum Teufel ist das?"
    
  "Es heißt Krugsle. Es wird von deutschen Kolonisten in Windhoek gebrannt. Die Flasche war ein Geschenk von einem Freund. Ich habe sie für einen besonderen Anlass aufgehoben."
    
  "Danke", sagte Manfred und gab es zurück. "Es tut mir leid, dass Sie es auf diesem Wege erfahren mussten, aber ..."
    
  Julian kam aus dem Badezimmer zurück und setzte sich auf einen Stuhl.
    
  "Bist du mein Vater?", fragte der Junge Paul.
    
  Paul und Manfred waren entsetzt.
    
  "Warum sagst du das, Julian?"
    
  Ohne seinem Onkel zu antworten, ergriff der Junge Pauls Hand und zwang ihn, sich hinzusetzen, sodass sie sich gegenüberstanden. Er fuhr mit den Fingerspitzen über die Gesichtszüge seines Vaters und betrachtete sie eingehend, als ob ein kurzer Blick nicht genügen würde. Paul schloss die Augen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
    
  "Ich bin genau wie du", sagte Julian schließlich.
    
  "Ja, mein Sohn. Du weißt es. Es sieht so aus."
    
  "Kann ich etwas zu essen haben?", fragte der Junge und zeigte auf das Tablett. "Ich habe Hunger."
    
  "Natürlich", sagte Paul und unterdrückte den Impuls, ihn zu umarmen. Er wagte es nicht, ihm zu nahe zu kommen, da er wusste, dass der Junge ebenfalls unter Schock stehen musste.
    
  "Ich muss Herrn Rainer draußen unter vier Augen sprechen. Sie bleiben hier und essen", sagte Manfred.
    
  Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust. "Geh nirgendwo hin. Die Nazis haben Mama mitgenommen, und ich will wissen, wovon du redest."
    
  "Julianisch..."
    
  Paul legte Manfred die Hand auf die Schulter und sah ihn fragend an. Manfred zuckte mit den Achseln.
    
  "Dann sehr gut."
    
  Paul wandte sich dem Jungen zu und versuchte, ein Lächeln zu erzwingen. Der Anblick seines eigenen, kleineren Gesichts erinnerte ihn schmerzlich an seine letzte Nacht in München im Jahr 1923. An die schreckliche, egoistische Entscheidung, die er getroffen hatte: Alice zu verlassen, ohne auch nur zu versuchen zu verstehen, warum sie ihn gebeten hatte, sie zu verlassen, einfach wegzugehen, ohne sich zu wehren. Jetzt ergab alles einen Sinn, und Paul erkannte, welch schweren Fehler er begangen hatte.
    
  Ich lebte mein ganzes Leben ohne Vater und gab ihm und seinen Mördern die Schuld an seiner Abwesenheit. Tausendmal schwor ich, dass ich, sollte ich eines haben, es niemals ohne mich aufwachsen lassen würde.
    
  "Julian, mein Name ist Paul Reiner", sagte er und reichte ihm die Hand.
    
  Der Junge erwiderte den Händedruck.
    
  "Ich weiß. Onkel Manfred hat es mir erzählt."
    
  "Und er hat Ihnen auch gesagt, dass ich nicht wusste, dass ich einen Sohn habe?"
    
  Julian schüttelte stumm den Kopf.
    
  "Alice und ich haben ihm immer gesagt, dass sein Vater tot ist", sagte Manfred und vermied seinen Blick.
    
  Es war zu viel für Paul. Er spürte den Schmerz all der Nächte, in denen er wach gelegen und sich seinen Vater als Helden ausgemalt hatte, nun projiziert auf Julian. Fantasien, die auf Lügen beruhten. Er fragte sich, welche Träume der Junge wohl in den Augenblicken vor dem Einschlafen gehabt haben mochte. Er konnte es nicht mehr ertragen. Er rannte zu seinem Sohn, hob ihn vom Stuhl und umarmte ihn fest. Manfred stand auf, wollte Julian beschützen, hielt aber inne, als er Julian sah, die Fäuste geballt und Tränen in den Augen, wie er seinen Vater umarmte.
    
  "Wo bist du gewesen?"
    
  "Es tut mir leid, Julian. Es tut mir leid."
    
    
  54
    
    
  Als sich ihre Gemüter etwas beruhigt hatten, erzählte Manfred ihnen, dass Alice, sobald Julian alt genug war, nach seinem Vater zu fragen, beschlossen hatte, ihm zu sagen, dass er tot sei. Schließlich hatte man schon lange nichts mehr von Paul gehört.
    
  "Ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung war. Ich war damals erst ein Teenager, aber deine Mutter hat lange und gründlich darüber nachgedacht."
    
  Julian saß da und hörte sich Manfreds Erklärung mit ernster Miene an. Als Manfred geendet hatte, wandte er sich Paul zu, der versuchte, seine lange Abwesenheit zu erklären, obwohl die Geschichte ebenso schwer zu erzählen wie zu glauben war. Doch Julian schien trotz seiner Traurigkeit die Situation zu verstehen und unterbrach seinen Vater nur gelegentlich mit Fragen.
    
  Er ist ein kluger Junge mit Nerven aus Stahl. Seine Welt steht Kopf, und er weint nicht, stampft nicht mit den Füßen oder ruft nach seiner Mutter, wie es viele andere Kinder tun würden.
    
  "Du hast also all die Jahre damit verbracht, denjenigen zu suchen, der deinem Vater wehgetan hat?", fragte der Junge.
    
  Paul nickte. "Ja, aber es war ein Fehler. Ich hätte Alice niemals verlassen dürfen, denn ich liebe sie sehr."
    
  "Ich verstehe. Ich würde überall nach demjenigen suchen, der meiner Familie wehgetan hat", antwortete Julian mit leiser Stimme, die für einen Mann seines Alters ungewöhnlich wirkte.
    
  Das führte sie zurück zu Alice. Manfred erzählte Paul das Wenige, was er über das Verschwinden seiner Schwester wusste.
    
  "Es passiert immer häufiger", sagte er und blickte seinen Neffen aus dem Augenwinkel an. Er wollte nicht ausplaudern, was Joseph Tannenbaum zugestoßen war; der Junge hatte schon genug gelitten. "Niemand unternimmt etwas dagegen."
    
  "Gibt es jemanden, den wir kontaktieren können?"
    
  "Wer?", fragte Manfred und warf verzweifelt die Hände in die Luft. "Sie haben keinen Bericht hinterlassen, keinen Durchsuchungsbefehl, keine Anklagepunkte. Nichts! Nur leere Worte. Und wenn wir beim Gestapo-Hauptquartier auftauchen ... nun, Sie können es sich denken. Wir bräuchten eine ganze Armee von Anwälten und Journalisten, und ich fürchte, selbst das würde nicht reichen. Das ganze Land ist in den Händen dieser Leute, und das Schlimmste ist, dass es niemand bemerkt hat, bis es zu spät war."
    
  Sie unterhielten sich noch lange. Draußen lag die Dämmerung wie ein grauer Schleier über den Straßen Münchens, und die Straßenlaternen gingen an. Erschöpft von den vielen Eindrücken kickte Julian wild mit dem Lederball. Schließlich legte er ihn beiseite und schlief auf der Bettdecke ein. Der Ball rollte zu den Füßen seines Onkels, der ihn aufhob und Paul zeigte.
    
  "Kommt Ihnen das bekannt vor?"
    
  "NEIN".
    
  "Das ist der Ball, mit dem ich dir vor vielen Jahren auf den Kopf geschlagen habe."
    
  Paul lächelte, als er sich an seinen Abstieg die Treppe hinunter und die Kette von Ereignissen erinnerte, die dazu geführt hatten, dass er sich in Alice verliebte.
    
  "Julian existiert nur wegen dieses Balls."
    
  "Das hat meine Schwester gesagt. Als ich alt genug war, um meinen Vater zur Rede zu stellen und den Kontakt zu Alice wiederherzustellen, fragte sie nach dem Ball. Ich musste ihn aus dem Lager holen, und wir schenkten ihn Julian zu seinem fünften Geburtstag. Ich glaube, das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe", erinnerte er sich bitter. "Paul, ich ..."
    
  Er wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Erschrocken bedeutete Paul ihm, leise zu sein, und stand auf, um die Pistole zu holen, die er im Schrank verstaut hatte. Es war wieder der Wohnungsbesitzer.
    
  "Herr Rainer, Sie haben einen Anruf."
    
  Paul und Manfred tauschten neugierige Blicke. Niemand außer Alice wusste, dass Paul dort wohnte.
    
  "Haben sie gesagt, wer sie sind?"
    
  Die Frau zuckte mit den Achseln.
    
  "Sie erwähnten etwas von Fräulein Tannenbaum. Ich habe nichts weiter gefragt."
    
  "Danke, Frau Frink. Geben Sie mir einen Moment, ich hole meine Jacke", sagte Paul und ließ die Tür einen Spalt offen.
    
  "Das könnte ein Trick sein", sagte Manfred und hielt seine Hand fest.
    
  "Ich weiß".
    
  Paul nahm die Pistole in die Hand.
    
  "Ich weiß nicht, wie man das benutzt", sagte Manfred verängstigt.
    
  "Bewahren Sie das bitte für mich auf. Falls ich nicht zurückkomme, schauen Sie in den Koffer. Unter dem Reißverschluss befindet sich eine Klappe, wo Sie etwas Geld finden. Es ist nicht viel, aber es ist alles, was ich habe. Nehmen Sie Julian und verlassen Sie das Land."
    
  Paul folgte seiner Vermieterin die Treppe hinunter. Die Frau war voller Neugier. Der mysteriöse Mieter, der zwei Wochen lang in seinem Zimmer eingeschlossen gewesen war, sorgte nun für Aufsehen und empfing seltsame Besucher und noch seltsamere Anrufe.
    
  "Hier ist es, Herr Rainer", sagte sie zu ihm und deutete auf das Telefon mitten im Flur. "Vielleicht möchten Sie danach alle etwas in der Küche essen. Geht aufs Haus."
    
  "Danke, Frau Frink", sagte Paul und nahm den Hörer ab. "Paul Rainer hier."
    
  "Guten Abend, kleiner Bruder."
    
  Als er hörte, wer es war, zuckte Paul zusammen. Eine innere Stimme sagte ihm, dass Jürgen etwas mit Alices Verschwinden zu tun haben könnte, doch er unterdrückte seine Befürchtungen. Nun war die Zeit fünfzehn Jahre zurückgedreht, zu jener Partynacht, als er allein und schutzlos, umgeben von Jürgens Freunden, stand. Er wollte schreien, doch er musste die Worte mühsam hervorbringen.
    
  "Wo ist sie, Jürgen?", sagte er und ballte die Hand zur Faust.
    
  "Ich habe sie vergewaltigt, Paul. Ich habe ihr wehgetan. Ich habe sie mehrmals sehr hart geschlagen. Jetzt ist sie an einem Ort, aus dem sie nie wieder entkommen kann."
    
  Trotz seiner Wut und seines Schmerzes klammerte sich Paul an einen winzigen Hoffnungsschimmer: Alice lebte.
    
  "Bist du noch da, kleiner Bruder?"
    
  "Ich bring dich um, du Hurensohn."
    
  "Vielleicht. Die Wahrheit ist, dass dies der einzige Ausweg für uns beide ist, nicht wahr? Unser Schicksal hängt seit Jahren an einem seidenen Faden, aber es ist ein sehr dünner Faden - und irgendwann muss einer von uns fallen."
    
  "Was willst du?"
    
  "Ich möchte, dass wir uns treffen."
    
  Es war eine Falle. Es musste eine Falle sein.
    
  "Zuerst möchte ich, dass du Alice freilässt."
    
  "Es tut mir leid, Paul. Das kann ich dir nicht versprechen. Ich möchte, dass wir uns treffen, nur du und ich, an einem ruhigen Ort, wo wir die Sache ein für alle Mal klären können, ohne dass sich jemand einmischt."
    
  "Warum schickt ihr nicht einfach eure Gorillas und macht die Sache endlich erledigt?"
    
  "Glauben Sie nicht, dass mir das nicht in den Sinn gekommen ist. Aber das wäre zu einfach."
    
  "Und was wird mit mir geschehen, wenn ich gehe?"
    
  "Nichts, denn ich werde dich töten. Und falls du wider Erwarten als Einziger noch am Leben bist, wird Alice sterben. Wenn du stirbst, stirbt auch Alice. Egal was passiert, sie wird sterben."
    
  "Dann kannst du in der Hölle verrotten, du Hurensohn."
    
  "Nun, nun, nicht so schnell. Hör zu: ‚Mein lieber Sohn: Es gibt keinen richtigen Weg, diesen Brief zu beginnen. Die Wahrheit ist, dies ist nur einer von mehreren Versuchen, die ich unternommen habe...""
    
  "Was zum Teufel ist das, Jürgen?"
    
  "Ein Brief, fünf Blätter Transparentpapier. Deine Mutter hatte für eine Küchenmagd eine sehr ordentliche Handschrift, weißt du das? Schrecklicher Stil, aber der Inhalt ist äußerst lehrreich. Komm und such mich auf, dann gebe ich es dir."
    
  Paul schlug verzweifelt mit der Stirn gegen die schwarze Wählscheibe seines Handys. Ihm blieb nichts anderes übrig, als aufzugeben.
    
  "Kleiner Bruder... Du hast doch nicht aufgelegt, oder?"
    
  "Nein, Jürgen. Ich bin noch hier."
    
  "Na dann?"
    
  "Du hast gewonnen."
    
  Jürgen stieß ein triumphierendes Kichern aus.
    
  "Vor Ihrer Pension steht ein schwarzer Mercedes. Sagen Sie dem Fahrer, dass ich Sie geschickt habe. Er hat die Anweisung, Ihnen die Schlüssel zu geben und Ihnen meinen Aufenthaltsort mitzuteilen. Kommen Sie allein und unbewaffnet."
    
  "Okay. Und Jürgen..."
    
  "Ja, kleiner Bruder?"
    
  "Sie werden vielleicht feststellen, dass ich nicht so leicht zu töten bin."
    
  Die Leitung war tot. Paul eilte zur Tür und stieß dabei beinahe seine Vermieterin um. Draußen wartete eine Limousine, die in dieser Gegend völlig deplatziert wirkte. Als sie näher kam, stieg ein Chauffeur in Livree aus.
    
  "Ich bin Paul Reiner. Jürgen von Schröder hat mich rufen lassen."
    
  Der Mann öffnete die Tür.
    
  "Nur zu, Sir. Die Schlüssel stecken im Zündschloss."
    
  "Wohin soll ich gehen?"
    
  "Herr Baron hat mir nicht die richtige Adresse gegeben, Sir. Er sagte nur, Sie sollten dorthin gehen, wo er dank Ihnen eine Augenklappe tragen muss. Er meinte, Sie würden es verstehen."
    
    
  MAUREMEISTER
    
  1934
    
    
  Wo der Held triumphiert, wenn er seinen eigenen Tod akzeptiert
    
  Der geheime Handschlag der Freimaurer ist der schwierigste der drei Grade. Er ist gemeinhin als "Löwenklaue" bekannt. Dabei dienen Daumen und kleiner Finger als Griff, während die anderen drei Finger gegen die Innenseite des Handgelenks des anderen Freimaurerbruders gedrückt werden. Früher wurde dies in einer bestimmten Körperhaltung ausgeführt, den sogenannten "Fünf Punkten der Freundschaft": Fuß an Fuß, Knie an Knie, Brust an Brust, Hand auf dem Rücken des anderen und Wangen aneinander. Diese Praxis wurde im 20. Jahrhundert aufgegeben. Der geheime Name für diesen Handschlag lautet MAHABONE und wird in drei Silben geschrieben: MA-HA-BOONE.
    
    
  55
    
    
  Die Reifen quietschten leise, als der Wagen zum Stehen kam. Paul betrachtete die Gasse durch die Windschutzscheibe. Es hatte leicht zu regnen begonnen. In der Dunkelheit wäre sie kaum zu sehen gewesen, hätte nicht der gelbe Lichtkegel einer einzelnen Straßenlaterne geleuchtet.
    
  Ein paar Minuten später stieg Paul endlich aus dem Auto. Vierzehn Jahre waren vergangen, seit er das letzte Mal jene Gasse am Ufer der Isar betreten hatte. Der Geruch war so widerlich wie eh und je: nasser Torf, verrottender Fisch und Feuchtigkeit. Um diese späte Stunde waren seine Schritte das einzige Geräusch, das auf dem Bürgersteig widerhallte.
    
  Er erreichte die Stalltür. Nichts schien sich verändert zu haben. Die abblätternden, dunkelgrünen Flecken auf dem Holz waren vielleicht etwas schlimmer als an den Tagen, als Paul jeden Morgen die Schwelle überschritten hatte. Die Scharniere gaben beim Öffnen immer noch dasselbe schrille Kratzgeräusch von sich, und die Tür klemmte nach wie vor halb, sodass man sie anschieben musste, um sie ganz zu öffnen.
    
  Paul trat ein. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke. Stallungen, ein Lehmboden und ein Kohlewagen...
    
  ...und darauf ist Jürgen mit einer Pistole in der Hand abgebildet.
    
  "Hallo, kleiner Bruder. Mach die Tür zu und heb die Hände hoch."
    
  Jürgen trug nur die schwarze Hose und die Stiefel seiner Uniform. Von der Hüfte aufwärts war er nackt, bis auf eine Augenklappe.
    
  "Wir haben gesagt, keine Schusswaffen", erwiderte Paul und hob vorsichtig die Hände.
    
  "Zieh dein Hemd hoch", sagte Jürgen und richtete seine Waffe auf Paul, der seinen Anweisungen folgte. "Langsam. Genau so - sehr gut. Dreh dich jetzt um. Gut. Sieht so aus, als hättest du dich an die Regeln gehalten, Paul. Also werde ich mich auch daran halten."
    
  Er nahm das Magazin aus der Pistole und legte es auf die hölzerne Trennwand zwischen den Pferdeboxen. Allerdings musste sich noch eine Patrone im Patronenlager befunden haben, und der Lauf war immer noch auf Paul gerichtet.
    
  "Ist dieser Ort noch so, wie du ihn in Erinnerung hast? Ich hoffe es sehr. Das Unternehmen deines Bergmannsfreundes ging vor fünf Jahren pleite, deshalb konnte ich diese Ställe fast geschenkt bekommen. Ich hatte gehofft, dass du eines Tages zurückkommen würdest."
    
  "Wo ist Alice, Jürgen?"
    
  Sein Bruder leckte sich über die Lippen, bevor er antwortete.
    
  "Ah, jüdische Hure. Hast du schon mal von Dachau gehört, Bruder?"
    
  Paul nickte langsam. Über das KZ Dachau wurde nicht viel gesprochen, aber alles, was gesagt wurde, war schlecht.
    
  "Ich bin sicher, dass sie sich dort sehr wohlfühlen wird. Zumindest schien sie recht zufrieden zu sein, als mein Freund Eichmann sie heute Nachmittag dorthin brachte."
    
  "Du bist ein widerliches Schwein, Jürgen."
    
  "Was soll ich sagen? Du weißt nicht, wie man seine Frauen beschützt, Bruder."
    
  Paulus taumelte, als wäre er getroffen worden. Jetzt begriff er die Wahrheit.
    
  "Du hast sie getötet, nicht wahr? Du hast meine Mutter getötet."
    
  "Verdammt, du hast aber lange gebraucht, um das zu kapieren", kicherte Jürgen.
    
  "Ich war bei ihr, bevor sie starb. Sie... sie sagte mir, dass du es nicht warst."
    
  "Was hast du erwartet? Sie hat dich bis zum letzten Atemzug belogen. Aber hier gibt es keine Lügen, Paul", sagte Jürgen und hielt Ilse Rainers Brief hoch. "Hier hast du die ganze Geschichte, von Anfang bis Ende."
    
  "Werden Sie mir das geben?", fragte Paul und blickte ängstlich auf die Blätter Papier.
    
  "Nein. Ich habe es dir doch schon gesagt, du hast absolut keine Chance zu gewinnen. Ich werde dich eigenhändig töten, kleiner Bruder. Aber wenn mich wider Erwarten der Blitz vom Himmel trifft ... nun, dann ist er da."
    
  Jürgen bückte sich und heftete den Brief an einen Nagel, der aus der Wand ragte.
    
  "Zieh Jacke und Hemd aus, Paul."
    
  Paul gehorchte und warf seine Fetzen Kleidung zu Boden. Sein nackter Oberkörper war nicht länger als der eines hageren Teenagers. Kräftige Muskeln zeichneten sich unter seiner dunklen Haut ab, die von kleinen Narben durchzogen war.
    
  "Befriedigt?"
    
  "Na, na ... Sieht so aus, als hätte jemand Vitamine genommen", sagte Jürgen. "Ich frage mich, ob ich dich einfach erschießen und mir den Ärger ersparen sollte."
    
  "Dann tu es doch, Jürgen. Du warst schon immer ein Feigling."
    
  "Denk nicht mal dran, mich so zu nennen, kleiner Bruder."
    
  "Sechs gegen einen? Messer gegen bloße Hände? Wie würdest du das nennen, großer Bruder?"
    
  In einem Anflug von Wut warf Jürgen die Pistole zu Boden und griff nach einem Jagdmesser, das auf dem Fahrersitz des Wagens lag.
    
  "Deins ist da drüben, Paul", sagte er und zeigte auf das andere Ende. "Machen wir"s schnell hinter uns."
    
  Paul ging auf den Karren zu. Vierzehn Jahre zuvor war er dort gewesen und hatte sich gegen eine Bande von Schlägern verteidigt.
    
  Das war mein Boot. Das Boot meines Vaters, angegriffen von Piraten. Jetzt haben sich die Rollen so sehr vertauscht, dass ich nicht mehr weiß, wer der Gute und wer der Böse ist.
    
  Er ging zum Heck des Wagens. Dort fand er ein weiteres Messer mit rotem Griff, identisch mit dem, das sein Bruder hielt. Er hielt es in der rechten Hand, die Klinge nach oben gerichtet, genau wie Gerero es ihm beigebracht hatte. Jürgens Emblem zeigte nach unten und behinderte seine Handbewegungen.
    
  Ich mag jetzt stärker sein, aber er ist viel stärker als ich: Ich muss ihn ermüden, darf mich nicht zu Boden werfen oder gegen die Wagenwände drücken lassen. Nutze seine blinde rechte Seite.
    
  "Wer ist denn jetzt der Feigling, Bruder?", fragte Jürgen und rief ihn herüber.
    
  Paul stützte sich mit der freien Hand am Wagen ab und zog sich hoch. Nun standen sie sich zum ersten Mal seit Jürgens Erblindung auf einem Auge gegenüber.
    
  "Das müssen wir nicht tun, Jürgen. Wir könnten..."
    
  Sein Bruder hatte ihn nicht gehört. Jürgen hob sein Messer und versuchte, Paul ins Gesicht zu schneiden. Er verfehlte ihn nur um Millimeter, als Paul nach rechts auswich. Er wäre beinahe vom Wagen gefallen und musste sich mit einem Bein abfangen, um den Sturz abzubremsen. Er trat aus und traf seinen Bruder am Knöchel. Jürgen taumelte zurück und gab Paul so Zeit, sich wieder aufzurappeln.
    
  Die beiden Männer standen sich nun gegenüber, zwei Schritte voneinander entfernt. Paul verlagerte sein Gewicht auf das linke Bein, eine Geste, die Jürgen als Zeichen deutete, dass er gleich von der anderen Seite zuschlagen würde. Um dem zuvorzukommen, griff Jürgen, wie von Paul erhofft, von links an. Als Jürgens Hand ausholte, duckte sich Paul und schlug nach oben - nicht mit großer Kraft, aber gerade so, dass die Klinge ihn schnitt. Jürgen schrie auf, doch anstatt zurückzuweichen, wie Paul erwartet hatte, schlug er Paul zweimal in die Seite.
    
  Sie traten beide einen Moment zurück.
    
  "Das erste Blut gehört mir. Mal sehen, wessen Blut zuletzt vergossen wird", sagte Jürgen.
    
  Paul reagierte nicht. Die Schläge hatten ihm den Atem geraubt, und er wollte nicht, dass sein Bruder es bemerkte. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fassen, aber er war nicht bereit, sich länger zu quälen. Jürgen stürzte sich auf ihn, das Messer auf Schulterhöhe in einer tödlichen Variante des lächerlichen Hitlergrußes. Im letzten Moment drehte er sich nach links und versetzte Paul einen kurzen, geraden Schnitt in die Brust. Da es kein Entkommen gab, musste Paul vom Karren springen, doch er konnte einen weiteren Schnitt nicht verhindern, der ihn von der linken Brustwarze bis zum Brustbein entstellte.
    
  Als seine Füße den Boden berührten, zwang er sich, den Schmerz zu ignorieren und rollte unter den Karren, um Jürgens Angriff zu entgehen, der bereits hinterhergesprungen war. Er tauchte auf der anderen Seite wieder auf und versuchte sofort, zurück auf den Karren zu klettern, doch Jürgen hatte seinen Zug vorausgesehen und war selbst zurückgekehrt. Nun rannte er auf Paul zu, bereit, ihn aufzuspießen, sobald er die Baumstämme betrat, und zwang Paul so zum Rückzug.
    
  Jürgen nutzte die Situation aus und stürzte sich vom Fahrersitz aus mit erhobenem Messer auf Paul. Paul versuchte auszuweichen und stolperte dabei. Er stürzte, und das wäre sein Ende gewesen, hätten nicht die Deichseln des Wagens im Weg gelegen und seinen Bruder gezwungen, sich unter den dicken Holzbohlen zu ducken. Paul nutzte die Gelegenheit und trat Jürgen mitten ins Gesicht, direkt auf den Mund.
    
  Paul drehte sich um und versuchte, sich unter Jürgens Arm hervorzuwinden. Wütend, mit schäumendem Blut an den Lippen, gelang es Jürgen, ihn am Knöchel zu packen, doch er lockerte seinen Griff, als sein Bruder den Knöchel wegwarf und ihm in den Arm schlug.
    
  Keuchend rappelte sich Paul fast gleichzeitig mit Jürgen auf. Jürgen bückte sich, hob einen Eimer mit Holzspänen auf und warf ihn nach Paul. Der Eimer traf ihn mitten in die Brust.
    
  Mit einem Triumphschrei stürzte sich Jürgen auf Paul. Noch immer benommen vom Aufprall des Eimers, wurde Paul zu Boden gerissen, und beide stürzten zu Boden. Jürgen versuchte, Paul mit der Messerspitze die Kehle durchzuschneiden, doch Paul wehrte sich mit den Händen. Er wusste jedoch, dass er nicht lange durchhalten konnte. Sein Bruder wog über 20 Kilo mehr, und außerdem lag er oben. Früher oder später würden Pauls Arme nachgeben, und das Stahlmesser würde seine Halsschlagader durchtrennen.
    
  "Du bist erledigt, kleiner Bruder", schrie Jürgen und bespritzte Pauls Gesicht mit Blut.
    
  "Verdammt, so bin ich nun mal."
    
  Paul nahm all seine Kraft zusammen und versetzte Jürgen einen harten Kniestoß in die Seite, sodass dieser zu Boden ging. Sofort stürzte er sich auf Paul, packte ihn mit der linken Hand am Hals und versuchte mit der rechten, sich aus dessen Griff zu befreien, während er verzweifelt das Messer von seiner Kehle fernhielt.
    
  Zu spät bemerkte er, dass er Pauls Hand, die sein eigenes Messer hielt, aus den Augen verloren hatte. Er blickte hinunter und sah, wie die Spitze von Pauls Klinge seinen Bauch streifte. Er sah wieder auf, die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.
    
  "Du kannst mich nicht töten. Wenn du mich tötest, wird Alice sterben."
    
  "Da irrst du dich, großer Bruder. Wenn du stirbst, wird Alice leben."
    
  Als Jürgen das hörte, versuchte er verzweifelt, seine rechte Hand zu befreien. Es gelang ihm, und er hob sein Messer, um es Paul in die Kehle zu stoßen, doch die Bewegung schien in Zeitlupe abzulaufen, und als Jürgens Hand wieder herabglitt, war sie völlig kraftlos.
    
  Pauls Messer steckte bis zum Griff in seinem Bauch.
    
    
  56
    
    
  Jürgen brach zusammen. Völlig erschöpft lag Paul neben ihm auf dem Rücken. Das angestrengte Atmen der beiden jungen Männer vermischte sich, dann verebbte es. Innerhalb einer Minute fühlte sich Paul besser; Jürgen war tot.
    
  Mit großer Mühe schaffte es Paul, aufzustehen. Er hatte mehrere Rippenbrüche, oberflächliche Schnittwunden am ganzen Körper und eine viel entstellendere Wunde auf der Brust. Er musste dringend Hilfe holen.
    
  Er kletterte über Jürgens Leiche, um an dessen Kleidung zu gelangen. Er riss die Ärmel seines Hemdes auf und bastelte sich provisorische Verbände, um die Wunden an seinen Unterarmen zu versorgen. Diese tränkten sich sofort mit Blut, doch das war sein geringstes Problem. Zum Glück war seine Jacke dunkel, was die Verletzungen etwas kaschieren würde.
    
  Paul trat in die Gasse. Als er die Tür öffnete, bemerkte er nicht die Gestalt, die rechts von ihm im Schatten verschwand. Paul ging geradewegs vorbei, ohne die Anwesenheit des Mannes zu bemerken, der ihn so nah beobachtete, dass er ihn hätte berühren können, wenn er die Hand ausgestreckt hätte.
    
  Er erreichte das Auto. Als er sich hinter das Steuer setzte, verspürte er einen stechenden Schmerz in der Brust, als würde eine riesige Hand sie zusammendrücken.
    
  Ich hoffe, meine Lunge ist nicht perforiert.
    
  Er startete den Motor und versuchte, den Schmerz zu vergessen. Er hatte es nicht mehr weit. Unterwegs entdeckte er ein billiges Hotel, vermutlich das, von dem sein Bruder angerufen hatte. Es lag etwas mehr als 600 Meter von den Ställen entfernt.
    
  Der Angestellte hinter dem Tresen wurde blass, als Paul hereinkam.
    
  Ich kann nicht besonders gut aussehen, wenn jemand Angst vor mir in so einem Loch hat.
    
  "Hast du ein Telefon?"
    
  "An jener Mauer dort drüben, Sir."
    
  Das Telefon war alt, aber es funktionierte. Die Besitzerin der Pension nahm beim sechsten Klingeln ab und schien trotz der späten Stunde hellwach zu sein. Sie blieb gewöhnlich lange auf und hörte Musik und Fernsehserien im Radio.
    
  "Ja?"
    
  "Frau Frink, hier spricht Herr Rainer. Ich möchte mit Herrn Tannenbaum sprechen."
    
  "Herr Reiner! Ich habe mir große Sorgen um Sie gemacht: Ich habe mich gefragt, was Sie zu dieser Zeit draußen trieben. Und diese Leute waren ja noch in Ihrem Zimmer ..."
    
  "Mir geht es gut, Frau Frink. Darf ich..."
    
  "Ja, ja, selbstverständlich. Herr Tannenbaum. Sofort."
    
  Das Warten schien ewig zu dauern. Paul wandte sich dem Tresen zu und bemerkte, wie die Sekretärin ihn aufmerksam über ihren "Völker Beobachter" musterte.
    
  Genau das, was ich brauche: einen Nazi-Sympathisanten.
    
  Paul blickte hinunter und bemerkte, dass noch immer Blut von seiner rechten Hand tropfte, über seine Handflächen rann und ein seltsames Muster auf dem Holzboden bildete. Er hob die Hand, um das Tropfen zu stoppen, und versuchte, den Fleck mit seinen Schuhsohlen abzuwischen.
    
  Er drehte sich um. Der Rezeptionist behielt ihn im Auge. Hätte er etwas Verdächtiges bemerkt, hätte er die Gestapo wohl sofort alarmiert, sobald Paul das Hotel verlassen hatte. Und dann wäre alles vorbei gewesen. Paul hätte weder seine Verletzungen noch die Tatsache erklären können, dass er den Wagen des Barons gefahren hatte. Die Leiche wäre innerhalb weniger Tage gefunden worden, hätte Paul sie nicht sofort beseitigt, denn irgendein Landstreicher hätte den Gestank zweifellos bemerkt.
    
  Nimm den Hörer ab, Manfred. Nimm den Hörer ab, um Himmels willen!
    
  Schließlich hörte er die Stimme von Alices Bruder, die voller Sorge klang.
    
  "Paul, bist du es?"
    
  "Da ich bin".
    
  "Wo zum Teufel warst du? Ich -"
    
  "Hör gut zu, Manfred. Wenn du deine Schwester jemals wiedersehen willst, musst du zuhören. Ich brauche deine Hilfe."
    
  "Wo bist du?", fragte Manfred mit ernster Stimme.
    
  Paul gab ihm die Adresse des Lagers.
    
  "Nehmen Sie ein Taxi, das bringt Sie hierher. Aber kommen Sie nicht sofort. Gehen Sie zuerst in die Apotheke und kaufen Sie Verbandsmaterial, Pflaster, Alkohol und Nahtmaterial für die Wunden. Und entzündungshemmende Medikamente - sehr wichtig. Bringen Sie auch meinen Koffer mit all meinen Sachen mit. Machen Sie sich keine Sorgen um Frau Frink: Ich habe mich schon darum gekümmert ..."
    
  Hier musste er innehalten. Ihm war schwindlig vor Erschöpfung und Blutverlust. Er musste sich am Telefon festhalten, um nicht zu fallen.
    
  "Boden?"
    
  "Ich habe ihr zwei Monate im Voraus bezahlt."
    
  "Okay, Paul."
    
  "Beeil dich, Manfred."
    
  Er legte auf und ging zur Tür. Als er an der Rezeptionistin vorbeikam, zeigte er ihr schnell und ruckartig den Hitlergruß. Die Rezeptionistin antwortete mit einem enthusiastischen "Heil Hitler!", das die Gemälde an den Wänden erzittern ließ. Er ging auf Paul zu, öffnete ihm die Tür und war überrascht, draußen einen luxuriösen Mercedes parken zu sehen.
    
  "Gutes Auto."
    
  "Das ist nicht schlecht."
    
  "Ist das schon lange her?"
    
  "Ein paar Monate. Es ist gebraucht."
    
  Um Gottes Willen, rufen Sie nicht die Polizei... Sie haben doch nur einen anständigen Arbeiter gesehen, der anhielt, um zu telefonieren.
    
  Er spürte den misstrauischen Blick des Polizisten im Nacken, als er ins Auto stieg. Er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerzen aufzuschreien, als er sich setzte.
    
  "Schon gut", dachte er und konzentrierte all seine Sinne darauf, den Motor zu starten, ohne das Bewusstsein zu verlieren. "Lies wieder deine Zeitung. Geh wieder schlafen. Du willst dich nicht mit der Polizei anlegen."
    
  Der Manager behielt den Mercedes im Auge, bis dieser um die Ecke bog, aber Paul konnte sich nicht sicher sein, ob er einfach nur die Karosserie bewunderte oder sich das Kennzeichen einprägte.
    
  Als er am Stall ankam, ließ sich Paul, völlig kraftlos, nach vorn auf das Lenkrad fallen.
    
  Er wurde durch ein Klopfen am Fenster geweckt. Manfreds Gesicht blickte ihn besorgt an. Neben ihm war ein weiteres, kleineres Gesicht zu sehen.
    
  Julianisch.
    
  Mein Sohn.
    
  In seiner Erinnerung verschwammen die nächsten Minuten zu einem Wirrwarr zusammenhangloser Szenen. Manfred zerrte ihn vom Auto in den Stall. Er wusch und nähte seine Wunden. Stechender Schmerz. Julian reichte ihm eine Flasche Wasser. Er trank, was ihm wie eine Ewigkeit vorkam, unfähig, seinen Durst zu stillen. Und dann wieder Stille.
    
  Als er schließlich die Augen öffnete, saßen Manfred und Julian auf dem Karren und beobachteten ihn.
    
  "Was macht er hier?", fragte Paul heiser.
    
  "Was sollte ich denn mit ihm anfangen? Ich konnte ihn doch nicht allein in der Pension lassen!"
    
  "Was wir heute Abend tun müssen, ist keine Kinderarbeit."
    
  Julian stieg vom Einkaufswagen und rannte zu ihm hinüber, um ihn zu umarmen.
    
  "Wir waren besorgt."
    
  "Danke, dass du gekommen bist, um mich zu retten", sagte Paul und fuhr sich durch die Haare.
    
  "Meine Mutter macht das Gleiche mit mir", sagte der Junge.
    
  "Wir werden sie holen gehen, Julian. Versprochen."
    
  Er stand auf und ging, um sich in dem kleinen Plumpsklo im Hinterhof frisch zu machen. Es bestand aus kaum mehr als einem Eimer, der inzwischen mit Spinnweben bedeckt war und unter dem Wasserhahn stand, und einem alten, zerkratzten Spiegel.
    
  Paul betrachtete sein Spiegelbild aufmerksam. Seine Unterarme und sein ganzer Oberkörper waren bandagiert. Blut sickerte durch den weißen Stoff auf seiner linken Seite.
    
  "Deine Wunden sind furchtbar. Du hast keine Ahnung, wie sehr du geschrien hast, als ich das Desinfektionsmittel aufgetragen habe", sagte Manfred, der sich der Tür näherte.
    
  "Ich erinnere mich an nichts."
    
  "Wer ist dieser Tote?"
    
  "Das ist der Mann, der Alice entführt hat."
    
  "Julian, steck das Messer zurück!", rief Manfred, der alle paar Sekunden über die Schulter blickte.
    
  "Es tut mir leid, dass er die Leiche sehen musste."
    
  "Er ist ein tapferer Junge. Er hat Ihre Hand die ganze Zeit gehalten, während ich gearbeitet habe, und ich kann Ihnen versichern, dass es nicht schön war. Ich bin Ingenieur, kein Arzt."
    
  Paul schüttelte den Kopf, um ihn zu klären. "Du musst rausgehen und Sulfa kaufen. Wie spät ist es?"
    
  "Sieben Uhr morgens."
    
  "Lass uns etwas ausruhen. Wir holen deine Schwester heute Abend ab."
    
  "Wo ist sie?"
    
  "Lager Dachau".
    
  Manfred riss die Augen weit auf und schluckte.
    
  "Weißt du, was Dachau ist, Paul?"
    
  "Dies ist eines jener Lager, die die Nazis errichteten, um ihre politischen Gegner unterzubringen. Im Wesentlichen ein Freiluftgefängnis."
    
  "Sie sind gerade erst zurückgekehrt, und das merkt man", sagte Manfred kopfschüttelnd. "Offiziell sind diese Orte wunderbare Sommerlager für ungezogene oder undisziplinierte Kinder. Aber wenn man den wenigen anständigen Journalisten glaubt, die noch hier sind, dann sind Orte wie Dachau die Hölle auf Erden." Manfred beschrieb weiter die Gräueltaten, die sich nur wenige Kilometer außerhalb der Stadtgrenzen abspielten. Einige Monate zuvor war er auf ein paar Zeitschriften gestoßen, die Dachau als eine Art Jugendstrafanstalt mit niedrigem Standard beschrieben, in der die Gefangenen gut ernährt wurden, gestärkte weiße Uniformen trugen und für die Kameras lächelten. Die Fotos waren für die internationale Presse inszeniert. Die Realität sah ganz anders aus. Dachau war ein Gefängnis der Schnelljustiz für diejenigen, die sich gegen die Nazis aussprachen - eine Farce echter Gerichtsverfahren, die selten länger als eine Stunde dauerten. Es war ein Zwangsarbeitslager, in dem Wachhunde entlang der elektrischen Zäune patrouillierten und nachts unter dem grellen Scheinwerferlicht heulten.
    
  "Es ist unmöglich, irgendwelche Informationen über die dort festgehaltenen Gefangenen zu erhalten. Und niemand entkommt jemals, darauf können Sie sich verlassen", sagte Manfred.
    
  "Alice muss nicht weglaufen."
    
  Paul skizzierte einen groben Plan. Es waren nur ein Dutzend Sätze, aber genug, um Manfred am Ende seiner Erklärung noch nervöser zu machen.
    
  "Es gibt eine Million Dinge, die schiefgehen können."
    
  "Aber das könnte auch funktionieren."
    
  "Und vielleicht ist der Mond heute Abend grün, wenn er aufgeht."
    
  "Hör mal, hilfst du mir jetzt, deine Schwester zu retten oder nicht?"
    
  Manfred blickte zu Julian, der wieder auf den Wagen geklettert war und seinen Ball an den Seiten entlang kickte.
    
  "Ich nehme es an", sagte er seufzend.
    
  "Dann geh und ruh dich aus. Wenn du aufwachst, hilfst du mir, Paul Reiner zu töten."
    
  Als Paul Manfred und Julian ausgestreckt auf dem Boden liegen sah, wie sie versuchten, sich auszuruhen, wurde ihm bewusst, wie erschöpft er war. Doch er hatte noch eine Sache zu erledigen, bevor er schlafen konnte.
    
  Am anderen Ende des Stalls hing der Brief seiner Mutter noch immer an einem Nagel.
    
  Wieder musste Paul über Jürgens Leiche steigen, doch diesmal war es eine weitaus größere Qual. Er betrachtete seinen Bruder mehrere Minuten lang: sein fehlendes Auge, die zunehmende Blässe seiner Haut, als sich Blut in seinen Unterleibern sammelte, die Symmetrie seines Körpers, verstümmelt von dem Messer, das ihm in den Bauch gerammt worden war. Obwohl dieser Mann ihm nichts als Leid zugefügt hatte, konnte er eine tiefe Trauer nicht unterdrücken.
    
  Es hätte anders sein sollen, dachte er, als er es schließlich wagte, durch die Luftwand zu treten, die sich über seinem Körper zu verfestigen schien.
    
  Mit äußerster Vorsicht entfernte er den Buchstaben vom Nagel.
    
  Er war müde, aber dennoch waren die Gefühle, die er beim Öffnen des Briefes empfand, fast überwältigend.
    
    
  57
    
    
  Mein lieber Sohn:
    
  Es gibt keinen richtigen Weg, diesen Brief zu beginnen. Die Wahrheit ist, es ist nur einer von mehreren Versuchen, die ich in den letzten vier oder fünf Monaten unternommen habe. Nach einer Weile - die Zeitspanne wird jedes Mal kürzer - muss ich einen Stift zur Hand nehmen und alles noch einmal schreiben. Ich hoffe immer, dass du nicht in der Pension bist, wenn ich die vorherige Version verbrenne und die Asche aus dem Fenster werfe. Dann mache ich mich an die Arbeit, an diesen kläglichen Ersatz für das, was ich eigentlich tun muss: dir die Wahrheit sagen.
    
  Dein Vater. Als du klein warst, hast du mich oft nach ihm gefragt. Ich habe dir nur vage Antworten gegeben oder geschwiegen, weil ich Angst hatte. Damals waren wir auf die Wohltätigkeit der Schroeders angewiesen, und ich war zu schwach, um nach einer Alternative zu suchen. Hätte ich doch nur...
    
  ...Aber nein, ignoriert mich einfach. Mein Leben ist voller "nur", und ich habe es satt, schon lange etwas zu bereuen.
    
  Es ist auch schon lange her, dass du aufgehört hast, mich nach deinem Vater zu fragen. In gewisser Weise hat mich das sogar noch mehr beunruhigt als dein unaufhörliches Interesse an ihm in deiner Kindheit, denn ich weiß, wie sehr er dich immer noch beschäftigt. Ich weiß, wie schwer es dir fällt, nachts zu schlafen, und ich weiß, dass du nichts sehnlicher wünschst, als zu erfahren, was passiert ist.
    
  Deshalb muss ich schweigen. Mein Verstand funktioniert nicht mehr richtig, und manchmal verliere ich das Zeitgefühl oder die Orientierung. Ich hoffe nur, dass ich in solchen Momenten der Verwirrung nicht den Ort dieses Briefes preisgebe. Die restliche Zeit, wenn ich bei Bewusstsein bin, spüre ich nur Angst - Angst davor, dass du, sobald du die Wahrheit erfährst, die Verantwortlichen für Hans" Tod zur Rede stellen wirst.
    
  Ja, Paul, dein Vater ist nicht bei einem Schiffbruch ums Leben gekommen, wie wir dir erzählt haben, wie du ja kurz bevor wir aus dem Haus des Barons geworfen wurden, begriffen hast. Es wäre ohnehin ein passender Tod für ihn gewesen.
    
  Hans Reiner wurde 1876 in Hamburg geboren, seine Familie zog jedoch nach München, als er noch ein Junge war. Er verliebte sich schließlich in beide Städte, doch das Meer blieb seine einzige wahre Leidenschaft.
    
  Er war ein ehrgeiziger Mann. Er wollte Kapitän werden und schaffte es. Er war bereits Kapitän, als wir uns um die Jahrhundertwende bei einem Tanz kennenlernten. Ich erinnere mich nicht mehr genau an das Datum, ich glaube, es war Ende 1902, aber ich bin mir nicht sicher. Er bat mich zum Tanz, und ich nahm an. Es war ein Walzer. Als die Musik verklungen war, war ich unsterblich in ihn verliebt.
    
  Zwischen seinen Seereisen umwarb er mich und ließ sich schließlich in München nieder, nur um mir eine Freude zu machen, ungeachtet der beruflichen Unannehmlichkeiten. Der Tag, an dem er ins Haus meiner Eltern kam, um deinen Großvater um meine Hand anzuhalten, war der glücklichste Tag meines Lebens. Mein Vater war ein großer, gutherziger Mann, aber an diesem Tag war er sehr ernst und vergoss sogar eine Träne. Es ist schade, dass du ihn nie kennengelernt hast; du hättest ihn bestimmt sehr gemocht.
    
  Mein Vater sagte, wir würden eine Verlobungsfeier veranstalten, ein großes, traditionelles Fest. Ein ganzes Wochenende mit Dutzenden von Gästen und einem wunderbaren Festmahl.
    
  Unser kleines Haus war dafür nicht geeignet, deshalb fragte mein Vater meine Schwester, ob er die Feier im Landsitz des Barons in Herrsching an der Ammersee ausrichten dürfe. Damals hatte dein Onkel seine Spielsucht noch im Griff, und er besaß mehrere Anwesen in ganz Bayern. Brunhilde stimmte zu, mehr um das gute Verhältnis zu meiner Mutter nicht zu gefährden als aus irgendeinem anderen Grund.
    
  Als wir klein waren, standen meine Schwester und ich uns nie so nahe. Sie interessierte sich mehr für Jungen, Tanzen und modische Kleidung als ich. Ich blieb lieber zu Hause bei meinen Eltern. Ich spielte noch mit Puppen, als Brunhilde ihr erstes Date hatte.
    
  Sie ist kein schlechter Mensch, Paul. Das war sie nie: nur egoistisch und verwöhnt. Als sie den Baron heiratete, ein paar Jahre bevor ich deinen Vater kennenlernte, war sie die glücklichste Frau der Welt. Was hat sie verändert? Ich weiß es nicht. Vielleicht Langeweile oder die Untreue deines Onkels. Er war ein selbsternannter Frauenheld, was ihr vorher nie aufgefallen war, geblendet von seinem Geld und Titel. Später jedoch wurde es ihr zu offensichtlich, als dass sie es hätte übersehen können. Sie hatte einen Sohn mit ihm, was ich nie erwartet hätte. Edward war ein gutmütiges, einsames Kind, das von Dienstmädchen und Ammen betreut wurde. Seine Mutter kümmerte sich kaum um ihn, weil der Junge ihren Zweck nicht erfüllte: den Baron an der kurzen Leine zu halten und von seinen Huren fernzuhalten.
    
  Kommen wir zurück zur Wochenendfeier. Am Freitagmittag trafen die Gäste ein. Ich war ganz aufgeregt und schlenderte mit meiner Schwester in der Sonne, während wir auf deinen Vater warteten, der uns vorstellen sollte. Schließlich erschien er in seiner Militärjacke, weißen Handschuhen und Kapitänsmütze, den Parade-Degen in der Hand. Er war so angezogen, als wäre er am Samstagabend zu einer Verlobungsfeier erschienen, und er sagte, er habe das getan, um mich zu beeindrucken. Das brachte mich zum Lachen.
    
  Doch als ich ihn Brunhilde vorstellte, geschah etwas Seltsames. Dein Vater nahm ihre Hand und hielt sie etwas länger, als es sich gehörte. Und sie schien wie vom Blitz getroffen, völlig verwirrt. Damals dachte ich - naiv wie ich war -, es sei bloße Verlegenheit, aber Brunhilde hatte in ihrem ganzen Leben nie auch nur den geringsten Anflug solcher Gefühle gezeigt.
    
  Dein Vater war gerade von einer Mission in Afrika zurückgekehrt. Er hatte mir ein exotisches Parfüm mitgebracht, so eines, wie es die Einheimischen in den Kolonien trugen, hergestellt, glaube ich, aus Sandelholz und Melasse. Es hatte einen starken und unverwechselbaren Duft, war aber gleichzeitig zart und angenehm. Ich klatschte wie eine Verrückte in die Hände. Es gefiel mir, und ich versprach ihm, es zu unserer Verlobungsfeier zu tragen.
    
  In jener Nacht, als wir alle schliefen, betrat Brunhilde das Schlafzimmer deines Vaters. Es war stockdunkel, und Brunhilde war unter ihrem Morgenmantel nackt, nur mit dem Parfüm bekleidet, das dein Vater mir geschenkt hatte. Lautlos stieg sie ins Bett und schlief mit ihm. Es fällt mir noch immer schwer, diese Worte zu schreiben, Paul, selbst jetzt, zwanzig Jahre später.
    
  Dein Vater, der glaubte, ich wolle ihm in der Hochzeitsnacht einen Vorschuss geben, wehrte sich nicht. Zumindest sagte er mir das am nächsten Tag, als ich ihm in die Augen sah.
    
  Er schwor mir immer wieder, dass er nichts bemerkt hatte, bis alles vorbei war und Brunhilde zum ersten Mal sprach. Sie sagte ihm, dass sie ihn liebte und bat ihn, mit ihr durchzubrennen. Dein Vater warf sie aus dem Zimmer, und am nächsten Morgen nahm er mich beiseite und erzählte mir, was geschehen war.
    
  "Wir können die Hochzeit absagen, wenn du willst", sagte er.
    
  "Nein", antwortete ich. "Ich liebe dich, und ich werde dich heiraten, wenn du mir schwörst, dass du wirklich keine Ahnung hattest, dass es meine Schwester war."
    
  Dein Vater hat wieder geflucht, und ich habe ihm geglaubt. Nach all den Jahren bin ich mir nicht sicher, was ich denken soll, aber im Moment ist zu viel Bitterkeit in meinem Herzen.
    
  Die Verlobung fand statt, und drei Monate später die Hochzeit in München. Da konnte man den runden Bauch deiner Tante unter ihrem roten Spitzenkleid schon deutlich erkennen, und alle freuten sich - außer mir, denn ich wusste nur zu gut, wessen Kind es war.
    
  Schließlich erfuhr es auch der Baron. Nicht von mir. Ich habe meine Schwester nie zur Rede gestellt oder ihr Vorwürfe gemacht, weil ich ein Feigling bin. Ich habe auch niemandem erzählt, was ich wusste. Aber früher oder später musste es herauskommen: Brunhilde hat es dem Baron wahrscheinlich in einem Streit über eine seiner Affären unter die Nase gerieben. Ich weiß es nicht genau, aber Tatsache ist, dass er es herausgefunden hat, und das war mit ein Grund, warum es später geschah.
    
  Kurz darauf wurde auch ich schwanger, und du wurdest geboren, während dein Vater auf seiner letzten Mission in Afrika war. Seine Briefe an mich wurden immer düsterer, und aus irgendeinem Grund - ich weiß nicht genau warum - war er immer weniger stolz auf seine Arbeit.
    
  Eines Tages hörte er ganz auf zu schreiben. Der nächste Brief, den ich erhielt, stammte von der Kaiserlichen Marine und teilte mir mit, dass mein Mann desertiert sei und ich verpflichtet sei, die Behörden zu informieren, falls ich etwas von ihm hören sollte.
    
  Ich weinte bitterlich. Ich weiß immer noch nicht, was ihn zur Desertion bewogen hat, und ich will es auch gar nicht wissen. Ich habe nach Hans Rainers Tod so vieles über ihn erfahren, Dinge, die überhaupt nicht zu dem Bild passen, das ich von ihm gezeichnet hatte. Deshalb habe ich nie mit dir über deinen Vater gesprochen, denn er war kein Vorbild und niemand, auf den man stolz sein konnte.
    
  Ende 1904 kehrte Ihr Vater ohne mein Wissen nach München zurück. Er reiste heimlich mit seinem Oberleutnant, einem Mann namens Nagel, der ihn überallhin begleitete. Anstatt nach Hause zurückzukehren, suchte er Zuflucht im Herrenhaus des Barons. Von dort schickte er mir eine kurze Nachricht, die Folgendes enthielt:
    
  "Liebe Ilse, ich habe einen schrecklichen Fehler begangen und versuche, ihn wiedergutzumachen. Ich habe deinen Schwager und einen anderen guten Freund um Hilfe gebeten. Vielleicht können sie mich retten. Manchmal liegt der größte Schatz dort verborgen, wo die größte Zerstörung herrscht, oder zumindest habe ich das immer gedacht. In Liebe, Hans."
    
  Ich habe nie verstanden, was dein Vater mit diesen Worten meinte. Ich habe den Brief immer wieder gelesen, ihn aber wenige Stunden nach Erhalt verbrannt, aus Angst, er könnte in die falschen Hände geraten.
    
  Was den Tod Ihres Vaters betrifft, weiß ich nur, dass er im Herrenhaus Schroeder wohnte und es eines Nachts zu einer heftigen Auseinandersetzung kam, in deren Folge er starb. Sein Leichnam wurde im Schutze der Dunkelheit von der Brücke in die Isar geworfen.
    
  Ich weiß nicht, wer deinen Vater getötet hat. Deine Tante hat mir fast wortwörtlich dasselbe erzählt, obwohl sie nicht dabei war, als es passierte. Sie sagte es mir mit Tränen in den Augen, und ich wusste, dass sie ihn immer noch liebte.
    
  Der Junge, den Brunhilda gebar, Jürgen, war das Ebenbild deines Vaters. Die Liebe und ungesunde Hingabe, die seine Mutter ihm stets entgegenbrachte, war daher kaum verwunderlich. Sein Leben war nicht das einzige, das in jener schrecklichen Nacht aus den Fugen geriet.
    
  Wehrlos und verängstigt nahm ich Ottos Angebot an, bei ihnen zu wohnen. Für ihn war es sowohl eine Sühne für das, was Hans angetan worden war, als auch eine Möglichkeit, Brunhilde zu bestrafen, indem er sie daran erinnerte, wen Hans erwählt hatte. Für Brunhilde war es ihre eigene Art, mich dafür zu bestrafen, dass ich ihr den Mann gestohlen hatte, den sie liebte, obwohl er ihr nie gehört hatte.
    
  Und für mich war es ein Weg zu überleben. Dein Vater hinterließ mir nichts als seine Schulden, als die Regierung ihn einige Jahre später für tot erklärte, obwohl seine Leiche nie gefunden wurde. So lebten wir beide in dieser Villa, erfüllt von nichts als Hass.
    
  Da ist noch etwas. Für mich war Jürgen immer nur dein Bruder, denn obwohl er in Brunhildes Leib gezeugt wurde, betrachtete ich ihn als meinen Sohn. Ich konnte ihm nie Zuneigung zeigen, aber er ist ein Teil deines Vaters, des Mannes, den ich von ganzem Herzen liebte. Ihn jeden Tag zu sehen, und sei es nur für einen Augenblick, war, als sähe ich meinen Hans wieder.
    
  Meine Feigheit und mein Egoismus haben dein Leben geprägt, Paul. Ich wollte nie, dass dich der Tod deines Vaters so sehr mitnimmt. Ich habe versucht, dich anzulügen und die Wahrheit zu vertuschen, damit du später nicht auf einen absurden Rachefeldzug gehst. Tu das bitte nicht.
    
  Sollte dieser Brief jemals in deine Hände gelangen, was ich bezweifle, möchte ich dir sagen, dass ich dich sehr liebe und mit all meinen Handlungen nur versucht habe, dich zu beschützen. Verzeih mir.
    
  Deine Mutter, die dich liebt,
    
  Ilse Reiner
    
    
  58
    
    
  Nachdem Paul die Worte seiner Mutter zu Ende gelesen hatte, weinte er lange.
    
  Er weinte um Ilsa, die ihr ganzes Leben lang aus Liebe gelitten und deswegen Fehler gemacht hatte. Er weinte um Jürgen, der in die denkbar schlechteste Lage hineingeboren worden war. Er weinte um sich selbst, um den Jungen, der um einen Vater geweint hatte, der es nicht verdient hatte.
    
  Als er in den Schlaf glitt, überkam ihn ein seltsames Gefühl des Friedens, ein Gefühl, das er noch nie zuvor erlebt hatte. Was auch immer aus dem Wahnsinn werden mochte, in den sie sich in wenigen Stunden begeben würden, er hatte sein Ziel erreicht.
    
  Manfred weckte ihn mit einem sanften Klaps auf den Rücken. Julian aß ein paar Meter entfernt ein Wurstbrötchen.
    
  "Es ist sieben Uhr abends."
    
  "Warum hast du mich so lange schlafen lassen?"
    
  "Du brauchtest eine Pause. In der Zwischenzeit bin ich einkaufen gegangen. Ich habe alles mitgebracht, was du verlangt hast. Handtücher, einen Stahllöffel, einen Pfannenwender, alles."
    
  "Also, fangen wir an."
    
  Manfred zwang Paul, Sulfa einzunehmen, um eine Infektion seiner Wunden zu verhindern, dann stießen die beiden Julian ins Auto.
    
  "Darf ich anfangen?", fragte der Junge.
    
  "Denk nicht mal dran!", rief Manfred.
    
  Dann zogen er und Paulus dem Toten Hose und Schuhe aus und kleideten ihn in Paulus' Kleider. Sie steckten Paulus' Dokumente in seine Jackentasche. Dann gruben sie ein tiefes Loch in den Boden und begruben ihn.
    
  "Ich hoffe, das bringt sie erstmal in die Irre. Ich glaube nicht, dass sie ihn in den nächsten Wochen finden werden, und bis dahin wird nicht mehr viel von ihm übrig sein", sagte Paul.
    
  Jürgens Uniform hing an einem Nagel in der Kabine. Paul war ungefähr so groß wie sein Bruder, obwohl Jürgen stämmiger war. Dank der dicken Bandagen, die Paul an Armen und Brust trug, passte die Uniform einigermaßen. Die Stiefel waren eng, aber der Rest der Kleidung war in Ordnung.
    
  "Diese Uniform passt Ihnen wie angegossen. Das wird sich nie ändern."
    
  Manfred zeigte ihm Jürgens Ausweis. Er befand sich in einem kleinen Lederetui, zusammen mit seinem NSDAP-Ausweis und seinem SS-Ausweis. Die Ähnlichkeit zwischen Jürgen und Paul war über die Jahre immer größer geworden. Beide hatten ein markantes Kinn, blaue Augen und ähnliche Gesichtszüge. Jürgens Haar war dunkler, aber das konnten sie mit dem Haargel ausgleichen, das Manfred gekauft hatte. Paul hätte leicht als Jürgen durchgehen können, wäre da nicht ein kleines Detail gewesen, auf das Manfred auf dem Ausweis hingewiesen hatte. Unter "Besondere Merkmale" stand deutlich "Rechtes Auge fehlt".
    
  "Ein Streifen reicht nicht, Paul. Wenn sie dich bitten, ihn aufzuheben ..."
    
  "Ich weiß, Manfred. Deshalb brauche ich deine Hilfe."
    
  Manfred blickte ihn völlig verblüfft an.
    
  "Man denkt nicht darüber nach..."
    
  "Ich muss das tun."
    
  "Aber das ist Wahnsinn!"
    
  "Genauso wie der Rest des Plans. Und das ist seine größte Schwäche."
    
  Schließlich willigte Manfred ein. Paul saß auf dem Fahrersitz des Wagens, Handtücher über die Brust gehüllt, als wäre er beim Friseur.
    
  "Sind Sie bereit?"
    
  "Wartet", sagte Manfred mit ängstlicher Stimme. "Lasst uns das noch einmal durchgehen, um sicherzugehen, dass keine Fehler enthalten sind."
    
  "Ich werde einen Löffel an den Rand meines rechten Augenlids setzen und mein Auge an der Wurzel herausziehen. Währenddessen müssen Sie etwas Desinfektionsmittel und dann etwas Gaze auftragen. Ist alles in Ordnung?"
    
  Manfred nickte, so verängstigt, dass er kaum sprechen konnte.
    
  "Bereit?", fragte er erneut.
    
  "Bereit".
    
  Zehn Sekunden später waren nur noch Schreie zu hören.
    
  Um elf Uhr hatte Paul fast eine ganze Packung Aspirin genommen und sich zwei weitere aufgehoben. Die Wunde hatte aufgehört zu bluten, und Manfred desinfizierte sie alle fünfzehn Minuten und legte jedes Mal frische Gaze darauf.
    
  Julian, der einige Stunden zuvor aufgeschreckt durch die Schreie zurückgekehrt war, fand seinen Vater vor, der sich den Kopf hielt und aus Leibeskräften heulte, während sein Onkel hysterisch schrie und ihn aufforderte, auszusteigen. Er kehrte zurück, schloss sich im Mercedes ein und brach in Tränen aus.
    
  Als sich die Lage beruhigt hatte, holte Manfred seinen Neffen und erklärte ihm den Plan. Als Julian Paul sah, fragte er ehrfürchtig: "Tust du das alles nur für meine Mutter?"
    
  "Und für dich, Julian. Weil ich möchte, dass wir zusammen sind."
    
  Der Junge antwortete nicht, aber er umklammerte Pauls Hand fest und ließ sie auch nicht los, als Paul beschloss, dass es Zeit zum Aufbruch war. Er stieg mit Julian auf den Rücksitz des Wagens, und Manfred fuhr mit angespanntem Gesichtsausdruck die sechzehn Kilometer bis zum Lager. Sie brauchten fast eine Stunde, um ihr Ziel zu erreichen, da Manfred kaum Auto fahren konnte und der Wagen immer wieder ins Rutschen geriet.
    
  "Wenn wir dort ankommen, darf der Wagen unter keinen Umständen ausfallen, Manfred", sagte Paul besorgt.
    
  "Ich werde alles tun, was ich kann."
    
  Als sie sich Dachau näherten, bemerkte Paul einen eklatanten Unterschied zu München. Selbst im Dunkeln war die Armut dieser Stadt unübersehbar. Die Bürgersteige waren in schlechtem Zustand und schmutzig, die Straßenschilder zerkratzt und die Gebäudefassaden alt und verwittert.
    
  "Was für ein trauriger Ort", sagte Paul.
    
  "Von allen Orten, an die sie Alice hätten bringen können, war dies definitiv der schlimmste."
    
  "Warum sagst du das?"
    
  "Unser Vater besaß eine Schießpulverfabrik, die sich früher in dieser Stadt befand."
    
  Paul wollte Manfred gerade erzählen, dass seine eigene Mutter in dieser Munitionsfabrik gearbeitet hatte und entlassen worden war, aber er merkte, dass er zu müde war, um das Gespräch zu beginnen.
    
  "Das wirklich Ironische daran ist, dass mein Vater das Land an die Nazis verkauft hat. Und die haben darauf ein Lager gebaut."
    
  Schließlich sahen sie ein gelbes Schild mit schwarzen Buchstaben, das ihnen mitteilte, dass das Lager 1,2 Meilen entfernt sei.
    
  "Halt, Manfred. Dreh dich langsam um und geh ein Stück zurück."
    
  Manfred tat, wie ihm befohlen wurde, und sie kehrten zu einem kleinen Gebäude zurück, das wie eine leere Scheune aussah, obwohl es den Anschein erweckte, schon seit einiger Zeit verlassen zu sein.
    
  "Julian, hör gut zu", sagte Paul, packte den Jungen an den Schultern und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. "Dein Onkel und ich fahren ins Konzentrationslager, um deine Mutter zu retten. Aber du kannst nicht mitkommen. Steig jetzt sofort mit meinem Koffer aus dem Auto und warte hinten in diesem Gebäude. Versteck dich so gut wie möglich, sprich mit niemandem und komm erst wieder heraus, wenn du mich oder deinen Onkel rufen hörst, verstanden?"
    
  Julian nickte, seine Lippen zitterten.
    
  "Tapferer Junge", sagte Paul und umarmte ihn.
    
  "Was, wenn du nicht zurückkommst?"
    
  "Denk nicht mal dran, Julian. Wir machen das."
    
  Nachdem Paul und Manfred Julian in seinem Versteck aufgespürt hatten, kehrten sie zum Auto zurück.
    
  "Warum hast du ihm nicht gesagt, was er tun soll, wenn wir nicht zurückkommen?", fragte Manfred.
    
  "Weil er ein schlauer Junge ist. Er wird in den Koffer schauen, das Geld nehmen und den Rest dalassen. Außerdem habe ich niemanden, zu dem ich ihn schicken könnte. Wie sieht die Wunde aus?", fragte er, schaltete die Leselampe an und entfernte den Verband vom Auge.
    
  "Es ist geschwollen, aber nicht stark. Die Kappe ist nicht besonders rot. Tut es weh?"
    
  "Von wegen."
    
  Paul warf einen Blick in den Rückspiegel. Wo einst sein Augapfel gewesen war, prangte nun eine Stelle faltiger Haut. Ein kleiner Blutstropfen rann aus seinem Augenwinkel, wie eine scharlachrote Träne.
    
  "Das muss alt aussehen, verdammt noch mal."
    
  "Sie werden dich vielleicht nicht auffordern, dein Abzeichen abzunehmen."
    
  "Danke schön".
    
  Er zog den Flicken aus der Tasche, klebte ihn auf und warf die Gazefeinste aus dem Fenster in die Gosse. Als er sich wieder im Spiegel betrachtete, lief ihm ein Schauer über den Rücken.
    
  Der Mann, der ihn anblickte, war Jürgen.
    
  Er betrachtete die Nazi-Armbinde an seinem linken Arm.
    
  "Ich dachte einst, ich würde lieber sterben, als dieses Symbol zu tragen", dachte Paul. Heute Boden Rainer tot . Ich bin jetzt Jürgen von Schroeder.
    
    Er stieg vom Beifahrersitz nach hinten und versuchte sich daran zu erinnern, wie sein Bruder gewesen war, an seine verächtliche Art, sein arrogantes Auftreten. Die Art, wie er seine Stimme erhob, als wäre sie ein Teil von ihm selbst, und wie er damit versuchte, alle anderen minderwertig fühlen zu lassen.
    
  "Ich schaffe das", sagte sich Paul. "Wir werden sehen..."
    
  "Bring sie in Bewegung, Manfred. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren."
    
    
  59
    
    
  Arbeit macht frei
    
  Dies waren die Worte, die in eisernen Lettern über den Toren des Lagers prangten. Doch die Worte waren nichts weiter als Striche in anderer Form. Niemand dort würde sich seine Freiheit durch Arbeit verdienen.
    
  Als der Mercedes am Eingang hielt, kam ein verschlafener Wachmann in schwarzer Uniform aus der Wachkabine, leuchtete kurz mit seiner Taschenlampe ins Auto und bedeutete ihnen, weiterzufahren. Die Tore öffneten sich sofort.
    
  "Es war einfach", flüsterte Manfred.
    
  "Kennst du ein Gefängnis, in das es schwer war, hineinzukommen? Das Schwierigste ist normalerweise, wieder herauszukommen", antwortete Paul.
    
  Das Tor war vollständig geöffnet, aber das Auto bewegte sich nicht.
    
  "Was zum Teufel stimmt nicht mit dir? Hör nicht da auf."
    
  "Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, Paul", antwortete Manfred, während sich seine Hände fester um das Lenkrad klammerten.
    
  "Mist".
    
  Paul öffnete das Fenster und winkte dem Wachmann herüber. Er rannte zum Auto.
    
  "Ja, Sir?"
    
  "Oberbefehlshaber, mir raucht der Kopf. Bitte erklären Sie meinem idiotischen Fahrer, wie er zu dem Verantwortlichen hier kommt. Ich bringe Befehle aus München."
    
  "Die einzigen Personen befinden sich im Moment im Wachhaus, Sir."
    
  "Na dann, los, Korporal, sagen Sie es ihm."
    
  Der Wächter gab Manfred Anweisungen, der seine Missbilligung nicht vortäuschen musste. "Übertreibst du es nicht ein bisschen?", fragte Manfred.
    
  "Wenn Sie meinen Bruder jemals mit den Mitarbeitern sprechen sehen würden... dann wäre er an einem seiner besten Tage."
    
  Manfred fuhr um das umzäunte Gelände herum; trotz geschlossener Fenster drang ein seltsamer, stechender Geruch in den Wagen. Auf der anderen Seite konnten sie die dunklen Umrisse unzähliger Baracken erkennen. Die einzige Bewegung kam von einer Gruppe Gefangener, die neben einer beleuchteten Straßenlaterne herliefen. Sie trugen gestreifte Overalls mit einem einzelnen gelben Stern auf der Brust. Das rechte Bein jedes Mannes war an den Knöchel des Hintermanns gebunden. Wenn einer fiel, stürzten mindestens vier oder fünf andere mit ihm.
    
  "Bewegt euch, ihr Hunde! Ihr lauft so lange, bis ihr zehn Runden ohne zu stolpern geschafft habt!", brüllte der Wärter und fuchtelte mit dem Stock, mit dem er die gefallenen Gefangenen geschlagen hatte. Diejenigen, die gestürzt waren, rappelten sich schnell wieder auf, ihre Gesichter voller Schlamm und verängstigt.
    
  "Oh mein Gott, ich kann es nicht fassen, dass Alice in dieser Hölle ist", murmelte Paul. "Wir dürfen bloß nicht versagen, sonst landen wir neben ihr als Ehrengäste. Es sei denn, wir werden erschossen."
    
  Der Wagen hielt vor einem niedrigen, weißen Gebäude, dessen beleuchtete Tür von zwei Soldaten bewacht wurde. Paul hatte bereits nach dem Türgriff gegriffen, als Manfred ihn aufhielt.
    
  "Was machst du da?", flüsterte er. "Ich muss dir die Tür öffnen!"
    
  Paul riss sich gerade noch rechtzeitig zusammen. Seine Kopfschmerzen und die Desorientierung hatten sich in den letzten Minuten verschlimmert, und er mühte sich, seine Gedanken zu ordnen. Ihm überkam ein Gefühl der Furcht vor dem, was er im Begriff war zu tun. Einen Moment lang war er versucht, Manfred zu sagen, er solle umkehren und so schnell wie möglich von hier verschwinden.
    
  Ich kann das Alice nicht antun. Oder Julian, oder mir selbst. Ich muss da rein... koste es, was es wolle.
    
  Die Autotür stand offen. Paul stellte einen Fuß auf den Betonboden und steckte den Kopf hinaus, woraufhin die beiden Soldaten sofort strammstanden und die Hände hoben. Paul stieg aus dem Mercedes und erwiderte den Gruß.
    
  "Nur keine Sorge", sagte er, als er durch die Tür trat.
    
  Der Wachstuhl bestand aus einem kleinen, büroähnlichen Raum mit drei oder vier ordentlichen Schreibtischen, an denen jeweils neben einem Stiftehalter eine kleine Hakenkreuzfahne hing. Als einzige Dekoration an den Wänden prangte ein Porträt des Führers. Neben der Tür stand ein langer, tischartiger Tresen, hinter dem ein grimmig dreinblickender Beamter saß. Er richtete sich auf, als Paul eintrat.
    
  "Heil Hitler!"
    
  "Heil Hitler!", rief Paul und blickte sich im Raum um. Hinten befand sich ein Fenster, das in einen Gemeinschaftsraum überging. Durch das Glas konnte er etwa zehn Soldaten sehen, die in einer Rauchwolke Karten spielten.
    
  "Guten Abend, Herr Obersturmführer", sagte der Offizier. "Was kann ich Ihnen zu dieser späten Stunde behilflich sein?"
    
  "Ich bin aus dringenden Gründen hier. Ich muss eine weibliche Gefangene mit nach München nehmen, um sie zu verhören."
    
  "Selbstverständlich, Sir. Und der Name?"
    
  "Alys Tannenbaum."
    
  "Ah, die, die sie gestern reingebracht haben. Wir haben hier nicht viele Frauen - höchstens fünfzig, wissen Sie. Schade, dass sie sie mitnehmen. Sie ist eine der wenigen, die ... gar nicht so schlecht ist", sagte er mit einem lüsternen Lächeln.
    
  "Meinen Sie für einen Juden?"
    
  Der Mann hinter dem Tresen schluckte angesichts der Drohung in Pauls Stimme.
    
  "Gewiss, mein Herr, nicht schlecht für einen Juden."
    
  "Natürlich. Na dann, worauf wartest du noch? Bring sie her!"
    
  "Sofort, Sir. Darf ich bitte den Versetzungsbefehl sehen, Sir?"
    
  Paul hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und die Fäuste geballt. Er hatte seine Antwort auf diese Frage vorbereitet. Wenn seine kleine Rede Wirkung gezeigt hätte, hätten sie Alice herausgeholt, wären ins Auto gesprungen und hätten diesen Ort verlassen, frei wie der Wind. Andernfalls hätte es einen Anruf gegeben, vielleicht sogar mehrere. In weniger als einer halben Stunde würden er und Manfred die Ehrengäste des Camps sein.
    
  "Nun hören Sie gut zu, Herr..."
    
  "Faber, Sir. Gustav Faber ."
    
  "Hören Sie, Herr Faber. Vor zwei Stunden lag ich noch mit diesem hinreißenden Mädchen aus Frankfurt im Bett, der ich schon seit Tagen hinterherlaufe. Tagen! Plötzlich klingelte das Telefon, und wissen Sie, wer es war?"
    
  "Nein, Sir."
    
  Paul beugte sich über den Tresen und senkte vorsichtig seine Stimme.
    
  "Es war Reinhard Heydrich, der große Mann persönlich. Er sagte zu mir: ‚Jürgen, mein Guter, bring mir das jüdische Mädchen, das wir gestern nach Dachau geschickt haben, weil wir anscheinend nicht genug aus ihr herausholen konnten." Und ich sagte zu ihm: ‚Kann nicht jemand anderes gehen?" Und er sagte zu mir: ‚Nein, weil ich will, dass du sie auf dem Weg bearbeitest. Erschrecke sie mit deiner besonderen Methode." Also stieg ich in mein Auto, und hier bin ich nun. Alles, um einem Freund einen Gefallen zu tun. Aber das heißt nicht, dass ich nicht schlechte Laune habe. Also, schafft diese jüdische Hure endlich hier weg, damit ich zu meiner kleinen Freundin zurückkehren kann, bevor sie einschläft."
    
  "Entschuldigen Sie, Sir, aber..."
    
  "Herr Faber, wissen Sie, wer ich bin?"
    
    " Nein , Sir ."
    
  "Ich bin Baron von Schroeder."
    
    Bei diesen Worten veränderte sich der Gesichtsausdruck des kleinen Mannes.
    
  "Warum haben Sie das nicht schon früher gesagt, Sir? Ich bin ein guter Freund von Adolf Eichmann. Er hat mir viel über Sie erzählt", senkte er die Stimme, "und ich weiß, dass Sie beide im Auftrag von Herrn Heydrich auf einer Sondermission sind. Machen Sie sich keine Sorgen, ich kümmere mich darum."
    
  Er stand auf, ging in den Gemeinschaftsraum und rief einem der Soldaten zu, der sichtlich verärgert über die Unterbrechung seines Kartenspiels war. Wenige Augenblicke später verschwand der Mann durch eine Tür außer Sichtweite von Paul.
    
  Inzwischen war Faber zurück. Er zog ein violettes Formular unter dem Tresen hervor und begann, es auszufüllen.
    
  "Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen? Ich muss Ihre Sozialversicherungsnummer notieren."
    
  Paul hielt eine Ledergeldbörse hoch.
    
  "Alles ist da. Erledigen Sie es schnell."
    
  Faber zog seinen Ausweis hervor und starrte einen Moment lang auf das Foto. Paul beobachtete ihn aufmerksam. Er sah einen Anflug von Zweifel auf dem Gesicht des Beamten, als dieser ihn kurz ansah und dann wieder auf das Foto blickte. Er musste etwas tun. Ihn ablenken, ihm einen vernichtenden Schlag versetzen, jeden Zweifel ausräumen.
    
  "Was ist los, Sie können sie nicht finden? Ich muss sie mir ansehen?"
    
  Als der Offizielle ihn verwirrt ansah, hob Paul kurz seinen Streifen hoch und kicherte unangenehm.
    
  "N-nein, Sir. Ich notiere es nur jetzt."
    
  Er gab Paul die Ledergeldbörse zurück.
    
  "Mein Herr, ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich das erwähne, aber... da ist Blut in Ihrer Augenhöhle."
    
  "Oh, vielen Dank, Herr Faber. Der Arzt entfernt Gewebe, dessen Bildung Jahre gedauert hat. Er sagt, er könne mir ein Glasauge einsetzen. Im Moment bin ich seinen Instrumenten ausgeliefert. Jedenfalls ..."
    
  "Alles ist bereit, Sir. Sehen Sie, sie werden sie jetzt hierher bringen."
    
  Hinter Paul öffnete sich die Tür, und er hörte Schritte. Noch drehte er sich nicht zu Alice um, aus Angst, sein Gesicht könnte auch nur die geringste Regung verraten, oder schlimmer noch, sie könnte ihn erkennen. Erst als sie neben ihm stand, wagte er einen kurzen Seitenblick.
    
  Alice, gekleidet in einen grob wirkenden grauen Umhang, senkte den Kopf und starrte auf den Boden. Sie war barfuß und ihre Hände waren gefesselt.
    
  Denk nicht darüber nach, wie sie ist, dachte Paul. Denk nur daran, sie lebend hier rauszuholen.
    
  "Nun, wenn das alles ist..."
    
  "Jawohl, bitte unterschreiben Sie hier und unten."
    
  Der falsche Baron nahm einen Stift und versuchte, seine Kritzeleien unleserlich zu machen. Dann ergriff er Alices Hand, drehte sich um und zog sie mit sich.
    
  "Nur noch eine letzte Frage, Sir?"
    
  Paul drehte sich wieder um.
    
  "Was zum Teufel soll das?", rief er gereizt.
    
  "Ich muss Herrn Eichmann anrufen, um ihn um die Genehmigung zur Abreise des Gefangenen zu bitten, da er es war, der das Dokument unterzeichnet hat."
    
  Entsetzt überlegte Paul, was er sagen sollte.
    
  "Meinst du, es ist nötig, unseren Freund Adolf wegen einer so trivialen Angelegenheit zu wecken?"
    
  "Das dauert keine Minute, Sir", sagte der Beamte und hielt bereits den Telefonhörer in der Hand.
    
    
  60
    
    
  "Wir sind erledigt", dachte Paul.
    
  Ein Schweißtropfen bildete sich auf seiner Stirn, rann über seine Braue und tropfte in die Augenhöhle seines gesunden Auges. Paul blinzelte vorsichtig, doch es bildeten sich weitere Tropfen. Der Sicherheitsraum war brütend heiß, besonders dort, wo Paul stand, direkt unter dem Licht, das den Eingang erhellte. Jürgens Mütze, die zu eng saß, machte es nicht besser.
    
  Sie sollten nicht merken, dass ich nervös bin.
    
  "Herr Eichmann?"
    
  Fabers scharfe Stimme hallte durch den Raum. Er gehörte zu jenen Menschen, die am Telefon lauter sprachen, damit ihre Stimme besser durch die Kabel übertragen wurde.
    
  "Entschuldigen Sie die Störung. Baron von Schroeder ist hier; er ist gekommen, um einen Gefangenen abzuholen, der..."
    
  Die Gesprächspausen waren für Paul eine Wohltat, aber eine Qual für seine Nerven, und er hätte alles dafür gegeben, die andere Seite zu hören. "Richtig. Ja, in der Tat. Ja, ich verstehe."
    
  In diesem Moment blickte der Offizielle mit ernster Miene zu Paul auf. Paul erwiderte seinen Blick, während ein weiterer Schweißtropfen die Spur des ersten nachzeichnete.
    
  "Jawohl, Sir. Verstanden. Ich werde es tun."
    
  Er legte langsam auf.
    
  "Herr Baron?"
    
  "Was passiert?"
    
  "Könnten Sie bitte eine Minute hier warten? Ich bin gleich wieder da."
    
  "Sehr gut, aber mach es schnell!"
    
  Faber ging zurück zur Tür, die in den Gemeinschaftsraum führte. Durch die Glasscheibe sah Paul, wie er sich einem der Soldaten näherte, der wiederum auf seine Kollegen zuging.
    
  Sie haben uns durchschaut. Sie haben Jürgens Leiche gefunden und wollen uns jetzt verhaften. Der einzige Grund, warum sie uns noch nicht angegriffen haben, ist, dass sie uns lebend fassen wollen. Aber das wird nicht passieren.
    
  Paul war zutiefst verängstigt. Paradoxerweise hatten die Kopfschmerzen nachgelassen, zweifellos dank des Adrenalins, das durch seine Adern schoss. Vor allem spürte er die Berührung seiner Hand auf Alices Haut. Sie hatte seit ihrem Eintreten nicht aufgesehen. Am anderen Ende des Raumes wartete der Soldat, der sie hereingebracht hatte, und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Boden.
    
  Wenn sie uns holen kommen, ist das Letzte, was ich tun werde, sie zu küssen.
    
  Der Beamte kehrte zurück, nun in Begleitung zweier weiterer Soldaten. Paul wandte sich ihnen zu, woraufhin Alice es ihm gleichtat.
    
  "Herr Baron?"
    
  "Ja?"
    
  "Ich habe mit Herrn Eichmann gesprochen, und er hat mir eine erstaunliche Neuigkeit mitgeteilt. Ich musste sie den anderen Soldaten mitteilen. Diese Leute wollen mit Ihnen sprechen."
    
  Die beiden, die aus dem Gemeinschaftsraum gekommen waren, traten vor.
    
  "Gestatten Sie mir, Ihnen im Namen des gesamten Unternehmens die Hand zu schütteln, mein Herr."
    
  "Genehmigung erteilt, Korporal", brachte Paul erstaunt hervor.
    
  "Es ist mir eine Ehre, einen so gestandenen Kämpfer kennenzulernen, Sir", sagte der Soldat und deutete auf eine kleine Medaille auf Pauls Brust. Ein Adler im Flug, die Schwingen ausgebreitet, einen Lorbeerkranz haltend. Der Blutorden.
    
  Paul, der keine Ahnung hatte, was die Medaille bedeutete, nickte einfach und schüttelte den Soldaten und dem Offiziellen die Hand.
    
  "War das der Zeitpunkt, als Sie Ihr Auge verloren haben, Sir?", fragte Faber ihn lächelnd.
    
  In Pauls Kopf schrillten die Alarmglocken. Das könnte eine Falle sein. Aber er hatte keine Ahnung, worauf der Soldat hinauswollte oder wie er reagieren sollte.
    
  Was zum Teufel würde Jürgen den Leuten erzählen? Würde er sagen, es sei ein Unfall bei einer dummen Schlägerei in seiner Jugend gewesen, oder würde er so tun, als sei seine Verletzung etwas anderes als das, was sie war?
    
  Die Soldaten und der Beamte beobachteten ihn und lauschten seinen Worten.
    
  "Mein ganzes Leben war dem Führer gewidmet, meine Herren. Und mein Körper auch."
    
  "Sie wurden also während des Putsches am 23. verwundet?", hakte Faber nach.
    
  Er wusste, dass Jürgen schon einmal ein Auge verloren hatte, und er hätte es niemals gewagt, eine so offensichtliche Lüge zu erzählen. Die Antwort war also nein. Aber welche Erklärung sollte er geben?
    
  "Ich fürchte, nein, meine Herren. Es war ein Jagdunfall."
    
  Die Soldaten wirkten etwas enttäuscht, aber der Beamte lächelte immer noch.
    
  "Vielleicht war es doch keine Falle", dachte Paul erleichtert.
    
  "Sollten wir die Höflichkeitsfloskeln nun hinter uns gelassen haben, Herr Faber?"
    
  "Nein, Sir. Herr Eichmann hat mir aufgetragen, Ihnen dies zu geben", sagte er und hielt eine kleine Schachtel hoch. "Das sind die Neuigkeiten, von denen ich gesprochen habe."
    
  Paul nahm dem Beamten die Schachtel aus der Hand und öffnete sie. Darin befanden sich ein maschinengeschriebenes Blatt und etwas in braunes Papier eingewickelt. Mein lieber Freund, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer hervorragenden Leistung. Ich finde, Sie haben die Ihnen anvertraute Aufgabe mehr als erfüllt. Wir werden in Kürze mit den von Ihnen gesammelten Beweisen beginnen. Ich habe auch die Ehre, Ihnen den persönlichen Dank des Führers zu übermitteln. Er fragte mich nach Ihnen, und als ich ihm erzählte, dass Sie bereits den Blutorden und das goldene Parteiabzeichen auf der Brust tragen, wollte er wissen, welche besondere Ehre wir Ihnen erweisen könnten. Wir unterhielten uns einige Minuten, und dann erzählte der Führer diesen brillanten Scherz. Er ist ein Mann mit einem feinen Sinn für Humor, so sehr, dass er ihn von seinem persönlichen Juwelier anfertigen ließ. Kommen Sie so bald wie möglich nach Berlin. Ich habe große Pläne mit Ihnen. Hochachtungsvoll, Reinhard Heydrich
    
  Paulus verstand nichts von dem, was er soeben gelesen hatte, und entfaltete den Gegenstand. Es war ein goldenes Emblem: ein doppelköpfiger Adler auf einem rautenförmigen germanischen Kreuz. Die Proportionen stimmten nicht, und das Material war eine bewusste und anstößige Parodie, doch Paulus erkannte das Symbol sofort.
    
  Es war das Emblem eines Freimaurers des 32. Grades.
    
  Jürgen, was hast du getan?
    
  "Meine Herren", sagte Faber und deutete auf ihn, "Applaus für Baron von Schroeder, den Mann, der laut Herrn Eichmann eine für das Reich so wichtige Aufgabe erfüllte, dass der Führer selbst die Schaffung einer einzigartigen Auszeichnung anordnete, die eigens für ihn geschaffen wurde."
    
  Die Soldaten applaudierten, als ein verwirrter Paul mit dem Gefangenen nach draußen ging. Faber begleitete sie und hielt ihm die Tür auf. Er legte Paul etwas in die Hand.
    
  "Die Schlüssel zu den Handschellen, Sir."
    
  "Danke, Faber."
    
  "Es war mir eine Ehre, Sir."
    
  Als sich der Wagen der Ausfahrt näherte, drehte sich Manfred leicht um, sein Gesicht war schweißnass.
    
  "Was zum Teufel hat so lange gedauert?"
    
  "Später, Manfred. Nicht, bevor wir hier weg sind", flüsterte Paul.
    
  Seine Hand suchte Alices Hand, und sie drückte sie stumm zurück. So verharrten sie, bis sie das Tor durchschritten hatten.
    
  "Alice", sagte er schließlich und nahm ihr Kinn in die Hand, "du kannst dich entspannen. Wir sind unter uns."
    
  Schließlich blickte sie auf. Ihr Körper war übersät mit blauen Flecken.
    
  "Ich wusste sofort, dass du es warst, als du meine Hand ergriffen hast. Oh, Paul, ich hatte solche Angst", sagte sie und legte ihren Kopf an seine Brust.
    
  "Geht es dir gut?", fragte Manfred.
    
  "Ja", antwortete sie schwach.
    
  "Hat dir dieser Bastard irgendetwas angetan?", fragte ihr Bruder. Paul erzählte ihm nicht, dass Jürgen damit geprahlt hatte, Alice brutal vergewaltigt zu haben.
    
  Sie zögerte einen Moment, bevor sie antwortete, und als sie es tat, vermied sie Pauls Blick.
    
  "NEIN".
    
  "Niemand wird es je erfahren, Alice", dachte Paul. "Und ich werde dich niemals wissen lassen, dass ich es weiß."
    
  "Das ist auch gut so. So oder so, es wird dich freuen zu hören, dass Paul den Mistkerl umgebracht hat. Du hast keine Ahnung, wie weit dieser Mann gegangen ist, um dich da rauszuholen."
    
  Alice sah Paul an und begriff plötzlich, was dieser Plan beinhaltete und wie viel er dafür geopfert hatte. Sie hob die noch immer gefesselten Hände und entfernte das Pflaster.
    
  "Paul!", rief sie und unterdrückte Schluchzer. Sie umarmte ihn.
    
  "Sei still... sag nichts."
    
  Alice verstummte. Und dann heulten die Sirenen auf.
    
    
  61
    
    
  "Was zum Teufel geht hier vor?", fragte Manfred.
    
  Er hatte noch fünfzehn Meter bis zum Lagerausgang, als eine Sirene heulte. Paul blickte aus dem Heckfenster des Wagens und sah mehrere Soldaten, die aus dem Wachhäuschen flohen, das sie gerade verlassen hatten. Offenbar hatten sie ihn als Betrüger entlarvt und beeilten sich, die schwere Metalltür des Ausgangs zu schließen.
    
  "Gib Gas! Rein da, bevor er abschließt!", brüllte Paul Manfred an, der sofort die Zähne zusammenbiss, das Lenkrad fester umklammerte und gleichzeitig das Gaspedal durchdrückte. Der Wagen schoss wie ein Blitz los, und der Wachmann sprang zur Seite, gerade als der Wagen mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen die Metalltür krachte. Manfreds Stirn prallte gegen das Lenkrad, doch er konnte den Wagen unter Kontrolle halten.
    
  Der Wachmann am Tor zog eine Pistole und eröffnete das Feuer. Die Heckscheibe zersplitterte in tausend Stücke.
    
  "Was auch immer du tust, fahr nicht Richtung München, Manfred! Bleib von der Hauptstraße fern!", rief Paul und schützte Alice vor den umherfliegenden Glassplittern. "Nimm den Umweg, den wir auf dem Hinweg gesehen haben."
    
  "Bist du verrückt?", fragte Manfred, tief in seinem Sitz zusammengesunken und kaum noch in der Lage zu erkennen, wohin er fuhr. "Wir haben keine Ahnung, wohin diese Straße führt! Was ist mit ...?"
    
  "Wir dürfen nicht riskieren, dass sie uns erwischen", sagte Paul und unterbrach sie.
    
  Manfred nickte und bog abrupt ab auf einen Feldweg, der in der Dunkelheit verschwand. Paul zog die Luger seines Bruders aus dem Holster. Es kam ihm vor, als sei es eine Ewigkeit her, dass er sie aus dem Stall geholt hatte. Er überprüfte das Magazin: nur acht Patronen. Falls sie verfolgt wurden, würden sie nicht weit kommen.
    
  In diesem Moment durchbrachen Scheinwerfer die Dunkelheit hinter ihnen, und sie hörten das Klicken einer Pistole und das Rattern eines Maschinengewehrs. Zwei Wagen folgten ihnen, und obwohl keiner von ihnen so schnell war wie der Mercedes, kannten ihre Fahrer die Gegend. Paul wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie sie eingeholt hatten. Und das letzte Geräusch, das sie hörten, würde ohrenbetäubend sein.
    
  "Verdammt! Manfred, wir müssen sie endlich loswerden!"
    
  "Wie sollen wir das denn schaffen? Ich weiß ja nicht einmal, wo wir hingehen."
    
  Paul musste schnell nachdenken. Er wandte sich Alice zu, die immer noch zusammengekauert auf ihrem Platz saß.
    
  "Alice, hör mir zu."
    
  Sie warf ihm einen nervösen Blick zu, und Paul sah Angst in ihren Augen, aber auch Entschlossenheit. Sie versuchte zu lächeln, und Paul spürte einen Stich der Liebe und des Schmerzes für alles, was sie durchgemacht hatte.
    
  "Wissen Sie, wie man so etwas benutzt?", fragte er und hielt die Luger hoch.
    
  Alice schüttelte den Kopf. "Du musst sie aufheben und abdrücken, wenn ich es dir sage. Die Sicherung ist gelöst. Sei vorsichtig."
    
  "Und was nun?", rief Manfred.
    
  "Jetzt gibst du Gas, und wir versuchen, ihnen zu entkommen. Wenn du einen Weg, eine Straße, einen Reitweg - irgendetwas - siehst, nimm ihn. Ich habe eine Idee."
    
  Manfred nickte und trat aufs Gaspedal. Der Wagen heulte auf und raste über die holprige Straße, wobei er die Schlaglöcher verschlang. Erneut brach ein Feuergefecht aus, und der Rückspiegel zersplitterte, als weitere Kugeln den Kofferraum trafen. Endlich fanden sie vor sich, wonach sie gesucht hatten.
    
  "Schau mal dort drüben! Die Straße führt bergauf, dann gabelt sie sich nach links. Wenn ich dir das sage, schalte das Licht aus und fahre diesen Pfad hinunter."
    
  Manfred nickte und richtete sich auf dem Fahrersitz auf, bereit anzuhalten, als Paul sich zum Rücksitz umdrehte.
    
  "Okay, Alice! Schieß zweimal!"
    
  Alice richtete sich auf, der Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht und raubte ihr die Sicht. Sie hielt die Pistole mit beiden Händen und richtete sie auf die Lichter, die sie verfolgten. Zweimal drückte sie ab und verspürte ein seltsames Gefühl von Macht und Befriedigung: Vergeltung. Überrascht vom Feuer wichen ihre Verfolger, kurz abgelenkt, an den Straßenrand zurück.
    
  "Los, Manfred!"
    
  Er schaltete die Scheinwerfer aus und riss das Lenkrad herum, um den Wagen in den dunklen Abgrund zu lenken. Dann schaltete er in den Leerlauf und fuhr die neue Straße entlang, die kaum mehr als ein Pfad in den Wald hinein war.
    
  Alle drei hielten den Atem an und kauerten sich in ihren Sitzen zusammen, als ihre Verfolger mit voller Geschwindigkeit vorbeirasten, ohne zu ahnen, dass ihre Flüchtlinge entkommen waren.
    
  "Ich glaube, wir haben sie verloren!", sagte Manfred und streckte die Arme, die ihm vom krampfhaften Festhalten am Lenkrad auf der holprigen Straße schmerzten. Blut tropfte aus seiner Nase, obwohl sie nicht gebrochen aussah.
    
  "Okay, lasst uns zurück zur Hauptstraße gehen, bevor sie merken, was passiert ist."
    
  Als klar wurde, dass sie ihren Verfolgern erfolgreich entkommen waren, ging Manfred zu der Scheune, in der Julian wartete. Kurz vor seinem Ziel bog er von der Straße ab und parkte daneben. Paul nutzte die Gelegenheit, Alice die Handschellen abzunehmen.
    
  "Lasst uns ihn holen. Er wird eine Überraschung erleben."
    
  "Wen soll ich mitbringen?", fragte sie.
    
  "Unser Sohn Alice. Er versteckt sich hinter der Hütte."
    
  "Julian? Du hast Julian hierher gebracht? Seid ihr beide verrückt?", schrie sie.
    
  "Wir hatten keine Wahl", protestierte Paul. "Die letzten Stunden waren furchtbar."
    
  Sie hörte ihn nicht, weil sie bereits aus dem Auto stieg und zur Hütte rannte.
    
  "Julian! Julian, mein Schatz, hier ist Mama! Wo bist du?"
    
  Paul und Manfred eilten ihr nach, aus Angst, sie könnte stürzen und sich verletzen. Sie stießen in der Ecke der Hütte mit Alice zusammen. Sie blieb wie angewurzelt stehen, vor Schreck erstarrt, die Augen weit aufgerissen.
    
  "Was ist denn los, Alice?", fragte Paul.
    
  "Was ist denn los, mein Freund?", sagte eine Stimme aus der Dunkelheit, "es ist so, dass ihr drei euch wirklich benehmen müsst, wenn euch das Wohl dieses kleinen Mannes am Herzen liegt."
    
  Paul unterdrückte einen Wutschrei, als die Gestalt ein paar Schritte auf die Scheinwerfer zuging und so nah herankam, dass sie sie erkannten und sehen konnten, was sie tat.
    
  Es war Sebastian Keller. Und er richtete eine Pistole auf Julian's Kopf.
    
    
  62
    
    
  "Mama!", schrie Julian, völlig verängstigt. Der alte Buchhändler hatte den linken Arm um den Hals des Jungen gelegt; die andere Hand war auf seine Pistole gerichtet. Paul suchte vergeblich nach der Pistole seines Bruders. Das Holster war leer; Alice hatte es im Auto gelassen. "Tut mir leid, er hat mich überrascht. Dann sah er den Koffer und zog eine Pistole heraus ..."
    
  "Julian, mein Lieber", sagte Alice ruhig. "Mach dir jetzt keine Sorgen."
    
  ICH-"
    
  "Ruhe jetzt!", rief Keller. "Das ist eine private Angelegenheit zwischen Paul und mir."
    
  "Du hast doch gehört, was er gesagt hat", sagte Paul.
    
  Er versuchte, Alice und Manfred aus Kellers Schusslinie zu ziehen, aber der Buchhändler hielt ihn auf und drückte Julians Hals noch fester zu.
    
  "Bleib, wo du bist, Paul. Es wäre besser für den Jungen, wenn du hinter Fräulein Tannenbaum stehen würdest."
    
  "Du bist eine Ratte, Keller. Nur eine feige Ratte würde sich hinter einem wehrlosen Kind verstecken."
    
  Der Buchhändler begann sich zurückzuziehen und sich wieder in den Schatten zu verstecken, bis sie nur noch seine Stimme hören konnten.
    
  "Es tut mir leid, Paul. Glaub mir, es tut mir leid. Aber ich will nicht so enden wie Clovis und dein Bruder."
    
  "Aber wie..."
    
  "Woher sollte ich das wissen? Ich habe Sie im Auge behalten, seit Sie vor drei Tagen meinen Buchladen betreten haben. Und die letzten vierundzwanzig Stunden waren sehr aufschlussreich. Aber jetzt bin ich müde und möchte etwas schlafen. Geben Sie mir einfach, was ich verlange, und ich werde Ihren Sohn freilassen."
    
  "Wer zum Teufel ist dieser Verrückte, Paul?", fragte Manfred.
    
  "Der Mann, der meinen Vater getötet hat."
    
  In Kellers Stimme war deutliche Überraschung zu hören.
    
  "Nun ja... das bedeutet, dass du nicht so naiv bist, wie du scheinst."
    
  Paul trat vor und stellte sich zwischen Alice und Manfred.
    
  "Als ich den Brief meiner Mutter las, schrieb sie, er sei mit ihrem Schwager Nagel und einer dritten Person, einem ‚Freund", zusammen. Da wurde mir klar, dass du mich von Anfang an manipuliert hattest."
    
  "In jener Nacht bat mich dein Vater, bei einigen einflussreichen Leuten für ihn einzutreten. Er wollte, dass der Mord, den er in den Kolonien begangen hatte, und seine Desertion ungesühnt blieben. Es war schwierig, obwohl dein Onkel und ich es vielleicht hätten erreichen können. Im Gegenzug bot er uns zehn Prozent der Steine an. Zehn Prozent!"
    
  "Du hast ihn also getötet."
    
  "Es war ein Unfall. Wir haben gestritten. Er hat eine Waffe gezogen, ich bin auf ihn losgegangen... Was spielt das schon für eine Rolle?"
    
  "Aber es spielte eine Rolle, nicht wahr, Keller?"
    
  "Wir erwarteten, unter seinen Papieren eine Schatzkarte zu finden, aber es gab keine Karte. Wir wussten, dass er einen Umschlag an Ihre Mutter geschickt hatte, und wir dachten, sie hätte ihn vielleicht irgendwann aufbewahrt... Aber Jahre vergingen, und er tauchte nie wieder auf."
    
  "Weil er ihr nie eine Karte geschickt hat, Keller."
    
  Da verstand Paul. Das letzte Puzzleteil fügte sich ein.
    
  "Hast du es gefunden, Paul? Lüg mich nicht an; ich kann dich wie ein offenes Buch lesen."
    
  Paul blickte sich um, bevor er antwortete. Die Lage hätte nicht schlimmer sein können. Keller hatte Julian in seiner Gewalt, und alle drei waren unbewaffnet. Im Scheinwerferlicht eines Autos wären sie ein leichtes Ziel für den Mann, der im Schatten lauerte. Und selbst wenn Paul angreifen sollte und Keller die Waffe vom Kopf des Jungen ablenkte, hätte er freie Bahn auf Pauls Körper.
    
  Ich muss ihn ablenken. Aber wie?
    
  Ihm kam nur der Gedanke, Keller die Wahrheit zu sagen.
    
  "Mein Vater hat Ihnen den Umschlag nicht für mich gegeben, oder?"
    
  Keller lachte verächtlich.
    
  "Paul, dein Vater war einer der größten Mistkerle, die ich je gesehen habe. Er war ein Schürzenjäger und Feigling, aber trotzdem ein lustiger Kerl. Wir hatten eine gute Zeit, aber Hans kümmerte sich nur um sich selbst. Die Geschichte mit dem Umschlag habe ich mir nur ausgedacht, um dich anzustacheln, um zu sehen, ob du nach all den Jahren noch etwas Aufruhr erzeugen kannst. Als du die Mauser genommen hast, Paul, hast du die Waffe genommen, die deinen Vater getötet hat. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Das ist dieselbe Waffe, die ich Julian an den Kopf halte."
    
  "Und die ganze Zeit über..."
    
  "Ja, ich habe die ganze Zeit auf diese Chance gewartet, den Preis einzufordern. Ich bin neunundfünfzig, Paul. Ich habe noch zehn gute Jahre vor mir, wenn ich Glück habe. Und ich bin sicher, eine Truhe voller Diamanten wird meinen Ruhestand aufpeppen. Also sag mir, wo die Karte ist, denn ich weiß, du weißt es."
    
  "Es ist in meinem Koffer."
    
  "Nein, das stimmt nicht. Ich habe es von oben bis unten durchgesehen."
    
  "Ich sage Ihnen, genau hier ist es."
    
  Es herrschte einige Sekunden lang Stille.
    
  "Sehr gut", sagte Keller schließlich. "Fräulein Tannenbaum wird ein paar Schritte auf mich zukommen und meinen Anweisungen folgen. Sie wird den Koffer ins Licht ziehen, und dann werden Sie sich hinhocken und mir zeigen, wo die Karte ist. Ist das klar?"
    
  Paul nickte.
    
  "Ich wiederhole: Ist das klar?", insistierte Keller und erhob die Stimme.
    
  "Alice", sagte Paul.
    
  "Ja, das ist klar", sagte sie mit fester Stimme und trat einen Schritt vor.
    
  Besorgt über ihren Tonfall ergriff Paul ihre Hand.
    
  "Alice, mach bloß nichts Dummes."
    
  "Das wird sie nicht tun, Paul. Keine Sorge", sagte Keller.
    
  Alice riss ihre Hand los. Irgendetwas an ihrer Art zu gehen, ihrer scheinbaren Passivität - wie sie in den Schatten trat, ohne die geringste Regung zu zeigen - ließ Pauls Herz zusammenzucken. Plötzlich überkam ihn die verzweifelte Gewissheit, dass alles sinnlos war. Dass in wenigen Minuten vier laute Knalle ertönen würden, vier Leichen auf einem Bett aus Kiefernnadeln lägen und sieben tote, kalte Augen die dunklen Silhouetten der Bäume betrachten würden.
    
  Alice war von Julians misslicher Lage so entsetzt, dass sie nichts tun konnte. Sie befolgte Kellers kurze, knappe Anweisungen genau und trat sofort in den beleuchteten Bereich, wobei sie rückwärts zurückwich und einen offenen Koffer voller Kleidung hinter sich herzog.
    
  Paul hockte sich hin und begann, in einem Haufen seiner Sachen zu wühlen.
    
  "Seien Sie sehr vorsichtig, was Sie tun", sagte Keller.
    
  Paul antwortete nicht. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte, den Schlüssel, zu dem ihn die Worte seines Vaters geführt hatten.
    
  Manchmal ist der größte Schatz dort verborgen, wo auch die größte Zerstörung lauert.
    
  Die Mahagonikiste, in der sein Vater seine Pistole aufbewahrte.
    
  Mit langsamen Bewegungen, die Hände stets sichtbar, öffnete Paul die Schachtel. Er krallte die Finger in das dünne rote Filzfutter und riss kräftig daran. Der Stoff riss mit einem Knall ab und gab ein kleines Stück Papier frei. Darauf befanden sich verschiedene Zeichnungen und Zahlen, handgeschrieben mit Tusche.
    
  "Also, Keller? Wie fühlt es sich an zu wissen, dass diese Karte all die Jahre direkt vor Ihrer Nase lag?", sagte er und hielt ein Blatt Papier hoch.
    
  Es entstand eine weitere Pause. Paul genoss es, die Enttäuschung im Gesicht des alten Buchhändlers zu sehen.
    
  "Sehr gut", sagte Keller heiser. "Geben Sie nun Alice das Papier und lassen Sie sie ganz langsam auf mich zukommen."
    
  Paul steckte die Karte ruhig in seine Hosentasche.
    
  "NEIN".
    
  "Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?"
    
  "Ich habe Nein gesagt."
    
  "Paul, tu, was er dir sagt!", sagte Alice.
    
  "Dieser Mann hat meinen Vater getötet."
    
  "Und er wird unseren Sohn töten!"
    
  "Du musst tun, was er sagt, Paul", drängte Manfred.
    
  "Sehr gut", sagte Paul, griff in seine Tasche und zog den Zettel heraus. "In diesem Fall ..."
    
  Mit einer schnellen Bewegung zerknüllte er es, steckte es sich in den Mund und begann zu kauen.
    
  "Nein!"
    
  Kellers Wutschrei hallte durch den Wald. Der alte Buchhändler trat aus dem Schatten und zerrte Julian hinter sich her, die Pistole noch immer auf dessen Schädel gerichtet. Doch als er sich Paul näherte, richtete er sie auf dessen Brust.
    
  "Verdammter Hurensohn!"
    
  "Komm noch ein bisschen näher", dachte Paul und machte sich zum Sprung bereit.
    
  "Du hattest kein Recht dazu!"
    
  Keller blieb stehen, immer noch außerhalb von Pauls Reichweite.
    
  Näher!
    
  Er begann, den Abzug zu drücken. Pauls Beinmuskeln spannten sich an.
    
  "Diese Diamanten gehörten mir!"
    
  Das letzte Wort verstummte zu einem durchdringenden, undefinierten Schrei. Die Kugel verließ die Pistole, doch Kellers Hand schnellte nach oben. Er ließ Julian los und drehte sich seltsam um, als wollte er etwas hinter sich erreichen. Im Lichtkegel entdeckte er ein merkwürdiges Glied mit einem roten Griff auf seinem Rücken.
    
  Das Jagdmesser, das Jürgen von Schroeder vor vierundzwanzig Stunden aus der Hand gefallen ist.
    
  Julian ließ das Messer die ganze Zeit in seinem Gürtel stecken und wartete auf den Moment, in dem die Pistole nicht mehr auf seinen Kopf gerichtet war. Er stach mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, zu, jedoch in einem ungünstigen Winkel, und fügte Keller nur eine oberflächliche Wunde zu. Mit einem Schmerzensschrei zielte Keller auf den Kopf des Jungen.
    
  In diesem Moment sprang Paul zu Boden, und seine Schulter traf Keller im unteren Rücken. Der Buchhändler sackte zusammen und versuchte, sich umzudrehen, doch Paul war bereits auf ihm, fixierte seine Arme mit den Knien und schlug ihm immer wieder ins Gesicht.
    
  Er attackierte den Buchhändler mehr als zwei Dutzend Mal, ohne sich um die Schmerzen in seinen Händen zu kümmern, die am nächsten Tag völlig angeschwollen waren, und die Schürfwunden an seinen Knöcheln. Sein Gewissen war wie weggeblasen, und für Paul zählte nur noch der Schmerz, den er verursachte. Er hörte erst auf, als er keinen weiteren Schaden anrichten konnte.
    
  "Paul. Das reicht", sagte Manfred und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Er ist tot."
    
  Paul drehte sich um. Julian lag in den Armen seiner Mutter, den Kopf an ihre Brust geschmiegt. Er betete zu Gott, dass sein Sohn nicht sehen würde, was er gerade getan hatte. Er zog Jürgens Jacke aus, die mit Kellers Blut getränkt war, und ging zu Julian, um ihn zu umarmen.
    
  "Geht es dir gut?"
    
  "Es tut mir leid, dass ich nicht auf dich gehört habe, was das Messer angeht", sagte der Junge und begann zu weinen.
    
  "Du warst sehr mutig, Julian. Und du hast uns das Leben gerettet."
    
  "Wirklich?"
    
  "In der Tat. Jetzt müssen wir gehen", sagte er und ging zum Auto. "Jemand könnte den Schuss gehört haben."
    
  Alice und Julian stiegen hinten ein, während Paul auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Manfred startete den Motor, und sie fuhren weiter.
    
  Sie warfen immer wieder nervöse Blicke in den Rückspiegel, doch niemand beobachtete sie. Zweifellos verfolgte jemand die Dachau-Flüchtlinge. Aber es stellte sich heraus, dass die Flucht in die entgegengesetzte Richtung von München die richtige Strategie gewesen war. Dennoch war es nur ein kleiner Sieg. Sie würden nie wieder in ihr altes Leben zurückkehren können.
    
  "Eines möchte ich wissen, Paul", flüsterte Manfred und durchbrach damit eine halbe Stunde später die Stille.
    
  "Was ist das?"
    
  "Hat dieses kleine Stück Papier tatsächlich zu einer Truhe voller Diamanten geführt?"
    
  "Ich glaube, so ist es passiert. Er ist irgendwo in Südwestafrika begraben."
    
  "Ich verstehe", sagte Manfred enttäuscht.
    
  "Möchten Sie sie sich einmal ansehen?"
    
  "Wir müssen Deutschland verlassen. Eine Schatzsuche wäre keine schlechte Idee. Schade, dass du das geschluckt hast."
    
  "Die Wahrheit ist", sagte Paul und zog eine Karte aus der Tasche, "dass ich die Nachricht über die Verleihung einer Medaille an meinen Bruder verschluckt habe. Wobei ich mir angesichts der Umstände nicht sicher bin, ob er etwas dagegen gehabt hätte."
    
    
  Epilog
    
    
    
  Straße von Gibraltar
    
  12. März 1940
    
  Als die Wellen gegen das provisorische Boot schlugen, begann Paul sich Sorgen zu machen. Die Überfahrt sollte doch einfach sein, nur ein paar Meilen über ruhige See, im Schutz der Nacht.
    
  Dann wurde die Sache komplizierter.
    
  Natürlich war in den letzten Jahren nichts einfach gewesen. Sie entkamen Deutschland über die österreichische Grenze ohne größere Schwierigkeiten und erreichten Anfang 1935 Südafrika.
    
  Es war eine Zeit des Neubeginns. Alices Lächeln kehrte zurück, und sie wurde wieder die starke, eigensinnige Frau, die sie immer gewesen war. Julians panische Angst vor der Dunkelheit ließ allmählich nach. Und Manfred entwickelte eine enge Freundschaft zu seinem Schwager, vor allem, weil Paul ihm erlaubte, beim Schach zu gewinnen.
    
  Die Suche nach Hans Rainers Schatz erwies sich als schwieriger als zunächst angenommen. Paul kehrte für einige Monate in die Diamantenmine zurück, nun in Begleitung von Manfred, der dank seiner Ingenieursausbildung Pauls Vorgesetzter wurde. Alice ihrerseits zögerte nicht lange und wurde zur inoffiziellen Fotografin bei allen gesellschaftlichen Anlässen während des Mandats.
    
  Gemeinsam hatten sie genug Geld gespart, um einen kleinen Bauernhof im Oranje-Flussbecken zu kaufen - genau den, von dem Hans und Nagel 32 Jahre zuvor Diamanten gestohlen hatten. In den vergangenen drei Jahrzehnten hatte das Anwesen mehrmals den Besitzer gewechselt, und viele behaupteten, es sei verflucht. Mehrere Leute warnten Paul, er würde sein Geld verschwenden, wenn er es kaufte.
    
  "Ich bin nicht abergläubisch", sagte er. "Und ich habe das Gefühl, dass sich mein Glück wenden könnte."
    
  Sie gingen dabei vorsichtig vor. Sie warteten mehrere Monate, bevor sie mit der Diamantensuche begannen. Dann, eines Sommerabends im Jahr 1936, brachen die vier im Schein des Vollmonds auf. Sie kannten die Gegend gut, da sie sonntags immer wieder mit Picknickkörben durch sie hindurchgegangen waren und so getan hatten, als würden sie spazieren gehen.
    
  Hans' Karte war erstaunlich genau, wie man es von einem Mann erwarten konnte, der sein halbes Leben lang Seekarten studiert hatte. Er hatte eine Schlucht und ein Bachbett eingezeichnet, sowie einen pfeilspitzenförmigen Felsen an der Stelle, wo sie sich trafen. Dreißig Schritte nördlich der Klippe begannen sie zu graben. Der Boden war weich, und es dauerte nicht lange, bis sie die Truhe fanden. Manfred pfiff ungläubig, als sie sie öffneten und die rauen Steine im Schein ihrer Fackeln sahen. Julian begann damit zu spielen, und Alice tanzte einen schwungvollen Foxtrott mit Paul, und es war keine Musik zu hören außer dem Zirpen der Grillen in der Schlucht.
    
  Drei Monate später feierten sie ihre Hochzeit in der Stadtkirche. Sechs Monate später ging Paul zum gemmologischen Gutachter und erzählte, er habe ein paar Steine in einem Bach auf seinem Grundstück gefunden. Er hob einige der kleineren Steine auf und beobachtete gespannt, wie der Gutachter sie gegen das Licht hielt, an einem Stück Filz rieb und seinen Schnurrbart glättete - all diese unnötigen Tricks, mit denen Experten wichtig wirken wollen.
    
  "Die sind von ziemlich guter Qualität. An deiner Stelle würde ich mir ein Sieb kaufen und anfangen, diesen Laden leerzupumpen, Junge. Ich nehme alles, was du mir bringst."
    
  Sie förderten zwei Jahre lang weiterhin Diamanten aus dem Bach. Im Frühjahr 1939 erfuhr Alice, dass sich die Lage in Europa dramatisch zuspitzte.
    
  "Die Südafrikaner stehen auf der Seite der Briten. Bald werden wir in den Kolonien nicht mehr willkommen sein."
    
  Paul wusste, dass es Zeit war zu gehen. Sie hatten eine größere Lieferung Steine als üblich verkauft - so viel, dass der Gutachter den Minenleiter anrufen musste, um sich Bargeld schicken zu lassen - und eines Nachts reisten sie ab, ohne sich zu verabschieden, und nahmen nur ein paar persönliche Gegenstände und fünf Pferde mit.
    
  Sie mussten eine wichtige Entscheidung treffen, was sie mit dem Geld anfangen sollten. Sie zogen nach Norden, zum Waterberg-Plateau. Dort lebten die überlebenden Herero, jenes Volk, das sein Vater einst auszurotten versucht hatte und bei dem Paul während seines ersten Afrikaaufenthalts lange Zeit gelebt hatte. Als Paul ins Dorf zurückkehrte, begrüßte ihn der Medizinmann mit einem Willkommenslied.
    
  "Paul Mahaleba ist zurückgekehrt, Paul, der weiße Jäger", sagte er und schwang seinen Federstab.
    
  Paul ging sofort zum Chef und übergab ihm einen riesigen Sack, der drei Viertel dessen enthielt, was sie mit dem Verkauf der Diamanten verdient hatten.
    
  "Dies ist für die Herero. Um eurem Volk seine Würde zurückzugeben."
    
  "Du bist es, der mit dieser Tat seine Würde wiederherstellt, Paul Mahaleba", erklärte der Schamane. "Doch deine Gabe wird in unserem Volk willkommen sein."
    
  Paul nickte demütig angesichts der Weisheit dieser Worte.
    
  Sie verbrachten mehrere wundervolle Monate in dem Dorf und halfen nach besten Kräften dabei, es in seinem alten Glanz wiederherzustellen. Bis Alice eines Tages von einem der Händler, die gelegentlich durch Windhoek kamen, eine schreckliche Nachricht erhielt.
    
  "In Europa ist der Krieg ausgebrochen."
    
  "Wir haben hier genug getan", sagte Paul nachdenklich und blickte seinen Sohn an. "Jetzt ist es an der Zeit, an Julian zu denken. Er ist fünfzehn und braucht ein normales Leben, irgendwo mit einer Zukunft."
    
  So begann ihre lange Reise über den Atlantik. Zuerst mit dem Schiff nach Mauretanien, dann nach Französisch-Marokko, von wo aus sie fliehen mussten, als die Grenzen für alle ohne Visum geschlossen wurden. Dies stellte eine schwierige Formalität dar für eine jüdische Frau ohne Papiere oder einen Mann, der offiziell für tot erklärt worden war und außer einem alten Ausweis eines vermissten SS-Offiziers keine weiteren Ausweispapiere besaß.
    
  Nach Gesprächen mit mehreren Flüchtlingen beschloss Paul, von einem Ort am Stadtrand von Tanger aus zu versuchen, nach Portugal einzureisen.
    
  "Das wird nicht schwierig sein. Die Bedingungen sind gut, und es ist nicht allzu weit."
    
  Das Meer widerlegt gern die törichten Worte übermütiger Menschen, und in jener Nacht brach ein Sturm los. Sie kämpften lange ums Überleben, und Paul band seine Familie sogar an ein Floß, damit die Wellen sie nicht von dem klapprigen Schiff rissen, das sie in Tanger einem Betrüger für ein Vermögen abgekauft hatten.
    
  Wäre die spanische Patrouille nicht gerade noch rechtzeitig erschienen, wären vier von ihnen zweifellos ertrunken.
    
  Ironischerweise hatte Paul im Laderaum mehr Angst als bei seinem spektakulären Enterversuch, als er gefühlt endlos lange über die Reling des Patrouillenboots hing. An Bord angekommen, fürchteten sie alle, nach Cádiz gebracht zu werden, von wo aus sie leicht nach Deutschland zurückgeschickt werden konnten. Paul verfluchte sich selbst, weil er nicht wenigstens ein paar Wörter Spanisch gelernt hatte.
    
  Sein Plan war es, einen Strand östlich von Tarifa zu erreichen, wo vermutlich jemand auf sie wartete - ein Kontaktmann des Betrügers, der ihnen das Boot verkauft hatte. Dieser Mann sollte sie mit einem LKW nach Portugal bringen. Doch sie erfuhren nie, ob er tatsächlich erschien.
    
  Paul verbrachte viele Stunden im Laderaum und grübelte über eine Lösung. Seine Finger berührten die Geheimtasche seines Hemdes, in der er ein Dutzend Diamanten versteckt hatte - Hans Reiners letzten Schatz. Alice, Manfred und Julian trugen ähnliche Fracht in ihrer Kleidung. Vielleicht könnten sie die Besatzung mit einer Handvoll davon bestechen...
    
  Paul war äußerst überrascht, als der spanische Kapitän sie mitten in der Nacht aus dem Laderaum zog, ihnen ein Ruderboot gab und Kurs auf die portugiesische Küste nahm.
    
  Im Schein der Laterne an Deck erkannte Paul das Gesicht des Mannes, der wohl in seinem Alter war. Dasselbe Alter wie sein Vater bei dessen Tod, und derselbe Beruf. Paul fragte sich, wie alles verlaufen wäre, wenn sein Vater kein Mörder gewesen wäre, wenn er selbst nicht den größten Teil seiner Jugend damit verbracht hätte, herauszufinden, wer ihn getötet hatte.
    
  Er durchwühlte seine Kleidung und zog das Einzige hervor, was ihm als Andenken an diese Zeit geblieben war: die Frucht von Hans' Schurkerei, das Sinnbild für den Verrat seines Bruders.
    
  Vielleicht wäre für Jürgen alles anders verlaufen, wenn sein Vater ein Adliger gewesen wäre, dachte er.
    
  Paul fragte sich, wie er dem Spanier das verständlich machen könnte. Er legte das Emblem in seine Hand und wiederholte zwei einfache Worte.
    
  "Verrat", sagte er und berührte seine Brust mit dem Zeigefinger. "Erlösung", sagte er und berührte die Brust des Spaniers.
    
  Vielleicht trifft der Kapitän ja eines Tages jemanden, der ihm die Bedeutung dieser beiden Wörter erklären kann.
    
  Er sprang in das kleine Boot, und die vier begannen zu rudern. Wenige Minuten später hörten sie das Platschen des Wassers am Ufer, und das Boot knarzte leise über den Kies des Flussbetts.
    
  Sie waren in Portugal.
    
  Bevor er aus dem Boot stieg, sah er sich noch einmal um, um sicherzugehen, dass keine Gefahr drohte, aber er sah nichts.
    
  "Komisch", dachte Paul. "Seit ich mir das Auge ausgestochen habe, sehe ich alles viel klarer."
    
    
    
    
    
    
    
    
    
  Gomez-Jurado Juan
    
    
    
    
  Der Vertrag mit Gott, auch bekannt als die Moses-Expedition
    
    
  Der zweite Band der Pater-Anthony-Fowler-Reihe, 2009
    
    
  Gewidmet Matthew Thomas, einem größeren Helden als Pater Fowler
    
    
    
    
  Wie man sich einen Feind schafft
    
    
    
  Beginnen Sie mit einer leeren Leinwand
    
  Skizzieren Sie die Formen im Allgemeinen
    
  Männer, Frauen und Kinder
    
    
  Tauche ein in die Tiefen deines eigenen Unbewussten.
    
  der Dunkelheit abgeschworen
    
  mit einem breiten Pinsel und
    
  Fremde mit einem unheimlichen Unterton verunsichern
    
  aus dem Schatten
    
    
  Folge dem Antlitz des Feindes - der Gier.
    
  Hass, Rücksichtslosigkeit, die man nicht beim Namen zu nennen wagt
    
  Ihr eigenes
    
    
  Verbergen Sie die liebenswerte Individualität jedes Gesichts
    
    
  Lösche alle Spuren unzähliger Lieben, Hoffnungen,
    
  Ängste, die in einem Kaleidoskop reproduziert werden
    
  jedes unendliche Herz
    
    
  Drehe dein Lächeln so, dass es ein nach unten gerichtetes Lächeln bildet.
    
  Bogen der Grausamkeit
    
    
  Trennen Sie das Fleisch von den Knochen, bis nur noch das Fleisch übrig ist.
    
  abstraktes Skelett der Überreste des Todes
    
    
  Übertreibe jedes Merkmal, bis die Person zu
    
  verwandelt in ein Biest, einen Parasiten, ein Insekt
    
    
  Fülle den Hintergrund mit bösartigem
    
  Gestalten aus uralten Alpträumen - Teufel,
    
  Dämonen, Myrmidonen des Bösen
    
    
  Wenn dein Feindsymbol vollständig ist
    
  Sie werden töten können, ohne Schuldgefühle zu haben.
    
  schamloses Abschlachten
    
    
  Was du zerstörst, wird zu
    
  lediglich ein Feind Gottes, ein Hindernis
    
  zur geheimen Dialektik der Geschichte
    
    
  im Auftrag des Feindes
    
  Sam Keen
    
    
  Die Zehn Gebote
    
    
    
  Ich bin der Herr, dein Gott.
    
  Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.
    
  Du sollst dir kein Götzenbild machen.
    
  Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.
    
  Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst
    
  Ehre deinen Vater und deine Mutter
    
  Du darfst nicht töten
    
  Du sollst nicht die Ehe brechen
    
  Du darfst nicht stehlen
    
  Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen gegen deinen Nächsten.
    
  Du solltest das Haus deines Nachbarn nicht begehren.
    
    
    
  Prolog
    
    
    
  ICH BIN IM SPIEGELGRUND-KINDERKRANKENHAUS
    
  VENE
    
    
  Februar 1943
    
    
  Als sie sich einem Gebäude näherte, über dem eine große Hakenkreuzflagge wehte, konnte die Frau ein Frösteln nicht unterdrücken. Ihr Begleiter deutete dies falsch und zog sie näher an sich, um sie zu wärmen. Ihr dünner Mantel bot kaum Schutz vor dem scharfen Nachmittagswind, der einen herannahenden Schneesturm ankündigte.
    
  "Zieh das an, Odile", sagte der Mann, dessen Finger zitterten, als er seinen Mantel aufknöpfte.
    
  Sie riss sich aus seinem Griff los und presste die Tasche fester an ihre Brust. Der zehn Kilometer lange Fußmarsch durch den Schnee hatte sie erschöpft und vor Kälte durchgefroren. Vor drei Jahren wären sie in ihrem Daimler mit Chauffeur losgefahren, und sie hätte ihren Pelzmantel getragen. Doch ihr Wagen gehörte nun dem Brigadekommissar, und ihr Pelzmantel wurde wahrscheinlich irgendwo in einer Theaterloge von irgendeiner Nazi-Gattin mit Mascara zur Schau gestellt. Odile nahm all ihren Mut zusammen und klingelte dreimal, bevor sie öffnete.
    
  'Es liegt nicht an der Kälte, Joseph. Wir haben nicht mehr viel Zeit bis zur Ausgangssperre. Wenn wir nicht rechtzeitig zurückkommen...'
    
  Bevor ihr Mann antworten konnte, öffnete die Krankenschwester plötzlich die Tür. Sobald sie die Besucher erblickte, verschwand ihr Lächeln. Jahre unter dem Naziregime hatten sie gelehrt, einen Juden sofort zu erkennen.
    
  'Was willst du?', fragte sie.
    
  Die Frau zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihre Lippen schmerzhaft rissig waren.
    
  "Wir möchten Dr. Graus sehen."
    
  Haben Sie einen Termin?
    
  "Der Arzt sagte, er würde uns sehen."
    
  'Name?'
    
  'Joseph und Odile Cohen, Pater Uleyn'.
    
  Die Krankenschwester wich einen Schritt zurück, als sich ihr Nachname in ihrem Verdacht bestätigte.
    
  "Du lügst. Du hast keinen Termin. Verschwinde. Geh zurück in dein Loch. Du weißt, dass du hier nicht rein darfst."
    
  "Bitte. Mein Sohn ist drinnen. Bitte!"
    
  Ihre Worte waren vergeblich, als die Tür zuschlug.
    
  Joseph und seine Frau starrten hilflos auf das gewaltige Gebäude. Als sie sich abwandten, fühlte sich Odile plötzlich schwach und stolperte, doch Joseph konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie stürzte.
    
  "Kommt schon, wir finden einen anderen Weg, hineinzukommen."
    
  Sie gingen auf eine Seite des Krankenhauses zu. Als sie um die Ecke bogen, zog Joseph seine Frau zurück. Die Tür hatte sich gerade geöffnet. Ein Mann in einem dicken Mantel schob mit aller Kraft einen mit Müll beladenen Wagen in Richtung Gebäuderückseite. Joseph und Odile hielten sich dicht an der Wand und schlüpften durch die offene Tür.
    
  Drinnen angekommen, befanden sie sich in einer Wirtschaftshalle, die in ein Labyrinth aus Treppen und weiteren Gängen führte. Während sie den Gang entlanggingen, hörten sie ferne, gedämpfte Schreie, die wie aus einer anderen Welt zu kommen schienen. Die Frau konzentrierte sich und lauschte nach der Stimme ihres Sohnes, doch vergeblich. Sie durchquerten mehrere Gänge, ohne jemandem zu begegnen. Joseph musste sich beeilen, um mit seiner Frau Schritt zu halten, die, ihrem Instinkt folgend, zügig voranschritt und nur einen Augenblick an jeder Tür innehielt.
    
  Schon bald blickten sie in einen dunklen, L-förmigen Raum. Er war voller Kinder, viele von ihnen an Betten gefesselt und winselnd wie nasse Hunde. Es war stickig und roch unangenehm, und die Frau begann zu schwitzen. Ein Kribbeln durchfuhr ihre Gliedmaßen, als ihr Körper warm wurde. Doch sie beachtete es nicht, sondern blickte von Bett zu Bett, von einem Kindergesicht zum anderen, verzweifelt auf der Suche nach ihrem Sohn.
    
  'Hier ist der Bericht, Dr. Grouse.'
    
  Joseph und seine Frau wechselten Blicke, als sie den Namen des Arztes hörten, den sie aufsuchen mussten - des Mannes, der über das Leben ihres Sohnes entschied. Sie wandten sich der hintersten Ecke des Zimmers zu und sahen eine kleine Gruppe von Menschen, die sich um eines der Betten versammelt hatten. Ein attraktiver junger Arzt saß am Bett eines Mädchens, das etwa neun Jahre alt zu sein schien. Neben ihm hielt eine ältere Krankenschwester ein Tablett mit chirurgischen Instrumenten, während ein Arzt mittleren Alters mit gelangweiltem Gesichtsausdruck Notizen machte.
    
  "Doktor Graus...", sagte Odile zögernd und fasste sich ein Herz, als sie sich der Gruppe näherte.
    
  Der junge Mann winkte der Krankenschwester abweisend zu, ohne den Blick von seiner Arbeit abzuwenden.
    
  'Bitte nicht jetzt.'
    
  Die Krankenschwester und der andere Arzt starrten Odile überrascht an, sagten aber nichts.
    
  Als Odile sah, was geschah, musste sie die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu schreien. Das junge Mädchen war totenbleich und schien halb bewusstlos. Graus hielt ihre Hand über ein Metallbecken und machte kleine Schnitte mit einem Skalpell. Kaum eine Stelle an der Hand des Mädchens war von der Klinge nicht berührt worden, und langsam sickerte Blut in das fast volle Becken. Schließlich neigte das Mädchen den Kopf zur Seite. Graus legte zwei schlanke Finger an ihren Hals.
    
  "Okay, sie hat keinen Puls. Wie spät ist es, Dr. Strobel?"
    
  'Sechsunddreißig.'
    
  Fast 93 Minuten. Außergewöhnlich! Die Patientin blieb bei Bewusstsein, wenn auch ihr Bewusstseinszustand vergleichsweise gering war, und zeigte keinerlei Anzeichen von Schmerzen. Die Kombination aus Opiumtinktur und Stechapfel ist zweifellos allen bisherigen Versuchen überlegen. Glückwunsch, Strobel. Bereiten Sie eine Probe für die Autopsie vor.
    
  "Vielen Dank, Herr Doktor. Sofort."
    
  Erst dann wandte sich der junge Arzt Joseph und Odile zu. In seinen Augen spiegelte sich eine Mischung aus Verärgerung und Verachtung wider.
    
  Und wer könntest du sein?
    
  Odile trat einen Schritt vor und stellte sich neben das Bett, wobei sie versuchte, den Blick von dem toten Mädchen abzuwenden.
    
  Mein Name ist Odile Cohen, Dr. Graus. Ich bin die Mutter von Elan Cohen.
    
  Der Arzt blickte Odile kalt an und wandte sich dann der Krankenschwester zu.
    
  "Schafft diese Juden hier raus, Pater Ulein Ulrike."
    
  Die Krankenschwester packte Odile am Ellbogen und schob sie grob zwischen die Frau und den Arzt. Joseph eilte seiner Frau zu Hilfe und rang mit der massigen Krankenschwester. Einen Moment lang bildeten sie ein seltsames Trio, das sich in verschiedene Richtungen bewegte, aber keiner kam voran. Pater Ulrikes Gesicht rötete sich vor Anstrengung.
    
  "Doktor, ich bin sicher, da liegt ein Irrtum vor", sagte Odile und versuchte, ihren Kopf hinter den breiten Schultern der Krankenschwester hervorzustrecken. "Mein Sohn ist nicht geisteskrank."
    
  Odile konnte sich aus dem Griff der Krankenschwester befreien und wandte sich dem Arzt zu.
    
  "Es stimmt, er hat seit dem Verlust unseres Zuhauses nicht viel gesprochen, aber er ist nicht verrückt. Er ist wegen eines Fehlers hier. Wenn Sie ihn gehen lassen ... Bitte, lassen Sie mich Ihnen das Einzige geben, was uns noch geblieben ist."
    
  Sie legte das Päckchen auf das Bett, achtete darauf, den Körper des toten Mädchens nicht zu berühren, und entfernte vorsichtig das Zeitungspapier. Trotz des schwachen Lichts im Zimmer warf der goldene Gegenstand seinen Glanz auf die umliegenden Wände.
    
  "Es ist seit Generationen in der Familie meines Mannes, Dr. Graus. Ich würde lieber sterben, als es aufzugeben. Aber mein Sohn, Doktor, mein Sohn ..."
    
  Odile brach in Tränen aus und sank auf die Knie. Der junge Arzt bemerkte es kaum, sein Blick war auf den Gegenstand auf dem Bett gerichtet. Doch er schaffte es, den Mund lange genug zu öffnen, um jede Hoffnung, die dem Paar noch geblieben war, zu zerstören.
    
  "Dein Sohn ist tot. Verschwinde."
    
    
  Sobald die kalte Luft draußen ihr Gesicht berührte, kehrte Odile etwas zu Kräften zurück. Sie klammerte sich an ihren Mann, als sie eilig das Krankenhaus verließen, und fürchtete die Ausgangssperre mehr denn je. Ihre Gedanken kreisten nur noch darum, in den anderen Teil der Stadt zurückzukehren, wo ihr anderer Sohn wartete.
    
  'Beeil dich, Joseph. Beeil dich.'
    
  Unter dem stetig fallenden Schnee beschleunigten sie ihre Schritte.
    
    
  In seinem Büro im Krankenhaus legte Dr. Graus mit abwesendem Gesichtsausdruck auf und strich über einen seltsamen goldenen Gegenstand auf seinem Schreibtisch. Wenige Minuten später, als ihn das Heulen der SS-Sirenen erreichte, blickte er nicht einmal aus dem Fenster. Seine Assistentin erwähnte etwas von flüchtenden Juden, doch Graus ignorierte sie.
    
  Er war damit beschäftigt, die Operation des jungen Cohen zu planen.
    
  Hauptfiguren
    
  Klerus
    
  PATER ANTHONY FOWLER, ein Agent, der sowohl für die CIA als auch für die Heilige Allianz arbeitet.
    
  PATER ALBERT, ehemaliger Hacker. Systemanalyst bei der CIA und Verbindungsmann zum vatikanischen Geheimdienst.
    
  BRUDER CESÁREO, Dominikaner. Hüter der Altertümer im Vatikan.
    
    
  Sicherheitskorps des Vatikans
    
  CAMILO SIRIN, Generalinspektor. Gleichzeitig Leiter der Heiligen Allianz, des vatikanischen Geheimdienstes.
    
    
  Zivilisten
    
  ANDREA OTERO, Reporterin der Zeitung El Globo.
    
  RAYMOND KANE, Multimillionär und Industrieller.
    
  JACOB RUSSELL, Persönlicher Assistent von Cain.
    
  ORVILLE WATSON, Terrorismusberater und Inhaber von Netcatch.
    
  DOKTOR HEINRICH GRAUSS, Nazi-Völkermörder.
    
    
  Moses' Expeditionsteam
    
  CECIL FORRESTER, biblischer Archäologe.
    
  DAVID PAPPAS, GORDON DARWIN, KIRA LARSEN, STOWE EARLING und EZRA LEVIN, unterstützt von Cecil Forrester
    
  MOGENS DEKKER, Sicherheitschef der Expedition.
    
  ALOIS GOTTLIEB, ALRIK GOTTLIEB, TEVI WAHAKA, PACO TORRES, LOUIS MALONEY und MARLA JACKSON, Decker-Soldaten.
    
  DOKTOR HAREL, Arzt bei den Ausgrabungen.
    
  TOMMY EICHBERG, Cheffahrer.
    
  ROBERT FRICK, BRIAN HANLEY, Verwaltungs-/Technisches Personal
    
  NURI ZAYIT, RANI PETERKE, Köche
    
    
  Terroristen
    
  NAZIM und HARUF, Mitglieder der Washingtoner Zelle.
    
  O, D und W, Mitglieder der syrischen und jordanischen Zellen.
    
  HUCAN, Anführer von drei Zellen.
    
    
  1
    
    
    
  WOHNHAUS VON BALTHASAR HANDWURTZ
    
  STEINFELDSTRAßE, 6
    
  KRIEGLACH, ÖSTERREICH
    
    
  Donnerstag, 15. Dezember 2005, 11:42 Uhr.
    
    
  Der Priester wischte sich sorgfältig die Füße an der Fußmatte ab, bevor er an die Tür klopfte. Nachdem er den Mann die letzten vier Monate verfolgt hatte, hatte er vor zwei Wochen endlich sein Versteck entdeckt. Nun war er sich Handwurtz' wahrer Identität sicher. Der Moment war gekommen, ihm persönlich gegenüberzutreten.
    
  Er wartete geduldig einige Minuten. Es war Mittag, und Graus hielt wie üblich ein Nickerchen auf dem Sofa. Um diese Zeit war die schmale Straße fast menschenleer. Seine Nachbarn in der Steinfeldstraße waren bei der Arbeit und ahnten nicht, dass das Völkermordmonster in Hausnummer 6, in einem kleinen Haus mit blauen Vorhängen, friedlich vor dem Fernseher döste.
    
  Schließlich verriet das Geräusch eines Schlüssels im Schloss dem Priester, dass sich die Tür im Begriff befand, sich zu öffnen. Der Kopf eines älteren Mannes mit der ehrwürdigen Ausstrahlung einer Person aus einer Krankenversicherungswerbung tauchte hinter der Tür auf.
    
  'Ja?'
    
  "Guten Morgen, Herr Doktor."
    
  Der alte Mann musterte den Mann, der ihn angesprochen hatte, von oben bis unten. Er war groß, hager und kahlköpfig, etwa fünfzig Jahre alt, und unter seinem schwarzen Mantel blitzte der Priesterkragen hervor. Er stand mit der steifen Haltung eines Militärwächters im Türrahmen, seine grünen Augen fixierten den alten Mann.
    
  "Ich glaube, Sie irren sich, Pater. Ich war früher Klempner, bin aber jetzt im Ruhestand. Ich habe bereits in die Pfarrkasse eingezahlt, also, wenn Sie mich entschuldigen würden ..."
    
  Sind Sie zufällig Dr. Heinrich Graus, der berühmte deutsche Neurochirurg?
    
  Der alte Mann hielt einen Moment lang den Atem an. Ansonsten hatte er nichts getan, was ihn verraten hätte. Doch dieses kleine Detail genügte dem Priester: Der Beweis war eindeutig.
    
  'Mein Name ist Handwurtz, Vater.'
    
  "Das stimmt nicht, und das wissen wir beide. Wenn Sie mich nun hereinlassen, zeige ich Ihnen, was ich mitgebracht habe." Der Priester hob seine linke Hand, in der er einen schwarzen Aktenkoffer hielt.
    
  Daraufhin schwang die Tür auf, und der alte Mann humpelte schnell in die Küche, wobei die alten Dielen bei jedem Schritt knarrten. Der Priester folgte ihm, schenkte seiner Umgebung aber kaum Beachtung. Er hatte dreimal durch die Fenster gespäht und kannte bereits den Standort jedes einzelnen billigen Möbelstücks. Er behielt lieber den alten Nazi im Auge. Obwohl der Arzt nur mühsam gehen konnte, sah der Priester, wie er mit einer Leichtigkeit Kohlesäcke aus dem Schuppen hob, die einen Jahrzehnte jüngeren Mann neidisch gemacht hätte. Heinrich Graus war immer noch ein gefährlicher Mann.
    
  Die kleine Küche war dunkel und roch ranzig. Es gab einen Gasherd, eine Arbeitsfläche mit einer getrockneten Zwiebel darauf, einen runden Tisch und zwei prächtige Stühle. Graus bedeutete dem Priester, Platz zu nehmen. Dann kramte der alte Mann im Schrank, holte zwei Gläser heraus, füllte sie mit Wasser und stellte sie auf den Tisch, bevor er sich selbst setzte. Die Gläser blieben unberührt, während die beiden Männer teilnahmslos da saßen und sich über eine Minute lang ansahen.
    
  Der alte Mann trug einen roten Flanellmantel, ein Baumwollhemd und abgetragene Hosen. Vor zwanzig Jahren hatte er begonnen, eine Glatze zu bekommen, und sein weniges verbliebenes Haar war schneeweiß. Seine große, runde Brille war schon vor dem Fall des Kommunismus aus der Mode gekommen. Sein entspannter Gesichtsausdruck verlieh ihm ein gutmütiges Aussehen.
    
  Nichts davon täuschte den Priester.
    
  Staubpartikel schwebten im Lichtstrahl der schwachen Dezembersonne. Einer davon landete auf dem Ärmel des Priesters. Er warf ihn beiseite, ohne den alten Mann aus den Augen zu lassen.
    
  Die souveräne Geste blieb dem Nazi nicht verborgen, doch er hatte Zeit, seine Fassung wiederzuerlangen.
    
  'Willst du nicht etwas Wasser trinken, Vater?'
    
  "Ich möchte nicht trinken, Dr. Grouse."
    
  "Sie werden also darauf bestehen, mich mit diesem Namen anzusprechen. Mein Name ist Handwurz. Balthasar Handwurz."
    
  Der Priester beachtete ihn nicht.
    
  "Ich muss zugeben, Sie sind sehr scharfsinnig. Als Sie Ihren Pass für die Ausreise nach Argentinien bekamen, ahnte niemand, dass Sie nur wenige Monate später wieder in Wien sein würden. Natürlich war das der letzte Ort, an dem ich nach Ihnen gesucht habe. Nur 72 Kilometer vom Spiegelgrund-Krankenhaus entfernt. Der Nazi-Jäger Wiesenthal suchte jahrelang in Argentinien nach Ihnen, ohne zu ahnen, dass Sie nur eine kurze Autofahrt von seinem Büro entfernt waren. Ironisch, finden Sie nicht?"
    
  "Ich finde das lächerlich. Sie sind Amerikaner, nicht wahr? Sie sprechen gut Deutsch, aber Ihr Akzent verrät Sie."
    
  Der Priester stellte seine Aktentasche auf den Tisch und zog eine abgenutzte Mappe heraus. Das erste Dokument, das er zeigte, war ein Foto des jungen Graus, aufgenommen im Krankenhaus in Spiegelgrund während des Krieges. Das zweite war eine Variation desselben Fotos, bei der die Gesichtszüge des Arztes mithilfe einer Computersoftware gealtert worden waren.
    
  'Ist die Technologie nicht großartig, Herr Doktor?'
    
  "Das beweist gar nichts. Das hätte jeder tun können. Ich schaue ja auch fern", sagte er, aber seine Stimme verriet etwas anderes.
    
  "Du hast Recht. Es beweist nichts, aber es beweist doch etwas."
    
  Der Priester zog ein vergilbtes Blatt Papier hervor, an dem jemand mit einer Büroklammer ein Schwarzweißfoto befestigt hatte, über dem in Sepia geschrieben stand: ZEUGNIS DER FORNITA, neben dem Siegel des Vatikans.
    
  "Balthasar Handwurz. Blondes Haar, braune Augen, markante Gesichtszüge. Erkennungsmerkmal: eine Tätowierung mit der Nummer 256441 auf dem linken Arm, die ihm die Nazis während seiner Zeit im Konzentrationslager Mauthausen zugefügt haben." Ein Ort, den du nie betreten hast, Graus. Deine Nummer ist eine Lüge. Derjenige, der dich tätowiert hat, hat sie sich ausgedacht, aber das ist noch das Geringste. Bisher hat es funktioniert.
    
  Der alte Mann berührte seine Hand durch seinen Flanellmantel hindurch. Er war bleich vor Wut und Angst.
    
  'Wer zum Teufel bist du, du Bastard?'
    
  'Mein Name ist Anthony Fowler. Ich möchte mit Ihnen ein Geschäft abschließen.'
    
  "Raus aus meinem Haus. Sofort."
    
  "Ich glaube, ich drücke mich nicht klar aus. Sie waren sechs Jahre lang stellvertretender Direktor des Kinderkrankenhauses Am Spiegelgrund. Es war ein sehr interessanter Ort. Fast alle Patienten waren jüdisch und litten an psychischen Erkrankungen. ‚Leben, die es nicht wert sind zu leben", nannten Sie sie nicht so?"
    
  "Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!"
    
  "Niemand ahnte, was Sie dort taten. Experimente. Kinder bei lebendigem Leibe zerstückelt. Siebenhundertvierzehn, Dr. Graus. Sie haben siebenhundertvierzehn von ihnen mit Ihren eigenen Händen getötet."
    
  'Ich habe es dir gesagt...
    
  'Du hast ihre Gehirne in Gläsern aufbewahrt!'
    
  Fowler schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass beide Gläser umfielen, und einen Moment lang war nur das Tropfen von Wasser auf den Fliesenboden zu hören. Fowler atmete mehrmals tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.
    
  Der Arzt vermied es, in die grünen Augen zu blicken, die aussahen, als wollten sie ihn in zwei Hälften schneiden.
    
  'Gehörst du zu den Juden?'
    
  "Nein, Graus. Du weißt, dass das nicht stimmt. Wenn ich einer von ihnen wäre, würdest du in Tel Aviv am Galgen hängen. Ich ... stehe in Verbindung mit den Leuten, die dir 1946 die Flucht ermöglicht haben."
    
  Der Arzt unterdrückte ein Schaudern.
    
  "Heiliges Bündnis", murmelte er.
    
  Fowler antwortete nicht.
    
  'Und was will die Allianz nach all den Jahren noch von mir?'
    
  "Etwas, das Ihnen zur Verfügung steht."
    
  Der Nazi deutete auf sein Gefolge.
    
  "Wie Sie sehen, bin ich nicht gerade ein reicher Mann. Ich habe kein Geld mehr."
    
  "Wenn ich Geld bräuchte, könnte ich dich problemlos an den Generalstaatsanwalt in Stuttgart verkaufen. Die bieten immer noch 130.000 Euro für deine Ergreifung. Ich will eine Kerze."
    
  Der Nazi starrte ihn verständnislos an und tat so, als ob er ihn nicht verstünde.
    
  'Welche Kerze?'
    
  "Jetzt sind Sie es, der sich lächerlich macht, Dr. Graus. Ich spreche von der Kerze, die Sie vor 62 Jahren von der Familie Cohen gestohlen haben. Eine schwere, dochtlose Kerze mit Goldfiligran. Genau die will ich, und zwar sofort."
    
  'Verschwinde mit deinen verdammten Lügen. Ich habe keine Kerze.'
    
  Fowler seufzte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und deutete auf die umgestürzten Gläser auf dem Tisch.
    
  "Haben Sie etwas Stärkeres?"
    
  "Hinter dir", sagte Grouse und nickte in Richtung des Schranks.
    
  Der Priester drehte sich um und griff nach der halb vollen Flasche. Er nahm die Gläser und goss in jedes zwei Fingerbreit der leuchtend gelben Flüssigkeit. Beide Männer tranken, ohne einen Toast auszusprechen.
    
  Fowler griff erneut nach der Flasche und schenkte sich ein weiteres Glas ein. Er nahm einen Schluck und sagte dann: "Weitzenkorn. Weizenschnaps. Den habe ich schon lange nicht mehr getrunken."
    
  "Das haben Sie sicher nicht verpasst."
    
  "Stimmt. Aber es ist billig, nicht wahr?"
    
  Auerhahn zuckte mit den Achseln.
    
  "Ein Mann wie du, Graus. Brillant. Sinnlos. Ich kann nicht glauben, dass du das trinkst. Du vergiftest dich langsam in einem dreckigen Loch, das nach Urin stinkt. Und weißt du was? Ich verstehe ..."
    
  'Du verstehst gar nichts.'
    
  "Ganz gut. Du erinnerst dich noch an die Methoden des Reichs. Regeln für Offiziere. Abschnitt drei: ‚Im Falle einer Gefangennahme durch den Feind alles abstreiten und nur kurze Antworten geben, die dich nicht gefährden." Nun, Graus, gewöhn dich dran. Du bist bis zum Hals kompromittiert."
    
  Der alte Mann verzog das Gesicht und schenkte sich den Rest des Schnapses ein. Fowler beobachtete die Körpersprache seines Gegners, während dessen Entschlossenheit langsam schwand. Er wirkte wie ein Künstler, der nach einigen Pinselstrichen zurücktritt, um die Leinwand zu betrachten, bevor er entscheidet, welche Farben er als Nächstes verwendet.
    
  Der Priester beschloss, es mit der Wahrheit zu versuchen.
    
  "Sehen Sie sich meine Hände an, Doktor", sagte Fowler und legte sie auf den Tisch. Sie waren faltig, mit langen, dünnen Fingern. Nichts Ungewöhnliches war an ihnen, bis auf ein kleines Detail. An der Spitze jedes Fingers, nahe den Knöcheln, verlief eine dünne, weißliche Linie quer über die Hand.
    
  "Das sind hässliche Narben. Wie alt warst du, als du sie bekommen hast? Zehn? Elf?"
    
  Zwölf. Ich übte Klavier: Chopins Préludes, Opus 28. Mein Vater kam zum Klavier und schlug ohne Vorwarnung den Deckel des Steinway-Flügels zu. Es war ein Wunder, dass ich meine Finger nicht verlor, aber ich konnte nie wieder spielen.
    
  Der Priester griff nach seinem Glas und schien in dessen Inhalt einzutauchen, bevor er fortfuhr. Er war nicht imstande, das Geschehene zu begreifen, während er einem anderen Menschen in die Augen sah.
    
  "Seit ich neun Jahre alt war, hat mein Vater mich missbraucht. An dem Tag sagte ich ihm, ich würde es jemandem erzählen, wenn er es noch einmal täte. Er hat mich nicht bedroht. Er hat mir einfach die Hände verstümmelt. Dann weinte er, flehte mich um Verzeihung an und rief die besten Ärzte, die man für Geld bekommen konnte. Nein, Graus. Denk nicht mal dran."
    
  Graus griff unter den Tisch und tastete nach der Besteckschublade. Schnell rief er sie zurück.
    
  "Deshalb verstehe ich Sie, Doktor. Mein Vater war ein Monster, dessen Schuld sein Vergebungsvermögen überstieg. Aber er hatte mehr Mut als Sie. Anstatt mitten in einer scharfen Kurve abzubremsen, gab er Gas und riss meine Mutter mit sich."
    
  "Eine sehr rührende Geschichte, Vater", sagte Graus in einem spöttischen Ton.
    
  "Wenn du das sagst. Du hast dich versteckt, um dich deinen Verbrechen nicht stellen zu müssen, aber du bist entlarvt worden. Und ich werde dir geben, was mein Vater nie hatte: eine zweite Chance."
    
  "Ich höre zu."
    
  "Gib mir die Kerze. Im Gegenzug erhältst du diese Akte mit allen Dokumenten, die als dein Todesurteil dienen werden. Du kannst dich hier für den Rest deines Lebens verstecken."
    
  "Ist das alles?", fragte der alte Mann ungläubig.
    
  "Was mich betrifft."
    
  Der alte Mann schüttelte den Kopf und stand mit einem gezwungenen Lächeln auf. Er öffnete einen kleinen Schrank und holte ein großes Glasgefäß mit Reis heraus.
    
  "Ich esse nie Getreide. Ich bin allergisch."
    
  Er schüttete den Reis auf den Tisch. Eine kleine Stärkewolke stieg auf, gefolgt von einem dumpfen Geräusch. Ein Beutel, halb im Reis vergraben.
    
  Fowler beugte sich vor und griff danach, doch Graus' knochige Pfote packte sein Handgelenk. Der Priester sah ihn an.
    
  "Ich habe Ihr Wort, nicht wahr?", fragte der alte Mann ängstlich.
    
  'Ist Ihnen das irgendetwas wert?'
    
  'Ja, soweit ich das beurteilen kann.'
    
  "Dann hast du es."
    
  Der Arzt ließ Fowlers Handgelenk los, seine Hände zitterten. Der Priester schüttelte vorsichtig den Reis ab und zog ein dunkles Stoffpäckchen hervor. Es war mit Bindfaden verschnürt. Behutsam löste er die Knoten und wickelte das Tuch aus. Die trüben Strahlen des frühen österreichischen Winters tauchten die düstere Küche in ein goldenes Licht, das im Widerspruch zu der Umgebung und dem schmutziggrauen Wachs der dicken Kerze auf dem Tisch zu stehen schien. Einst war die gesamte Oberfläche der Kerze mit dünnem Blattgold und einem kunstvollen Muster überzogen gewesen. Nun war das Edelmetall fast verschwunden und hatte nur noch Spuren von Filigran im Wachs hinterlassen.
    
  Grouse lächelte traurig.
    
  "Den Rest hat das Pfandhaus genommen, Vater."
    
  Fowler antwortete nicht. Er zog ein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündete es an. Dann stellte er die Kerze aufrecht auf den Tisch und hielt die Flamme an ihre Spitze. Obwohl kein Docht vorhanden war, schmolz das Wachs durch die Hitze der Flamme und verströmte einen widerlichen Geruch, als es in grauen Tropfen auf den Tisch tropfte. Graus beobachtete dies mit bitterer Ironie, als genieße er es, nach so vielen Jahren endlich wieder für sich selbst sprechen zu können.
    
  "Ich finde das amüsant. Ein Jude kauft in einem Pfandhaus seit Jahren jüdisches Gold und unterstützt damit ein stolzes Mitglied des Reiches. Und was Sie jetzt sehen, beweist, dass Ihre Suche völlig sinnlos war."
    
  "Der Schein trügt, Grouse. Das Gold auf der Kerze ist nicht der Schatz, den ich suche. Es ist nur ein Zeitvertreib für Idioten."
    
  Als Warnung loderte die Flamme plötzlich auf. Auf dem Stoff darunter bildete sich eine Wachslache. Am oberen Rand der Kerzenreste war der grüne Rand eines Metallgegenstands fast zu erkennen.
    
  "Okay, es ist da", sagte der Priester. "Jetzt kann ich gehen."
    
  Fowler stand auf und wickelte das Tuch erneut um die Kerze, wobei er darauf achtete, sich nicht zu verbrennen.
    
  Die Nazis schauten fassungslos zu. Er lächelte nicht mehr.
    
  'Moment mal! Was ist das? Was ist da drin?'
    
  "Nichts, was Sie betrifft."
    
  Der alte Mann stand auf, öffnete die Besteckschublade und zog ein Küchenmesser heraus. Mit zitternden Schritten ging er um den Tisch herum auf den Priester zu. Fowler beobachtete ihn regungslos. Die Augen des Nazis glühten mit dem wahnsinnigen Glanz eines Mannes, der ganze Nächte damit verbracht hatte, dieses Messer zu betrachten.
    
  "Ich muss es wissen."
    
  'Nein, Graus. Wir hatten eine Abmachung. Eine Kerze für die Akte. Mehr bekommst du nicht.'
    
  Der alte Mann hob sein Messer, doch der Blick seines Besuchers ließ ihn es wieder senken. Fowler nickte und warf die Mappe auf den Tisch. Langsam, mit einem Bündel Stoff in der einen und seiner Aktentasche in der anderen Hand, ging der Priester rückwärts zur Küchentür. Der alte Mann nahm die Mappe entgegen.
    
  'Es gibt keine weiteren Exemplare, richtig?'
    
  "Nur einer. Draußen warten zwei Juden."
    
  Graus' Augen traten fast hervor. Er hob das Messer erneut und ging auf den Priester zu.
    
  "Du hast mich angelogen! Du hast gesagt, du würdest mir eine Chance geben!"
    
  Fowler blickte ihn zum letzten Mal emotionslos an.
    
  "Gott wird mir vergeben. Glaubst du, du wirst genauso viel Glück haben?"
    
  Dann verschwand er, ohne ein weiteres Wort zu sagen, im Korridor.
    
  Der Priester verließ das Gebäude und drückte das kostbare Päckchen fest an seine Brust. Zwei Männer in grauen Mänteln bewachten wenige Meter von der Tür entfernt. Fowler warnte sie im Vorbeigehen: "Er hat ein Messer."
    
  Der Größere ließ seine Knöchel knacken, und ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen.
    
  "Das ist sogar noch besser", sagte er.
    
    
  2
    
    
    
  DER ARTIKEL WURDE IN EL GLOBO VERÖFFENTLICHT.
    
  17. Dezember 2005, Seite 12
    
    
  ÖSTERREICHISCHER HEROD TOT AUFGEFUNDEN
    
  Wien (Associated Press)
    
  Nach über fünfzig Jahren auf der Flucht wurde Dr. Heinrich Graus, der "Schlächter von Spiegelgrund", endlich von der österreichischen Polizei aufgespürt. Laut den Behörden wurde der berüchtigte NS-Kriegsverbrecher tot in einem kleinen Haus in Krieglach, nur 56 Kilometer von Wien entfernt, gefunden - offenbar an einem Herzinfarkt.
    
  Der 1915 geborene Graus trat 1931 der NSDAP bei. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war er bereits stellvertretender Leiter des Kinderkrankenhauses Am Spiegelgrund. Graus nutzte seine Position, um unmenschliche Experimente an jüdischen Kindern mit angeblichen Verhaltensauffälligkeiten oder geistiger Behinderung durchzuführen. Der Arzt behauptete wiederholt, solches Verhalten sei erblich bedingt und seine Experimente seien gerechtfertigt, da die Betroffenen "keinen Lebenssinn" hätten.
    
  Graus impfte gesunde Kinder gegen Infektionskrankheiten, führte Vivisektionen durch und injizierte seinen Opfern verschiedene, von ihm entwickelte Narkosemittelmischungen, um deren Schmerzreaktion zu messen. Man geht davon aus, dass während des Krieges in Spiegelgrund etwa 1000 Morde verübt wurden.
    
  Nach dem Krieg flohen die Nazis und hinterließen keine Spuren außer 300 in Formaldehyd konservierten Kindergehirnen. Trotz der Bemühungen der deutschen Behörden konnte niemand Graus aufspüren. Der berühmte Nazijäger Simon Wiesenthal, der über 1100 Verbrecher vor Gericht brachte, blieb bis zu seinem Tod entschlossen, Graus, den er als "seine wartende Aufgabe" bezeichnete, zu finden und jagte den Arzt unermüdlich durch Südamerika. Wiesenthal starb vor drei Monaten in Wien, ohne zu ahnen, dass sein Ziel ein pensionierter Klempner unweit seines Büros war.
    
  Inoffizielle Quellen in der israelischen Botschaft in Wien bedauerten, dass Graus starb, ohne sich für seine Verbrechen verantworten zu müssen, feierten aber dennoch seinen plötzlichen Tod, da sein hohes Alter, wie im Fall des chilenischen Diktators Augusto Pinochet, das Auslieferungs- und Gerichtsverfahren erschwert hätte.
    
  "Wir können nicht umhin, in seinem Tod die Hand des Schöpfers zu erkennen", sagte die Quelle.
    
    
  3
    
    
    
  KINE
    
  'Er ist unten, Sir.'
    
  Der Mann im Stuhl wich leicht zurück. Seine Hand zitterte, doch die Bewegung wäre für jeden, der ihn nicht so gut kannte wie seinen Assistenten, kaum wahrnehmbar gewesen.
    
  "Wie ist er so? Haben Sie ihn gründlich untersucht?"
    
  'Sie wissen, was ich habe, Sir.'
    
  Es folgte ein tiefer Seufzer.
    
  'Ja, Jacob. Meine Entschuldigung.'
    
  Während er sprach, stand der Mann auf und griff nach der Fernbedienung, mit der er seine Umgebung steuerte. Er drückte einen der Knöpfe fest, seine Knöchel traten weiß hervor. Er hatte bereits mehrere Fernbedienungen zerbrochen, und sein Assistent hatte schließlich nachgegeben und eine Spezialanfertigung bestellt, aus verstärktem Acryl, die perfekt in die Hand des alten Mannes passte.
    
  "Mein Verhalten muss lästig sein", sagte der alte Mann. "Es tut mir leid."
    
  Sein Assistent reagierte nicht; ihm wurde klar, dass sein Chef Dampf ablassen musste. Er war ein bescheidener Mann, aber er kannte seine Stellung im Leben sehr wohl, sofern man diese Eigenschaften überhaupt als vereinbar bezeichnen konnte.
    
  "Es schmerzt mich, den ganzen Tag hier zu sitzen, wissen Sie? Jeden Tag finde ich weniger Freude an den alltäglichen Dingen. Ich bin zu einem jämmerlichen alten Idioten geworden. Jeden Abend, wenn ich ins Bett gehe, sage ich mir: ‚Morgen." Morgen wird der Tag sein. Und am nächsten Morgen wache ich auf, und mein Entschluss ist dahin, genau wie meine Zähne."
    
  "Wir sollten uns besser auf den Weg machen, Sir", sagte der Adjutant, der schon unzählige Variationen dieses Themas gehört hatte.
    
  Ist das wirklich notwendig?
    
  "Sie haben es doch selbst verlangt, Sir. Um alle offenen Fragen zu klären."
    
  "Ich könnte den Bericht einfach lesen."
    
  "Es geht nicht nur darum. Wir befinden uns bereits in Phase Vier. Wenn Sie an dieser Expedition teilnehmen möchten, müssen Sie sich daran gewöhnen, mit Fremden zu interagieren. Dr. Houcher hat dies sehr deutlich gemacht."
    
  Der alte Mann drückte ein paar Knöpfe auf seiner Fernbedienung. Die Jalousien im Zimmer senkten sich und das Licht ging aus, als er sich wieder hinsetzte.
    
  Gibt es denn keinen anderen Weg?
    
  Sein Assistent schüttelte den Kopf.
    
  "Dann sehr gut."
    
  Der Assistent ging zur Tür, der einzigen verbliebenen Lichtquelle.
    
  'Jakob'.
    
  'Ja, Sir?'
    
  Bevor du gehst... Darf ich deine Hand einen Moment lang halten? Ich habe Angst.
    
  Der Assistent tat, wie ihm befohlen wurde. Cains Hand zitterte noch immer.
    
    
  4
    
    
    
  KAYN INDUSTRIES HAUPTSITZ
    
  NEW YORK
    
    
  Mittwoch, 5. Juli 2006, 11:10 Uhr.
    
    
  Orville Watson trommelte nervös mit den Fingern auf dem dicken Lederordner in seinem Schoß. Seit zwei Stunden saß er nun schon auf seinem bequemen Rücksitz in der Empfangshalle im 38. Stock des Kayn Towers. Bei 3.000 Dollar die Stunde hätte jeder andere gern bis zum Jüngsten Tag gewartet. Aber nicht Orville. Dem jungen Kalifornier war langweilig. Tatsächlich war es gerade der Kampf gegen die Langeweile, der seine Karriere ausmachte.
    
  Das College langweilte ihn. Gegen den Willen seiner Familie brach er das Studium im zweiten Jahr ab. Er fand eine gute Stelle bei CNET, einem führenden Technologieunternehmen, doch die Langeweile überkam ihn erneut. Orville sehnte sich ständig nach neuen Herausforderungen, und seine wahre Leidenschaft war es, Fragen zu beantworten. Um die Jahrtausendwende trieb ihn sein Unternehmergeist dazu, CNET zu verlassen und sein eigenes Unternehmen zu gründen.
    
  Seine Mutter, die täglich die Schlagzeilen über den nächsten Dotcom-Crash las, war dagegen. Doch ihre Bedenken hielten Orville nicht auf. Er packte seine 300 Kilo, seinen blonden Pferdeschwanz und einen Koffer voller Kleidung in einen klapprigen Lieferwagen und fuhr quer durchs Land, bis er schließlich in einer Kellerwohnung in Manhattan landete. So entstand Netcatch. Der Slogan lautete: "Sie fragen, wir antworten." Das ganze Projekt hätte leicht nur der wilde Traum eines jungen Mannes mit einer Essstörung, zu vielen Sorgen und einem eigentümlichen Verständnis des Internets bleiben können. Doch dann geschah der 11. September, und Orville erkannte sofort drei Dinge, die die Bürokraten in Washington viel zu lange nicht begriffen hatten.
    
  Erstens waren ihre Methoden der Informationsverarbeitung dreißig Jahre veraltet. Zweitens erschwerte die von der achtjährigen Clinton-Regierung eingeführte politische Korrektheit die Informationsbeschaffung zusätzlich, da man sich nur auf "zuverlässige Quellen" verlassen konnte, die im Umgang mit Terroristen nutzlos waren. Und drittens erwiesen sich die Araber in Sachen Spionage als die neuen Russen.
    
  Orvilles Mutter Yasmina wurde in Beirut geboren und lebte dort viele Jahre, bevor sie einen gutaussehenden Ingenieur aus Sausalito, Kalifornien, heiratete, den sie während eines Projekts im Libanon kennengelernt hatte. Das Paar zog bald in die Vereinigten Staaten, wo die schöne Yasmina ihrem einzigen Sohn Arabisch und Englisch beibrachte.
    
  Durch die Annahme verschiedener Online-Identitäten entdeckte der junge Mann, dass das Internet ein Tummelplatz für Extremisten war. Physisch spielte es keine Rolle, wie weit zehn Radikale voneinander entfernt waren; online wurde Distanz in Millisekunden gemessen. Ihre Identitäten mochten geheim und ihre Ideen abwegig sein, aber online konnten sie Gleichgesinnte finden. Innerhalb weniger Wochen hatte Orville etwas erreicht, was keinem westlichen Geheimdienst auf konventionellem Wege gelungen war: Er hatte eines der radikalsten islamischen Terrornetzwerke infiltriert.
    
  Eines Morgens Anfang 2002 fuhr Orville mit vier Kartons voller Akten im Kofferraum seines Lieferwagens nach Washington, D.C. Am CIA-Hauptquartier angekommen, verlangte er, mit dem Verantwortlichen für den islamischen Terrorismus zu sprechen, da er angeblich wichtige Informationen preisgeben wollte. In seiner Hand hielt er eine zehnseitige Zusammenfassung seiner Erkenntnisse. Der unscheinbare Beamte, der ihn empfing, ließ ihn zwei Stunden warten, bevor er sich überhaupt die Mühe machte, seinen Bericht zu lesen. Nachdem er ihn beendet hatte, war der Beamte so alarmiert, dass er seinen Vorgesetzten anrief. Wenige Minuten später erschienen vier Männer, rissen Orville zu Boden, entkleideten ihn und zerrten ihn in einen Verhörraum. Orville lächelte innerlich während der gesamten demütigenden Prozedur; er wusste, er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
    
  Als die CIA-Führung das Ausmaß von Orvilles Talent erkannte, bot sie ihm eine Stelle an. Orville erklärte ihnen, der Inhalt der vier Kisten (der letztendlich zu 23 Verhaftungen in den USA und Europa führte) sei lediglich eine kostenlose Probe gewesen. Sollten sie mehr Material benötigen, sollten sie die Dienste seiner neuen Firma Netcatch in Anspruch nehmen.
    
  "Ich muss hinzufügen, dass unsere Preise sehr günstig sind", sagte er. "Kann ich jetzt bitte meine Unterwäsche zurückbekommen?"
    
  Viereinhalb Jahre später hatte Orville weitere sechs Kilo zugenommen. Auch sein Bankkonto war prall gefüllt. Netcatch beschäftigt derzeit siebzehn Festangestellte, die detaillierte Berichte erstellen und Recherchen für die wichtigsten westlichen Regierungen durchführen, vorwiegend zu Sicherheitsfragen. Orville Watson, inzwischen Millionär, begann sich wieder zu langweilen.
    
  Bis diese neue Aufgabe auftauchte.
    
  Netcatch hatte seine eigenen Methoden. Alle Anfragen für seine Dienste mussten als Frage formuliert werden. Und diese letzte Frage wurde von den Worten "Budget unbegrenzt" begleitet. Die Tatsache, dass dies von einem privaten Unternehmen und nicht von der Regierung durchgeführt wurde, weckte Orvilles Neugierde.
    
    
  Wer ist Pater Anthony Fowler?
    
    
  Orville erhob sich vom Plüschsofa im Empfangsbereich und versuchte, die Taubheit in seinen Muskeln zu lindern. Er verschränkte die Hände und streckte sie so weit wie möglich hinter den Kopf. Eine Informationsanfrage von einem Privatunternehmen, insbesondere von einem wie Kayn Industries, einem Fortune-500-Unternehmen, war ungewöhnlich. Vor allem eine so seltsame und präzise Anfrage von einem einfachen Priester aus Boston.
    
  ...über einen scheinbar gewöhnlichen Priester aus Boston, korrigierte sich Orville.
    
  Orville streckte sich gerade, als ein dunkelhaariger, gut gebauter Manager in einem teuren Anzug den Warteraum betrat. Er war kaum dreißig und musterte Orville ernst hinter seiner randlosen Brille. Der orangefarbene Teint verriet, dass er regelmäßig ins Solarium ging. Er sprach mit einem scharfen britischen Akzent.
    
  "Herr Watson. Ich bin Jacob Russell, der persönliche Assistent von Raymond Kane. Wir haben telefoniert."
    
  Orville versuchte, seine Fassung wiederzuerlangen, jedoch ohne großen Erfolg, und streckte seine Hand aus.
    
  "Herr Russell, es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Entschuldigen Sie, ich ..."
    
  "Keine Sorge. Folgen Sie mir bitte, ich bringe Sie zu Ihrem Treffen."
    
  Sie durchquerten den mit Teppich ausgelegten Warteraum und näherten sich den Mahagonitüren am anderen Ende.
    
  'Ein Treffen? Ich dachte, ich sollte Ihnen meine Ergebnisse erläutern.'
    
  'Nun ja, nicht ganz, Mr. Watson. Heute wird Raymond Kane Ihre Ausführungen hören.'
    
  Orville konnte nicht antworten.
    
  Gibt es ein Problem, Mr. Watson? Fühlen Sie sich unwohl?
    
  'Ja. Nein. Ich meine, es gibt kein Problem, Mr. Russell. Sie haben mich nur überrascht. Mr. Cain...'
    
  Russell zog an dem kleinen Griff des Mahagoni-Türrahmens, woraufhin die Türfüllung beiseite glitt und ein schlichtes, dunkles Glasquadrat freigab. Der Manager legte seine rechte Hand auf das Glas, ein orangefarbenes Licht blitzte auf, gefolgt von einem kurzen Klingeln, und dann öffnete sich die Tür.
    
  "Ich kann Ihre Überraschung verstehen, angesichts dessen, was die Medien über Herrn Cain berichtet haben. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist mein Arbeitgeber ein Mann, der Wert auf seine Privatsphäre legt..."
    
  "Er ist ein verdammter Einsiedler, das ist er", dachte Orville.
    
  "...aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Normalerweise ist er Fremden gegenüber eher zurückhaltend, aber wenn Sie bestimmte Regeln befolgen..."
    
  Sie gingen einen schmalen Korridor entlang, an dessen Ende sich die glänzenden Metalltüren eines Aufzugs erhoben.
    
  "Was meinen Sie mit ‚üblicherweise", Mr. Russell?"
    
  Der Manager räusperte sich.
    
  "Ich muss Ihnen mitteilen, dass Sie, die Führungskräfte dieses Unternehmens nicht mitgerechnet, erst die vierte Person sind, die Herrn Cain in den fünf Jahren, die ich für ihn arbeite, getroffen hat."
    
  Orville pfiff lange.
    
  "Das ist schon was."
    
  Sie erreichten den Aufzug. Es gab keinen Auf- oder Ab-Knopf, nur ein kleines digitales Bedienfeld an der Wand.
    
  'Wären Sie so freundlich, wegzusehen, Mr. Watson?', sagte Russell.
    
  Der junge Kalifornier tat, wie ihm befohlen wurde. Eine Reihe von Pieptönen ertönte, als der Manager den Code eingab.
    
  "Sie können sich jetzt umdrehen. Danke."
    
  Orville drehte sich wieder zu ihm um. Die Aufzugtüren öffneten sich, und zwei Männer traten ein. Wieder gab es keine Knöpfe, nur einen Magnetkartenleser. Russell zog seine Plastikkarte heraus und steckte sie schnell in den Schlitz. Die Türen schlossen sich, und der Aufzug fuhr sanft nach oben.
    
  "Ihr Chef nimmt seine Sicherheit ganz offensichtlich sehr ernst", sagte Orville.
    
  Herr Kane hat zahlreiche Morddrohungen erhalten. Tatsächlich wurde er vor einigen Jahren Opfer eines ziemlich schweren Attentats und hatte Glück, unverletzt davonzukommen. Bitte lassen Sie sich vom Nebel nicht beunruhigen. Es ist völlig ungefährlich.
    
  Orville fragte sich, wovon Russell da bloß redete, als plötzlich ein feiner Nebel von der Decke herabfiel. Er blickte nach oben und bemerkte mehrere Geräte, die jeweils eine neue Sprühwolke ausstieß.
    
  'Was passiert?'
    
  "Es handelt sich um ein mildes Antibiotikum, völlig unbedenklich. Gefällt Ihnen der Geruch?"
    
  Verdammt, er besprüht sogar seine Besucher, bevor er sie sieht, um sicherzugehen, dass sie ihn nicht anstecken. Ich habe meine Meinung geändert. Dieser Typ ist kein Einsiedler, er ist ein paranoider Spinner.
    
  'Mmm, ja, nicht schlecht. Minzig, oder?'
    
  "Wildminze-Essenz. Sehr erfrischend."
    
  Orville biss sich auf die Lippe, um nicht zu antworten, und konzentrierte sich stattdessen auf die siebenstellige Rechnung, die er Cain in Rechnung stellen würde, sobald dieser aus diesem goldenen Käfig entkam. Der Gedanke munterte ihn etwas auf.
    
  Die Aufzugtüren öffneten sich zu einem prächtigen, lichtdurchfluteten Raum. Die Hälfte des 39. Stockwerks bestand aus einer riesigen, von Glaswänden umgebenen Terrasse mit Panoramablick auf den Hudson River. Direkt vor ihnen lag Hoboken, südlich davon Ellis Island.
    
  'Beeindruckend.'
    
  "Mr. Kain schwelgt gern in Erinnerungen an seine Wurzeln. Bitte folgen Sie mir." Die schlichte Einrichtung bildete einen Kontrast zu der majestätischen Aussicht. Boden und Möbel waren ganz in Weiß gehalten. Die andere Hälfte des Stockwerks mit Blick auf Manhattan war durch eine ebenfalls weiße Wand mit mehreren Türen von der verglasten Terrasse getrennt. Russell blieb vor einer davon stehen.
    
  "Gut, Mr. Watson, Mr. Cain empfängt Sie jetzt. Bevor Sie eintreten, möchte ich Ihnen jedoch einige einfache Regeln mitgeben. Erstens: Schauen Sie ihn nicht direkt an. Zweitens: Stellen Sie ihm keine Fragen. Und drittens: Versuchen Sie nicht, ihn zu berühren oder ihm zu nahe zu kommen. Beim Betreten des Raumes finden Sie einen kleinen Tisch mit einer Kopie Ihres Berichts und der Fernbedienung für Ihre PowerPoint-Präsentation, die uns Ihr Büro heute Morgen zur Verfügung gestellt hat. Bleiben Sie am Tisch, halten Sie Ihre Präsentation und gehen Sie, sobald Sie fertig sind. Ich warte hier auf Sie. Ist das klar?"
    
  Orville nickte nervös.
    
  "Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun."
    
  "Na gut, kommen Sie herein", sagte Russell und öffnete die Tür.
    
  Der Kalifornier zögerte, bevor er den Raum betrat.
    
  "Ach, noch etwas. Netcatch hat bei einer Routineuntersuchung im Auftrag des FBI etwas Interessantes entdeckt. Wir haben Grund zur Annahme, dass Cain Industries ein Ziel islamistischer Terroristen sein könnte. Alles steht in diesem Bericht", sagte Orville und reichte seinem Assistenten eine DVD. Russell nahm sie mit besorgtem Blick entgegen. "Betrachten Sie es als unsere Geste."
    
  "Vielen Dank, Mr. Watson. Und viel Glück."
    
    
  5
    
    
    
  HOTEL LE MERIDIEN
    
  AMMAN, Jordan
    
    
  Mittwoch, 5. Juli 2006, 18:11 Uhr.
    
    
  Auf der anderen Seite der Welt verließ Tahir Ibn Faris, ein einfacher Beamter im Industrieministerium, sein Büro etwas später als gewöhnlich. Der Grund dafür war nicht etwa sein vorbildlicher Einsatz für seine Arbeit, sondern sein Wunsch, unauffällig zu bleiben. In weniger als zwei Minuten erreichte er sein Ziel, das keine gewöhnliche Bushaltestelle war, sondern das luxuriöse Meridien, Jordaniens feinstes Fünf-Sterne-Hotel, in dem sich gerade zwei Herren aufhielten. Sie hatten das Treffen über einen prominenten Industriellen vereinbart. Unglücklicherweise hatte sich dieser Vermittler seinen Ruf auf zweifelhafte Weise erworben. Daher vermutete Tahir, dass die Einladung zum Kaffee einen zwielichtigen Hintergrund haben könnte. Und obwohl er stolz auf seine dreiundzwanzig Jahre ehrlichen Dienstes im Ministerium war, brauchte er den Stolz immer weniger und das Geld immer mehr; denn seine älteste Tochter heiratete, und das würde ihn teuer zu stehen kommen.
    
  Auf dem Weg zu einer der Chefetagen betrachtete Tahir sein Spiegelbild und wünschte, er sähe gieriger aus. Er war kaum 1,68 Meter groß, und sein Bauch, der ergrauende Bart und die wachsende Glatze ließen ihn eher wie einen freundlichen Trunkenbold als wie einen korrupten Beamten wirken. Er wollte jede Spur von Ehrlichkeit aus seinen Gesichtszügen tilgen.
    
  Was ihm über zwei Jahrzehnte Ehrlichkeit nicht gebracht hatten, war die richtige Perspektive auf sein Tun. Als er an die Tür klopfte, begannen seine Knie zu klopfen. Er beruhigte sich einen Moment, bevor er den Raum betrat, wo ihn ein gut gekleideter Amerikaner, offenbar um die Fünfzig, empfing. Ein anderer Mann, deutlich jünger, saß im geräumigen Wohnzimmer, rauchte und telefonierte. Als er Tahir erblickte, beendete er das Gespräch und stand auf, um ihn zu begrüßen.
    
  "Ahlan wa sahlan", begrüßte er ihn in perfektem Arabisch.
    
  Tahir war fassungslos. Als er bei verschiedenen Gelegenheiten Bestechungsgelder abgelehnt hatte, um Land für industrielle und gewerbliche Zwecke in Amman umzuwidmen - eine wahre Goldgrube für seine weniger skrupellosen Kollegen -, hatte er dies nicht aus Pflichtgefühl getan, sondern wegen der beleidigenden Arroganz der Westler, die ihm innerhalb weniger Minuten nach dem Kennenlernen Bündel von Dollar-Scheinen auf den Tisch warfen.
    
  Das Gespräch mit den beiden Amerikanern hätte unterschiedlicher nicht sein können. Vor Tahirs staunenden Augen setzte sich der Ältere an einen niedrigen Tisch, auf dem er vier Dellas, Beduinen-Kaffeekannen, und ein kleines Kohlefeuer vorbereitet hatte. Mit geübter Hand röstete er frische Kaffeebohnen in einer Eisenpfanne und ließ sie abkühlen. Dann mahlte er die gerösteten Bohnen zusammen mit den älteren in einem Mahbash, einem kleinen Mörser. Der gesamte Vorgang wurde von einem ständigen Gesprächsfluss begleitet, nur unterbrochen vom rhythmischen Schlagen des Stößels im Mahbash - ein Geräusch, das von Arabern als eine Art Musik betrachtet wird und dessen Kunstfertigkeit der Gast zu schätzen wusste.
    
  Der Amerikaner gab Kardamomsamen und eine Prise Safran hinzu und ließ die Mischung sorgfältig nach jahrhundertealter Tradition ziehen. Wie üblich hielt der Gast - Tahir - die henkellose Tasse, während der Amerikaner sie halb füllte, denn es war das Privileg des Gastgebers, dem wichtigsten Gast im Raum als Erster zu servieren. Tahir trank den Kaffee, noch etwas skeptisch. Er dachte, er würde nicht mehr als eine Tasse trinken, da es schon spät war, doch nach dem ersten Schluck war er so begeistert, dass er noch vier weitere trank. Er hätte sogar eine sechste Tasse getrunken, wenn es nicht als unhöflich galt, eine gerade Anzahl zu trinken.
    
  "Herr Fallon, ich hätte nie gedacht, dass jemand, der im Land von Starbucks geboren wurde, das Beduinenritual des Gahwah so gut beherrschen könnte", sagte Tahir. Inzwischen fühlte er sich recht wohl und wollte das unbedingt wissen, um herauszufinden, was zum Teufel diese Amerikaner da eigentlich trieben.
    
  Der jüngste der Moderatoren überreichte ihm zum hundertsten Mal ein goldenes Zigarettenetui.
    
  "Tahir, mein Freund, hör bitte auf, uns mit unseren Nachnamen anzusprechen. Ich bin Peter und das ist Frank", sagte er und zündete sich eine weitere Dunhill an.
    
  "Danke, Peter."
    
  "Okay. Jetzt, wo wir entspannt sind, Tahir, fändest du es unhöflich, wenn wir über Geschäftliches sprechen würden?"
    
  Der ältere Beamte war erneut angenehm überrascht. Zwei Stunden waren vergangen. Araber sprechen ungern vor Ablauf einer halben Stunde über Geschäfte, doch dieser Amerikaner fragte ihn sogar um Erlaubnis. In diesem Moment fühlte sich Tahir bereit, jedes Gebäude, das sie ins Visier nahmen, umzubauen, selbst den Palast von König Abdullah.
    
  'Absolut, mein Freund.'
    
  "Okay, genau das brauchen wir: eine Lizenz für die Kayn Mining Company zum Abbau von Phosphaten für ein Jahr, beginnend heute."
    
  "So einfach wird es nicht werden, mein Freund. Fast die gesamte Küste des Toten Meeres ist bereits von der lokalen Industrie belegt. Wie du weißt, sind Phosphate und Tourismus praktisch unsere einzigen nationalen Ressourcen."
    
  "Kein Problem, Tahir. Wir sind nicht am Toten Meer interessiert, sondern nur an einem kleinen Gebiet von etwa zehn Quadratmeilen um diese Koordinaten."
    
  Er reichte Tahir ein Stück Papier.
    
  '29№ 34' 44" Nord, 36№ 21' 24" Ost? Das kann doch nicht euer Ernst sein, meine Freunde. Das liegt nordöstlich von Al-Mudawwara.'
    
  'Ja, nicht weit von der saudischen Grenze entfernt. Wir wissen das, Tahir.'
    
  Der Jordanier blickte sie verwirrt an.
    
  Dort gibt es keine Phosphate. Es ist eine Wüste. Mineralien sind dort nutzlos.
    
  "Nun, Tahir, wir haben großes Vertrauen in unsere Ingenieure, und sie sind überzeugt, dass sie in diesem Gebiet erhebliche Mengen an Phosphat gewinnen können. Selbstverständlich erhalten Sie als Zeichen des guten Willens eine kleine Provision."
    
  Tahirs Augen weiteten sich, als sein neuer Freund seinen Aktenkoffer öffnete.
    
  "Aber es muss so sein ..."
    
  'Genug für die Hochzeit der kleinen Miesha, oder?'
    
  Und ein kleines Strandhaus mit Doppelgarage, dachte Tahir. Diese verdammten Amerikaner halten sich wohl für schlauer als alle anderen und meinen, sie könnten hier Öl finden. Als ob wir nicht schon unzählige Male dort gesucht hätten. Jedenfalls werde ich ihnen ihre Träume nicht zerstören.
    
  "Meine Freunde, es besteht kein Zweifel daran, dass Sie beide Männer von großem Wert und Wissen sind. Ich bin zuversichtlich, dass Ihr Unternehmen im Haschemitischen Königreich Jordanien willkommen sein wird."
    
  Trotz Peters und Franks aufgesetztem Lächeln grübelte Tahir weiterhin darüber nach, was das alles zu bedeuten hatte. Was zum Teufel suchten diese Amerikaner in der Wüste?
    
  Egal wie sehr er mit dieser Frage haderte, er kam nicht einmal annähernd auf die Idee, dass dieses Treffen ihn in wenigen Tagen das Leben kosten würde.
    
    
  6
    
    
    
  KAYN INDUSTRIES HAUPTSITZ
    
  NEW YORK
    
    
  Mittwoch, 5. Juli 2006, 11:29 Uhr.
    
    
  Orville befand sich in einem abgedunkelten Raum. Die einzige Lichtquelle war eine kleine Lampe auf einem Rednerpult in drei Metern Entfernung, wo, wie von seinem Vorgesetzten angewiesen, sein Bericht und eine Fernbedienung lagen. Er ging hinüber und nahm die Fernbedienung. Während er sie betrachtete und überlegte, wie er seine Präsentation beginnen sollte, wurde er plötzlich von einem hellen Lichtstrahl getroffen. Keine zwei Meter von ihm entfernt befand sich ein großer, sechs Meter breiter Bildschirm. Darauf wurde die erste Seite seiner Präsentation mit dem roten Netcatch-Logo angezeigt.
    
  "Vielen Dank, Herr Kane, und guten Morgen. Zunächst möchte ich sagen, dass es mir eine Ehre ist..."
    
  Es war ein leises Summen zu hören und das Bild auf dem Bildschirm änderte sich; es zeigte den Titel seiner Präsentation und die erste von zwei Fragen:
    
    
  WER IST PATER ANTHONY FOWLER?
    
    
  Offenbar legte Herr Cain Wert auf Kürze und Kontrolle und hatte eine zweite Fernbedienung parat, um den Vorgang zu beschleunigen.
    
  Okay, alter Mann. Ich hab's kapiert. Kommen wir zur Sache.
    
  Orville drückte auf der Fernbedienung, um die nächste Seite aufzuschlagen. Sie zeigte einen Priester mit einem hageren, faltigen Gesicht. Er hatte eine Glatze, und sein restliches Haar war kurz geschnitten. Orville begann, mit der Dunkelheit vor ihm zu sprechen.
    
  "John Anthony Fowler, auch bekannt als Pater Anthony Fowler oder Tony Brent. Geboren am 16. Dezember 1951 in Boston, Massachusetts. Grüne Augen, etwa 80 Kilogramm. Freiberuflicher CIA-Agent und ein absolutes Rätsel. Die Aufklärung dieses Falls erforderte zwei Monate Recherchearbeit von zehn meiner besten Ermittler, die ausschließlich an diesem Fall arbeiteten, sowie beträchtliche Schmiergelder an gut informierte Quellen. Das erklärt weitgehend die drei Millionen Dollar, die für die Erstellung dieses Berichts nötig waren, Mr. Kane."
    
  Der Bildschirm wechselte erneut und zeigte diesmal ein Familienfoto: ein elegant gekleidetes Paar im Garten eines scheinbar teuren Hauses. Neben ihnen stand ein attraktiver, dunkelhaariger Junge von etwa elf Jahren. Die Hand des Vaters schien um die Schulter des Jungen gelegt zu sein, und alle drei lächelten angespannt.
    
  Anthony Fowler ist der einzige Sohn von Marcus Abernathy Fowler, einem Wirtschaftsmagnaten und Inhaber von Infinity Pharmaceuticals, einem heutigen Biotechnologieunternehmen mit einem Umsatz in Millionenhöhe. Nachdem seine Eltern 1984 bei einem verdächtigen Autounfall ums Leben gekommen waren, verkaufte Anthony Fowler das Unternehmen und das restliche Vermögen und spendete alles für wohltätige Zwecke. Er behielt die Villa seiner Eltern in Beacon Hill und vermietete sie an ein Paar mit Kindern. Das oberste Stockwerk behielt er und richtete es als Wohnung ein, die er mit einigen Möbeln und einer großen Sammlung philosophischer Bücher ausstattete. Dort hält er sich gelegentlich auf, wenn er in Boston ist.
    
  Das nächste Foto zeigte eine jüngere Version derselben Frau, diesmal auf einem College-Campus, in einem Abschlusskleid.
    
  Daphne Brent war eine talentierte Chemikerin bei Infinity Pharmaceuticals, bis sich der Inhaber in sie verliebte und sie heirateten. Als sie schwanger wurde, machte Marcus sie über Nacht zur Hausfrau. Das ist alles, was wir über die Familie Fowler wissen, außer dass der junge Anthony im Gegensatz zu seinem Vater nicht das Boston College, sondern Stanford besuchte.
    
  Nächste Folie: Ein junger Anthony, der kaum älter als ein Teenager aussieht, steht mit ernstem Gesichtsausdruck unter einem Plakat mit der Aufschrift "1971".
    
  Mit zwanzig Jahren schloss er sein Psychologiestudium mit Auszeichnung ab. Er war der Jüngste seines Jahrgangs. Dieses Foto entstand einen Monat vor Semesterende. Am letzten Tag packte er seine Koffer und ging zum Studienberatungsbüro der Universität. Er wollte nach Vietnam.
    
  Auf dem Bildschirm erschien das Bild eines abgenutzten, vergilbten Formulars, das von Hand ausgefüllt worden war.
    
  Dies ist ein Foto seines AFQT (Armed Forces Qualification Test). Fowler erreichte 98 von 100 Punkten. Der Sergeant war so beeindruckt, dass er ihn umgehend zur Lackland Air Force Base in Texas versetzte. Dort absolvierte er die Grundausbildung und anschließend eine weiterführende Ausbildung beim Fallschirmjägerregiment einer Spezialeinheit, die abgeschossene Piloten hinter feindlichen Linien barg. In Lackland erlernte er Guerillataktiken und wurde Hubschrauberpilot. Nach anderthalb Jahren Kampfeinsatz kehrte er als Leutnant in die Heimat zurück. Zu seinen Auszeichnungen gehören das Purple Heart und das Air Force Cross. Der Bericht beschreibt detailliert die Einsätze, die ihm diese Auszeichnungen einbrachten.
    
  Ein Foto von mehreren uniformierten Männern auf einem Flugfeld. Fowler stand in der Mitte, als Priester verkleidet.
    
  Nach seinem Einsatz in Vietnam trat Fowler in ein katholisches Priesterseminar ein und wurde 1977 zum Priester geweiht. Er wurde als Militärgeistlicher auf den Luftwaffenstützpunkt Spangdahlem in Deutschland versetzt, wo er von der CIA angeworben wurde. Angesichts seiner Sprachkenntnisse ist es leicht nachzuvollziehen, warum sie ihn wollten: Fowler spricht elf Sprachen fließend und kann sich in fünfzehn weiteren verständigen. Doch die Kompanie war nicht die einzige Einheit, die ihn rekrutierte.
    
  Ein weiteres Foto von Fowler in Rom mit zwei anderen jungen Priestern.
    
  Ende der 1970er-Jahre wurde Fowler hauptberuflicher Agent des Unternehmens. Er behält seinen Status als Militärgeistlicher und reist zu verschiedenen Militärstützpunkten weltweit. Die Informationen, die ich Ihnen bisher gegeben habe, hätten von diversen Behörden stammen können, doch was ich Ihnen nun mitteilen werde, ist streng geheim und äußerst schwer zu beschaffen.
    
  Der Bildschirm wurde schwarz. Im Licht des Projektors konnte Orville gerade noch einen weichen Sessel erkennen, in dem jemand saß. Er bemühte sich, die Gestalt nicht direkt anzusehen.
    
  Fowler ist Agent der Heiligen Allianz, des vatikanischen Geheimdienstes. Es handelt sich um eine kleine, der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte, aber aktive Organisation. Zu ihren Erfolgen zählt die Rettung der ehemaligen israelischen Präsidentin Golda Meir, als islamistische Terroristen während eines Rombesuchs beinahe ihr Flugzeug in die Luft sprengten. Der Mossad wurde dafür mit Medaillen ausgezeichnet, doch die Heilige Allianz kümmerte sich nicht darum. Sie nimmt den Begriff "Geheimdienst" wörtlich. Nur der Papst und einige wenige Kardinäle sind offiziell über ihre Arbeit informiert. Innerhalb der internationalen Geheimdienstgemeinschaft genießt die Allianz gleichermaßen Respekt und Furcht. Leider kann ich über Fowlers Vergangenheit bei dieser Institution nicht viel mehr sagen. Was seine Tätigkeit für die CIA betrifft, so verbieten mir meine Berufsethik und mein Vertrag mit dem Unternehmen, weitere Angaben zu machen, Herr Cain.
    
  Orville räusperte sich. Obwohl er keine Antwort von der Gestalt am anderen Ende des Raumes erwartete, hielt er inne.
    
  Kein Wort.
    
  "Was Ihre zweite Frage betrifft, Herr Cain..."
    
  Orville überlegte kurz, ob er preisgeben sollte, dass Netcatch nicht für die Beschaffung dieser speziellen Information verantwortlich war. Dass sie in einem versiegelten Umschlag von einem anonymen Absender in seinem Büro eingegangen war. Und dass andere Interessen im Spiel waren, die Kayn Industries offensichtlich in ihren Besitz bringen wollten. Doch dann erinnerte er sich an den demütigenden Mentholgeruch und sprach einfach weiter.
    
  Auf dem Bildschirm erschien eine junge Frau mit blauen Augen und kupferfarbenem Haar.
    
  "Das ist ein junger Journalist namens ..."
    
    
  7
    
    
    
  Redaktion von El Globo
    
  MADRID, SPANIEN
    
    
  Donnerstag, 6. Juli 2006, 20:29 Uhr.
    
    
  'Andrea! Andrea Otero! Wo zum Teufel bist du?'
    
  Zu sagen, die Rufe des Chefredakteurs seien in der Redaktion verstummt, wäre nicht ganz richtig, denn in der Redaktion einer Tageszeitung herrscht eine Stunde vor Drucklegung nie absolute Stille. Doch es waren keine Stimmen zu hören, sodass die Hintergrundgeräusche von Telefonen, Radios, Fernsehern, Faxgeräten und Druckern seltsam still wirkten. Der Chefredakteur trug in jeder Hand einen Koffer, unter dem Arm eine Zeitung. Er stellte die Koffer am Eingang der Redaktion ab und ging direkt zum Auslandsressort, dem einzigen freien Schreibtisch. Wütend schlug er mit der Faust darauf.
    
  'Du kannst jetzt rauskommen. Ich habe gesehen, wie du da reingesprungen bist.'
    
  Langsam tauchte unter dem Tisch eine kupferblonde Haarmähne und das Gesicht einer jungen, blauäugigen Frau auf. Sie versuchte, unbeteiligt zu wirken, doch ihr Gesichtsausdruck war angespannt.
    
  'Hey, Chef. Mir ist gerade mein Stift runtergefallen.'
    
  Der erfahrene Reporter griff nach seiner Perücke und rückte sie zurecht. Das Thema der Glatze des Chefredakteurs war tabu, daher half es Andrea Otero sicherlich nicht, dass sie diese Aktion gerade miterlebt hatte.
    
  'Ich bin nicht glücklich, Otero. Überhaupt nicht glücklich. Kannst du mir sagen, was zum Teufel hier los ist?'
    
  'Was meinen Sie, Chef?'
    
  'Hast du vierzehn Millionen Euro auf dem Konto, Otero?'
    
  "Nicht, als ich das letzte Mal nachgesehen habe."
    
  Tatsächlich waren ihre fünf Kreditkarten, als sie das letzte Mal nachgesehen hatte, aufgrund ihrer unstillbaren Sucht nach Hermès-Taschen und Manolo-Blahnik-Schuhen stark überzogen. Sie überlegte schon, die Buchhaltung um einen Vorschuss auf ihren Weihnachtsgeld zu bitten. Und zwar für die nächsten drei Jahre.
    
  'Du solltest besser eine reiche Tante haben, die kurz davor ist, ihre Holzschuhe auszuziehen, denn so viel wirst du mich kosten, Otero.'
    
  "Seien Sie mir nicht böse, Chef. Was in Holland passiert ist, wird sich nicht wiederholen."
    
  "Ich rede nicht von Ihren Zimmerservice-Rechnungen, Otero. Ich rede von François Dupré", sagte der Redakteur und warf die gestrige Zeitung auf den Tisch.
    
  "Verdammt, das war"s dann wohl", dachte Andrea.
    
  "Ein einziges Mal! Ich habe mir in den letzten fünf Monaten einen einzigen beschissenen Tag frei genommen, und ihr habt es alle vermasselt."
    
  Im selben Augenblick hörte die gesamte Redaktion, bis hin zum letzten Reporter, auf zu starren und wandte sich wieder ihren Schreibtischen zu, plötzlich wieder in der Lage, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
    
  "Ach komm schon, Chef. Verschwendung ist Verschwendung."
    
  'Abfall? So nennen Sie das?'
    
  "Natürlich! Große Geldsummen von den Konten Ihrer Kunden auf Ihr Privatkonto zu überweisen, ist definitiv Verschwendung."
    
  "Und die Titelseite des internationalen Teils zu nutzen, um einen simplen Fehler des Mehrheitsaktionärs eines unserer größten Werbekunden öffentlich zu machen, ist ein komplettes Versagen, Otero."
    
  Andrea schluckte und gab sich unschuldig.
    
  'Der Hauptaktionär?'
    
  "Interbank, Otero. Die, falls Sie es nicht wussten, letztes Jahr zwölf Millionen Euro für diese Zeitung ausgegeben hat und plante, nächstes Jahr weitere vierzehn zu investieren. War in tiefen Gedanken. Vergangenheitsform."
    
  "Das Wichtigste ist ... die Wahrheit ist unbezahlbar."
    
  "Ja, ganz genau: vierzehn Millionen Euro. Und die Köpfe der Verantwortlichen. Sie und Moreno, verschwinden Sie von hier. Weg damit."
    
  Ein weiterer Schuldiger schlurfte herein. Fernando Moreno war der Nachtredakteur, der einen harmlosen Artikel über die Gewinne von Ölkonzernen gestrichen und durch Andreas reißerischen Beitrag ersetzt hatte. Es war ein kurzer Anflug von Mut gewesen, den er nun bereute. Andrea sah ihren Kollegen, einen Mann mittleren Alters, an und dachte an seine Frau und seine drei Kinder. Sie schluckte erneut.
    
  "Der Chef ... Moreno hatte damit nichts zu tun. Ich war es, der den Artikel kurz vor Drucklegung platziert hat."
    
  Morenos Gesicht hellte sich einen Augenblick lang auf, dann nahm es wieder seinen vorherigen Ausdruck der Reue an.
    
  "Sei nicht dumm, Otero", sagte der Chefredakteur. "Das ist unmöglich. Du hast keine Erlaubnis, blau zu werden."
    
  Hermes, das Computersystem der Zeitung, arbeitete mit einem Farbschema. Die Seiten der Zeitung wurden rot hervorgehoben, solange ein Reporter daran arbeitete, grün, wenn sie dem Chefredakteur zur Genehmigung vorgelegt wurden, und blau, wenn der Nachtredakteur sie zum Druck an die Druckerei übergab.
    
  "Ich habe mich mit Morenos Passwort in das blaue System eingeloggt, Chef", log Andrea. "Er hatte damit nichts zu tun."
    
  'Ach ja? Und woher hast du das Passwort? Kannst du es mir erklären?'
    
  "Er bewahrt es in der obersten Schublade seines Schreibtisches auf. Es war einfach."
    
  'Stimmt das, Moreno?'
    
  "Nun ja, Chef", sagte der Nachtredakteur und bemühte sich, seine Erleichterung nicht zu zeigen. "Es tut mir leid."
    
  Der Chefredakteur von El Globo war immer noch nicht zufrieden. Er wandte sich so schnell Andrea zu, dass seine Perücke ein wenig auf seinen kahlen Kopf rutschte.
    
  "Verdammt, Otero. Ich habe mich in dir getäuscht. Ich dachte, du wärst nur ein Idiot. Jetzt merke ich, dass du ein Idiot und ein Unruhestifter bist. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass niemand jemals wieder so eine fiese Zicke wie dich einstellt."
    
  'Aber, Chef...' Andreas Stimme klang verzweifelt.
    
  'Spar dir die Worte, Otero. Du bist gefeuert.'
    
  'Ich habe nicht gedacht...'
    
  "Du bist so gefeuert, dass ich dich nicht mehr sehen kann. Ich kann dich nicht einmal mehr hören."
    
  Der Chef ging von Andreas Schreibtisch weg.
    
  Andrea blickte sich im Raum um und sah nichts als die Hinterköpfe ihrer Reporterkollegen. Moreno kam herüber und stellte sich neben sie.
    
  "Danke, Andrea."
    
  "Schon gut. Es wäre ja verrückt, wenn wir beide gefeuert würden."
    
  Moreno schüttelte den Kopf. "Es tut mir leid, dass du ihm erzählen musstest, dass du das System gehackt hast. Jetzt ist er so wütend, er wird dir das Leben dort wirklich schwer machen. Du weißt ja, was passiert, wenn er wieder so einen Feldzug startet ..."
    
  "Sieht so aus, als hätte er schon angefangen", sagte Andrea und deutete auf die Redaktion. "Plötzlich bin ich eine Aussätzige. Na ja, ich war ja vorher auch nicht gerade beliebt."
    
  Du bist kein schlechter Mensch, Andrea. Im Gegenteil, du bist eine ziemlich furchtlose Reporterin. Aber du bist eine Einzelgängerin und kümmerst dich nie um die Konsequenzen. Na ja, viel Glück.
    
  Andrea schwor sich, nicht zu weinen, sie sei eine starke und unabhängige Frau. Sie biss die Zähne zusammen, als die Sicherheitsleute ihre Sachen in einen Karton packten, und mit großer Mühe gelang es ihr, ihr Versprechen zu halten.
    
    
  8
    
    
    
  WOHNUNG ANDREA OTERO
    
  MADRID, SPANIEN
    
    
  Donnerstag, 6. Juli 2006, 23:15 Uhr.
    
    
  Was Andrea am meisten hasste, seit Eva für immer fort war, war das Geräusch ihrer eigenen Schlüssel, wenn sie nach Hause kam und sie auf den kleinen Tisch neben der Tür legte. Sie hallten leer im Flur wider, was in Andreas Augen ihr ganzes Leben widerspiegelte.
    
  Als Eva da war, war alles anders. Sie rannte wie ein kleines Mädchen zur Tür, küsste Andrea und erzählte unaufhörlich, was sie erlebt oder wen sie getroffen hatte. Andrea, benommen von dem Wirbelwind, der sie daran gehindert hatte, das Sofa zu erreichen, sehnte sich nach Ruhe und Frieden.
    
  Ihre Gebete wurden erhört. Eva war vor drei Monaten eines Morgens gegangen, so wie sie gekommen war: plötzlich. Kein Schluchzen, keine Tränen, kein Bedauern. Andrea sagte fast nichts, verspürte sogar eine leichte Erleichterung. Für Bedauern würde sie später noch genug Zeit haben, wenn das leise Klirren von Schlüsseln die Stille ihrer Wohnung durchbrach.
    
  Sie versuchte, mit der Leere auf verschiedene Weise fertigzuwerden: Sie ließ das Radio an, wenn sie das Haus verließ, steckte ihre Schlüssel sofort nach dem Betreten wieder in die Hosentasche und sprach mit sich selbst. Doch keiner ihrer Tricks konnte die Stille überdecken, denn sie kam von innen.
    
  Als sie die Wohnung betrat, trat sie mit dem Fuß ihren letzten Versuch, der Einsamkeit zu entfliehen, beiseite: die orangefarbene Tigerkatze. Im Tiergeschäft hatte die Katze lieb und anhänglich gewirkt. Andrea hatte fast 48 Stunden gebraucht, um sie zu hassen. Damit konnte sie leben. Mit Hass konnte man umgehen. Er war aktiv: Man hasste einfach jemanden oder etwas. Womit sie nicht umgehen konnte, war Enttäuschung. Damit musste man einfach klarkommen.
    
  'Hey, LB. Sie haben Mama gefeuert. Was denkst du?'
    
  Andrea gab ihm den Spitznamen LB, kurz für "Kleiner Bastard", nachdem das Monster ins Badezimmer eingedrungen war und es geschafft hatte, eine teure Shampoo-Tube aufzuspüren und zu zerreißen. LB schien von der Nachricht der Entlassung seiner Herrin nicht sonderlich beeindruckt zu sein.
    
  "Das ist dir egal, oder? Obwohl es dir eigentlich nicht egal sein sollte", sagte Andrea, nahm eine Dose Whiskey aus dem Kühlschrank und löffelte den Inhalt auf einen Teller vor L.B. "Wenn du nichts mehr zu essen hast, verkaufe ich dich an Mr. Wongs chinesisches Restaurant an der Ecke. Dann bestelle ich Hühnchen mit Mandeln."
    
  Der Gedanke, auf der Speisekarte eines chinesischen Restaurants zu stehen, konnte L.B.s Appetit nicht zügeln. Die Katze respektierte nichts und niemanden. Sie lebte in ihrer eigenen Welt, war jähzornig, apathisch, undiszipliniert und stolz. Andrea hasste sie.
    
  Weil er mich so sehr an mich selbst erinnert, dachte sie.
    
  Sie blickte sich um, verärgert über das, was sie sah. Die Bücherregale waren staubbedeckt. Der Boden war mit Essensresten übersät, die Spüle unter einem Berg schmutzigen Geschirrs begraben, und das Manuskript des unvollendeten Romans, den sie vor drei Jahren begonnen hatte, lag verstreut auf dem Badezimmerboden.
    
  Verdammt. Wenn ich die Putzfrau doch nur mit Kreditkarte bezahlen könnte...
    
  Der einzige ordentliche Ort in der Wohnung war der - Gott sei Dank - riesige Kleiderschrank in ihrem Schlafzimmer. Andrea ging sehr sorgsam mit ihren Kleidern um. Der Rest der Wohnung sah aus wie ein Schlachtfeld. Sie glaubte, ihre Unordnung sei einer der Hauptgründe für die Trennung von Eva gewesen. Sie waren zwei Jahre zusammen gewesen. Die junge Ingenieurin war eine wahre Putzmaschine, und Andrea nannte sie liebevoll die "Romantische Staubsaugerin", weil sie es genoss, die Wohnung zu Barry Whites Musik im Ohr aufzuräumen.
    
  In diesem Moment, als Andrea das Chaos in ihrer Wohnung betrachtete, hatte sie eine Eingebung. Sie würde den Saustall ausmisten, ihre Kleidung auf eBay verkaufen, einen gut bezahlten Job finden, ihre Schulden begleichen und sich mit Eva versöhnen. Jetzt hatte sie ein Ziel, eine Mission. Alles würde perfekt laufen.
    
  Sie spürte einen Energieschub durch ihren Körper strömen. Er dauerte genau vier Minuten und siebenundzwanzig Sekunden - so lange brauchte sie, um den Müllsack zu öffnen, ein Viertel der Essensreste zusammen mit einigen schmutzigen Tellern, die nicht mehr zu retten waren, auf den Tisch zu werfen, planlos von einem Ort zum anderen zu gehen und dann das Buch umzustoßen, das sie am Abend zuvor gelesen hatte, sodass das darin enthaltene Foto zu Boden fiel.
    
  Die beiden. Das letzte Foto, das sie gemacht haben.
    
  Es ist nutzlos.
    
  Sie sank schluchzend auf die Couch, während sich ein Teil des Müllsacks auf dem Wohnzimmerteppich verteilte. L.B. kam herüber und biss in die Pizza. Der Käse begann, grün zu werden.
    
  "Das ist doch offensichtlich, nicht wahr, L.B.? Ich kann nicht vor dem weglaufen, was ich bin, zumindest nicht mit Besen und Wischmopp."
    
  Die Katze beachtete sie nicht im Geringsten, sondern rannte zur Wohnungstür und begann, sich am Türrahmen zu reiben. Andrea stand instinktiv auf, da ihr klar wurde, dass gleich jemand klingeln würde.
    
  Was für ein Wahnsinniger kann um diese Uhrzeit noch herumkommen?
    
  Sie riss die Tür auf und überraschte ihren Besucher, bevor er klingeln konnte.
    
  'Hallo, Hübsche.'
    
  "Ich glaube, Nachrichten verbreiten sich schnell."
    
  "Ich habe schlechte Nachrichten. Wenn du anfängst zu weinen, gehe ich."
    
  Andrea trat beiseite, ihr Gesichtsausdruck noch immer von Abscheu gezeichnet, doch insgeheim war sie erleichtert. Sie hätte es wissen müssen. Enrique Pascual war seit Jahren ihr bester Freund und ihr Trostspender. Er arbeitete bei einem der größten Radiosender Madrids, und jedes Mal, wenn Andrea einen Rückschlag erlitt, stand Enrique mit einer Flasche Whisky und einem Lächeln vor ihrer Tür. Diesmal musste er sie für besonders hilfsbedürftig gehalten haben, denn der Whisky war zwölf Jahre alt, und rechts neben seinem Lächeln stand ein Blumenstrauß.
    
  "Das musste ja sein, oder? Ein Top-Reporter musste einen der wichtigsten Anzeigenkunden der Zeitung verarschen", sagte Enrique, während er den Flur entlang ins Wohnzimmer ging, ohne über LB zu stolpern. "Gibt es in dieser Bruchbude überhaupt eine saubere Vase?"
    
  "Sollen sie doch sterben und mir die Flasche geben. Was macht das schon für einen Unterschied! Nichts währt ewig."
    
  "Jetzt verstehe ich dich nicht mehr", sagte Enrique und ignorierte das Thema mit den Blumen vorerst. "Geht es jetzt um Eva oder um meine Kündigung?"
    
  "Ich glaube, ich weiß es nicht", murmelte Andrea, als sie mit je einem Glas in jeder Hand aus der Küche kam.
    
  "Wenn du mit mir geschlafen hättest, wäre vielleicht alles klarer gewesen."
    
  Andrea musste sich ein Lachen verkneifen. Enrique Pascual war groß, gutaussehend und in den ersten zehn Tagen ihrer Beziehung perfekt für jede Frau, dann aber entpuppte er sich in den folgenden drei Monaten als Albtraum.
    
  "Wenn ich Männer mögen würde, wärst du wahrscheinlich unter meinen Top 20."
    
  Nun war es Enriques Turn zu lachen. Er schenkte sich zwei Fingerbreit puren Whiskey ein. Er hatte kaum Zeit, einen Schluck zu nehmen, da leerte Andrea ihr Glas und griff nach der Flasche.
    
  "Beruhig dich, Andrea. Es ist keine gute Idee, schon wieder in einen Unfall verwickelt zu werden."
    
  "Ich finde, das wäre eine verdammt gute Idee. Wenigstens hätte ich dann jemanden, der sich um mich kümmert."
    
  "Danke, dass Sie meine Bemühungen nicht würdigen. Und stellen Sie sich nicht so an."
    
  "Findest du es nicht dramatisch, innerhalb von zwei Monaten seinen geliebten Menschen und seinen Job zu verlieren? Mein Leben ist der letzte Dreck."
    
  "Ich werde nicht mit dir streiten. Wenigstens bist du von dem umgeben, was von ihr übrig ist", sagte Enrique und deutete angewidert auf das Chaos im Zimmer.
    
  "Vielleicht könntest du meine Putzfrau sein. Das wäre bestimmt sinnvoller als diese beschissene Sportsendung, an der du angeblich arbeitest."
    
  Enriques Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er wusste, was als Nächstes kommen würde, und Andrea wusste es auch. Sie vergrub ihr Gesicht im Kissen und schrie aus Leibeskräften. Innerhalb von Sekunden verwandelten sich ihre Schreie in Schluchzen.
    
  "Ich hätte zwei Flaschen nehmen sollen."
    
  Genau in diesem Moment klingelte das Handy.
    
  "Ich glaube, das gehört dir", sagte Enrique.
    
  "Sag demjenigen, wer auch immer das war, er soll sich zum Teufel scheren", sagte Andrea, deren Gesicht noch immer im Kissen vergraben war.
    
  Enrique öffnete den Telefonhörer mit einer eleganten Geste.
    
  'Ein Tränenstrom. Hallo...? Moment mal...'
    
  Er reichte Andrea das Telefon.
    
  "Ich glaube, du solltest das besser selbst herausfinden. Ich spreche keine Fremdsprachen."
    
  Andrea nahm den Hörer ab, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab und versuchte, normal zu sprechen.
    
  "Weißt du überhaupt, wie spät es ist, Idiot?", sagte Andrea mit zusammengebissenen Zähnen.
    
  'Es tut mir leid. Andrea Otero, bitte?', sagte eine Stimme auf Englisch.
    
  "Wer ist es?", erwiderte sie in derselben Sprache.
    
  'Mein Name ist Jacob Russell, Miss Otero. Ich rufe aus New York im Auftrag meines Chefs, Raymond Kane, an.'
    
  'Raymond Kane? Von Kine Industries?'
    
  "Ja, das stimmt. Und sind Sie dieselbe Andrea Otero, die Präsident Bush letztes Jahr dieses umstrittene Interview gegeben hat?"
    
  Natürlich das Interview. Dieses Interview hatte enorme Auswirkungen in Spanien und sogar im übrigen Europa. Sie war die erste spanische Reporterin, die das Oval Office betrat. Einige ihrer direkteren Fragen - die wenigen, die nicht abgesprochen waren und die sie unbemerkt einstreute - machten die Texanerin ziemlich nervös. Dieses Exklusivinterview katapultierte ihre Karriere bei El Globo. Zumindest kurzzeitig. Und es schien auch auf der anderen Seite des Atlantiks für etwas Aufsehen zu sorgen.
    
  "Ganz dasselbe, Sir", erwiderte Andrea. "Also sagen Sie mir, warum braucht Raymond Kane eine so gute Reporterin?", fügte sie schniefend hinzu, froh, dass der Mann am Telefon ihren Zustand nicht sehen konnte.
    
  Russell räusperte sich. "Kann ich Ihnen vertrauen, dass Sie in Ihrer Zeitung niemandem davon erzählen, Miss Otero?"
    
  "Absolut", sagte Andrea, überrascht von der Ironie.
    
  "Mr. Cain möchte Ihnen die größte Exklusivstory Ihres Lebens präsentieren."
    
  'Ich? Warum ich?', fragte Andrea und richtete einen schriftlichen Appell an Enrique.
    
  Ihr Freund zog einen Notizblock und einen Stift aus der Tasche und reichte sie ihr mit fragendem Blick. Andrea ignorierte ihn.
    
  "Sagen wir einfach, ihm gefällt dein Stil", sagte Russell.
    
  "Herr Russell, in diesem Stadium meines Lebens fällt es mir schwer zu glauben, dass mich jemand, den ich noch nie getroffen habe, mit einem so vagen und wahrscheinlich unglaublichen Vorschlag anruft."
    
  "Nun, lassen Sie mich Sie überzeugen."
    
  Russell sprach fünfzehn Minuten lang, währenddessen die verdutzte Andrea unentwegt Notizen machte. Enrique versuchte, ihr über die Schulter zu lesen, doch Andreas krakelige Handschrift machte dies unmöglich.
    
  "...deshalb zählen wir darauf, dass Sie an der Ausgrabungsstätte anwesend sein werden, Frau Otero."
    
  Wird es ein Exklusivinterview mit Herrn Cain geben?
    
  "Grundsätzlich gibt Herr Cain keine Interviews. Niemals."
    
  "Vielleicht sollte Herr Kane einen Reporter finden, dem die Regeln wichtig sind."
    
  Es entstand eine peinliche Stille. Andrea drückte die Daumen und betete, dass ihr Schuss ins Blaue sein Ziel treffen würde.
    
  "Ich denke, es gibt immer ein erstes Mal. Haben wir eine Abmachung?"
    
  Andrea dachte einige Sekunden darüber nach. Wenn Russells Versprechen stimmte, hätte sie mit jedem beliebigen Medienunternehmen der Welt einen Vertrag abschließen können. Und sie hätte diesem Mistkerl, dem Chefredakteur von El Globo, eine Kopie des Schecks geschickt.
    
  Selbst wenn Russell nicht die Wahrheit sagt, haben wir nichts zu verlieren.
    
  Sie dachte nicht mehr darüber nach.
    
  "Sie können mich auf den nächsten Flug nach Dschibuti buchen. Erste Klasse."
    
  Andrea legte auf.
    
  "Ich habe kein einziges Wort verstanden außer ‚erste Klasse"", sagte Enrique. "Können Sie mir sagen, wohin Sie reisen?" Er war überrascht von Andreas offensichtlichem Stimmungswechsel.
    
  "Wenn ich sagen würde: ‚Auf die Bahamas", würdest du mir das nicht glauben, oder?"
    
  "Sehr süß", sagte Enrique, halb verärgert, halb eifersüchtig. "Ich bringe dir Blumen, Whiskey, ich kratze dich vom Boden auf, und so behandelst du mich ..."
    
  Andrea tat so, als ob sie nicht zuhörte, und ging ins Schlafzimmer, um ihre Sachen zu packen.
    
    
  9
    
    
    
  Krypta mit Reliquien
    
  VATIKAN
    
    
  Freitag, 7. Juli 2006, 20:29 Uhr.
    
  Ein Klopfen an der Tür ließ Bruder Cesáreo zusammenzucken. Niemand war in die Krypta hinabgestiegen, nicht nur weil der Zugang auf wenige Personen beschränkt war, sondern auch weil es dort feucht und ungesund war, trotz der vier Luftentfeuchter, die in jeder Ecke der riesigen Kammer unaufhörlich summten. Erfreut über den Besuch, lächelte der alte Dominikanermönch, als er die gepanzerte Tür öffnete und sich auf die Zehenspitzen stellte, um seinen Gast zu begrüßen.
    
  'Anthony!'
    
  Der Priester lächelte und umarmte den kleineren Mann.
    
  Ich war in der Gegend...
    
  "Ich schwöre bei Gott, Anthony, wie bist du so weit gekommen?" Dieser Ort wird schon seit einiger Zeit von Kameras und Alarmanlagen überwacht.
    
  Es gibt immer mehr als einen Weg hinein, wenn man sich Zeit nimmt und den Weg kennt. Du hast es mir beigebracht, erinnerst du dich?
    
  Der alte Dominikaner massierte sich mit einer Hand den Spitzbart und tätschelte sich mit der anderen den Bauch, während er herzlich lachte. Unter den Straßen Roms erstreckte sich ein System von über 480 Kilometern Tunneln und Katakomben, manche mehr als 60 Meter unter der Stadt. Es war ein wahres Museum, ein Labyrinth aus gewundenen, unerforschten Gängen, das fast jeden Teil der Stadt miteinander verband, einschließlich des Vatikans. Zwanzig Jahre zuvor hatten Fowler und Bruder SesáReo ihre Freizeit der Erforschung dieser gefährlichen und labyrinthischen Tunnel gewidmet.
    
  "Es sieht so aus, als müsste Sirin sein makelloses Sicherheitssystem überdenken. Wenn ein alter Hund wie du sich hier einschleichen kann ... Aber warum benutzt du nicht die Vordertür, Anthony? Ich habe gehört, du bist im Heiligen Offizium nicht mehr unerwünscht. Und ich würde gern wissen, warum."
    
  "Eigentlich bin ich manchen Leuten im Moment vielleicht zu grata."
    
  "Sirin will dich zurück, nicht wahr? Wenn dieser Machiavelli-Bengel dich erst einmal in den Finger kriegt, lässt er dich nicht so leicht wieder los."
    
  "Auch die alten Hüter von Reliquien können stur sein. Besonders wenn es um Dinge geht, die sie nicht wissen sollten."
    
  "Anthony, Anthony. Diese Krypta ist das bestgehütete Geheimnis unseres kleinen Landes, aber ihre Mauern hallen wider von Gerüchten." Cesáreo deutete in die Umgebung.
    
  Fowler blickte auf. Die von Steinbögen getragene Kryptadecke war vom Rauch Millionen von Kerzen geschwärzt, die die Kammer fast zweitausend Jahre lang erleuchtet hatten. In den letzten Jahren waren die Kerzen jedoch durch eine moderne elektrische Beleuchtung ersetzt worden. Der rechteckige Raum maß etwa 23 Quadratmeter, ein Teil davon war mit einer Spitzhacke aus dem Fels gehauen worden. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Türen versehen, hinter denen sich Nischen mit den Gebeinen verschiedener Heiliger verbargen.
    
  "Sie haben viel zu viel Zeit damit verbracht, diese schreckliche Luft einzuatmen, und das hilft Ihren Kunden ganz sicher nicht", sagte Fowler. "Warum sind Sie immer noch hier unten?"
    
  Wenig bekannt ist, dass in den vergangenen siebzehn Jahrhunderten jede katholische Kirche, so bescheiden sie auch war, eine Reliquie eines Heiligen im Altarraum aufbewahrte. Dieser Ort beherbergte die weltweit größte Sammlung solcher Reliquien. Manche Nischen waren fast leer und enthielten nur kleine Knochenfragmente, während in anderen das gesamte Skelett erhalten war. Jedes Mal, wenn irgendwo auf der Welt eine Kirche gebaut wurde, nahm ein junger Priester den Stahlkoffer von Bruder Cecilio und reiste zur neuen Kirche, um die Reliquie im Altarraum zu platzieren.
    
  Der alte Historiker nahm seine Brille ab und putzte sie mit dem Rand seiner weißen Soutane.
    
  "Sicherheit. Tradition. Sturheit", sagte Ses áreo als Antwort auf Fowlers Frage. "Worte, die unsere Heilige Mutter Kirche definieren."
    
  "Ausgezeichnet. Abgesehen von der Feuchtigkeit verströmt dieser Ort einen Hauch von Zynismus."
    
  Bruder SesáReo tippte auf den Bildschirm seines leistungsstarken MacBook Pro, an dem er gerade schrieb, als sein Freund ankam.
    
  "Hier liegen meine Erkenntnisse, Anthony. Vierzig Jahre lang habe ich Knochenfragmente katalogisiert. Hast du jemals an einem uralten Knochen gelutscht, mein Freund? Es ist eine hervorragende Methode, um festzustellen, ob ein Knochen echt ist, aber es hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Nach vier Jahrzehnten bin ich der Wahrheit kein Stück näher als zu Beginn." Er seufzte.
    
  "Nun, vielleicht kannst du ja auf diese Festplatte zugreifen und mir helfen, alter Mann", sagte Fowler und reichte Ces Éreo ein Foto.
    
  'Es gibt immer etwas zu tun, immer...'
    
  Der Dominikaner unterbrach seinen Satz. Einen Moment lang starrte er mit zusammengekniffenen Augen auf das Foto, dann ging er zu seinem Schreibtisch. Aus einem Bücherstapel zog er ein altes, mit Bleistiftstrichen übersätes Buch in klassischem Hebräisch hervor. Er blätterte darin und verglich die verschiedenen Symbole mit dem Buch. Erstaunt blickte er auf.
    
  'Wo hast du das her, Anthony?'
    
  "Von einer alten Kerze. Sie gehörte einem pensionierten Nazi."
    
  "Camilo Sirin hat dich geschickt, um ihn zurückzubringen, nicht wahr? Du musst mir alles erzählen. Lass kein einziges Detail aus. Ich muss es wissen!"
    
  "Sagen wir, ich schuldete Camilo einen Gefallen und willigte ein, eine letzte Mission für die Heilige Allianz auszuführen. Er bat mich, einen österreichischen Kriegsverbrecher zu finden, der 1943 einer jüdischen Familie eine Kerze gestohlen hatte. Die Kerze war mit mehreren Goldschichten überzogen, und der Mann hatte sie seit dem Krieg. Vor einigen Monaten stellte ich ihn und holte die Kerze zurück. Nachdem ich das Wachs geschmolzen hatte, entdeckte ich das Kupferblech, das Sie auf dem Foto sehen."
    
  "Haben Sie nicht ein besseres mit höherer Auflösung?" Ich kann die Schrift auf der Außenseite kaum erkennen.
    
  "Es war zu eng aufgerollt. Hätte ich es vollständig abgerollt, hätte ich es beschädigen können."
    
  "Zum Glück hast du es nicht getan. Was du hättest zerstören können, war unbezahlbar. Wo ist es jetzt?"
    
  "Ich habe es Chirin weitergegeben und mir nicht viel dabei gedacht. Ich nahm an, jemand in der Kurie wolle es haben. Dann kehrte ich nach Boston zurück, überzeugt, meine Schuld beglichen zu haben -"
    
  "Das stimmt so nicht ganz, Anthony", warf eine ruhige, emotionslose Stimme ein. Der Besitzer dieser Stimme war wie ein erfahrener Spion in die Krypta geschlüpft, was der untersetzte, unscheinbare Mann in Grau auch war. Sparsam mit Worten und Gesten, verbarg er sich hinter einer Mauer chamäleonartiger Unauffälligkeit.
    
  "Es gehört sich nicht, einen Raum zu betreten, ohne anzuklopfen, Sirin", sagte Cecilio.
    
  "Es gehört sich auch nicht, nicht zu antworten, wenn man aufgerufen wird", sagte der Chef der Heiligen Allianz und starrte Fowler an.
    
  "Ich dachte, wir wären fertig. Wir hatten uns auf eine Mission geeinigt - nur eine."
    
  "Und den ersten Teil haben Sie abgeschlossen: Sie haben die Kerze zurückgegeben. Nun müssen Sie sicherstellen, dass ihr Inhalt ordnungsgemäß verwendet wird."
    
  Fowler war frustriert und antwortete nicht.
    
  "Vielleicht würde Anthony seine Aufgabe mehr schätzen, wenn er ihre Bedeutung verstünde", fuhr Sirin fort. "Da Sie nun wissen, worum es geht, Bruder Cecilio, wären Sie so freundlich, Anthony zu erklären, was auf diesem Foto zu sehen ist, das Sie noch nie gesehen haben?"
    
  Der Dominikaner räusperte sich.
    
  'Bevor ich das tue, muss ich wissen, ob es echt ist, Sirin.'
    
  'Das ist wahr'.
    
  Die Augen des Mönchs leuchteten auf. Er wandte sich Fowler zu.
    
  "Dies, mein Freund, ist eine Schatzkarte. Oder, genauer gesagt, die Hälfte davon. Zumindest, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, denn es ist viele Jahre her, dass ich die andere Hälfte in Händen hielt. Dies ist das fehlende Teil der Qumran-Kupferrolle."
    
  Der Gesichtsausdruck des Priesters verdüsterte sich merklich.
    
  'Du willst mir sagen...'
    
  "Ja, mein Freund. Das mächtigste Objekt der Geschichte lässt sich durch die Bedeutung dieser Symbole finden. Und alle damit verbundenen Probleme."
    
  "Mein Gott. Und es muss jetzt sofort passieren."
    
  "Ich bin froh, dass du es endlich verstehst, Anthony", warf Sirin ein. "Im Vergleich dazu sind all die Reliquien, die unser guter Freund in diesem Raum aufbewahrt, nichts als Staub."
    
  "Wer hat dich auf diese Spur gebracht, Camilo? Warum hast du nach all der Zeit versucht, Dr. Graus zu finden?", fragte Bruder Cesáreo.
    
  "Die Information stammte von einem der Gönner der Kirche, einem gewissen Herrn Kane. Ein Gönner anderen Glaubens und ein großer Philanthrop. Er bat uns, Graus zu finden, und bot persönlich an, eine archäologische Expedition zu finanzieren, falls wir die Kerze bergen könnten."
    
  'Wo?'
    
  Er hat den genauen Ort nicht verraten. Aber wir kennen die Gegend: Al-Mudawwara, Jordanien.
    
  "Gut, dann gibt es ja nichts zu befürchten", unterbrach Fowler. "Wissen Sie, was passiert, wenn auch nur irgendjemand davon Wind bekommt? Keiner dieser Expeditionsteilnehmer wird lange genug leben, um einen Spaten in die Hand zu nehmen."
    
  Hoffen wir, dass Sie sich irren. Wir planen, einen Beobachter mit der Expedition zu schicken: Sie.
    
  Fowler schüttelte den Kopf. "Nein."
    
  "Du verstehst die Konsequenzen, die Auswirkungen."
    
  Meine Antwort ist weiterhin negativ.
    
  "Du kannst nicht ablehnen."
    
  "Versucht mich aufzuhalten", sagte der Priester und ging zur Tür.
    
  "Anthony, mein Junge." Die Worte hallten ihm nach, als er zum Ausgang ging. "Ich will dich nicht aufhalten. Du musst selbst entscheiden, ob du gehst. Zum Glück habe ich im Laufe der Jahre gelernt, mit dir umzugehen. Ich musste mich daran erinnern, was dir am wichtigsten ist - deine Freiheit - und ich habe die perfekte Lösung gefunden."
    
  Fowler blieb stehen, immer noch mit dem Rücken zu ihnen.
    
  'Was hast du getan, Camilo?'
    
  Sirin machte ein paar Schritte auf ihn zu. Wenn es etwas gab, das er noch mehr verabscheute als Reden, dann war es, seine Stimme zu erheben.
    
  "In einem Gespräch mit Herrn Cain schlug ich ihm die beste Reporterin für seine Expedition vor. Tatsächlich ist sie als Reporterin eher mittelmäßig. Und nicht besonders sympathisch, scharfsinnig oder gar übermäßig ehrlich. Das Einzige, was sie interessant macht, ist, dass Sie ihr einst das Leben gerettet haben. Wie soll ich es sagen - sie verdankt Ihnen ihr Leben? Sie werden also jetzt nicht mehr panisch in der nächsten Suppenküche Unterschlupf suchen, denn Sie wissen ja, welches Risiko sie eingeht."
    
  Fowler drehte sich immer noch nicht um. Mit jedem Wort, das Sirin sprach, ballte sich seine Hand zur Faust, die Nägel gruben sich in seine Handfläche. Doch der Schmerz reichte nicht. Er schlug mit der Faust gegen eine der Nischen. Der Aufprall ließ die Krypta erzittern. Die Holztür der alten Ruhestätte zersplitterte, und ein Knochen rollte aus dem entweihten Gewölbe auf den Boden.
    
  "Die Kniescheibe der heiligen Essence. Der arme Kerl, er hat sein ganzes Leben lang gehumpelt", sagte Bruder SesáReo und bückte sich, um die Reliquie aufzuheben.
    
  Fowler, der inzwischen zurückgetreten war, drehte sich schließlich um und sah ihnen ins Gesicht.
    
    
  10
    
    
    
  AUSZUG AUS RAYMOND KEN: EINE UNAUTORISIERTE BIOGRAFIE
    
  ROBERT DRISCOLL
    
    
  Viele Leser mögen sich fragen, wie ein Jude mit geringer Schulbildung, der als Kind von Almosen lebte, ein so riesiges Finanzimperium aufbauen konnte. Aus den vorangegangenen Seiten geht klar hervor, dass Raymond Cain vor Dezember 1943 nicht existierte. Es gibt keinen Eintrag in seiner Geburtsurkunde, kein Dokument, das seine amerikanische Staatsbürgerschaft bestätigt.
    
  Die bekannteste Phase seines Lebens begann mit seinem Studium am MIT, wo er eine beachtliche Anzahl an Patenten anmeldete. Während die USA die goldenen 1960er-Jahre erlebten, erfand Cain den integrierten Schaltkreis. Innerhalb von fünf Jahren besaß er sein eigenes Unternehmen; innerhalb von zehn Jahren die Hälfte des Silicon Valley.
    
  Diese Zeit wurde im Time Magazine ausführlich dokumentiert, ebenso wie die Unglücksfälle, die sein Leben als Vater und Ehemann zerstörten...
    
  Was den Durchschnittsamerikaner wohl am meisten beunruhigt, ist seine Unsichtbarkeit, dieser Mangel an Transparenz, der jemanden mit so viel Macht zu einem verstörenden Rätsel macht. Früher oder später muss jemand die Aura des Geheimnisvollen, die Raymond Kane umgibt, lüften...
    
    
  11
    
    
    
  An Bord des "Nilpferds"
    
  ROTES MEER
    
    
  Dienstag, 11. Juli 2006, 16:29 Uhr.
    
    
  ...jemand muss den geheimnisvollen Nimbus um Raymond Ken lüften...
    
  Andrea lächelte breit und legte die Biografie von Raymond Kane beiseite. Es war ein trostloses, einseitiges Machwerk, und sie langweilte sich furchtbar damit, während sie auf dem Weg nach Dschibuti über die Sahara flog.
    
  Während des Fluges hatte Andrea Zeit für etwas, das sie selten tat: sich selbst einmal genauer anzusehen. Und sie beschloss, dass ihr nicht gefiel, was sie sah.
    
  Als jüngstes von fünf Geschwistern - alle außer ihr Jungen - wuchs Andrea in einem Umfeld auf, in dem sie sich vollkommen behütet fühlte. Und es war völlig banal. Ihr Vater war Polizeisergeant, ihre Mutter Hausfrau. Sie lebten in einem Arbeiterviertel und aßen fast jeden Abend Pasta und sonntags Hühnchen. Madrid ist eine wunderschöne Stadt, doch für Andrea unterstrich sie nur die Mittelmäßigkeit ihrer Familie. Mit vierzehn schwor sie sich, dass sie, sobald sie achtzehn wurde, das Haus verlassen und nie wieder zurückkehren würde.
    
  Natürlich hat der Streit mit deinem Vater über deine sexuelle Orientierung deinen Abschied beschleunigt, nicht wahr, mein Lieber?
    
  Es war ein langer Weg vom Rauswurf aus dem Elternhaus bis zu ihrem ersten richtigen Job, abgesehen von den Jobs, die sie annehmen musste, um ihr Journalismusstudium zu finanzieren. An dem Tag, als sie bei El Globo anfing, fühlte sie sich wie im siebten Himmel, doch die Euphorie hielt nicht lange an. Sie arbeitete sich von einem Artikelteil zum nächsten und hatte dabei jedes Mal das Gefühl, in die Tiefe zu stürzen, den Bezug zur Realität und die Kontrolle über ihr Privatleben zu verlieren. Vor ihrer Abreise war sie der Auslandsredaktion zugeteilt worden...
    
  Sie haben dich rausgeschmissen.
    
  Und nun ist dies ein unmögliches Abenteuer.
    
  Meine letzte Chance. Bei der Lage auf dem Journalistenmarkt werde ich wohl als Supermarktkassierer arbeiten. Irgendwas stimmt einfach nicht mit mir. Ich kriege nichts hin. Selbst Eva, die geduldigste Person der Welt, konnte es nicht mit mir aushalten. An dem Tag, als sie ging ... Was hat sie mich genannt? "Rücksichtslos und außer Kontrolle", "emotional kalt" ... Ich glaube, "unreif" war noch das Netteste, was sie gesagt hat. Und sie muss es ernst gemeint haben, denn sie hat nicht mal die Stimme erhoben. Verdammt! Immer dasselbe. Hoffentlich versaue ich es diesmal nicht.
    
  Andrea schaltete gedanklich um und drehte die Lautstärke ihres iPods lauter. Die warme Stimme von Alanis Morissette beruhigte sie. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und wünschte sich, sie wäre schon am Ziel.
    
    
  Zum Glück hatte die erste Klasse ihre Vorteile. Der wichtigste war die Möglichkeit, vor allen anderen das Flugzeug zu verlassen. Ein junger, gut gekleideter afroamerikanischer Fahrer wartete neben einem ramponierten Geländewagen am Rand der Startbahn auf sie.
    
  Nun, nun. Keine Formalitäten, nicht wahr? Mr. Russell hatte alles arrangiert, dachte Andrea, als sie die Treppe vom Flugzeug hinunterging.
    
  "Ist das alles?", fragte der Fahrer auf Englisch und deutete auf Andreas Handgepäck und Rucksack.
    
  "Wir fahren in die verdammte Wüste, oder?" Weiter geht"s.
    
  Sie erkannte den Blick des Fahrers. Sie war es gewohnt, in eine Schublade gesteckt zu werden: jung, blond und deshalb dumm. Andrea war sich nicht sicher, ob ihre sorglose Einstellung zu Kleidung und Geld sie nur noch tiefer in dieses Klischee hineinzog oder ob sie sich einfach der Banalität ergab. Vielleicht beides. Doch für diese Reise, als Zeichen dafür, ihr altes Leben hinter sich zu lassen, beschränkte sie ihr Gepäck auf ein Minimum.
    
  Während der Jeep die acht Kilometer zum Schiff zurücklegte, fotografierte Andrea mit ihrer Canon 5D. (Eigentlich war es nicht ihre, sondern die, die die Zeitung vergessen hatte zurückzugeben. Verdient hatten sie es, die Schweine.) Sie war schockiert von der bitteren Armut des Landes. Trocken, braun, steinig. Man konnte die gesamte Hauptstadt wahrscheinlich in zwei Stunden zu Fuß durchqueren. Es schien keine Industrie, keine Landwirtschaft, keine Infrastruktur zu geben. Staub von den Jeepreifen bedeckte die Gesichter der Menschen, die ihnen beim Vorbeifahren nachsahen. Gesichter ohne Hoffnung.
    
  "Die Welt befindet sich in einer schwierigen Lage, wenn Leute wie Bill Gates und Raymond Kane in einem Monat mehr verdienen als das Bruttoinlandsprodukt dieses Landes in einem Jahr."
    
  Der Fahrer zuckte nur mit den Achseln. Sie waren bereits im Hafen, dem modernsten und am besten gepflegten Teil der Hauptstadt und praktisch ihrer einzigen Einnahmequelle. Dschibuti nutzte seine strategisch günstige Lage am Horn von Afrika optimal aus.
    
  Der Jeep kam abrupt zum Stehen. Als Andrea wieder das Gleichgewicht fand, verschlug es ihr den Atem. Das Ungetüm war nicht das hässliche Frachtschiff, das sie erwartet hatte. Es war ein elegantes, modernes Schiff, dessen massiver Rumpf rot und dessen Aufbauten strahlend weiß waren - die Farben von Kayn Industries. Ohne auf die Hilfe des Fahrers zu warten, schnappte sie sich ihre Sachen und rannte die Rampe hinauf, voller Tatendrang, ihr Abenteuer so schnell wie möglich zu beginnen.
    
  Eine halbe Stunde später lichtete das Schiff den Anker und legte ab. Eine Stunde später schloss sich Andrea in ihrer Kabine ein, um sich allein zu übergeben.
    
    
  Nachdem sie zwei Tage lang nur Flüssigkeit bekommen hatte, gab ihr Innenohr endlich nach, und sie fühlte sich mutig genug, an die frische Luft zu gehen und das Schiff zu erkunden. Zuvor beschloss sie jedoch, Raymond Kayns unautorisierte Biografie mit aller Kraft über Bord zu werfen.
    
  "Das hättest du nicht tun sollen."
    
  Andrea wandte sich vom Geländer ab. Eine attraktive, dunkelhaarige Frau um die vierzig kam ihr auf dem Hauptdeck entgegen. Sie war wie Andrea gekleidet, in Jeans und T-Shirt, trug darüber aber eine weiße Jacke.
    
  "Ich weiß. Umweltverschmutzung ist schlecht. Aber versuchen Sie mal, drei Tage lang mit diesem Schundbuch eingesperrt zu sein, dann werden Sie es verstehen."
    
  "Es wäre weniger traumatisch gewesen, wenn Sie die Tür für etwas anderes geöffnet hätten, als um der Besatzung Wasser zu entnehmen. Mir ist bekannt, dass Ihnen meine Dienste angeboten wurden..."
    
  Andrea starrte auf das Buch, das bereits weit hinter dem fahrenden Schiff trieb. Sie schämte sich. Sie mochte es nicht, wenn die Leute sie krank sahen, und sie hasste es, sich so verletzlich zu fühlen.
    
  "Mir ging es gut", sagte Andrea.
    
  "Ich verstehe, aber ich bin sicher, dass es Ihnen besser gehen würde, wenn Sie etwas Dramamine nehmen würden."
    
  'Nur wenn Sie mich tot sehen wollten, Doktor...'
    
  'Harel. Sind Sie allergisch gegen Dimenhydrinate, Miss Otero?'
    
  'Unter anderem. Bitte nennen Sie mich Andrea.'
    
  Dr. Harel lächelte, eine Reihe von Fältchen umspielte ihre Gesichtszüge. Sie hatte wunderschöne Augen, mandelförmig und -farben, und ihr Haar war dunkel und lockig. Sie war fünf Zentimeter größer als Andrea.
    
  "Und Sie können mich Dr. Harel nennen", sagte sie und reichte ihm die Hand.
    
  Andrea betrachtete die Hand, ohne ihre eigene auszustrecken.
    
  "Ich mag keine Snobs."
    
  "Ich auch. Ich sage Ihnen meinen Namen nicht, weil ich keinen habe. Meine Freunde nennen mich normalerweise Doc."
    
  Die Reporterin reichte ihm schließlich die Hand. Der Händedruck des Arztes war herzlich und freundlich.
    
  "Das sollte das Eis auf Partys brechen, Doc."
    
  "Das können Sie sich nicht vorstellen. Das ist normalerweise das Erste, was den Leuten auffällt, wenn ich sie treffe. Lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang machen, dann erzähle ich Ihnen mehr."
    
  Sie steuerten auf den Bug des Schiffes zu. Ein heißer Wind wehte in ihre Richtung und ließ die amerikanische Flagge auf dem Schiff flattern.
    
  "Ich wurde kurz nach dem Ende des Sechstagekriegs in Tel Aviv geboren", fuhr Harel fort. "Vier Mitglieder meiner Familie starben während des Konflikts. Der Rabbiner deutete dies als schlechtes Omen, deshalb gaben mir meine Eltern keinen Namen, um den Tod zu täuschen. Nur sie kannten meinen Namen."
    
  'Und es hat funktioniert?'
    
  "Für Juden ist ein Name sehr wichtig. Er definiert einen Menschen und hat Macht über ihn. Mein Vater flüsterte mir meinen Namen während meiner Bat Mitzwa ins Ohr, während die Gemeinde sang. Ich darf das niemals jemandem erzählen."
    
  "Oder wird dich der Tod finden?" Nichts für ungut, Doc, aber das ergibt nicht viel Sinn. Der Sensenmann sucht dich ja nicht im Telefonbuch.
    
  Harel lachte herzlich.
    
  "Diese Einstellung begegnet mir häufig. Ich muss Ihnen sagen, ich finde sie erfrischend. Mein Name wird jedoch vertraulich bleiben."
    
  Andrea lächelte. Ihr gefiel der lässige Stil der Frau, und sie sah ihr in die Augen, vielleicht etwas länger, als nötig oder angebracht war. Harel wandte den Blick ab, leicht irritiert von ihrer Direktheit.
    
  "Was macht ein Arzt ohne Namen an Bord der Behemoth?"
    
  "Ich bin ein Last-Minute-Ersatz. Sie brauchten einen Arzt für die Expedition. Ihr seid also in meinen Händen."
    
  "Schöne Hände", dachte Andrea.
    
  Sie erreichten den Bug. Das Meer wich unter ihnen zurück, und der Tag erstrahlte majestätisch und hell. Andrea sah sich um.
    
  "Wenn ich nicht gerade das Gefühl habe, meine Innereien würden im Mixer zerkleinert, muss ich zugeben, dass dies ein feines Schiff ist."
    
  "Seine Kraft liegt in seinen Lenden, seine Stärke im Nabel seines Bauches. Seine Knochen sind wie starke Kupferstücke, seine Beine wie Eisenstangen", rezitierte der Arzt mit fröhlicher Stimme.
    
  "Gibt es unter den Besatzungsmitgliedern irgendwelche Dichter?", lachte Andrea.
    
  "Nein, mein Lieber. Es stammt aus dem Buch Hiob. Es bezieht sich auf ein riesiges Tier namens Behemoth, den Bruder des Leviathan."
    
  "Kein schlechter Name für ein Schiff."
    
  "Das war mal eine dänische Fregatte der Hvidbjørnen-Klasse." Der Arzt deutete auf eine etwa drei Meter große, quadratische Metallplatte, die an das Deck geschweißt war. "Früher hing dort eine einzelne Pistole. Cain Industries hat das Schiff vor vier Jahren für zehn Millionen Dollar ersteigert. Ein Schnäppchen."
    
  "Ich würde nicht mehr als neuneinhalb zahlen."
    
  "Lach ruhig, Andrea, aber das Deck dieser Schönheit ist 260 Fuß lang; sie hat einen eigenen Hubschrauberlandeplatz und kann 8.000 Meilen mit 15 Knoten zurücklegen. Sie könnte von Cádiz nach New York und zurück fahren, ohne aufzutanken."
    
  In diesem Moment krachte das Schiff über eine riesige Welle und geriet leicht in Schieflage. Andrea rutschte aus und wäre beinahe über die Reling gestürzt, die am Bug nur etwa einen halben Meter hoch war. Der Arzt packte sie am Hemd.
    
  "Vorsicht! Wenn Sie mit dieser Geschwindigkeit fallen würden, würden Sie entweder von den Propellern zerfetzt oder Sie würden ertrinken, bevor wir Sie retten könnten."
    
  Andrea wollte sich gerade bei Harel bedanken, als sie etwas in der Ferne bemerkte.
    
  "Was ist das?", fragte sie.
    
  Harel kniff die Augen zusammen und hob die Hand, um sich vor dem hellen Licht zu schützen. Zuerst sah sie nichts, doch fünf Sekunden später konnte sie Umrisse erkennen.
    
  "Endlich sind wir alle da. Das ist der Chef."
    
  'WHO?'
    
  "Haben sie Ihnen das nicht gesagt? Herr Cain wird die gesamte Operation persönlich überwachen."
    
  Andrea drehte sich mit offenem Mund um. "Das ist doch nicht dein Ernst?"
    
  Harel schüttelte den Kopf. "Das wird das erste Mal sein, dass ich ihn treffe", antwortete sie.
    
  "Man hat mir ein Interview mit ihm versprochen, aber ich dachte, es würde erst am Ende dieser lächerlichen Farce stattfinden."
    
  'Sie glauben nicht, dass die Expedition erfolgreich sein wird?'
    
  "Sagen wir, ich habe Zweifel an seinem wahren Zweck. Als mich Mr. Russell einstellte, sagte er, wir seien auf der Suche nach einem sehr wichtigen Relikt, das seit Tausenden von Jahren verschollen sei. Er ging nicht ins Detail."
    
  Wir tappen alle im Dunkeln. Sieh nur, es kommt näher.
    
  Andrea konnte nun etwas sehen, das wie eine Art Fluggerät aussah und sich etwa zwei Meilen vor der Küste an Backbord schnell näherte.
    
  'Sie haben Recht, Doc, es ist ein Flugzeug!'
    
  Der Reporter musste seine Stimme erheben, um über den Lärm des Flugzeugs und die Jubelrufe der Matrosen hinweg gehört zu werden, als er einen Halbkreis um das Schiff beschrieb.
    
  "Nein, das ist kein Flugzeug - schau!"
    
  Sie drehten sich um und folgten ihm. Das Flugzeug, oder zumindest das, was Andrea dafür hielt, war ein kleines Fluggerät in den Farben von Kayn Industries, dessen Logo es trug. Doch seine beiden Propeller waren dreimal so groß wie üblich. Andrea beobachtete staunend, wie sich die Propeller an den Tragflächen zu drehen begannen und das Flugzeug aufhörte, Behemoth zu umkreisen. Plötzlich schwebte es in der Luft. Die Propeller hatten sich um neunzig Grad gedreht und hielten das Flugzeug nun, ähnlich wie bei einem Hubschrauber, in der Luft, während sich konzentrische Wellen über das Meer unter ihnen ausbreiteten.
    
  "Das ist ein BA-609 Kipprotorflugzeug. Das beste seiner Klasse. Dies ist ihr Jungfernflug. Man sagt, es sei eine von Herrn Cains eigenen Ideen gewesen."
    
  "Alles, was dieser Mann tut, wirkt beeindruckend. Ich würde ihn gerne kennenlernen."
    
  "Nein, Andrea, warte!"
    
  Der Arzt versuchte, Andrea zurückzuhalten, aber sie schlüpfte in eine Gruppe von Seeleuten, die sich über die Steuerbordreling lehnten.
    
  Andrea kletterte auf das Hauptdeck und stieg über eine der Gangways unterhalb des Schiffsaufbaus hinab, die zum Achterdeck führte, wo das Flugzeug gerade schwebte. Am Ende des Ganges versperrte ihr ein blonder, 1,88 Meter großer Matrose den Weg.
    
  "Mehr können Sie nicht tun, junge Dame."
    
  'Es tut mir Leid?'
    
  "Sie können einen Blick auf das Flugzeug werfen, sobald Herr Cain in seiner Kabine ist."
    
  'Verstehe. Was ist, wenn ich mir Herrn Cain einmal ansehen möchte?'
    
  "Ich habe den Befehl, niemanden hinter das Heck gehen zu lassen. Entschuldigung."
    
  Andrea wandte sich wortlos ab. Sie mochte es nicht, abgewiesen zu werden, und hatte nun doppelten Anreiz, die Wachen zu täuschen.
    
  Sie schlüpfte durch eine der Luken zu ihrer Rechten und gelangte in den Hauptraum des Schiffes. Sie musste sich beeilen, bevor Kain nach unten gebracht wurde. Sie könnte versuchen, aufs Unterdeck zu gelangen, aber dort würde sicher noch eine Wache stehen. Sie probierte die Griffe mehrerer Türen, bis sie eine fand, die nicht verschlossen war. Es sah aus wie ein Aufenthaltsraum mit einer Couch und einer wackeligen Tischtennisplatte. Am Ende befand sich ein großes, offenes Bullauge mit Blick auf das Heck.
    
  Et voilà .
    
  Andrea stellte einen ihrer kleinen Füße auf die Tischkante und den anderen auf das Sofa. Sie steckte die Arme durchs Fenster, dann den Kopf und schließlich den ganzen Körper auf der anderen Seite. Keine drei Meter entfernt gab ein Decksmann in orangefarbener Weste und Gehörschutz dem Piloten von BA-609 Zeichen, als die Räder des Hubschraubers quietschend auf dem Deck zum Stehen kamen. Andreas Haar flatterte im Wind der Rotorblätter. Instinktiv duckte sie sich, obwohl sie sich unzählige Male geschworen hatte, dass sie, sollte sie jemals unter einem Hubschrauber landen, nicht die Filmfiguren nachahmen würde, die den Kopf einziehen, obwohl die Rotorblätter fast anderthalb Meter über ihnen waren.
    
  Natürlich war es eine Sache, sich die Situation vorzustellen, und eine ganz andere, sich tatsächlich darin zu befinden...
    
  Tür BA-609 begann sich zu öffnen.
    
  Andrea spürte eine Bewegung hinter sich. Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie zu Boden geschleudert und auf dem Deck fixiert wurde. Sie spürte die Hitze von Metall auf ihrer Wange, als sich jemand auf ihren Rücken setzte. Sie wand sich so heftig sie konnte, doch es gelang ihr nicht, sich zu befreien. Obwohl sie kaum atmen konnte, warf sie einen Blick auf das Flugzeug und sah einen gebräunten, gutaussehenden jungen Mann mit Sonnenbrille und Sportjacke aussteigen. Hinter ihm ging ein bulliger Mann, etwa 100 Kilo schwer, so schien es Andrea vom Deck aus. Als dieser Grobian sie ansah, bemerkte sie keinen Ausdruck in seinen braunen Augen. Eine hässliche Narbe zog sich von seiner linken Augenbraue bis zu seiner Wange. Schließlich folgte ihm ein dünner, kleiner Mann, ganz in Weiß gekleidet. Der Druck auf ihrem Kopf verstärkte sich, und sie konnte diesen letzten Passagier kaum noch erkennen, als er ihr eingeschränktes Sichtfeld durchquerte - alles, was sie sah, waren die Schatten der sich verlangsamenden Propellerblätter auf dem Deck.
    
  'Lass mich gehen, okay? Der verdammte paranoide Irre ist schon in seiner Kabine, also lass ihn verdammt nochmal in Ruhe.'
    
  "Herr Kane ist weder verrückt noch paranoid. Ich fürchte, er leidet an Agoraphobie", antwortete ihr Entführer auf Spanisch.
    
  Seine Stimme klang nicht wie die eines Seemanns. Andrea erinnerte sich gut an diesen gebildeten, ernsten Tonfall, so bedächtig und distanziert, dass er sie immer an Ed Harris erinnerte. Als der Druck in ihrem Rücken nachließ, sprang sie auf.
    
  'Du?'
    
  Pater Anthony Fowler stand vor ihr.
    
    
  12
    
    
    
  AUSSERHALB DER NETCATCH-BÜROS
    
  225 SOMERSET AVENUE
    
  WASHINGTON, DC
    
    
  Dienstag, 11. Juli 2006, 11:29 Uhr.
    
    
  Der größere der beiden Männer war auch der jüngere, deshalb brachte er aus Respekt immer Kaffee und Essen. Er hieß Nazim und war neunzehn Jahre alt. Er gehörte seit fünfzehn Monaten zu Harufs Gruppe und war glücklich, weil sein Leben endlich einen Sinn, einen Weg hatte.
    
  Nazim verehrte Haruf. Sie lernten sich in einer Moschee in Clive Cove, New Jersey, kennen. Es war ein Ort voller "Verwestlichter", wie Haruf sie nannte. Nazim spielte gern Basketball in der Nähe der Moschee, wo er seinen neuen Freund kennenlernte, der zwanzig Jahre älter war als er. Nazim fühlte sich geehrt, dass jemand so Reifes, noch dazu ein Hochschulabsolvent, sich mit ihm unterhielt.
    
  Nun öffnete er die Autotür und kletterte mühsam auf den Beifahrersitz, was bei einer Körpergröße von 1,88 Metern nicht einfach ist.
    
  "Ich habe nur einen Burgerladen gefunden. Ich habe Salate und Hamburger bestellt." Er reichte Haruf die Tüte, der lächelte.
    
  "Danke, Nazim. Aber ich muss Ihnen etwas sagen, und ich möchte nicht, dass Sie wütend werden."
    
  'Was?'
    
  Haruf nahm die Hamburger aus den Kartons und warf sie aus dem Fenster.
    
  "Diese Burgerläden geben Lecithin in ihre Burger, und es besteht die Möglichkeit, dass sie Schweinefleisch enthalten. Das ist nicht halal", sagte er und bezog sich dabei auf das islamische Verbot von Schweinefleisch. "Tut mir leid. Aber die Salate sind hervorragend."
    
  Nazim war enttäuscht, fühlte sich aber gleichzeitig bestärkt. Haruf war sein Mentor. Wann immer Nazim einen Fehler machte, korrigierte Haruf ihn respektvoll und mit einem Lächeln - das genaue Gegenteil dessen, wie Nazims Eltern ihn in den letzten Monaten behandelt hatten. Sie hatten ihn ständig angeschrien, seit er Haruf kennengelernt und eine andere, kleinere und "frommere" Moschee besucht hatte.
    
  In der neuen Moschee las der Imam nicht nur den Heiligen Koran auf Arabisch, sondern predigte auch in dieser Sprache. Obwohl Nazim in New Jersey geboren war, las und schrieb er fließend die Sprache des Propheten. Seine Familie stammte aus Ägypten. Dank der mitreißenden Predigt des Imams begann Nazim, Erleuchtung zu finden. Er wandte sich von seinem bisherigen Leben ab. Er hatte gute Noten und hätte noch im selben Jahr ein Ingenieurstudium beginnen können, doch stattdessen vermittelte ihm Haruf eine Stelle in einer Buchhaltungsfirma, die von einem gläubigen Muslim geleitet wurde.
    
  Seine Eltern waren mit seiner Entscheidung nicht einverstanden. Sie verstanden auch nicht, warum er sich zum Beten im Badezimmer einschloss. Doch so schmerzhaft diese Veränderungen auch waren, akzeptierten sie sie allmählich. Bis zu dem Vorfall mit Hana.
    
  Nazims Äußerungen wurden immer aggressiver. Eines Abends kam seine zwei Jahre ältere Schwester Hana um zwei Uhr morgens nach Hause, nachdem sie mit ihren Freundinnen etwas getrunken hatte. Nazim wartete bereits auf sie und schimpfte mit ihr wegen ihrer Kleidung und weil sie etwas angetrunken war. Es fielen Beleidigungen. Schließlich schritt ihr Vater ein, woraufhin Nazim mit dem Finger auf ihn zeigte.
    
  "Du bist schwach. Du weißt nicht, wie du deine Frauen erziehen sollst. Du lässt deine Tochter arbeiten. Du lässt sie Auto fahren und bestehst nicht darauf, dass sie einen Schleier trägt. Ihr Platz ist im Haus, bis sie heiratet."
    
  Hana begann zu protestieren, woraufhin Nazim ihr eine Ohrfeige gab. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
    
  "Ich mag schwach sein, aber wenigstens bin ich der Herr in diesem Haus. Verschwinde! Ich kenne dich nicht. Verschwinde!"
    
  Nazim besuchte Haruf nur in den Kleidern, die er am Leib trug. In jener Nacht weinte er ein wenig, doch die Tränen verflogen schnell. Er hatte nun eine neue Familie. Haruf war ihm Vater und älterer Bruder zugleich. Nazim bewunderte ihn sehr, denn der 39-jährige Haruf war ein überzeugter Dschihadist und hatte in Trainingslagern in Afghanistan und Pakistan trainiert. Sein Wissen teilte er nur mit einer Handvoll junger Männer, die wie Nazim unzählige Beleidigungen ertragen hatten. In der Schule, ja sogar auf der Straße, misstrauten ihm die Leute, sobald sie seine olivfarbene Haut und seine Hakennase sahen und erkannten, dass er Araber war. Haruf erklärte ihm, das läge daran, dass sie ihn fürchteten, weil die Christen wussten, dass die Muslime stärker und zahlreicher waren. Nazim gefiel das. Die Zeit war gekommen, in der er den ihm gebührenden Respekt verdiente.
    
    
  Haruf kurbelte das Fenster auf der Fahrerseite hoch.
    
  "Sechs Minuten, dann geht"s los."
    
  Nazim warf ihm einen besorgten Blick zu. Sein Freund merkte, dass etwas nicht stimmte.
    
  'Was ist los, Nazim?'
    
  'Nichts'.
    
  "Das bedeutet nie etwas. Komm schon, du kannst es mir sagen."
    
  'Schon gut.'
    
  Ist das Angst? Hast du Angst?
    
  Nein. Ich bin ein Soldat Allahs!
    
  "Die Soldaten Allahs dürfen Furcht haben, Nazim."
    
  'Nun ja, so bin ich nicht.'
    
  'Wird da gerade eine Waffe abgefeuert?'
    
  'NEIN!'
    
  "Ach komm schon, du hast vierzig Stunden im Schlachthof meines Cousins geübt. Du musst über tausend Kühe erschossen haben."
    
  Haruf war auch einer von Nazims Schießausbildern, und eine der Übungen bestand darin, auf lebende Rinder zu schießen. In anderen Fällen waren die Kühe bereits tot, aber er wollte, dass Nazim sich an Schusswaffen gewöhnte und sah, was Kugeln mit Fleisch anrichten.
    
  "Nein, das praktische Training war gut. Ich habe keine Angst davor, auf Menschen zu schießen. Ich meine, es sind ja keine richtigen Menschen."
    
  Haruf antwortete nicht. Er stützte die Ellbogen auf das Lenkrad, starrte geradeaus und wartete. Er wusste, dass er Nazim am besten zum Reden bringen konnte, indem er ein paar Minuten unangenehmer Stille zuließ. Der Junge platzte dann immer mit allem heraus, was ihn bedrückte.
    
  "Es ist einfach... nun ja, es tut mir leid, dass ich mich nicht von meinen Eltern verabschiedet habe", sagte er schließlich.
    
  "Ich verstehe. Geben Sie sich immer noch die Schuld an dem, was passiert ist?"
    
  "Ein bisschen. Liege ich da falsch?"
    
  Haruf lächelte und legte Nazim die Hand auf die Schulter.
    
  "Nein. Du bist ein sensibler und liebevoller junger Mann. Allah, gepriesen sei Sein Name, hat dich mit diesen Eigenschaften ausgestattet."
    
  "Sein Name sei gesegnet", wiederholte Nazim.
    
  Er hat dir auch die Kraft gegeben, sie zu überwinden, wenn du sie brauchst. Nimm nun das Schwert Allahs und erfülle seinen Willen. Freue dich, Nazim.
    
  Der junge Mann versuchte zu lächeln, doch es wirkte eher wie eine Grimasse. Haruf verstärkte den Druck auf Nazims Schulter. Seine Stimme war warm und voller Liebe.
    
  Entspann dich, Nazim. Allah verlangt heute nicht unser Blut. Er verlangt es von anderen. Aber selbst wenn etwas passieren sollte, hast du doch eine Videobotschaft für deine Familie aufgenommen, oder?
    
  Nazim nickte.
    
  "Dann gibt es keinen Grund zur Sorge. Deine Eltern mögen sich zwar etwas westlich orientiert haben, aber im Grunde ihres Herzens sind sie gläubige Muslime. Sie kennen den Lohn des Märtyrertums. Und wenn du ins Jenseits kommst, wird Allah dir erlauben, für sie Fürsprache einzulegen. Stell dir nur vor, wie sie sich fühlen werden."
    
  Nazim stellte sich vor, wie seine Eltern und seine Schwester vor ihm knieten, ihm für ihre Rettung dankten und ihn um Vergebung ihrer Fehler baten. In der klaren Trance seiner Vorstellungskraft war dies der schönste Aspekt des nächsten Lebens. Schließlich gelang es ihm, zu lächeln.
    
  'Siehst du, Nazim. Du hast das Lächeln eines Märtyrers, das Basamat al-Farah. Das ist Teil unseres Versprechens. Das ist Teil unserer Belohnung.'
    
  Nazim griff unter seine Jacke und drückte den Griff der Pistole zusammen.
    
  Sie stiegen ruhig mit Haruf aus dem Auto.
    
    
  13
    
    
    
  An Bord des "Nilpferds"
    
  Auf dem Weg zum Golf von Aqaba, Rotes Meer
    
    
  Dienstag, 11. Juli 2006, 17:11 Uhr.
    
    
  'Du!', sagte Andrea erneut, mehr wütend als überrascht.
    
  Als sie sich das letzte Mal sahen, schwebte Andrea in schwindelerregender Höhe, verfolgt von einem unerwarteten Feind. Pater Fowler hatte ihr damals das Leben gerettet, aber er hatte sie auch daran gehindert, die große Story zu landen, von der die meisten Reporter nur träumen. Woodward und Bernstein hatten es mit Watergate geschafft, Lowell Bergman mit der Tabakindustrie. Andrea Otero hätte dasselbe tun können, aber der Priester hatte sich ihr in den Weg gestellt. Wenigstens hatte er ihr - verdammt, dachte Andrea - ein Exklusivinterview mit Präsident Bush verschafft, das sie auf dieses Schiff gebracht hatte, so nahm sie an. Aber das war noch nicht alles, und im Moment konzentrierte sie sich mehr auf die Gegenwart. Andrea würde diese Chance nicht verpassen.
    
  "Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Miss Otero. Ich sehe, die Narbe ist kaum noch eine Erinnerung."
    
  Andrea berührte instinktiv ihre Stirn, die Stelle, an der Fowler ihr vor sechzehn Monaten vier Stiche gesetzt hatte. Alles, was davon übrig war, war eine dünne, blasse Linie.
    
  "Sie sind zwar zuverlässig, aber dafür sind Sie nicht hier. Spionieren Sie mich etwa aus? Wollen Sie etwa wieder meine Arbeit sabotieren?"
    
  "Ich nehme an dieser Expedition als Beobachter des Vatikans teil, nichts weiter."
    
  Die junge Reporterin beäugte ihn misstrauisch. Wegen der drückenden Hitze trug der Priester ein kurzärmeliges Hemd mit Priesterkragen und eine tadellos gebügelte Hose, ganz in Schwarz. Andrea bemerkte zum ersten Mal seine gebräunten Arme. Seine Unterarme waren gewaltig, die Adern so dick wie Kugelschreiber.
    
  Dies ist keine Waffe eines Bibelwissenschaftlers.
    
  "Und warum braucht der Vatikan einen Beobachter bei einer archäologischen Expedition?"
    
  Der Priester wollte gerade antworten, als eine fröhliche Stimme sie unterbrach.
    
  'Super! Wurdet ihr beiden euch schon vorgestellt?'
    
  Dr. Harel erschien am Heck des Schiffes und schenkte ihr ihr bezauberndes Lächeln. Andrea erwiderte die Freundlichkeit nicht.
    
  "So in etwa. Pater Fowler wollte mir vor ein paar Minuten gerade erklären, warum er sich als Brett Favre ausgegeben hat."
    
  "Frau Otero, Brett Favre ist ein Quarterback, er ist kein besonders guter Tackler", erklärte Fowler.
    
  'Was ist passiert, Vater?', fragte Harel.
    
  "Miss Otero kam zurück, als Mr. Kane gerade aus dem Flugzeug stieg. Ich musste sie leider zurückhalten. Ich war etwas grob. Es tut mir leid."
    
  Harel nickte. "Ich verstehe. Sie sollten wissen, dass Andrea bei der Sicherheitsbesprechung nicht anwesend war. Keine Sorge, Vater."
    
  "Was soll das heißen, keine Sorge? Sind alle völlig verrückt?"
    
  "Beruhigen Sie sich, Andrea", sagte der Arzt. "Leider sind Sie seit 48 Stunden krank und wurden nicht darüber informiert. Ich möchte Sie auf den neuesten Stand bringen. Raymond Kane leidet an Agoraphobie."
    
  "Das hat mir Pater Tackler gerade gesagt."
    
  "Pater Fowler ist nicht nur Priester, sondern auch Psychologe. Bitte unterbrechen Sie mich, falls ich etwas übersehe, Pater. Andrea, was wissen Sie über Agoraphobie?"
    
  "Es ist die Angst vor weiten Plätzen."
    
  "Das denken die meisten Leute. In Wirklichkeit sind die Symptome bei Menschen mit dieser Erkrankung viel komplexer."
    
  Fowler räusperte sich.
    
  "Die größte Angst von Menschen mit Agoraphobie ist der Kontrollverlust", sagte der Priester. "Sie haben Angst davor, allein zu sein, an Orten ohne Ausweg zu landen oder neue Leute kennenzulernen. Deshalb bleiben sie lange Zeit zu Hause."
    
  "Was passiert, wenn sie die Situation nicht mehr unter Kontrolle haben?", fragte Andrea.
    
  "Das hängt von der Situation ab. Der Fall von Herrn Cain ist besonders schwerwiegend. Wenn er sich in einer schwierigen Lage befindet, kann er leicht in Panik geraten, den Bezug zur Realität verlieren und Schwindel, Zittern und Herzrasen erleben."
    
  "Mit anderen Worten, er konnte kein Börsenmakler gewesen sein", sagte Andrea.
    
  "Oder ein Neurochirurg", scherzte Harel. "Aber Betroffene können ein normales Leben führen. Es gibt berühmte Agoraphobiker wie Kim Basinger oder Woody Allen, die jahrelang gegen die Krankheit gekämpft und sie schließlich besiegt haben. Herr Cain hat sich aus dem Nichts ein Imperium aufgebaut. Leider hat sich sein Zustand in den letzten fünf Jahren verschlechtert."
    
  Ich frage mich, was zum Teufel einen so kranken Mann dazu getrieben hat, das Risiko einzugehen, aus seinem Schneckenhaus herauszukommen?
    
  "Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Andrea", sagte Harel.
    
  Andrea bemerkte, dass der Arzt sie seltsam ansah.
    
  Es herrschte einige Augenblicke Stille, dann setzte Fowler das Gespräch fort.
    
  "Ich hoffe, Sie können mir meine anfängliche Hartnäckigkeit verzeihen."
    
  'Vielleicht, aber du hast mir fast den Kopf abgerissen', sagte Andrea und rieb sich den Nacken.
    
  Fowler blickte Harel an, der nickte.
    
  "Sie werden es mit der Zeit verstehen, Frau Otero... Konnten Sie sehen, wie die Leute aus dem Flugzeug stiegen?", fragte Harel.
    
  "Da war ein junger Mann mit olivfarbener Haut", antwortete Andrea. "Dann ein Mann in den Fünfzigern, ganz in Schwarz gekleidet, der eine riesige Narbe hatte. Und schließlich ein hagerer Mann mit weißem Haar, bei dem es sich vermutlich um Herrn Kain handelt."
    
  "Der junge Mann ist Jacob Russell, der persönliche Assistent von Herrn Cain", sagte Fowler. "Der Mann mit der Narbe ist Mogens Dekker, Sicherheitschef von Cain Industries. Glauben Sie mir, wenn Sie Cain mit Ihrer üblichen Art noch näher kämen, würde Dekker ziemlich nervös werden. Und das wollen Sie sicher nicht."
    
  Ein Warnsignal ertönte vom Bug bis zum Heck.
    
  "Nun ist es Zeit für die Einführungsveranstaltung", sagte Harel. "Endlich wird das große Geheimnis gelüftet. Folgen Sie mir."
    
  "Wo gehen wir hin?", fragte Andrea, als sie über die Gangway, über die der Reporter wenige Minuten zuvor hinuntergerutscht war, zum Hauptdeck zurückkehrten.
    
  Das gesamte Expeditionsteam wird sich zum ersten Mal treffen. Sie werden erklären, welche Rolle jeder von uns spielen wird und, was am wichtigsten ist... wonach wir in Jordanien wirklich suchen.
    
  "Übrigens, Doktor, was ist Ihr Fachgebiet?", fragte Andrea, als sie den Konferenzraum betraten.
    
  "Kampfmedizin", sagte Harel beiläufig.
    
    
  14
    
    
    
  COHEN FAMILIENFILIALZUFRIEDEN
    
  VENE
    
    
  Februar 1943
    
    
  Jora Mayer war außer sich vor Angst. Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Hals aus und verursachte Übelkeit. So etwas hatte sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr erlebt, als sie 1906 mit ihrem Großvater an der Hand vor den Pogromen in Odessa, Ukraine, geflohen war. Glücklicherweise fand sie in so jungen Jahren eine Anstellung als Dienstmädchen bei der Familie Cohen, die eine Fabrik in Wien besaß. Joseph war das älteste Kind. Als ein Heiratsvermittler ihm schließlich eine liebe jüdische Frau vermittelte, begleitete Jora ihn, um sich um die Kinder zu kümmern. Ihr Erstgeborener, Elan, verbrachte seine frühen Jahre in einem behüteten und privilegierten Umfeld. Der Jüngste, Yudel, hatte es ganz anders.
    
  Nun lag das Kind zusammengerollt auf seinem notdürftigen Bett, das aus zwei gefalteten Decken auf dem Boden bestand. Bis gestern hatte es das Bett mit seinem Bruder geteilt. So liegend wirkte Yudel klein und traurig, und ohne seine Eltern erschien ihm der stickige Raum riesig.
    
  Der arme Yudel. Diese zwölf Quadratmeter waren seit seiner Geburt praktisch seine ganze Welt gewesen. Am Tag seiner Geburt war die gesamte Familie, einschließlich Jora, im Krankenhaus. Keiner von ihnen kehrte in die luxuriöse Wohnung in der Rheinstraße zurück. Es war der 9. November 1938, der Tag, den die Welt später als Kristallnacht, die Nacht der zerbrochenen Gläser, kennen sollte. Yudels Großeltern starben als Erste. Das gesamte Gebäude in der Rheinstraße brannte bis auf die Grundmauern nieder, zusammen mit der benachbarten Synagoge, während Feuerwehrleute tranken und lachten. Die Cohens konnten nur einige Kleidungsstücke und ein geheimnisvolles Bündel mitnehmen, das Yudels Vater bei der Zeremonie zur Geburt des Babys benutzt hatte. Jora wusste nicht, was es war, denn während der Zeremonie hatte Herr Cohen alle gebeten, den Raum zu verlassen, auch Odile, die kaum stehen konnte.
    
  Da Josef praktisch kein Geld besaß, konnte er das Land nicht verlassen. Wie viele andere glaubte er jedoch, dass sich die Probleme mit der Zeit legen würden, und suchte deshalb Zuflucht bei einigen seiner katholischen Freunde. Er erinnerte sich auch an Jora, etwas, das Miss Mayer ihr später nie vergessen sollte. Nur wenige Freundschaften hielten den schrecklichen Widrigkeiten im besetzten Österreich stand; doch eine tat es. Der alternde Richter Rath beschloss, den Cohens zu helfen und riskierte dabei sein Leben. In seinem Haus baute er in einem der Zimmer einen Unterschlupf. Er mauerte die Trennwand eigenhändig zu und ließ unten eine schmale Öffnung, durch die die Familie ein- und ausgehen konnte. Richter Rath stellte dann ein niedriges Bücherregal vor den Eingang, um ihn zu verdecken.
    
  Die Familie Cohen begab sich in einer Dezembernacht des Jahres 1938 in ihr lebendes Grab, im Glauben, der Krieg würde nur wenige Wochen dauern. Es gab nicht genug Platz für alle gleichzeitig, und ihr einziger Trost bestand aus einer Petroleumlampe und einem Eimer. Essen und frische Luft kamen um 1:00 Uhr nachts, zwei Stunden nachdem die Magd des Richters nach Hause gegangen war. Gegen 0:30 Uhr begann der alte Richter langsam, das Bücherregal vom Loch wegzuschieben. Aufgrund seines Alters konnte es mit häufigen Pausen fast eine halbe Stunde dauern, bis das Loch breit genug war, um die Cohens hineinzulassen.
    
  Wie die Familie Cohen war auch der Richter ein Gefangener dieses Lebens. Er wusste, dass der Mann des Dienstmädchens Mitglied der NSDAP war, und schickte sie deshalb, während er den Unterschlupf baute, für ein paar Tage in den Urlaub nach Salzburg. Nach ihrer Rückkehr erklärte er ihr, die Gasleitungen müssten erneuert werden. Er wagte es nicht, ein anderes Dienstmädchen zu suchen, da dies Verdacht erregt hätte, und er musste beim Lebensmitteleinkauf sehr vorsichtig sein. Die Rationierung erschwerte die Versorgung der fünf zusätzlichen Personen zusätzlich. Jora tat er leid, denn er hatte den Großteil seiner Wertgegenstände verkauft, um Fleisch und Kartoffeln auf dem Schwarzmarkt zu kaufen, die er auf dem Dachboden versteckte. Nachts, wenn Jora und die Cohens barfuß wie seltsame, flüsternde Geister aus ihrem Versteck kamen, brachte ihnen der alte Mann Essen vom Dachboden.
    
  Die Cohens wagten es nicht, länger als ein paar Stunden außerhalb ihres Verstecks zu bleiben. Während Zhora dafür sorgte, dass die Kinder sich wuschen und ein wenig bewegten, unterhielten sich Joseph und Odile leise mit dem Richter. Tagsüber durften sie nicht den geringsten Laut von sich geben und verbrachten die meiste Zeit schlafend oder halb bewusstlos, was für Zhora einer Folter glich, bis sie von den Konzentrationslagern Treblinka, Dachau und Auschwitz hörte. Selbst die kleinsten Dinge des Alltags wurden kompliziert. Grundbedürfnisse wie Trinken oder das Wickeln des kleinen Yudel waren in dem beengten Raum mühsame Prozeduren. Zhora war immer wieder erstaunt über Odile Cohens Fähigkeit zu kommunizieren. Sie hatte ein komplexes Zeichensystem entwickelt, das es ihr ermöglichte, lange und manchmal bittere Gespräche mit ihrem Mann zu führen, ohne ein Wort zu sprechen.
    
  Mehr als drei Jahre vergingen in Stille. Yudel lernte kaum mehr als vier oder fünf Wörter. Zum Glück war er ruhig und weinte fast nie. Er schien lieber von Jora als von seiner Mutter gehalten zu werden, doch das störte Odile nicht. Odile kümmerte sich nur um Elan, der am meisten unter der Gefangenschaft litt. Er war ein ungezogener, verwöhnter Fünfjähriger gewesen, als im November 1938 die Pogrome ausbrachen, und nach über tausend Tagen auf der Flucht lag etwas Verlorenes, fast Wahnsinniges in seinen Augen. Wenn es Zeit war, ins Versteck zurückzukehren, war er immer der Letzte. Oft weigerte er sich oder klammerte sich am Eingang fest. Dann ging Yudel auf ihn zu, nahm seine Hand und ermutigte Elan, ein letztes Opfer zu bringen und in die langen Stunden der Dunkelheit zurückzukehren.
    
  Doch vor sechs Nächten hielt Elan es nicht mehr aus. Er wartete, bis alle anderen zur Grube zurückgekehrt waren, schlich sich dann davon und verließ das Haus. Die arthritischen Finger des Richters berührten kaum noch das Hemd des Jungen, bevor er verschwand. Joseph versuchte, ihm zu folgen, doch als er die Straße erreichte, war von Elan keine Spur mehr zu sehen.
    
  Drei Tage später wurde die Nachricht in der Kronen Zeitung veröffentlicht. Ein junger jüdischer Junge mit geistiger Behinderung, offenbar ohne Familie, war im Kinderheim Spiegelgrund untergebracht worden. Der Richter war entsetzt. Während er mit erstickter Stimme erklärte, was ihrem Sohn wohl zustoßen würde, geriet Odile in Panik und weigerte sich, Vernunft anzunehmen. Jora fühlte sich schwach, als sie Odile mit dem Paket, das sie in ihr Heim gebracht hatten - dem Paket, das sie vor vielen Jahren ins Krankenhaus mitgenommen hatten, als Judel geboren wurde -, zur Tür hinausgehen sah. Odiles Mann begleitete sie trotz ihrer Proteste, doch beim Gehen gab er Jora einen Umschlag.
    
  "Für Yudel", sagte er. "Er sollte es erst zu seiner Bar Mitzwa öffnen."
    
  Seitdem waren zwei schreckliche Nächte vergangen. Jora wartete ungeduldig auf Neuigkeiten, doch der Richter war schweigsamer als sonst. Am Tag zuvor hatte das Haus von seltsamen Geräuschen erfüllt gewesen. Und dann, zum ersten Mal seit drei Jahren, hatte sich mitten am Tag das Bücherregal bewegt, und das Gesicht des Richters war in der Öffnung erschienen.
    
  'Schnell, kommt raus! Wir dürfen keine Sekunde länger verlieren!'
    
  Jora blinzelte. Es fiel ihm schwer, das helle Licht außerhalb des Unterschlupfs als Sonnenlicht zu erkennen. Yudel hatte die Sonne noch nie gesehen. Erschrocken duckte er sich zurück.
    
  "Jora, es tut mir leid. Gestern habe ich erfahren, dass Josef und Odile verhaftet wurden. Ich habe nichts gesagt, weil ich dich nicht noch mehr aufregen wollte. Aber du kannst nicht hierbleiben. Sie werden sie verhören, und egal wie sehr sich die Cohens wehren, die Nazis werden schließlich herausfinden, wo Yudel ist."
    
  "Frau Cohen wird nichts sagen. Sie ist stark."
    
  Der Richter schüttelte den Kopf.
    
  "Sie werden Elan versprechen, ihr Leben zu retten, wenn sie ihnen im Gegenzug verrät, wo das Baby ist, oder Schlimmeres. Sie können die Leute immer zum Reden bringen."
    
  Jora fing an zu weinen.
    
  "Dafür ist jetzt keine Zeit, Jora. Als Josef und Odile nicht zurückkamen, besuchte ich eine Freundin in der bulgarischen Botschaft. Ich habe zwei Ausreisevisa auf die Namen von Biljana Bogomil, einer Nachhilfelehrerin, und Michail Schiwkow, dem Sohn eines bulgarischen Diplomaten. Angeblich gehst du mit dem Jungen zurück zur Schule, nachdem du die Weihnachtsferien bei seinen Eltern verbracht hast." Er zeigte ihr die rechteckigen Fahrkarten. "Das sind Zugfahrkarten nach Stara Zagora. Aber du fährst nicht dorthin."
    
  "Ich verstehe das nicht", sagte Jora.
    
  Ihr offizielles Ziel ist Stara Zagora, aber Sie steigen in Cernavoda aus. Der Zug hält dort kurz. Sie steigen aus, damit der Junge sich die Beine vertreten kann. Sie verlassen den Zug mit einem Lächeln im Gesicht. Sie haben kein Gepäck und nichts in den Händen. Verschwinden Sie so schnell wie möglich. Constanta liegt 37 Meilen östlich. Sie müssen entweder zu Fuß gehen oder jemanden finden, der Sie mit einer Kutsche dorthin bringt.
    
  "Constanza", wiederholte Jora und versuchte in ihrer Verwirrung, sich an alles zu erinnern.
    
  "Früher war es Rumänien. Jetzt ist es Bulgarien. Wer weiß, was morgen bringt? Hauptsache ist, dass es ein Hafen ist und die Nazis ihn nicht allzu genau im Auge behalten. Von dort aus kann man mit dem Schiff nach Istanbul fahren. Und von Istanbul aus kann man überall hin."
    
  "Aber wir haben kein Geld für eine Eintrittskarte."
    
  "Hier sind einige Mark für die Reise. Und in diesem Umschlag befindet sich genug Geld, um Ihnen beiden die sichere Überfahrt zu ermöglichen."
    
  Jora sah sich um. Das Haus war fast leergeräumt. Plötzlich begriff sie, was die seltsamen Geräusche vom Vortag gewesen waren. Der alte Mann hatte fast alles mitgenommen, was er besaß, um ihnen die Flucht zu ermöglichen.
    
  "Wie können wir Ihnen danken, Richter Rath?"
    
  "Tu es nicht. Deine Reise wird sehr gefährlich sein, und ich bin mir nicht sicher, ob dich die Ausreisevisa schützen werden. Gott vergib mir, aber ich hoffe, ich schicke dich nicht in den Tod."
    
    
  Zwei Stunden später gelang es Jora, Yudel die Treppe des Gebäudes hinaufzuschleppen. Sie wollte gerade nach draußen gehen, als sie einen Lastwagen auf dem Bürgersteig vorfahren hörte. Jeder, der unter den Nazis gelebt hatte, wusste genau, was das bedeutete. Es war wie eine schreckliche Melodie, beginnend mit quietschenden Bremsen, gefolgt von Befehlsgebrüll und dem dumpfen Stakkato von Stiefeln im Schnee, das deutlicher wurde, als die Stiefel auf den Holzboden trafen. In diesem Moment betete man, dass die Geräusche verstummten; stattdessen gipfelte ein bedrohliches Crescendo in einem Hämmern an der Tür. Nach einer Pause brach ein Schluchzerchor los, unterbrochen von Maschinengewehrsalven. Und wenn die Musik verstummte, ging das Licht wieder an, die Leute kehrten an ihre Tische zurück, und die Mütter lächelten und taten so, als sei nebenan nichts geschehen.
    
  Jora, die die Melodie gut kannte, versteckte sich unter der Treppe, sobald sie die ersten Töne hörte. Während seine Kameraden Raths Tür aufbrachen, lief ein Soldat mit einer Taschenlampe nervös vor dem Haupteingang auf und ab. Der Lichtkegel der Taschenlampe durchschnitt die Dunkelheit und verfehlte Joras abgetragenen grauen Stiefel nur knapp. Yudel packte ihn mit solcher tierischer Angst, dass Jora sich auf die Lippe beißen musste, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Der Soldat kam ihnen so nahe, dass sie den Geruch seiner Lederjacke, des kalten Metalls und des Pistolenöls wahrnehmen konnten.
    
  Ein lauter Schuss knallte auf der Treppe. Der Soldat unterbrach seine Suche und eilte zu seinen schreienden Kameraden. Zhora hob Yudel hoch und ging langsam hinaus auf die Straße.
    
    
  15
    
    
    
  An Bord des Hippopotamus
    
  Auf dem Weg zum Golf von Aqaba, Rotes Meer
    
    
  Dienstag, 11. Juli 2006, 18:03 Uhr.
    
    
  Der Raum wurde von einem großen, rechteckigen Tisch dominiert, auf dem zwanzig ordentlich gestapelte Ordner lagen. Davor saß ein Mann. Harel, Fowler und Andrea betraten den Raum als Letzte und mussten die restlichen Plätze einnehmen. Andrea befand sich zwischen einer jungen Afroamerikanerin in einer Art paramilitärischer Uniform und einem älteren, kahlköpfigen Mann mit dichtem Schnurrbart. Die junge Frau ignorierte sie und unterhielt sich weiter mit den Männern zu ihrer Linken, die mehr oder weniger gleich gekleidet waren wie sie, während der Mann zu ihrer Rechten ihr die Hand mit den dicken, schwieligen Fingern entgegenstreckte.
    
  "Tommy Eichberg, Fahrer. Sie müssen Miss Otero sein."
    
  'Noch jemand, der mich kennt! Schön, dich kennenzulernen.'
    
  Eichberg lächelte. Er hatte ein rundes, freundliches Gesicht.
    
  "Ich hoffe, es geht Ihnen bald besser."
    
  Andrea wollte gerade antworten, als ein lautes, unangenehmes Geräusch, wie ein Räuspern, sie unterbrach. Ein älterer Mann, weit über siebzig, betrat den Raum. Seine Augen waren fast von Falten verdeckt, ein Eindruck, der durch die kleinen Gläser seiner Brille noch verstärkt wurde. Er hatte einen kahlgeschorenen Kopf und trug einen dichten, ergrauenden Bart, der wie eine Aschewolke um seinen Mund zu schweben schien. Er trug ein kurzärmeliges Hemd, Khakihosen und derbe schwarze Stiefel. Er begann zu sprechen, seine Stimme rau und unangenehm, wie das Kratzen eines Messers an den Zähnen, bevor sie das Kopfende des Schreibtisches erreichte, wo ein tragbarer Bildschirm stand. Cains Assistent saß neben ihm.
    
  Meine Damen und Herren, mein Name ist Cecil Forrester, und ich bin Professor für Biblische Archäologie an der Universität von Massachusetts. Es ist zwar nicht die Sorbonne, aber immerhin meine Heimat.
    
  Unter den Assistenten des Professors war ein höfliches Kichern zu hören, denn sie hatten diesen Witz schon tausendmal gehört.
    
  "Sie haben zweifellos versucht, den Grund für diese Reise herauszufinden, seit Sie an Bord dieses Schiffes gegangen sind. Ich hoffe, Sie waren nicht schon vorher in Versuchung, dies zu tun, da Ihre - oder sollte ich sagen, unsere - Verträge mit Kayn Enterprises absolute Geheimhaltung vom Moment der Unterzeichnung bis zum Tod unserer Erben vorschreiben. Leider verpflichten mich die Bedingungen meines Vertrags auch dazu, Sie in das Geheimnis einzuweihen, was ich in den nächsten anderthalb Stunden tun werde. Unterbrechen Sie mich nicht, es sei denn, Sie haben eine berechtigte Frage. Da mir Mr. Russell Ihre Daten mitgeteilt hat, kenne ich jedes Detail, von Ihrem IQ bis zu Ihrer Lieblingskondommarke. Was Mr. Deckers Crew betrifft: Sparen Sie sich das Wort."
    
  Andrea, die sich dem Professor teilweise zugewandt hatte, hörte bedrohliches Geflüster von den uniformierten Männern.
    
  "Dieser Mistkerl hält sich für schlauer als alle anderen. Vielleicht lasse ich ihn seine Zähne einzeln verschlucken."
    
  'Schweigen'.
    
  Die Stimme war leise, doch sie barg eine solche Wut, dass Andrea zusammenzuckte. Sie drehte den Kopf so weit, dass sie Mogens Dekker gehörte, dem vernarbten Mann, der seinen Stuhl an die Schottwand gelehnt hatte. Sofort verstummten die Soldaten.
    
  "Gut. Nun, da wir alle am selben Ort sind", fuhr Cecil Forrester fort, "werde ich Sie einander vorstellen. Wir sind 23 Personen und haben uns versammelt, um die größte Entdeckung aller Zeiten zu machen, und jeder von Ihnen wird daran beteiligt sein. Sie kennen bereits Mr. Russell zu meiner Rechten. Er hat Sie ausgewählt."
    
  Cains Assistent nickte zur Begrüßung.
    
  Zu seiner Rechten steht Pater Anthony Fowler, der als vatikanischer Beobachter die Expedition begleiten wird. Neben ihm befinden sich Nuri Zayit und Rani Peterke, die Köchin und ihre Assistentin. Daneben stehen Robert Frick und Brian Hanley, die für die Expeditionsleitung zuständig sind.
    
  Die beiden Köche waren ältere Männer. Zayit war hager, etwa sechzig, mit nach unten gezogenen Mundwinkeln, während sein Gehilfe stämmig und einige Jahre jünger war. Andrea konnte sein Alter nicht genau schätzen. Die beiden Verwaltungsangestellten hingegen waren jung und fast so dunkelhäutig wie Peterke.
    
  "Neben diesen hochbezahlten Angestellten habe ich meine faulen und kriecherischen Assistenten. Sie alle haben Abschlüsse von teuren Universitäten und glauben, mehr zu wissen als ich: David Pappas, Gordon Darwin, Kira Larsen, Stowe Erling und Ezra Levin."
    
  Die jungen Archäologen rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her und bemühten sich um Professionalität. Andrea tat sie leid. Sie mussten Anfang dreißig gewesen sein, aber Forrester hielt sie streng im Zaum, wodurch sie noch jünger und unsicherer wirkten, als sie tatsächlich waren - ein krasser Gegensatz zu den uniformierten Männern neben dem Reporter.
    
  "Am anderen Ende des Tisches sitzen Herr Dekker und seine Bulldoggen: die Gottlieb-Zwillinge Alois und Alrik; Tevi Waaka, Paco Torres, Marla Jackson und Louis Maloney. Sie werden für die Sicherheit zuständig sein und unserer Expedition eine hochkarätige Note verleihen. Die Ironie dieser Formulierung ist verheerend, finden Sie nicht?"
    
  Die Soldaten reagierten nicht, aber Decker richtete seinen Stuhl auf und beugte sich über den Tisch.
    
  "Wir begeben uns in die Grenzregion eines islamischen Landes. Angesichts der Art unserer Mission könnten die Einheimischen gewalttätig werden. Ich bin sicher, Professor Forrester wird den Umfang unserer Schutzmaßnahmen zu schätzen wissen, sollte es so weit kommen." Er sprach mit starkem südafrikanischem Akzent.
    
  Forrester öffnete den Mund, um zu antworten, aber irgendetwas in Deckers Gesichtsausdruck musste ihn davon überzeugt haben, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für verbitterte Bemerkungen war.
    
  "Zu Ihrer Rechten befindet sich Andrea Otero, unsere offizielle Reporterin. Ich bitte Sie, mit ihr zu kooperieren, falls sie Informationen oder Interviews anfordert, damit sie unsere Geschichte der Welt erzählen kann."
    
  Andrea schenkte den Leuten am Tisch ein Lächeln, das einige erwiderten.
    
  "Der Mann mit dem Schnurrbart ist Tommy Eichberg, unser Hauptfahrer. Und schließlich, rechts, Doc Harel, unser offizieller Scharlatan."
    
  "Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie sich nicht an alle Namen erinnern können", sagte die Ärztin und hob die Hand. "Wir werden viel Zeit miteinander verbringen, an einem Ort, der nicht gerade für sein Unterhaltungsangebot bekannt ist, daher werden wir uns recht gut kennenlernen. Vergessen Sie nicht, den Ausweis mitzubringen, den die Crew in Ihrer Kabine hinterlassen hat ..."
    
  "Mir ist es völlig egal, ob Sie die Namen aller kennen oder nicht, solange Sie Ihre Arbeit machen", unterbrach der alte Professor. "Nun, wenn Sie alle Ihre Aufmerksamkeit auf den Bildschirm richten, werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen."
    
  Der Bildschirm erstrahlte mit computergenerierten Bildern einer antiken Stadt. Eine Siedlung mit roten Mauern und Ziegeldächern, umgeben von einer dreifachen Außenmauer, erhob sich über das Tal. Die Straßen waren voller Menschen, die ihren alltäglichen Geschäften nachgingen. Andrea war von der Bildqualität begeistert, die einer Hollywood-Produktion würdig gewesen wäre, doch die Stimme, die den Dokumentarfilm kommentierte, gehörte einem Professor. "Dieser Typ hat so ein riesiges Ego, er merkt gar nicht, wie schrecklich seine Stimme klingt", dachte sie. "Der macht mir Kopfschmerzen." Der Sprecher begann:
    
  Willkommen in Jerusalem. Es ist April 70 n. Chr. Die Stadt ist seit vier Jahren von rebellischen Zeloten besetzt, die die ursprünglichen Bewohner vertrieben haben. Die Römer, die offiziell über Israel herrschen, können diese Situation nicht länger dulden und beauftragen Titus mit einer entscheidenden Bestrafung.
    
  Die friedliche Szene, in der Frauen ihre Wassergefäße füllten und Kinder an den Brunnen nahe der Außenmauer spielten, wurde jäh unterbrochen, als in der Ferne Banner mit Adlern am Horizont erschienen. Trompeten ertönten, und die Kinder erschraken plötzlich und flohen zurück in die Mauern.
    
  Innerhalb weniger Stunden ist die Stadt von vier römischen Legionen umzingelt. Es ist der vierte Angriff auf die Stadt. Ihre Bürger hatten die drei vorherigen abgewehrt. Diesmal wendet Titus eine List an. Er erlaubt Pilgern, die zu den Pessachfeierlichkeiten nach Jerusalem kommen, die Frontlinien zu passieren. Nach den Feierlichkeiten schließt sich der Kreis, und Titus hindert die Pilger am Verlassen der Stadt. Die Einwohnerzahl der Stadt hat sich nun verdoppelt, und ihre Lebensmittel- und Wasservorräte gehen schnell zur Neige. Die römischen Legionen greifen von Norden her an und zerstören die dritte Stadtmauer. Es ist Mitte Mai, und der Fall der Stadt ist nur noch eine Frage der Zeit.
    
  Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie ein Rammbock die Außenmauer zerstörte. Die Priester des Tempels auf dem höchsten Hügel der Stadt beobachteten die Szene mit Tränen in den Augen.
    
  Die Stadt fällt schließlich im September, und Titus erfüllt sein Versprechen an seinen Vater Vespasian. Die meisten Einwohner werden hingerichtet oder vertrieben. Ihre Häuser werden geplündert und ihr Tempel zerstört.
    
  Umgeben von Leichen trug eine Gruppe römischer Soldaten eine riesige Menora aus dem brennenden Tempel, während ihr General lächelnd von seinem Pferd aus zusah.
    
  Der zweite Tempel Salomos brannte bis auf die Grundmauern nieder und liegt dort bis heute. Viele der Tempelschätze wurden gestohlen. Viele, aber nicht alle. Nachdem im Mai die dritte Mauer gefallen war, entwickelte ein Priester namens Jirməyáhu einen Plan, um zumindest einen Teil der Schätze zu bergen. Er wählte zwanzig mutige Männer aus und verteilte an die ersten zwölf Pakete mit genauen Anweisungen, wohin sie die Gegenstände bringen und was sie damit tun sollten. Diese Pakete enthielten die traditionellen Tempelschätze: große Mengen Gold und Silber.
    
  Ein alter Priester mit weißem Bart, gekleidet in eine schwarze Robe, unterhielt sich mit zwei jungen Männern, während andere in einer großen, von Fackeln erleuchteten Steinhöhle auf ihre Gelegenheit warteten.
    
  Yirməy áhu betraute die letzten acht Personen mit einer ganz besonderen Mission, die zehnmal gefährlicher war als die der anderen.
    
  Mit einer Fackel in der Hand führte der Priester acht Männer, die einen großen Gegenstand auf einer Trage durch ein Tunnelsystem trugen.
    
  Durch geheime Gänge unter dem Tempel führte Yirmāy ákhu sie hinter die Mauern und weg von der römischen Armee. Obwohl dieses Gebiet hinter der 10. Legion Fretensis gelegentlich von römischen Wachen patrouilliert wurde, gelang es den Männern des Priesters, ihnen zu entkommen und erreichten am nächsten Tag mit ihrer schweren Last Richo, das heutige Jericho. Dort verlor sich ihre Spur für immer.
    
  Der Professor drückte einen Knopf, und der Bildschirm wurde schwarz. Er wandte sich dem Publikum zu, das ungeduldig wartete.
    
  Was diese Männer geleistet haben, war absolut unglaublich. Sie legten 22,5 Kilometer mit einer riesigen Last in etwa neun Stunden zurück. Und das war erst der Anfang ihrer Reise.
    
  "Was trugen sie bei sich, Professor?", fragte Andrea.
    
  "Ich glaube, es war der wertvollste Schatz", sagte Harel.
    
  "Alles zu seiner Zeit, meine Lieben. Yirm əy áhu kehrte in die Stadt zurück und verbrachte die nächsten zwei Tage damit, ein ganz besonderes Manuskript auf einer noch besondereren Schriftrolle zu verfassen. Es war eine detaillierte Karte mit Anweisungen, wie man die verschiedenen Schätze bergen konnte, die aus dem Tempel geborgen worden waren ... aber er konnte die Aufgabe nicht allein bewältigen. Es war eine mündliche Karte, eingraviert in die Oberfläche einer fast drei Meter langen Kupferrolle."
    
  "Warum Kupfer?", fragte jemand von hinten.
    
  Anders als Papyrus oder Pergament ist Kupfer extrem haltbar. Es ist auch sehr schwer zu beschreiben. Fünf Personen brauchten eine Sitzung, um die Inschrift fertigzustellen, wobei sie sich teilweise abwechselten. Als sie fertig waren, teilte Jirmáhu das Dokument in zwei Teile. Den ersten Teil übergab er einem Boten mit der Anweisung, ihn in der nahe Jericho lebenden Gemeinde der Issenen sicher aufzubewahren. Den anderen Teil gab er seinem eigenen Sohn, einem der Kohanim, einem Priester wie er selbst. Wir kennen diesen großen Teil der Geschichte aus erster Hand, da Jirmáhu ihn vollständig in Kupferstich niederschrieb. Danach verlor sich seine Spur bis 1882.
    
  Der alte Mann hielt inne, um einen Schluck Wasser zu trinken. Für einen Moment ähnelte er nicht mehr einer faltigen, aufgeblasenen Marionette, sondern wirkte menschlicher.
    
  Meine Damen und Herren, Sie wissen nun mehr über diese Geschichte als die meisten Experten weltweit. Niemand hat bisher genau herausgefunden, wie das Manuskript verfasst wurde. Es erlangte jedoch große Berühmtheit, als 1952 ein Teil davon in einer Höhle in Palästina entdeckt wurde. Er gehörte zu den rund 85.000 Textfragmenten, die in Qumran gefunden wurden.
    
  "Ist das die berühmte Qumran-Kupferrolle?", fragte Dr. Harel.
    
  Der Archäologe schaltete den Bildschirm wieder ein, auf dem nun ein Bild der berühmten Schriftrolle zu sehen war: eine gebogene Platte aus dunkelgrünem Metall, bedeckt mit kaum lesbarer Schrift.
    
  "So nennt man das." Die Forscher waren sofort von der ungewöhnlichen Natur des Fundes beeindruckt, sowohl von der seltsamen Wahl des Schreibmaterials als auch von den Inschriften selbst - keine davon ließ sich entziffern. Es war von Anfang an klar, dass es sich um eine Schatzliste mit 64 Einträgen handelte. Die Einträge gaben Hinweise darauf, was und wo zu finden war. Zum Beispiel: "Graben Sie am Grund der Höhle, die 40 Schritte östlich des Turms von Achor liegt, einen Meter tief. Dort finden Sie sechs Goldbarren." Doch die Anweisungen waren vage, und die beschriebenen Mengen erschienen so unrealistisch - etwa 200 Tonnen Gold und Silber -, dass seriöse Forscher annahmen, es müsse sich um eine Art Mythos, einen Schwindel oder einen Scherz handeln.
    
  "Das scheint mir zu viel Aufwand für einen Witz", sagte Tommy Eichberg.
    
  "Genau! Ausgezeichnet, Herr Eichberg, ausgezeichnet, besonders für einen Fahrer", sagte Forrester, der scheinbar unfähig war, auch nur das geringste Kompliment ohne eine beigefügte Beleidigung auszusprechen. "Im Jahr 70 n. Chr. gab es keine Eisenwarenläden. Eine riesige Platte aus 99 Prozent reinem Kupfer muss sehr teuer gewesen sein. Niemand hätte ein Kunstwerk auf solch einer kostbaren Oberfläche geschaffen." Ein Hoffnungsschimmer. Laut der Schriftrolle von Qumran handelte es sich bei Punkt 64 um "einen Text ähnlich diesem, mit Anweisungen und einem Code zum Auffinden der beschriebenen Objekte".
    
  Einer der Soldaten hob die Hand.
    
  'Also, dieser alte Mann, dieser Ermiyatsko...'
    
  'Йирм əяху'.
    
  "Egal. Der alte Mann hat das Ding in zwei Hälften geschnitten, und jedes Stück enthielt den Schlüssel, um das andere zu finden."
    
  "Und sie mussten beide zusammen sein, um den Schatz zu finden. Ohne die zweite Schriftrolle gab es keine Hoffnung, das Rätsel zu lösen. Aber vor acht Monaten geschah etwas ..."
    
  "Ich bin sicher, Ihr Publikum würde eine kürzere Version bevorzugen, Doktor", sagte Pater Fowler mit einem Lächeln.
    
  Der alte Archäologe starrte Fowler einige Sekunden lang an. Andrea bemerkte, dass der Professor Mühe hatte, fortzufahren, und fragte sich, was zum Teufel zwischen den beiden Männern vorgefallen war.
    
  "Ja, natürlich. Nun, um es kurz zu machen: Die zweite Hälfte der Schriftrolle ist dank der Bemühungen des Vatikans endlich aufgetaucht. Sie wurde als heiliges Objekt vom Vater an den Sohn weitergegeben. Es war die Pflicht der Familie, sie bis zum richtigen Zeitpunkt sicher aufzubewahren. Sie versteckten sie in einer Kerze, aber schließlich verloren auch sie den Überblick über ihren Inhalt."
    
  "Das überrascht mich nicht. Es gab - wie viele? - siebzig, achtzig Generationen? Es ist ein Wunder, dass sie die Tradition, die Kerze zu beschützen, all die Zeit bewahrt haben", sagte jemand, der vor Andrea saß. Es war der Verwalter, Brian Hanley, dachte sie.
    
  "Wir Juden sind ein geduldiges Volk", sagte Koch Nuri Zayit. "Wir warten seit dreitausend Jahren auf den Messias."
    
  "Und ihr müsst noch dreitausend warten", sagte einer von Dekkers Soldaten. Lautes Gelächter und Beifall begleiteten den unappetitlichen Witz. Doch niemand sonst lachte. Anhand der Namen schloss Andrea, dass - mit Ausnahme der angeheuerten Wachen - fast alle Expeditionsteilnehmer jüdischer Abstammung waren. Sie spürte, wie die Spannung im Raum zunahm.
    
  "Machen wir"s", sagte Forrester und ignorierte die Schmährufe der Soldaten. "Ja, es war ein Wunder. Seht euch das an."
    
  Einer der Helfer brachte eine etwa einen Meter lange Holzkiste. Darin befand sich, hinter Glas geschützt, eine Kupferplatte mit jüdischen Symbolen. Alle, auch die Soldaten, starrten den Gegenstand an und begannen, ihn leise zu kommentieren.
    
  "Es sieht fast wie neu aus."
    
  "Ja, die Kupferrolle von Qumran muss älter sein. Sie ist nicht glänzend und in kleine Streifen geschnitten."
    
  "Die Qumran-Schriftrolle wirkt älter, weil sie der Luft ausgesetzt war", erklärte der Professor, "und sie wurde in Streifen geschnitten, weil die Forscher keinen anderen Weg fanden, sie zu öffnen und den Inhalt zu lesen. Die zweite Schriftrolle war durch eine Wachsschicht vor Oxidation geschützt. Deshalb ist der Text so klar wie am Tag seiner Entstehung. Unsere eigene Schatzkarte."
    
  'Du hast es also geschafft, es zu entschlüsseln?'
    
  "Nachdem wir die zweite Schriftrolle hatten, war es ein Kinderspiel, den Inhalt der ersten zu entschlüsseln. Schwieriger war es, die Entdeckung geheim zu halten. Bitte fragen Sie mich nicht nach den Einzelheiten des eigentlichen Vorgangs, denn ich bin nicht befugt, mehr preiszugeben, und außerdem würden Sie es sowieso nicht verstehen."
    
  "Also, wir begeben uns auf die Suche nach einem Goldschatz? Ist das nicht ein bisschen klischeehaft für so eine prätentiöse Expedition? Oder für jemanden, der Geld im Überfluss hat wie Herr Kain?", fragte Andrea.
    
  "Miss Otero, wir suchen nicht nach einem Goldschatz. Tatsächlich haben wir bereits etwas entdeckt."
    
  Der alte Archäologe gab einem seiner Assistenten ein Zeichen, der ein Stück schwarzen Filz auf dem Tisch ausbreitete und mit einiger Mühe den glänzenden Gegenstand darauf platzierte. Es war der größte Goldbarren, den Andrea je gesehen hatte: so groß wie ein Männerunterarm, aber grob geformt, vermutlich in einer jahrtausendealten Gießerei gegossen. Obwohl seine Oberfläche von kleinen Kratern, Unebenheiten und Unregelmäßigkeiten übersät war, war er wunderschön. Alle Blicke im Raum wurden von dem Objekt angezogen, und bewundernde Pfiffe ertönten.
    
  "Anhand von Hinweisen aus der zweiten Schriftrolle entdeckten wir eines der in der Kupferrolle von Qumran beschriebenen Verstecke. Dies geschah im März dieses Jahres irgendwo im Westjordanland. Dort befanden sich sechs Goldbarren wie dieser."
    
  'Wie viel kostet es?'
    
  "Etwa dreihunderttausend Dollar..."
    
  Die Pfiffe verwandelten sich in Ausrufe.
    
  "... aber glauben Sie mir, das ist nichts im Vergleich zu dem Wert dessen, wonach wir suchen: dem mächtigsten Objekt der Menschheitsgeschichte."
    
  Forrester gab ein Zeichen, und einer der Assistenten nahm den Block, ließ aber den schwarzen Filz zurück. Der Archäologe zog ein Blatt Millimeterpapier aus einem Ordner und legte es dort hin, wo der Goldbarren gelegen hatte. Alle beugten sich vor, gespannt darauf, was es war. Sie erkannten sofort das darauf eingezeichnete Objekt.
    
  Meine Damen und Herren, Sie sind die dreiundzwanzig Personen, die auserwählt wurden, die Bundeslade zurückzubringen.
    
    
  16
    
    
    
  An Bord des "Nilpferds"
    
  ROTES MEER
    
    
  Dienstag, 11. Juli 2007, 19:17 Uhr.
    
    
  Eine Welle des Staunens ging durch den Raum. Alle begannen aufgeregt zu reden und stellten dem Archäologen dann unzählige Fragen.
    
  'Wo ist die Bundeslade?'
    
  'Was ist da drin...?'
    
  "Wie können wir helfen...?"
    
  Andrea war von den Reaktionen ihrer Assistenten und auch von ihrer eigenen schockiert. Die Worte "Bundeslade" klangen magisch und unterstrichen die archäologische Bedeutung der Entdeckung eines über zweitausend Jahre alten Objekts.
    
  Nicht einmal das Interview mit Kain konnte das toppen. Russell hatte Recht. Wenn wir die Bundeslade finden, wird das die Sensation des Jahrhunderts sein. Der Beweis für Gottes Existenz...
    
  Ihr Atem ging schneller. Plötzlich hatte sie Hunderte von Fragen an Forrester, doch ihr wurde sofort klar, dass es sinnlos war, sie zu stellen. Der alte Mann hatte sie bis hierher gebracht, und nun würde er sie dort zurücklassen und sie nach mehr betteln lassen.
    
  Eine tolle Möglichkeit, uns einzubinden.
    
  Als wolle er Andreas Theorie bestätigen, blickte Forrester die Gruppe an, als hätte er den Kanarienvogel verschluckt. Er bedeutete ihnen mit einer Geste, still zu sein.
    
  "Das reicht für heute. Ich will euch nicht überfordern. Den Rest erzählen wir euch, wenn es soweit ist. Jetzt übergebe ich euch ..."
    
  "Eine letzte Frage, Professor", unterbrach Andrea. "Sie sagten, wir wären 23, aber ich habe nur 22 gezählt. Wer fehlt?"
    
  Forrester drehte sich um und beriet sich mit Russell, der nickte und ihm damit signalisierte, dass er fortfahren könne.
    
  "Nummer dreiundzwanzig der Expedition ist Herr Raymond Kane."
    
  Alle Gespräche verstummten.
    
  "Was zum Teufel soll das bedeuten?", fragte einer der Söldner.
    
  "Das bedeutet, der Chef bricht zu einer Expedition auf. Wie Sie alle wissen, ist er vor wenigen Stunden an Bord gegangen und wird mit uns reisen. Kommt Ihnen das nicht seltsam vor, Herr Torres?"
    
  "Jesus Christus, alle sagen, der alte Mann sei verrückt", erwiderte Torres. "Es ist schon schwer genug, die Vernünftigen zu verteidigen, aber die Verrückten ..."
    
  Torres schien aus Südamerika zu stammen. Er war klein, dünn, dunkelhäutig und sprach Englisch mit einem ausgeprägten lateinamerikanischen Akzent.
    
  "Torres", sagte eine Stimme hinter ihm.
    
  Der Soldat lehnte sich in seinem Stuhl zurück, drehte sich aber nicht um. Decker war offensichtlich fest entschlossen, sicherzustellen, dass sein Mann sich nicht wieder in fremde Angelegenheiten einmischte.
    
  Währenddessen setzte sich Forrester, und Jacob Russell sprach. Andrea bemerkte, dass seine weiße Jacke knitterfrei war.
    
  Guten Tag zusammen. Ich möchte Professor Cecil Forrester für seinen bewegenden Vortrag danken. Im Namen von Kayn Industries und mir selbst möchte ich Ihnen allen für Ihre Teilnahme danken. Ich habe nichts hinzuzufügen, außer zwei sehr wichtige Punkte. Erstens: Ab sofort ist jegliche Kommunikation mit der Außenwelt strengstens untersagt. Dies umfasst Mobiltelefone, E-Mails und mündliche Gespräche. Bis wir unsere Mission abgeschlossen haben, ist dies Ihr Universum. Sie werden mit der Zeit verstehen, warum diese Maßnahme notwendig ist, um sowohl den Erfolg dieser heiklen Mission als auch unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten.
    
  Es gab ein paar geflüsterte Beschwerden, aber sie waren halbherzig. Jeder wusste bereits, was Russell ihnen gesagt hatte, denn es war in dem umfangreichen Vertrag festgehalten, den jeder von ihnen unterzeichnet hatte.
    
  Der zweite Punkt ist weitaus beunruhigender. Ein Sicherheitsberater hat uns einen noch nicht bestätigten Bericht zukommen lassen, demzufolge eine islamistische Terrorgruppe von unserer Mission weiß und einen Anschlag plant.
    
  'Was...?'
    
  "...das muss ein Scherz sein..."
    
  '... gefährlich...'
    
  Cains Assistent hob die Hände, um alle zu beruhigen. Er war offensichtlich auf einen Fragenhagel vorbereitet.
    
  "Keine Panik. Ich möchte nur, dass ihr wachsam seid und keine unnötigen Risiken eingeht, geschweige denn irgendjemandem außerhalb dieser Gruppe von unserem endgültigen Ziel erzählt. Ich weiß nicht, wie es zu dem Leck kommen konnte, aber glaubt mir, wir werden es untersuchen und entsprechende Maßnahmen ergreifen."
    
  "Könnte das aus den Reihen der jordanischen Regierung stammen?", fragte Andrea. "Eine Gruppe wie unsere erregt zwangsläufig Aufmerksamkeit."
    
  "Für die jordanische Regierung sind wir eine kommerzielle Expedition, die vorbereitende Erkundungen für eine Phosphatmine im Gebiet Al-Mudawwara in Jordanien, nahe der saudischen Grenze, durchführt. Keiner von Ihnen wird den Zoll passieren müssen, also brauchen Sie sich keine Sorgen um Ihre Tarnung zu machen."
    
  "Ich mache mir keine Sorgen um meine Tarnung, ich mache mir Sorgen um die Terroristen", sagte Kira Larsen, eine der Assistentinnen von Professor Forrester.
    
  "Solange wir hier sind, um euch zu beschützen, braucht ihr euch keine Sorgen um sie zu machen", flirtete einer der Soldaten.
    
  "Der Bericht ist unbestätigt, es ist nur ein Gerücht. Und Gerüchte können einem nicht schaden", sagte Russell mit einem breiten Lächeln.
    
  Aber vielleicht gäbe es eine Bestätigung, dachte Andrea.
    
    
  Das Treffen endete wenige Minuten später. Russell, Decker, Forrester und einige andere gingen in ihre Kabinen. Zwei Wagen mit Sandwiches und Getränken, die ein Crewmitglied dort freundlicherweise bereitgestellt hatte, standen vor der Tür des Konferenzraums. Offenbar waren die Expeditionsteilnehmer bereits vom Rest der Crew isoliert worden.
    
  Die Anwesenden diskutierten angeregt die neuen Informationen und aßen dabei gierig. Andrea führte ein langes Gespräch mit Dr. Harel und Tommy Eichberg, während sie Roastbeef-Sandwiches und ein paar Biere trank.
    
  "Ich freue mich, dass dein Appetit zurückgekehrt ist, Andrea."
    
  "Danke, Doktor. Leider verlangen meine Lungen nach jeder Mahlzeit nach Nikotin."
    
  "Sie müssen an Deck rauchen", sagte Tommy Eichberg. "Das Rauchen ist im Inneren der Behemoth verboten. Wie Sie wissen ..."
    
  "Auf Befehl von Mr. Cain", riefen alle drei lachend im Chor.
    
  "Ja, ja, ich weiß. Keine Sorge. Ich bin in fünf Minuten wieder da. Ich will nur mal nachsehen, ob in diesem Wagen etwas Stärkeres als Bier ist."
    
    
  17
    
    
    
  AN BORD DES NIPPOT
    
  ROTES MEER
    
    
  Dienstag, 11. Juli 2006, 21:41 Uhr.
    
    
  Es war bereits dunkel an Deck. Andrea kam aus der Gangway und ging langsam zum Bug des Schiffes. Sie hätte sich in den Hintern beißen können, dass sie keinen Pullover anhatte. Die Temperatur war etwas gesunken, und ein kühler Wind fuhr ihr durchs Haar und ließ sie frösteln.
    
  Sie zog eine zerknitterte Packung Camel-Zigaretten aus der einen Hosentasche und ein rotes Feuerzeug aus der anderen. Es war nichts Besonderes, nur ein nachfüllbares mit Blumenmuster, und es hätte in einem Kaufhaus wahrscheinlich nicht mehr als sieben Euro gekostet, aber es war ihr erstes Geschenk von Eva.
    
  Wegen des Windes brauchte sie zehn Versuche, bis sie sich eine Zigarette anzünden konnte. Doch als es ihr endlich gelang, war es himmlisch. Seit sie an Bord der Behemoth war, hatte sie festgestellt, dass Rauchen praktisch unmöglich war, nicht etwa, weil sie es nicht versucht hätte, sondern wegen der Seekrankheit.
    
  Die junge Reporterin genoss das Geräusch des Bugs, der durchs Wasser glitt, und kramte in ihren Erinnerungen nach allem, was ihr über die Schriftrollen vom Toten Meer und die Kupferrolle von Qumran einfiel. Es gab nicht viel. Zum Glück versprachen Professor Forresters Assistenten ihr einen Schnellkurs, damit sie die Bedeutung der Entdeckung besser beschreiben konnte.
    
  Andrea konnte ihr Glück kaum fassen. Die Expedition verlief weit besser, als sie es sich vorgestellt hatte. Selbst wenn sie die Bundeslade nicht finden würden - und Andrea war sich sicher, dass sie es nie würden -, würde ihr Bericht über die zweite Kupferrolle und die Entdeckung eines Teils des Schatzes genügen, um einen Artikel an jede Zeitung der Welt zu verkaufen.
    
  Am klügsten wäre es, einen Agenten zu finden, der die ganze Geschichte vermarktet. Ich frage mich, ob es besser wäre, sie exklusiv an einen der großen Verlage wie National Geographic oder die New York Times zu verkaufen oder sie in mehreren kleineren Läden anzubieten. Mit so viel Geld könnte ich bestimmt meine Kreditkartenschulden tilgen, dachte Andrea.
    
  Sie nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und ging zum Geländer, um sie über Bord zu werfen. Vorsichtig ging sie, denn sie erinnerte sich an den Vorfall mit dem niedrigen Geländer an diesem Tag. Als sie die Hand hob, um die Zigarette wegzuwerfen, sah sie kurz das Gesicht von Dr. Harel vor sich, was sie daran erinnerte, dass Umweltverschmutzung falsch war.
    
  Wow, Andrea. Es gibt also doch Hoffnung, sogar für jemanden wie dich. Stell dir vor, du tust das Richtige, wenn dich niemand beobachtet, dachte sie, drückte ihre Zigarette an der Wand aus und steckte den Stummel in ihre Gesäßtasche.
    
  In diesem Moment spürte sie, wie jemand ihre Knöchel packte, und ihre Welt geriet aus den Fugen. Ihre Hände fuchtelten wild in der Luft herum und versuchten, etwas festzuhalten, aber vergeblich.
    
  Als sie stürzte, glaubte sie, eine dunkle Gestalt vom Geländer aus zu sehen, die sie beobachtete.
    
  Eine Sekunde später fiel ihr Körper ins Wasser.
    
    
  18
    
    
    
  ROTES MEER
    
  Dienstag, 11. Juli 2006, 21:43 Uhr.
    
    
  Das Erste, was Andrea spürte, war das kalte Wasser, das ihr in die Glieder drang. Sie strampelte wild um sich und versuchte, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Zwei Sekunden später begriff sie, dass sie die Orientierung verloren hatte. Ihre Lungen bekamen kaum noch Luft. Langsam atmete sie aus, um zu sehen, in welche Richtung die Blasen aufstiegen, doch in der völligen Dunkelheit war es sinnlos. Ihre Kräfte schwanden, und ihre Lungen rangen verzweifelt nach Luft. Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie Wasser einatmete. Sie biss die Zähne zusammen, schwor sich, den Mund nicht zu öffnen, und versuchte, klar zu denken.
    
  Verdammt. Das darf nicht wahr sein, nicht so. So darf es nicht enden.
    
  Sie bewegte erneut ihre Arme, in der Annahme, sie schwimme zur Oberfläche, als sie plötzlich etwas Mächtiges spürte, das sie zog.
    
  Plötzlich war ihr Gesicht wieder in der Luft, und sie keuchte auf. Jemand stützte ihre Schulter. Andrea versuchte, sich umzudrehen.
    
  "Ganz einfach! Atme langsam!", rief Pater Fowler ihr ins Ohr, bemüht, gegen das Dröhnen der Schiffsschrauben anzukommen. Andrea erschrak, als sie sah, wie die Wassermassen sie immer näher ans Heck des Schiffes zogen. "Hör mir zu! Dreh dich noch nicht um, sonst ertrinken wir beide. Entspann dich. Zieh deine Schuhe aus. Beweg deine Füße langsam. In fünfzehn Sekunden sind wir im ruhigen Wasser hinter der Kielwasserlinie. Dann lasse ich dich los. Schwimm so schnell du kannst!"
    
  Andrea streifte sich mit den Füßen die Schuhe ab und starrte dabei auf den aufgewühlten grauen Schaum, der sie in den Tod zu reißen drohte. Sie waren nur zwölf Meter von den Propellern entfernt. Sie unterdrückte den Drang, sich aus Fowlers Griff zu befreien und in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen. Ihre Ohren klingelten, und fünfzehn Sekunden fühlten sich wie eine Ewigkeit an.
    
  'Jetzt!', rief Fowler.
    
  Andrea spürte, wie der Sog nachließ. Sie schwamm von den Propellern weg, weg von ihrem höllischen Lärm. Fast zwei Minuten vergingen, als der Priester, der sie aufmerksam beobachtet hatte, ihren Arm packte.
    
  "Wir haben es geschafft."
    
  Die junge Reporterin wandte ihren Blick dem Schiff zu. Es war inzwischen recht weit entfernt, und sie konnte nur noch eine Seite davon sehen, die von mehreren Scheinwerfern beleuchtet wurde, die auf das Wasser gerichtet waren. Sie hatten ihre Jagd begonnen.
    
  "Verdammt", sagte Andrea und kämpfte darum, sich über Wasser zu halten. Fowler packte sie, bevor sie ganz unterging.
    
  Entspann dich. Lass mich dich unterstützen, so wie ich es schon einmal getan habe.
    
  "Verdammt", wiederholte Andrea und spuckte Salzwasser aus, während der Priester sie von hinten in der üblichen Rettungsposition stützte.
    
  Plötzlich blendete sie ein helles Licht. Die Suchscheinwerfer der Behemoth hatten sie entdeckt. Die Fregatte näherte sich und hielt neben ihnen Position, während die Matrosen Anweisungen riefen und vom Geländer aus deuteten. Zwei von ihnen warfen ihnen jeweils ein Paar Rettungswesten zu. Andrea war erschöpft und bis auf die Knochen durchgefroren, nachdem Adrenalin und Angst nachgelassen hatten. Die Matrosen warfen ihnen ein Seil zu, das Fowler sich unter den Achseln umwickelte und verknotete.
    
  "Wie zum Teufel ist es Ihnen gelungen, über Bord zu fallen?", fragte der Priester, als sie hochgezogen wurden.
    
  "Ich bin nicht gefallen, Vater. Ich wurde gestoßen."
    
    
  19
    
    
    
  ANDREA UND FOWLER
    
  "Vielen Dank. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das schaffen würde."
    
  In eine Decke gehüllt und wieder an Bord gebracht, zitterte Andrea noch immer. Fowler saß neben ihr und beobachtete sie besorgt. Die Matrosen verließen das Deck, wohl wissend, dass es verboten war, mit Expeditionsmitgliedern zu sprechen.
    
  "Sie haben keine Ahnung, wie viel Glück wir hatten. Die Propeller drehten sich sehr langsam. Eine Anderson-Drehung, wenn ich mich nicht irre."
    
  'Worüber redest du?'
    
  "Ich kam aus meiner Kabine, um frische Luft zu schnappen, und hörte dich bei deinem abendlichen Tauchgang. Also schnappte ich mir das nächste Schiffstelefon, rief ‚Mann über Bord, Backbord!" und tauchte hinterher. Das Schiff musste einen vollen Kreis fahren, eine sogenannte Anderson-Kurve, aber nach Backbord, nicht nach Steuerbord."
    
  'Weil...?'
    
  "Denn wenn die Kurve in die entgegengesetzte Richtung der Sturzrichtung erfolgt, werden die Propeller die Person in Hackfleisch verwandeln. Genau das wäre uns beinahe passiert."
    
  "Irgendwie war es nicht Teil meiner Pläne, Fischfutter zu werden."
    
  "Sind Sie sich sicher, was Sie mir vorhin gesagt haben?"
    
  "So sicher, wie ich den Namen meiner Mutter kenne."
    
  Hast du gesehen, wer dich geschubst hat?
    
  "Ich sah nur einen dunklen Schatten."
    
  "Wenn das, was Sie sagen, stimmt, dann war es auch kein Zufall, dass das Schiff nach Steuerbord statt nach Backbord abgedreht ist..."
    
  "Vielleicht haben sie dich falsch verstanden, Vater."
    
  Fowler zögerte einen Moment, bevor er antwortete.
    
  "Miss Otero, bitte teilen Sie niemandem Ihre Vermutungen mit. Sagen Sie auf Nachfrage einfach, Sie seien gestürzt. Sollte es stimmen, dass jemand an Bord versucht, Sie zu töten, offenbaren Sie es jetzt ..."
    
  "... Ich hätte den Bastard gewarnt."
    
  "Genau", sagte Fowler.
    
  "Keine Sorge, Vater. Diese Armani-Schuhe haben mich zweihundert Euro gekostet", sagte Andrea, ihre Lippen zitterten noch immer leicht. "Ich will den Mistkerl fassen, der sie im Roten Meer versenkt hat."
    
    
  20
    
    
    
  Wohnung von Tahir Ibn Faris
    
  AMMAN, Jordan
    
    
  Mittwoch, 12. Juli 2006, 1:32 Uhr.
    
    
  Tahir betrat im Dunkeln sein Haus und zitterte vor Angst. Aus dem Wohnzimmer rief ihm eine unbekannte Stimme zu.
    
  'Komm herein, Tahir.'
    
  Es kostete den Beamten all seinen Mut, den Flur zu überqueren und das kleine Wohnzimmer zu betreten. Er suchte nach dem Lichtschalter, doch dieser funktionierte nicht. Da spürte er, wie eine Hand seinen Arm packte und ihn verdrehte, sodass er in die Knie gezwungen wurde. Aus dem Schatten vor ihm drang eine Stimme.
    
  'Du hast gesündigt, Tahir.'
    
  "Nein. Nein, bitte, Sir. Ich habe immer nach Taqwa gelebt, ehrlich. Westler haben mich oft in Versuchung geführt, und ich bin nie nachgegeben. Das war mein einziger Fehler, Sir."
    
  "Du sagst also, du bist ehrlich?"
    
  'Ja, Sir. Ich schwöre bei Allah.'
    
  "Und dennoch habt ihr den Kafirun, den Ungläubigen, erlaubt, einen Teil unseres Landes zu besitzen."
    
  Derjenige, der ihm den Arm verdrehte, erhöhte den Druck, und Tahir stieß einen erstickten Schrei aus.
    
  'Schrei nicht, Tahir. Wenn du deine Familie liebst, schrei nicht.'
    
  Tahir hob die andere Hand an den Mund und biss fest in den Ärmel seiner Jacke. Der Druck nahm immer weiter zu.
    
  Es war ein furchtbares, trockenes Knistern zu hören.
    
  Tahir fiel zu Boden und weinte leise. Sein rechter Arm hing wie eine ausgestopfte Socke an seinem Körper.
    
  'Bravo, Tahir. Herzlichen Glückwunsch.'
    
  "Bitte, Sir. Ich habe Ihre Anweisungen befolgt. Niemand wird sich der Ausgrabungsstätte in den nächsten Wochen nähern."
    
  "Bist du dir da sicher?"
    
  'Ja, Sir. Da geht sowieso nie jemand hin.'
    
  'Und die Wüstenpolizei?'
    
  "Die nächste Straße ist nur eine Autobahn, etwa sechs Kilometer von hier entfernt. Die Polizei kommt nur zwei- oder dreimal im Jahr in diese Gegend. Wenn die Amerikaner ihr Lager aufschlagen, gehört es euch, das schwöre ich."
    
  'Gut gemacht, Tahir. Du hast gute Arbeit geleistet.'
    
  In diesem Moment schaltete jemand den Strom wieder ein, und das Licht im Wohnzimmer ging an. Tahir blickte vom Boden auf, und was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
    
  Seine Tochter Miesha und seine Frau Zaina lagen gefesselt und geknebelt auf dem Sofa. Doch das war nicht, was Tahir schockierte. Seine Familie hatte sich in demselben Zustand befunden, als er fünf Stunden zuvor aufgebrochen war, um den Forderungen der vermummten Männer nachzukommen.
    
  Was ihn mit Entsetzen erfüllte, war die Tatsache, dass die Männer keine Kapuzen mehr trugen.
    
  "Gern geschehen, Sir", sagte Tahir.
    
  Der Beamte kehrte in der Hoffnung zurück, dass alles gut gehen würde. Dass die Bestechung seiner amerikanischen Freunde nicht auffliegen und die Vermummten ihn und seine Familie in Ruhe lassen würden. Nun ist diese Hoffnung verflogen wie ein Tropfen Wasser in der Pfanne.
    
  Tahir vermied den Blick des Mannes, der zwischen seiner Frau und seiner Tochter saß; ihre Augen waren vom Weinen gerötet.
    
  'Bitte, Sir', wiederholte er.
    
  Der Mann hielt etwas in der Hand. Eine Pistole. Am Ende der Pistole befand sich eine leere Plastikflasche von Coca-Cola. Tahir wusste genau, was es war: ein primitiver, aber effektiver Schalldämpfer.
    
  Der Bürokrat konnte sein Zittern nicht unterdrücken.
    
  "Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Tahir", sagte der Mann und beugte sich zu ihm hinunter, um ihm ins Ohr zu flüstern. "Hat Allah nicht einen Platz im Paradies für ehrliche Menschen bereitet?"
    
  Es gab einen leichten Knall, wie ein Peitschenknall. Innerhalb weniger Minuten folgten zwei weitere Schüsse. Eine neue Flasche einzusetzen und sie mit Klebeband zu befestigen, geht schnell.
    
    
  21
    
    
    
  AN BORD DES NIPPOT
    
  Golf von Aqabah, Rotes Meer
    
    
  Mittwoch, 12. Juli 2006, 21:47 Uhr.
    
    
  Andrea erwachte in der Krankenstation des Schiffes, einem großen Raum mit ein paar Betten, mehreren Glasschränken und einem Schreibtisch. Der besorgte Dr. Harel hatte Andrea gezwungen, die Nacht dort zu verbringen. Sie musste wenig geschlafen haben, denn als Andrea die Augen öffnete, saß sie bereits am Schreibtisch, las ein Buch und trank Kaffee. Andrea gähnte laut.
    
  "Guten Morgen, Andrea. Du vermisst mein schönes Land."
    
  Andrea stand vom Bett auf und rieb sich die Augen. Das Einzige, was sie deutlich erkennen konnte, war die Kaffeemaschine auf dem Tisch. Der Arzt beobachtete sie amüsiert darüber, wie das Koffein seine Wirkung auf die Reporterin entfaltete.
    
  "Euer wunderschönes Land?", fragte Andrea, als sie wieder sprechen konnte. "Sind wir in Israel?"
    
  "Streng genommen befinden wir uns in jordanischen Gewässern. Kommen Sie an Deck, ich zeige es Ihnen."
    
  Als sie aus der Krankenstation kamen, sank Andrea in die Morgensonne. Es versprach ein heißer Tag zu werden. Sie atmete tief durch und streckte sich in ihrem Pyjama. Der Arzt lehnte sich an die Reling des Schiffes.
    
  "Pass auf, dass du nicht wieder über Bord fällst", neckte sie ihn.
    
  Andrea schauderte, als ihr bewusst wurde, wie viel Glück sie gehabt hatte, noch am Leben zu sein. Letzte Nacht, in all der Aufregung der Rettung und der Scham, lügen und behaupten zu müssen, sie sei über Bord gegangen, hatte sie gar keine Gelegenheit gehabt, Angst zu empfinden. Doch jetzt, im Tageslicht, schossen ihr das Geräusch der Schiffsschrauben und die Erinnerung an das kalte, dunkle Wasser wie ein wacher Albtraum durch den Kopf. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wie schön alles vom Schiff aus ausgesehen hatte.
    
  Die Behemoth steuerte langsam auf einige Anlegestellen zu, gezogen von einem Schlepper aus dem Hafen von Aqaba. Harel deutete auf den Bug des Schiffes.
    
  Das ist Aqaba in Jordanien. Und das ist Eilat in Israel. Schau dir an, wie die beiden Städte einander gegenüberliegen, wie Spiegelbilder.
    
  "Das ist toll. Aber das ist nicht alles ..."
    
  Harel errötete leicht und wandte den Blick ab.
    
  "Vom Wasser aus kann man das nicht wirklich erkennen", fuhr sie fort, "aber wenn wir geflogen wären, hätte man sehen können, wie der Golf die Küstenlinie umreißt. Aqaba liegt im Osten, Eilat im Westen."
    
  "Jetzt, wo Sie es erwähnen, warum sind wir nicht geflogen?"
    
  Denn offiziell handelt es sich hier nicht um eine archäologische Ausgrabung. Herr Cain möchte die Bundeslade bergen und in die Vereinigten Staaten bringen. Jordan würde dem unter keinen Umständen zustimmen. Unsere Tarnung lautet, dass wir nach Phosphaten suchen, und deshalb sind wir, wie andere Firmen auch, auf dem Seeweg angereist. Hunderte Tonnen Phosphat werden täglich von Aqaba aus in alle Welt verschifft. Wir sind ein kleines Expeditionsteam. Und wir transportieren unsere eigenen Fahrzeuge im Schiffsraum.
    
  Andrea nickte nachdenklich. Sie genoss die Ruhe der Küste. Ihr Blick schweifte nach Eilat. Ausflugsboote trieben auf dem Wasser nahe der Stadt, wie weiße Tauben um ein grünes Nest.
    
  "Ich war noch nie in Israel."
    
  "Du solltest mal hinfahren", sagte Harel und lächelte traurig. "Es ist ein wunderschönes Land. Wie ein Garten voller Früchte und Blumen, aus dem Blut und Sand der Wüste hervorgegangen."
    
  Die Reporterin beobachtete die Ärztin aufmerksam. Ihr lockiges Haar und ihr gebräunter Teint wirkten im Licht noch schöner, als ob etwaige kleine Unvollkommenheiten durch den Anblick ihrer Heimat gemildert würden.
    
  "Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen, Doc."
    
  Andrea zog eine zerknitterte Packung Camels aus ihrer Pyjamatasche und zündete sich eine Zigarette an.
    
  "Du hättest nicht mit ihnen in der Tasche einschlafen sollen."
    
  "Und ich sollte nicht rauchen, trinken oder mich für Expeditionen anmelden, die von Terroristen bedroht werden."
    
  "Offensichtlich haben wir mehr gemeinsam, als du denkst."
    
  Andrea starrte Harel an und versuchte zu verstehen, was sie meinte. Die Ärztin griff nach einer Zigarette in der Packung.
    
  'Wow, Doc. Sie haben keine Ahnung, wie glücklich mich das macht.'
    
  'Warum?'
    
  "Ich sehe gerne Ärzte, die rauchen. Das ist wie ein Riss in ihrer selbstgefälligen Rüstung."
    
  Harel lachte.
    
  "Ich mag dich. Deshalb stört es mich so, dich in dieser verdammten Situation zu sehen."
    
  "Wie ist die Lage?", fragte Andrea und zog eine Augenbraue hoch.
    
  "Ich spreche von dem gestrigen Anschlag auf Ihr Leben."
    
  Dem Reporter fror die Zigarette auf halbem Weg zu seinem Mund fest.
    
  'Wer hat dir das gesagt?'
    
  'Fowler'.
    
  Weiß es sonst noch jemand?
    
  "Nein, aber ich bin froh, dass er es mir gesagt hat."
    
  "Ich bringe ihn um", sagte Andrea und drückte ihre Zigarette am Geländer aus. "Du glaubst gar nicht, wie peinlich mir das war, als mich alle so angestarrt haben ..."
    
  "Ich weiß, er hat dir gesagt, du sollst es niemandem erzählen. Aber glaub mir, mein Fall ist etwas anders."
    
  "Schaut euch diese Idiotin an! Sie kann ja nicht mal das Gleichgewicht halten!"
    
  'Nun ja, das ist nicht ganz falsch. Erinnern Sie sich?'
    
  Andrea war peinlich berührt von der Erinnerung an den Vortag, als Harel sie kurz vor dem Erscheinen der BA-160 am Hemd packen musste.
    
  "Keine Sorge", fuhr Harel fort. "Fowler hat mir das nicht ohne Grund gesagt."
    
  "Nur er weiß es. Ich traue ihm nicht, Doc. Wir sind uns schon einmal begegnet ..."
    
  "Und dann hat er dir auch noch das Leben gerettet."
    
  'Ich sehe, Sie wurden darüber ebenfalls informiert. Wo wir gerade beim Thema sind: Wie zum Teufel hat er es geschafft, mich aus dem Wasser zu bekommen?'
    
  Fowlers Vater war Offizier bei der United States Air Force und gehörte einer Eliteeinheit der Spezialkräfte an, die auf Fallschirmrettung spezialisiert war.
    
  "Ich habe von ihnen gehört: Sie suchen nach abgeschossenen Piloten, nicht wahr?"
    
  Harel nickte.
    
  "Ich glaube, er mag dich, Andrea. Vielleicht erinnerst du ihn an jemanden."
    
  Andrea betrachtete Harel nachdenklich. Irgendetwas stimmte nicht, und sie war fest entschlossen, den Zusammenhang zu ergründen. Mehr denn je war Andrea überzeugt, dass ihr Bericht über ein verschollenes Relikt oder ihr Interview mit einem der seltsamsten und geheimnisvollsten Multimillionäre der Welt nur ein Teil des Ganzen waren. Und als ob das nicht schon genug wäre, war sie auch noch von einem fahrenden Schiff ins Meer gestürzt.
    
  "Ich krieg das einfach nicht hin", dachte der Reporter. "Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht, aber der Schlüssel müssen Fowler und Harel sein ... und wie viel sie mir erzählen wollen."
    
  "Du scheinst viel über ihn zu wissen."
    
  "Nun ja, Pater Fowler reist sehr gern."
    
  "Um es etwas genauer zu fassen, Doc. Die Welt ist groß."
    
  'Nicht das, in das er einzieht. Weißt du, dass er meinen Vater kannte?'
    
  "Er war ein außergewöhnlicher Mann", sagte Pater Fowler.
    
  Beide Frauen drehten sich um und sahen den Priester ein paar Schritte hinter sich stehen.
    
  "Seid ihr schon lange hier?", fragte Andrea. Eine dumme Frage, die nur zeigte, dass man jemandem etwas anvertraut hatte, was man eigentlich lieber für sich behalten wollte. Pater Fowler ignorierte sie. Er sah ernst aus.
    
  "Wir haben dringende Arbeit", sagte er.
    
    
  22
    
    
    
  NETCATCH-BÜROS
    
  SOMERSET AVENUE, WASHINGTON, D.C.
    
    
  Mittwoch, 12. Juli 2006, 1:59 Uhr.
    
    
  Ein CIA-Agent führte den schockierten Orville Watson durch den Empfangsbereich seines ausgebrannten Büros. Noch immer hing Rauch in der Luft, doch schlimmer war der Geruch von Ruß, Schmutz und verbrannten Leichen. Der Teppichboden war mindestens zentimeterhoch mit Schmutzwasser bedeckt.
    
  "Seien Sie vorsichtig, Mr. Watson. Wir haben den Strom abgestellt, um Kurzschlüsse zu vermeiden. Wir müssen uns mit Taschenlampen zurechtfinden."
    
  Mit den hellen Lichtkegeln ihrer Taschenlampen gingen Orville und der Agent zwischen den Schreibtischreihen hindurch. Der junge Mann traute seinen Augen nicht. Jedes Mal, wenn der Lichtstrahl auf einen umgestürzten Tisch, ein rußgeschwärztes Gesicht oder einen glimmenden Mülleimer fiel, hätte er am liebsten geweint. Das waren seine Angestellten. Das war sein Leben. Währenddessen erklärte der Agent - Orville glaubte, es sei derselbe, der ihn gleich nach der Landung angerufen hatte, war sich aber nicht sicher - jedes einzelne schreckliche Detail des Angriffs. Orville knirschte innerlich mit den Zähnen.
    
  "Bewaffnete Männer drangen durch den Haupteingang ein, erschossen den Verwaltungsleiter, kappten die Telefonleitungen und eröffneten dann das Feuer auf alle anderen. Unglücklicherweise befanden sich alle Ihre Angestellten an ihren Schreibtischen. Es waren siebzehn, stimmt das?"
    
  Orville nickte. Sein entsetzter Blick fiel auf Olgas Bernsteinkette. Sie arbeitete in der Buchhaltung. Er hatte ihr die Kette vor zwei Wochen zum Geburtstag geschenkt. Das Fackellicht verlieh ihr einen unheimlichen Glanz. In der Dunkelheit konnte er ihre versengten Hände, die sich nun zu Krallen krümmten, nicht einmal erkennen.
    
  Sie haben sie kaltblütig einen nach dem anderen umgebracht. Eure Leute hatten keine Chance zu entkommen. Der einzige Ausgang führte durch die Vordertür, und das Büro war... wie groß? Hundertfünfzig Quadratmeter? Es gab kein Versteck.
    
  Natürlich. Orville liebte offene Räume. Das gesamte Büro war ein einziger transparenter Raum aus Glas, Stahl und Wenge, einem dunklen afrikanischen Holz. Es gab keine Türen oder Kabinen, nur Licht.
    
  "Nachdem sie fertig waren, platzierten sie eine Bombe im Schrank am anderen Ende und eine weitere am Eingang. Selbstgebauter Sprengstoff; nichts besonders Starkes, aber genug, um alles in Brand zu setzen."
    
  Computerterminals. Millionen Dollar an Ausrüstung und Millionen unglaublich wertvoller Daten, über Jahre gesammelt - alles verloren. Letzten Monat hatte er seine Datensicherung auf Blu-ray-Discs umgestellt. Sie hatten fast zweihundert Discs verwendet, über 10 Terabyte an Daten, die sie in einem feuerfesten Schrank aufbewahrt hatten ... der nun offen und leer dastand. Wie um alles in der Welt sollten sie wissen, wo sie suchen mussten?
    
  "Sie zündeten die Bomben mit Handys. Wir glauben, dass die ganze Aktion nicht länger als drei, höchstens vier Minuten dauerte. Bis jemand die Polizei rief, waren sie längst verschwunden."
    
  Das Büro befand sich in einem einstöckigen Gebäude in einem Viertel weit außerhalb des Stadtzentrums, umgeben von kleinen Geschäften und einem Starbucks. Es war der perfekte Ort für die Operation - unauffällig, ohne Verdacht, ohne Zeugen.
    
  Die ersten eintreffenden Agenten sperrten das Gebiet ab und alarmierten die Feuerwehr. Sie hielten die Spione fern, bis unser Schadensbekämpfungsteam eintraf. Wir teilten allen mit, es habe eine Gasexplosion gegeben und eine Person sei ums Leben gekommen. Wir wollen nicht, dass irgendjemand erfährt, was heute hier passiert ist.
    
  Es hätte jede beliebige Gruppe sein können. Al-Qaida, die Al-Aqsa-Märtyrerbrigade, IBDA-C ... jede von ihnen hätte, sobald sie von Netcatchs wahren Absichten erfahren hätte, dessen Zerstörung zur Priorität erklärt. Denn Netcatch hatte ihre Schwachstelle offengelegt: ihre Kommunikation. Doch Orville vermutete, dass dieser Angriff tiefere, geheimnisvollere Wurzeln hatte: sein neuestes Projekt für Kayn Industries. Und einen Namen. Einen sehr, sehr gefährlichen Namen.
    
  Hakan.
    
  "Sie hatten großes Glück, auf Reisen zu sein, Mr. Watson. Jedenfalls brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sie werden unter den vollen Schutz der CIA gestellt."
    
  Als Orville dies hörte, sprach er zum ersten Mal, seit er das Büro betreten hatte.
    
  "Euer verdammter Schutz ist wie eine Fahrkarte erster Klasse ins Leichenschauhaus. Denk nicht mal dran, mir zu folgen. Ich werde für ein paar Monate verschwinden."
    
  "Das kann ich nicht zulassen, Sir", sagte der Agent, trat zurück und legte die Hand an seinen Holster. Mit der anderen Hand leuchtete er Orville mit der Taschenlampe auf die Brust. Orvilles buntes Hemd stach in dem ausgebrannten Büro wie ein Clown bei einer Wikingerbegräbnisstätte hervor.
    
  'Worüber redest du?'
    
  "Sir, die Leute aus Langley möchten mit Ihnen sprechen."
    
  "Ich hätte es wissen müssen. Sie sind bereit, mir Unsummen zu zahlen; bereit, das Andenken der hier gefallenen Männer und Frauen zu beleidigen, indem sie es wie einen verdammten Unfall aussehen lassen, nicht wie Mord durch die Feinde unseres Landes. Was sie nicht wollen, ist, den Informationsfluss zu unterbrechen, oder, Agent?", beharrte Orville. "Selbst wenn es bedeutet, mein Leben zu riskieren."
    
  "Ich weiß nichts davon, Sir. Mein Befehl lautet, Sie sicher nach Langley zu bringen. Bitte kooperieren Sie."
    
  Orville senkte den Kopf und holte tief Luft.
    
  "Super. Ich komme mit. Was kann ich denn sonst tun?"
    
  Der Agent lächelte sichtlich erleichtert und richtete die Taschenlampe von Orville weg.
    
  "Sie ahnen nicht, wie froh ich bin, das zu hören, Sir. Ich möchte Sie nicht in Handschellen abführen müssen. Wie dem auch sei -"
    
  Der Agent begriff zu spät, was geschah. Orville war mit seinem ganzen Gewicht auf ihn gefallen. Anders als der Agent hatte der junge Kalifornier keinerlei Nahkampfausbildung. Er war kein Dreifach-Schwarzgurt und kannte auch nicht die fünf verschiedenen Arten, einen Mann mit bloßen Händen zu töten. Das Brutalste, was Orville je in seinem Leben getan hatte, war, Zeit mit seiner PlayStation zu verbringen.
    
  Doch gegen 110 Kilo pure Verzweiflung und Wut, die einen gegen einen umgestürzten Tisch schleudern, ist man machtlos. Der Agent krachte auf den Tisch und zerbrach ihn in zwei Teile. Er drehte sich um und versuchte, nach seiner Pistole zu greifen, doch Orville war schneller. Er beugte sich über ihn und traf ihn mit seiner Taschenlampe ins Gesicht. Die Arme des Agenten erschlafften, und er stand wie angewurzelt da.
    
  Plötzlich von Angst ergriffen, schlug Orville die Hände vors Gesicht. Das war zu weit gegangen. Noch vor wenigen Stunden war er aus einem Privatjet gestiegen, Herr seines eigenen Schicksals. Jetzt hatte er einen CIA-Agenten angegriffen, ihn vielleicht sogar getötet.
    
  Ein kurzer Pulscheck am Hals des Agenten bestätigte ihm die Unschuld. Zum Glück!
    
  Okay, jetzt denk nach. Du musst hier weg. Such dir einen sicheren Ort. Und vor allem: Bleib ruhig. Lass dich nicht erwischen.
    
  Mit seiner massigen Statur, dem Pferdeschwanz und dem Hawaiihemd wäre Orville nicht weit gekommen. Er ging zum Fenster und schmiedete Pläne. Mehrere Feuerwehrleute tranken Wasser und bissen in Orangenscheiben in der Nähe der Tür. Genau das, was er brauchte. Ruhig ging er hinaus und steuerte auf den nahegelegenen Zaun zu, wo die Feuerwehrleute ihre Jacken und Helme zurückgelassen hatten - zu schwer in der Hitze. Die Männer unterhielten sich angeregt und standen mit dem Rücken zu ihren Jacken. In der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden, schnappte sich Orville eine der Jacken und seinen Helm, ging zurück ins Büro.
    
  'Hallo, Kumpel!'
    
  Orville drehte sich ängstlich um.
    
  'Sprichst du mit mir?'
    
  "Natürlich spreche ich mit Ihnen", sagte einer der Feuerwehrleute. "Wo wollen Sie denn mit meinem Mantel hin?"
    
  Antworte ihm, Mann. Lass dir was einfallen. Etwas Überzeugendes.
    
  "Wir müssen uns den Server ansehen, und der Agent meinte, wir müssten Vorsichtsmaßnahmen treffen."
    
  "Hat deine Mutter dir denn nie beigebracht, um Dinge zu bitten, bevor du sie dir ausleihst?"
    
  "Es tut mir wirklich leid. Könnten Sie mir bitte Ihren Mantel leihen?"
    
  Der Feuerwehrmann entspannte sich und lächelte.
    
  "Klar, Mann. Mal sehen, ob dir das passt", sagte er und öffnete seinen Mantel. Orville schlüpfte in die Ärmel. Der Feuerwehrmann knöpfte ihn zu und setzte seinen Helm auf. Orville rümpfte kurz die Nase wegen des Geruchs nach Schweiß und Ruß.
    
  "Es passt perfekt. Oder, Leute?"
    
  "Ohne die Sandalen sähe er aus wie ein richtiger Feuerwehrmann", sagte ein anderes Besatzungsmitglied und deutete auf Orvilles Füße. Alle lachten.
    
  "Vielen Dank. Vielen Dank. Aber erlauben Sie mir, Ihnen ein Glas Saft auszugeben, um meine schlechten Manieren wiedergutzumachen. Was sagen Sie dazu?"
    
  Sie zeigten ihm den Daumen nach oben und nickten, als Orville wegging. Hinter der Absperrung, die sie in 150 Metern Entfernung errichtet hatten, sah Orville ein paar Dutzend Schaulustige und einige Fernsehkameras - nur wenige -, die versuchten, die Szene einzufangen. Aus dieser Entfernung musste das Feuer wie eine harmlose Gasexplosion ausgesehen haben, also nahm er an, dass sie bald wieder weg sein würden. Er bezweifelte, dass der Vorfall mehr als eine Minute in den Abendnachrichten füllen würde; nicht einmal eine halbe Kolumne in der morgigen Washington Post. Im Moment hatte er ein dringenderes Anliegen: von dort wegzukommen.
    
  Alles wird gut sein, bis Sie einem anderen CIA-Agenten begegnen. Also lächeln Sie einfach. Lächeln Sie.
    
  "Hallo, Bill", sagte er und nickte dem Polizisten zu, der den abgesperrten Bereich bewachte, als ob er ihn schon sein ganzes Leben lang kennen würde.
    
  "Ich hole Saft für die Jungs."
    
  "Ich bin Mac."
    
  "Okay, Entschuldigung. Ich habe Sie mit jemand anderem verwechselt."
    
  'Du kommst aus Nummer 54, richtig?'
    
  'Nein, Acht. Ich bin Stewart', sagte Orville, deutete auf das Namensschild mit Klettverschluss auf seiner Brust und betete, dass der Polizist seine Schuhe nicht bemerken würde.
    
  "Geh nur", sagte der Mann und schob die Absperrung mit der Aufschrift "Überqueren verboten" ein Stück zurück, damit Orville passieren konnte. "Hol mir doch bitte was zu essen, Kumpel."
    
  "Kein Problem!", erwiderte Orville, ließ die rauchenden Trümmer seines Büros zurück und verschwand in der Menge.
    
    
  23
    
    
    
  AN BORD DES NIPPOT
    
  HAFEN VON AQABAH, JORDAN
    
    
  Mittwoch, 12. Juli 2006, 10:21 Uhr.
    
    
  "Ich werde es nicht tun", sagte Andrea. "Das ist doch verrückt."
    
  Fowler schüttelte den Kopf und suchte bei Harel Unterstützung. Es war bereits das dritte Mal, dass er versuchte, den Reporter zu überzeugen.
    
  "Hören Sie mir zu, meine Liebe", sagte der Arzt und hockte sich neben Andrea, die mit dem linken Arm an die Wand gelehnt auf dem Boden saß, die Beine eng an den Körper gezogen und mit der rechten Hand nervös rauchend. "Wie Pater Fowler Ihnen gestern Abend schon sagte, beweist Ihr Unfall, dass jemand die Expedition infiltriert hat. Warum sie es ausgerechnet auf Sie abgesehen haben, ist mir ein Rätsel ..."
    
  "Es mag dir entgehen, aber für mich ist es von größter Wichtigkeit", murmelte Andrea.
    
  "...aber was uns jetzt wichtig ist, ist, an dieselben Informationen zu gelangen, die Russell hat. Er wird sie ganz sicher nicht mit uns teilen. Und deshalb brauchen wir Ihre Hilfe, um diese Akten einzusehen."
    
  "Warum kann ich sie Russell nicht einfach stehlen?"
    
  "Zwei Gründe. Erstens, weil Russell und Cain in derselben Hütte schlafen, die ständig überwacht wird. Und zweitens, weil ihre Quartiere riesig sind, selbst wenn man es schaffen sollte, hineinzukommen, und Russell wahrscheinlich überall Papiere herumliegen hat. Er hat jede Menge Arbeit mitgebracht, um Cains Imperium weiterzuführen."
    
  "Okay, aber dieses Monster... ich habe gesehen, wie es mich angesehen hat. Ich will ihm nicht zu nahe kommen."
    
  "Herr Dekker kann alle Werke Schopenhauers auswendig rezitieren. Vielleicht gibt Ihnen das ja etwas Gesprächsstoff", sagte Fowler in einem seiner seltenen Versuche, humorvoll zu sein.
    
  "Vater, du hilfst nicht", schimpfte Harel mit ihm.
    
  'Wovon redet er, Doc?', fragte Andrea.
    
  "Decker zitiert Schopenhauer immer dann, wenn er sich aufregt. Er ist dafür berühmt."
    
  "Ich dachte, er sei berühmt dafür, Stacheldraht zum Frühstück zu essen. Können Sie sich vorstellen, was er mit mir machen würde, wenn er mich beim Herumschnüffeln in seiner Hütte erwischen würde? Ich bin weg!"
    
  "Andrea", sagte Harel und ergriff ihre Hand. "Von Anfang an waren Pater Fowler und ich besorgt darüber, dass du an dieser Expedition teilnimmst. Wir hatten gehofft, dich nach dem Anlegen zu einem Vorwand bewegen zu können, um zurückzutreten. Doch nun, da man uns den Zweck der Expedition mitgeteilt hat, wird niemand mehr gehen dürfen."
    
  Verdammt! Jetzt habe ich exklusiven Einblick in mein Leben. Ein Leben, von dem ich hoffe, dass es nicht zu kurz sein wird.
    
  "Sie sind da mit drin, ob Sie wollen oder nicht, Miss Otero", sagte Fowler. "Weder der Doktor noch ich dürfen uns Deckers Hütte nähern. Wir werden zu genau beobachtet. Aber Sie können. Es ist eine kleine Hütte, und er wird nicht viel darin haben. Wir sind zuversichtlich, dass sich in seinen Quartieren nur die Einsatzbesprechung befindet. Sie sollte schwarz sein und ein goldenes Logo auf dem Einband haben. Decker arbeitet für eine Sicherheitseinheit namens DX5."
    
  Andrea dachte einen Moment nach. So sehr sie Mogens Dekker auch fürchtete, die Tatsache, dass sich ein Mörder an Bord befand, würde nicht verschwinden, wenn sie einfach wegsah und weiter an ihrer Geschichte schrieb, in der Hoffnung, dass alles gut gehen würde. Sie musste pragmatisch sein, und die Zusammenarbeit mit Harel und Pater Fowler war keine schlechte Idee.
    
  Solange es meinem Zweck dient und sie nicht zwischen meine Kamera und die Arche geraten.
    
  "Na schön. Aber ich hoffe, Cro-Magnon zerstückelt mich nicht, sonst komme ich als Geist zurück und werde euch beide heimsuchen, verdammt noch mal!"
    
    
  Andrea steuerte auf die Mitte von Gang 7 zu. Der Plan war einfach: Harel fand Decker in der Nähe der Brücke und lenkte ihn mit Fragen zu Impfungen für seine Soldaten ab. Fowler sollte die Treppe zwischen dem ersten und zweiten Deck bewachen - Deckers Kabine befand sich im zweiten Deck. Unglaublicherweise war seine Tür unverschlossen.
    
  "Was für ein selbstgerechter Mistkerl", dachte Andrea.
    
  Die kleine, karge Hütte glich fast ihrer eigenen. Ein schmales, engmaschiges Bett im Militärstil.
    
  Genau wie mein Vater. Verdammte militaristische Arschlöcher.
    
  Ein Metallschrank, ein kleines Badezimmer und ein Schreibtisch mit einem Stapel schwarzer Ordner darauf.
    
  Bingo. Das war einfach.
    
  Sie griff nach ihnen, als eine sanfte Stimme ihr beinahe das Herz herausbrechen ließ.
    
  "Also, nun. Wem verdanke ich diese Ehre?"
    
    
  24
    
    
    
  An Bord des Hippopotamus
    
  Liegeplätze im Hafen von AQABAH, Jordanien
    
    
  Mittwoch, 12. Juli 2006, 11:32 Uhr.
    
    
  Andrea bemühte sich, nicht zu schreien. Stattdessen drehte sie sich mit einem Lächeln im Gesicht um.
    
  "Guten Tag, Mr. Decker. Oder ist es Colonel Decker? Ich habe Sie gesucht."
    
  Der Knecht war so groß und stand so nah bei Andrea, dass sie den Kopf zurückneigen musste, um nicht mit seinem Hals zu sprechen.
    
  "Herr Decker ist wohlauf. Brauchtest du etwas, Andrea?"
    
  "Mach dir eine Ausrede ein, und zwar eine gute", dachte Andrea und lächelte breit.
    
  "Ich bin gekommen, um mich dafür zu entschuldigen, dass ich gestern Nachmittag erschienen bin, als Sie Herrn Cain gerade aus seinem Flugzeug verabschiedeten."
    
  Decker gab nur ein Murren von sich. Der Grobian versperrte den Weg zur kleinen Hütte, so nah, dass Andrea die rötliche Narbe in seinem Gesicht, sein kastanienbraunes Haar, seine blauen Augen und den Zweitagebart deutlicher erkennen konnte, als ihr lieb war. Der Geruch seines Parfums war überwältigend.
    
  Ich kann es nicht fassen, er benutzt Armani. Literweise.
    
  'Na, dann sag doch etwas.'
    
  'Du sagst also etwas, Andrea. Oder bist du nicht gekommen, um dich zu entschuldigen?'
    
  Andrea erinnerte sich plötzlich an das Titelbild von National Geographic, auf dem eine Kobra ein Meerschweinchen ansah, das sie schon einmal gesehen hatte.
    
  'Es tut mir Leid'.
    
  "Kein Problem. Zum Glück hat dein Freund Fowler die Situation gerettet. Aber du musst vorsichtig sein. Fast all unser Leid rührt von unseren Beziehungen zu anderen Menschen her."
    
  Decker machte einen Schritt nach vorn. Andrea wich zurück.
    
  "Das ist sehr tiefgründig. Schopenhauer?"
    
  'Ah, Sie kennen die Klassiker. Oder nehmen Sie Unterricht auf dem Schiff?'
    
  "Ich bin immer Autodidakt gewesen."
    
  "Ein großartiger Lehrer sagte einmal: ‚Das Gesicht eines Menschen verrät meist mehr und interessantere Dinge als sein Mund." Und dein Gesicht sieht schuldbewusst aus."
    
  Andrea warf einen verstohlenen Blick auf die Akten, bereute es aber sofort. Sie musste jeden Verdacht vermeiden, selbst wenn es zu spät war.
    
  Der große Lehrer sagte auch: "Jeder Mensch verwechselt die Grenzen seines eigenen Sichtfelds mit den Grenzen der Welt."
    
  Decker zeigte seine Zähne und lächelte zufrieden.
    
  "Das stimmt. Ich denke, du solltest dich besser fertig machen - wir gehen in etwa einer Stunde an Land."
    
  'Ja, natürlich. Entschuldigen Sie', sagte Andrea und versuchte, an ihm vorbeizugehen.
    
  Zuerst rührte sich Decker nicht, doch schließlich gab er die Mauer aus seinem Körper auf und ermöglichte es dem Reporter, durch den Spalt zwischen dem Tisch und ihm zu schlüpfen.
    
  Andrea wird das Folgende immer als ihre List in Erinnerung behalten, als einen genialen Trick, um die benötigten Informationen direkt vor der Nase des Südafrikaners zu erhalten. Die Realität war jedoch weitaus prosaischer.
    
  Sie stolperte.
    
  Das linke Bein der jungen Frau verfing sich in Deckers linkem Fuß, der sich keinen Zentimeter bewegte. Andrea verlor das Gleichgewicht und stürzte nach vorn, wobei sie sich mit den Händen am Tisch abstützte, um nicht mit dem Gesicht gegen die Kante zu schlagen. Der Inhalt der Ordner ergoss sich auf den Boden.
    
  Andrea blickte schockiert zu Boden und dann zu Decker, der sie anstarrte, während ihm Rauch aus der Nase quoll.
    
  'Hoppla'.
    
    
  "...also stammelte ich eine Entschuldigung und rannte hinaus. Du hättest sehen sollen, wie er mich ansah. Ich werde es nie vergessen."
    
  "Es tut mir leid, dass ich ihn nicht aufhalten konnte", sagte Pater Fowler kopfschüttelnd. "Er muss durch eine Wartungsluke von der Brücke heruntergekommen sein."
    
  Die drei befanden sich in der Krankenstation. Andrea saß auf dem Bett, Fowler und Harel blickten sie besorgt an.
    
  "Ich habe ihn gar nicht hereinkommen hören. Es ist unglaublich, dass sich jemand von seiner Statur so leise bewegen kann. Und all die Mühe umsonst. Nun gut, danke für das Schopenhauer-Zitat, Pater." Einen Moment lang war er sprachlos.
    
  "Gern geschehen. Er ist ein ziemlich langweiliger Philosoph. Es war schwierig, einen passenden Aphorismus zu finden."
    
  "Andrea, erinnerst du dich an irgendetwas, was du gesehen hast, als die Ordner zu Boden fielen?", unterbrach Harel sie.
    
  Andrea schloss die Augen und konzentrierte sich.
    
  "Da waren Fotos von der Wüste, Pläne für etwas, das wie Häuser aussah... Ich weiß nicht. Alles war ein einziges Durcheinander, und überall lagen Notizen herum. Der einzige Ordner, der anders aussah, war gelb mit einem roten Logo."
    
  Wie sah das Logo aus?
    
  'Was würde das schon ändern?'
    
  "Sie würden staunen, wie viele Kriege wegen Kleinigkeiten gewonnen werden."
    
  Andrea konzentrierte sich wieder. Sie hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis, aber sie hatte die verstreuten Laken nur wenige Sekunden lang überflogen und stand unter Schock. Sie presste die Finger auf ihren Nasenrücken, kniff die Augen zusammen und stieß seltsame, leise Laute aus. Gerade als sie dachte, sie könne sich nicht erinnern, tauchte ein Bild vor ihrem inneren Auge auf.
    
  "Es war ein roter Vogel. Eine Eule, wegen der Augen. Seine Flügel waren ausgebreitet."
    
  Fowler lächelte.
    
  "Das ist ungewöhnlich. Das könnte helfen."
    
  Der Priester öffnete seine Aktentasche und holte ein Handy heraus. Er zog die dicke Antenne heraus und begann, es einzuschalten, während die beiden Frauen ihn staunend beobachteten.
    
  "Ich dachte, jeglicher Kontakt mit der Außenwelt sei verboten", sagte Andrea.
    
  "Das stimmt", sagte Harel. "Wenn er erwischt wird, gerät er in ernsthafte Schwierigkeiten."
    
  Fowler starrte konzentriert auf den Bildschirm und wartete auf die Nachrichtenmeldung. Es handelte sich um ein Globalstar-Satellitentelefon; es nutzte keine herkömmlichen Signale, sondern war direkt mit einem Netzwerk von Kommunikationssatelliten verbunden, dessen Reichweite etwa 99 Prozent der Erdoberfläche abdeckte.
    
  "Deshalb ist es wichtig, dass wir heute etwas überprüfen, Miss Otero", sagte der Priester und wählte eine Nummer aus dem Gedächtnis. "Wir befinden uns derzeit in der Nähe einer Großstadt, daher wird das Signal des Schiffes inmitten all der anderen aus Aqaba untergehen. Sobald wir die Ausgrabungsstätte erreichen, wird die Benutzung eines Telefons äußerst riskant sein."
    
  'Aber was...'
    
  Fowler unterbrach Andrea mit einem erhobenen Finger. Die Herausforderung wurde angenommen.
    
  'Albert, ich brauche einen Gefallen.'
    
    
  25
    
    
    
  IRGENDWO IN FAIRFAX COUNTY, VIRGINIA
    
  Mittwoch, 12. Juli 2006, 5:16 Uhr.
    
    
  Der junge Priester sprang halb verschlafen aus dem Bett. Sofort erkannte er, wer anrief. Dieses Handy klingelte nur in Notfällen. Es hatte einen anderen Klingelton als seine anderen Handys, und nur eine Person kannte die Nummer. Die Person, für die Pater Albert ohne zu zögern sein Leben gegeben hätte.
    
  Natürlich war Pater Albert nicht immer Pater Albert. Vor zwölf Jahren, als er vierzehn war, hieß er FrodoPoison und war Amerikas berüchtigtster Cyberkrimineller.
    
  Der junge Al war ein einsamer Junge. Seine Eltern arbeiteten beide und waren so mit ihren Karrieren beschäftigt, dass sie ihrem dünnen, blonden Sohn kaum Aufmerksamkeit schenken konnten, obwohl er so zerbrechlich war, dass sie die Fenster geschlossen halten mussten, damit ihn kein Luftzug fortwehte. Doch Albert brauchte keinen Luftzug, um durch den Cyberspace zu fliegen.
    
  "Sein Talent lässt sich nicht erklären", sagte der zuständige FBI-Agent nach seiner Verhaftung. "Er hatte keine Ausbildung. Wenn ein Kind auf einen Computer schaut, sieht es kein Gerät aus Kupfer, Silizium und Plastik. Es sieht einfach nur Türen."
    
  Beginnen wir damit, dass Albert etliche dieser Türen nur zum Spaß öffnete. Darunter befanden sich die sicheren virtuellen Tresore der Chase Manhattan Bank, der Mitsubishi Tokyo Financial Group und der BNP Paribas, der Banque Nationale de Paris. In den drei Wochen seiner kurzen kriminellen Karriere stahl er 893 Millionen Dollar, indem er sich in Bankprogramme hackte und das Geld als Kreditgebühren an eine nicht existierende Zwischenbank namens Albert M. Bank auf den Cayman Islands umleitete. Diese Bank hatte nur einen einzigen Kunden. Zugegeben, eine Bank nach sich selbst zu benennen, war nicht gerade die klügste Idee, aber Albert war ja noch ein Teenager. Er merkte seinen Fehler, als zwei SEK-Teams während des Abendessens in das Haus seiner Eltern stürmten, den Wohnzimmerteppich ruinierten und ihm auf den Hintern traten.
    
  Albert hätte nie erfahren können, was in einer Gefängniszelle vor sich ging - ein Beweis für das Sprichwort: Je mehr man stiehlt, desto besser wird man behandelt. Doch während er im Verhörraum des FBI in Handschellen saß, kreisten die wenigen Informationen, die er sich durchs Fernsehen über das amerikanische Gefängnissystem angeeignet hatte, weiterhin in seinem Kopf. Albert hatte eine vage Vorstellung davon, dass das Gefängnis ein Ort war, an dem man verrotten und qualvoll leiden konnte. Und obwohl er sich nicht sicher war, was Letzteres bedeutete, ahnte er, dass es weh tun würde.
    
  Die FBI-Agenten betrachteten den verletzlichen, gebrochenen Jungen und schwitzten unbehaglich. Dieser Junge hatte viele Menschen schockiert. Ihn aufzuspüren, war unglaublich schwierig, und ohne seinen Fehler in der Kindheit hätte er weiterhin Großbanken ausgenommen. Die Firmenbanker hatten natürlich kein Interesse daran, dass der Fall vor Gericht landete und die Öffentlichkeit von den Geschehnissen erfuhr. Solche Vorfälle verunsicherten Investoren stets.
    
  "Was machen Sie mit einer vierzehn Jahre alten Atombombe?", fragte einer der Agenten.
    
  "Bring ihm bei, nicht zu explodieren", erwiderte der andere.
    
  Deshalb übergaben sie den Fall an die CIA, die ein so ungeschliffenes Talent wie seines nutzen konnte. Um mit dem Jungen zu sprechen, reaktivierten sie einen Agenten, der 1994 innerhalb der Firma in Ungnade gefallen war: einen erfahrenen Luftwaffenpfarrer mit psychologischem Hintergrund.
    
  Als der verschlafene Fowler eines Morgens früh in den Verhörraum kam und Albert sagte, er habe die Wahl: entweder Zeit hinter Gittern verbringen oder sechs Stunden pro Woche für die Regierung arbeiten, war der Junge so glücklich, dass er in Tränen ausbrach.
    
  Die Aufgabe, sich um den hochbegabten Jungen zu kümmern, war Fowler eigentlich als Strafe auferlegt worden, doch für ihn war es ein Geschenk. Im Laufe der Zeit entwickelte sich zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft, die auf gegenseitiger Bewunderung beruhte und Albert schließlich zum Übertritt zum katholischen Glauben und ins Priesterseminar führte. Nach seiner Priesterweihe arbeitete Albert weiterhin gelegentlich mit der CIA zusammen, allerdings - wie Fowler - im Auftrag der Heiligen Allianz, dem Geheimdienst des Vatikans. Von Anfang an war Albert es gewohnt, mitten in der Nacht Anrufe von Fowler zu erhalten, auch als eine Art Wiedergutmachung für jene Nacht im Jahr 1994, als sie sich zum ersten Mal begegneten.
    
    
  'Hallo, Anthony.'
    
  'Albert, ich brauche einen Gefallen.'
    
  Rufen Sie jemals zu Ihrer üblichen Zeit an?
    
  'Darum wacht, denn ihr wisst nicht, welche Stunde es ist...'
    
  "Geh mir nicht auf die Nerven, Anthony", sagte der junge Priester und ging zum Kühlschrank. "Ich bin müde, also sprich schnell. Bist du schon in Jordanien?"
    
  "Wussten Sie schon von dem Sicherheitsdienst, dessen Logo eine rote Eule mit ausgebreiteten Flügeln zeigt?"
    
  Albert schenkte sich ein Glas kalte Milch ein und ging zurück ins Schlafzimmer.
    
  "Das ist doch nicht dein Ernst? Das ist das Netcatch-Logo. Diese Leute waren die neuen Gurus der Firma. Sie haben einen Großteil der Geheimdienstaufträge der CIA für die Abteilung für Islamischen Terrorismus an Land gezogen. Außerdem waren sie als Berater für mehrere private amerikanische Firmen tätig."
    
  "Warum sprichst du über sie in der Vergangenheitsform, Albert?"
    
  Das Unternehmen veröffentlichte vor wenigen Stunden eine interne Mitteilung. Gestern sprengte eine Terrorgruppe die Büros von Netcatch in Washington in die Luft und tötete alle Mitarbeiter. Die Medien wissen nichts davon. Sie schieben die Schuld auf eine Gasexplosion. Das Unternehmen wurde für seine zahlreichen Anti-Terror-Einsätze im Auftrag privater Firmen stark kritisiert. Solche Aufträge würden es angreifbar machen.
    
  Gibt es Überlebende?
    
  "Nur einer, ein gewisser Orville Watson, der Geschäftsführer und Eigentümer. Nach dem Anschlag sagte Watson den Agenten, er brauche keinen Schutz von der CIA, und floh. Die Führungsriege in Langley ist stinksauer auf den Idioten, der ihn hat entkommen lassen. Watson zu finden und ihn in Schutzhaft zu nehmen, hat höchste Priorität."
    
  Fowler schwieg einen Moment. Albert, der die langen Pausen seines Freundes gewohnt war, wartete.
    
  "Hör zu, Albert", fuhr Fowler fort, "wir stecken in der Klemme, und Watson weiß etwas. Du musst ihn finden, bevor es die CIA tut. Sein Leben ist in Gefahr. Und was noch schlimmer ist, unseres auch."
    
    
  26
    
    
    
  Auf dem Weg zu den Ausgrabungen
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Mittwoch, 12. Juli 2006, 16:15 Uhr.
    
    
  Es wäre übertrieben, den schmalen, festen Bodenstreifen, über den der Expeditionskonvoi fuhr, als Straße zu bezeichnen. Von einer der Klippen aus, die die Wüstenlandschaft dominierten, müssen die acht Fahrzeuge wie staubige Anomalien gewirkt haben. Die Fahrt von Aqaba zur Ausgrabungsstätte betrug etwas über 160 Kilometer, doch aufgrund des unebenen Geländes und des von jedem nachfolgenden Fahrzeug aufgewirbelten Staubs und Sandes benötigte der Konvoi fünf Stunden, da die Sicht für die nachfolgenden Fahrer gleich null war.
    
  An der Spitze des Konvois fuhren zwei Hummer H3 Geländewagen, die jeweils vier Passagiere beförderten. Die weiß lackierten Fahrzeuge mit dem sichtbaren roten Kayn Industries-Logo auf den Türen gehörten zu einer limitierten Serie, die speziell für den Einsatz unter härtesten Bedingungen entwickelt worden war.
    
  "Das ist ja ein verdammt geiles Teil", sagte Tommy Eichberg, der den zweiten H3 fuhr, zu der gelangweilten Andrea. "Ich würde ihn nicht als LKW bezeichnen. Das ist ein Panzer. Der kann eine 38 Zentimeter hohe Mauer hochfahren oder eine 60-Grad-Steigung bewältigen."
    
  "Ich bin sicher, es ist mehr wert als meine Wohnung", sagte die Reporterin. Wegen des Staubs konnte sie keine Landschaftsfotos machen und beschränkte sich daher auf ein paar Schnappschüsse von Stowe Erling und David Pappas, die hinter ihr saßen.
    
  "Fast dreihunderttausend Euro. Solange dieser Wagen genug Benzin hat, kann er alles schaffen."
    
  "Deshalb haben wir ja die Tanker mitgebracht, richtig?", sagte David.
    
  Er war ein junger Mann mit olivfarbener Haut, einer leicht flachen Nase und einer schmalen Stirn. Wann immer er überrascht die Augen aufriss - was er recht häufig tat -, reichten seine Augenbrauen fast bis zum Haaransatz. Andrea mochte ihn, im Gegensatz zu Stowe, der, obwohl groß und attraktiv, mit einem ordentlichen Pferdeschwanz, sich benahm wie eine Figur aus einem Selbsthilfebuch.
    
  "Natürlich, David", antwortete Stowe. "Man sollte keine Fragen stellen, deren Antwort man bereits kennt. Selbstbewusstsein, nicht vergessen? Das ist der Schlüssel."
    
  "Du bist sehr selbstsicher, wenn der Professor nicht da ist, Stowe", sagte David, und man hörte ihm die leichte Kränkung an. "So durchsetzungsstark wirktest du heute Morgen nicht, als er deine Noten korrigierte."
    
  Stowe hob das Kinn und deutete Andrea mit einer ungläubigen Geste an, dass sie ihm nicht glauben könne. Sie ignorierte ihn und war damit beschäftigt, die Speicherkarten in ihrer Kamera auszutauschen. Jede 4-GB-Karte bot Platz für 600 hochauflösende Fotos. Sobald eine Karte voll war, übertrug Andrea die Bilder auf eine spezielle tragbare Festplatte, die 12.000 Fotos speichern konnte und über einen 7-Zoll-LCD-Bildschirm zur Vorschau verfügte. Sie hätte lieber ihren Laptop mitgenommen, aber nur Forresters Team durfte seinen auf die Expedition mitnehmen.
    
  'Wie viel Treibstoff haben wir noch, Tommy?', fragte Andrea und wandte sich an den Fahrer.
    
  Eichberg strich sich nachdenklich über den Schnurrbart. Andrea amüsierte sich darüber, wie langsam er sprach und dass fast jeder zweite Satz mit einem langen "S-h-e-l-l-l-l-l" begann.
    
  "Die beiden Lastwagen hinter uns transportieren Nachschub. Russische Kamaz, Militärqualität. Robustes Zeug. Die Russen haben sie in Afghanistan getestet. Nun ja ... danach kommen die Tankwagen. Der mit Wasser fasst 10.500 Gallonen. Der mit Benzin ist etwas kleiner und fasst etwas über 9.000 Gallonen."
    
  "Das ist eine Menge Treibstoff."
    
  "Nun ja, wir werden ein paar Wochen hier sein und wir brauchen Strom."
    
  "Wir können jederzeit zum Schiff zurückkehren. Wissen Sie ... um weitere Vorräte zu schicken."
    
  "Nun, das wird nicht passieren. Die Befehle lauten: Sobald wir im Lager sind, ist es uns verboten, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Absolut kein Kontakt zur Außenwelt."
    
  "Was ist, wenn ein Notfall eintritt?", fragte Andrea nervös.
    
  "Wir sind ziemlich autark. Wir hätten mit dem, was wir mitgebracht haben, monatelang überleben können, aber bei der Planung wurde an alles gedacht. Ich weiß das, weil ich als offizieller Fahrer und Mechaniker für die Beladung aller Fahrzeuge verantwortlich war. Dr. Harel hat dort ein richtiges Krankenhaus. Und falls es doch etwas Ernsteres als eine Knöchelverstauchung sein sollte, sind wir nur 72 Kilometer von der nächsten Stadt, Al-Mudawwara, entfernt."
    
  "Das ist eine Erleichterung. Wie viele Menschen leben dort? Zwölf?"
    
  'Hat man Ihnen diese Einstellung im Journalismusunterricht beigebracht?', warf Stowe von der Rückbank ein.
    
  "Ja, das nennt man Sarkasmus 101."
    
  "Ich wette, das war dein bestes Thema."
    
  "Klugscheißer. Hoffentlich kriegst du einen Schlaganfall beim Graben. Mal sehen, was du dann davon hältst, mitten in der jordanischen Wüste krank zu werden", dachte Andrea, die in der Schule nie gute Noten hatte. Beleidigt schwieg sie eine Weile würdevoll.
    
    
  "Willkommen in South Jordan, meine Freunde", sagte Tommy fröhlich. "Im Haus der Simuns. Einwohnerzahl: null."
    
  'Was ist ein Simun, Tommy?', fragte Andrea.
    
  "Ein gigantischer Sandsturm. Man muss es gesehen haben, um es zu glauben. Ja, wir sind fast da."
    
  Der H3 bremste ab und am Straßenrand begannen sich Lastwagen aufzureihen.
    
  "Ich glaube, das ist die Abzweigung", sagte Tommy und deutete auf das Navigationsgerät auf dem Armaturenbrett. "Wir haben nur noch etwa drei Kilometer vor uns, aber es wird eine Weile dauern, bis wir diese Strecke zurückgelegt haben. Lkw werden es in diesen Dünen schwer haben."
    
  Als sich der Staub legte, entdeckte Andrea eine riesige Düne aus rosafarbenem Sand. Dahinter lag der Talon Canyon, der Ort, an dem laut Forrester die Bundeslade über zweitausend Jahre lang versteckt gewesen war. Kleine Wirbelwinde jagten den Dünenhang hinab und lockten Andrea mit sich.
    
  "Meinst du, ich könnte den Rest des Weges zu Fuß gehen?" Ich würde gern ein paar Fotos von der Expedition machen, wenn sie ankommt. Es sieht so aus, als wäre ich vor den Lastwagen da.
    
  Tommy sah sie besorgt an. "Nun, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Den Hügel hochzufahren wird schwierig. Im LKW ist es steil. Draußen sind es 40 Grad."
    
  "Ich werde vorsichtig sein. Wir werden sowieso die ganze Zeit Augenkontakt halten. Mir wird nichts passieren."
    
  "Ich glaube, das sollten Sie auch nicht, Frau Otero", sagte David Pappas.
    
  "Ach komm schon, Eichberg. Lass sie gehen. Sie ist ein erwachsenes Mädchen", sagte Stowe, mehr aus Vergnügen daran, Pappas zu provozieren, als um Andrea zu unterstützen.
    
  "Ich muss mich mit Herrn Russell beraten."
    
  "Dann mach nur."
    
  Wider besseres Wissen griff Tommy nach dem Funkgerät.
    
    
  Zwanzig Minuten später bereute Andrea ihre Entscheidung. Bevor sie den Dünengipfel erklimmen konnte, musste sie etwa 25 Meter von der Straße absteigen und dann weitere 760 Meter mühsam erklimmen, die letzten 15 davon mit einer Steigung von 25 Grad. Der Dünengipfel schien trügerisch nah, der Sand trügerisch glatt.
    
  Andrea hatte einen Rucksack mit einer großen Wasserflasche dabei. Noch bevor sie die Dünenspitze erreichte, trank sie den letzten Tropfen aus. Trotz Hut schmerzte ihr der Kopf, und Nase und Hals brannten. Sie trug nur ein kurzärmeliges Shirt, Shorts und Stiefel, und obwohl sie sich vor dem Aussteigen aus dem Hummer mit Sonnencreme mit hohem Lichtschutzfaktor eingecremt hatte, begann die Haut an ihren Armen zu brennen.
    
  Noch weniger als eine halbe Stunde, dann bin ich bereit, die Verbrennungen in Kauf zu nehmen. Hoffentlich passiert nichts mit den Lastwagen, sonst müssen wir zu Fuß zurücklaufen, dachte sie.
    
  Das schien unwahrscheinlich. Tommy fuhr jeden Lkw persönlich auf die Düne - eine Aufgabe, die Erfahrung erforderte, um ein Umkippen zu vermeiden. Zuerst kümmerte er sich um die beiden Versorgungslastwagen und parkte sie am Hang direkt unterhalb des steilsten Anstiegs. Dann nahm er sich die beiden Wassertransporter vor, während der Rest seines Teams aus dem Schatten der H3-Lkw zusah.
    
  Andrea beobachtete das Geschehen derweil durch ihr Teleobjektiv. Jedes Mal, wenn Tommy aus dem Auto stieg, winkte er dem Reporter oben auf der Düne zu, und Andrea erwiderte den Gruß. Anschließend fuhr Tommy die H3s bis zum Rand des letzten Anstiegs, um damit schwerere Fahrzeuge abzuschleppen, denen trotz ihrer großen Räder die Traktion für den steilen Sandhang fehlte.
    
  Andrea machte ein paar Fotos vom ersten LKW, als dieser den Gipfel erklomm. Einer von Dekkers Soldaten bediente nun ein Geländefahrzeug, das über ein Kabel mit dem KAMAZ-LKW verbunden war. Sie beobachtete die enorme Anstrengung, die nötig war, um den LKW auf die Düne zu heben, doch nachdem er an ihr vorbeigefahren war, verlor Andrea das Interesse daran. Stattdessen wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Claw Canyon zu.
    
  Zunächst wirkte die gewaltige, felsige Schlucht wie jede andere in der Wüste. Andrea konnte zwei etwa 45 Meter voneinander entfernte Felswände erkennen, die sich in die Ferne erstreckten, bevor sie sich teilten. Unterwegs hatte Eichberg ihr ein Luftbild ihres Ziels gezeigt. Der Canyon erinnerte an die drei Krallen eines riesigen Falken.
    
  Beide Wände waren zwischen 100 und 130 Fuß hoch. Andrea richtete ihr Teleobjektiv auf die Spitze der Felswand, um einen besseren Aussichtspunkt für ihre Aufnahmen zu finden.
    
  Da sah sie ihn.
    
  Es dauerte nur eine Sekunde. Ein Mann in Khaki beobachtet sie.
    
  Überrascht wandte sie den Blick von der Linse ab, doch der Ort war zu weit entfernt. Sie richtete die Kamera erneut auf den Rand der Schlucht.
    
  Nichts.
    
  Sie veränderte ihre Position und suchte die Wand erneut ab, aber es half nichts. Wer auch immer sie gesehen hatte, hatte sich schnell versteckt, was kein gutes Zeichen war. Sie überlegte, was sie tun sollte.
    
  Am klügsten wäre es, abzuwarten und die Sache mit Fowler und Harel zu besprechen...
    
  Sie ging hinüber und stellte sich in den Schatten des ersten Lastwagens, zu dem sich bald ein zweiter gesellte. Eine Stunde später erreichte die gesamte Expedition die Dünenspitze und war bereit, den Talon Canyon zu betreten.
    
    
  27
    
    
    
  Eine MP3-Datei, die von der jordanischen Wüstenpolizei nach dem Unglück der Moses-Expedition auf dem digitalen Aufnahmegerät von Andrea Otero gefunden wurde.
    
  Der Titel, alles in Großbuchstaben. Die wiederaufgebaute Bundeslade. Nein, Moment, streichen wir das. Der Titel... Schatz in der Wüste. Nein, das geht nicht. Ich muss die Bundeslade im Titel erwähnen - das wird die Verkaufszahlen ankurbeln. Okay, lassen wir den Titel erst mal, bis ich den Artikel fertig geschrieben habe. Einleitungssatz: Schon die Erwähnung ihres Namens ruft einen der bekanntesten Mythen der Menschheit in Erinnerung. Sie markierte den Beginn der westlichen Zivilisation und ist heute das begehrteste Objekt von Archäologen weltweit. Wir begleiten Moses" Expedition auf ihrer geheimen Reise durch die südliche jordanische Wüste zum Claw Canyon, dem Ort, an dem vor fast zweitausend Jahren eine Gruppe Gläubiger die Bundeslade während der Zerstörung des Zweiten Tempels Salomos versteckte...
    
  Das ist alles viel zu trocken. Ich schreibe das hier lieber zuerst. Fangen wir mit Forresters Interview an ... Mann, die raue Stimme des alten Mannes jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Man sagt, es läge an seiner Krankheit. Hinweis: Schau mal online nach, wie man Pneumokoniose schreibt.
    
    
  FRAGE: Professor Forrester, die Bundeslade fasziniert die Menschheit seit jeher. Worauf führen Sie dieses Interesse zurück?
    
    
  ANTWORT: Hör mal, wenn du wissen willst, was los ist, musst du mir nicht alles erzählen, was ich schon weiß. Sag mir einfach, was du wissen willst, und ich rede mit dir.
    
    
  Frage: Geben Sie viele Interviews?
    
    
  A: Dutzende. Sie stellen mir also nichts Neues, nichts, was ich nicht schon einmal gehört oder beantwortet hätte. Hätten wir bei der Ausgrabung Internetzugang, würde ich Ihnen raten, einige der Antworten nachzuschlagen und zu kopieren.
    
    
  Frage: Was ist das Problem? Haben Sie Angst, sich zu wiederholen?
    
    
  A: Ich habe Angst, meine Zeit zu verschwenden. Ich bin 77 Jahre alt. 43 davon habe ich mit der Suche nach der Bundeslade verbracht. Es ist jetzt oder nie.
    
    
  F: Nun, ich bin mir sicher, dass Sie noch nie zuvor so geantwortet haben.
    
    
  A: Was soll das? Ein Originalitätswettbewerb?
    
    
  Frage: Professor, bitte. Sie sind ein intelligenter und leidenschaftlicher Mensch. Warum versuchen Sie nicht, mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu treten und Ihre Leidenschaft mit ihr zu teilen?
    
    
  A: (kurze Pause) Brauchen Sie einen Zeremonienmeister? Ich werde mein Bestes geben.
    
    
  Frage: Danke. Die Arche...?
    
    
  A: Das mächtigste Objekt der Geschichte. Das ist kein Zufall, insbesondere wenn man bedenkt, dass es den Beginn der westlichen Zivilisation markierte.
    
    
  F: Würden Historiker nicht sagen, dass die Zivilisation im antiken Griechenland begann?
    
    
  A: Unsinn. Jahrtausendelang verehrten die Menschen Rußflecken in dunklen Höhlen. Flecken, die sie Götter nannten. Im Laufe der Zeit veränderten sich Größe, Form und Farbe der Flecken, aber sie blieben Flecken. Wir kannten keine einzige Gottheit, bis sie Abraham vor nur viertausend Jahren offenbart wurde. Was wissen Sie schon über Abraham, junge Dame?
    
    
  F: Er ist der Vater der Israeliten.
    
    
  A: Genau. Und die Araber. Zwei Äpfel, die vom selben Baum fielen, direkt nebeneinander. Und sofort lernten die beiden kleinen Äpfel, einander zu hassen.
    
    
  Frage: Was hat das mit der Arche zu tun?
    
    
  A: Fünfhundert Jahre nachdem Gott sich Abraham offenbart hatte, war der Allmächtige es leid, dass sich die Menschen immer wieder von ihm abwandten. Als Mose die Juden aus Ägypten führte, offenbarte sich Gott seinem Volk erneut. Nur 145 Meilen entfernt. Und dort schlossen sie einen Vertrag. Einerseits verpflichtete sich die Menschheit, zehn einfache Punkte zu befolgen.
    
    
  Frage: Die Zehn Gebote.
    
    
  A: Andererseits willigt Gott ein, dem Menschen ewiges Leben zu gewähren. Dies ist der wichtigste Moment der Geschichte - der Moment, in dem das Leben seinen Sinn erhielt. Dreitausendfünfhundert Jahre später trägt jeder Mensch diesen Vertrag in seinem Bewusstsein. Manche nennen ihn ein Naturgesetz, andere bestreiten seine Existenz oder Bedeutung und würden sogar töten und sterben, um ihre Interpretation zu verteidigen. Doch in dem Moment, als Mose die Gesetzestafeln von Gott empfing, begann unsere Zivilisation.
    
  F: Und dann legt Mose die Tafeln in die Bundeslade.
    
    
  A: Zusammen mit anderen Gegenständen. Die Arche ist ein Tresor, der den Vertrag mit Gott enthält.
    
    
  F: Manche sagen, die Arche besitze übernatürliche Kräfte.
    
    
  A: Unsinn. Ich werde das morgen allen erklären, wenn wir mit der Arbeit beginnen.
    
    
  F: Sie glauben also nicht an den übernatürlichen Charakter der Arche?
    
    
  A: Von ganzem Herzen. Meine Mutter las mir schon vor meiner Geburt aus der Bibel vor. Mein Leben ist dem Wort Gottes gewidmet, aber das heißt nicht, dass ich nicht bereit bin, Mythen und Aberglauben zu widerlegen.
    
    
  F: Apropos Aberglaube: Ihre Forschung hat in akademischen Kreisen, die die Verwendung antiker Texte zur Schatzsuche kritisch sehen, jahrelang Kontroversen ausgelöst. Es gab heftige Beschimpfungen von beiden Seiten.
    
    
  A: Akademiker... die würden ja nicht mal ihren eigenen Hintern mit zwei Händen und einer Taschenlampe finden. Hätte Schliemann die Schätze Trojas ohne Homers Ilias gefunden? Hätte Carter das Grab Tutanchamuns ohne den wenig bekannten Papyrus von Jüt entdeckt? Beide wurden zu ihrer Zeit heftig kritisiert, weil sie dieselben Methoden anwandten wie ich heute. Niemand erinnert sich mehr an ihre Kritiker, aber Carter und Schliemann sind unsterblich. Ich habe vor, ewig zu leben.
    
  [heftiger Hustenanfall]
    
    
  Frage: Woran leiden Sie?
    
    
  A: Man kann nicht so viele Jahre in feuchten Tunneln verbringen und Dreck einatmen, ohne die Folgen zu tragen. Ich habe chronische Pneumokoniose. Ich entferne mich nie weit von meiner Sauerstoffflasche. Bitte fahren Sie fort.
    
    
  Frage: Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja. Waren Sie schon immer von der historischen Existenz der Bundeslade überzeugt, oder stammt Ihr Glaube aus der Zeit, als Sie mit der Übersetzung der Kupferrolle begannen?
    
  A: Ich bin christlich aufgewachsen, konvertierte aber in jungen Jahren zum Judentum. In den 1960er-Jahren konnte ich sowohl Hebräisch als auch Englisch lesen. Als ich begann, die Qumran-Kupferrolle zu studieren, entdeckte ich nicht erst die Existenz der Bundeslade - ich wusste es bereits. Mit über zweihundert Erwähnungen in der Bibel ist sie das am häufigsten beschriebene Objekt der Heiligen Schrift. Als ich die zweite Schriftrolle in Händen hielt, wurde mir klar, dass ich diejenige sein würde, die die Bundeslade endgültig wiederentdeckt.
    
    
  Frage: Ich verstehe. Wie genau hat Ihnen die zweite Schriftrolle bei der Entzifferung der Qumran-Kupferrolle geholfen?
    
    
  A: Nun ja, es gab viel Verwirrung mit Konsonanten wie on, het, mem, kaf, vav, zayin und yod...
    
    
  Frage: Aus der Sicht eines Laien, Professor.
    
    
  A: Einige Konsonanten waren undeutlich, was die Entzifferung des Textes erschwerte. Am seltsamsten war jedoch, dass griechische Buchstaben in die Schriftrolle eingefügt waren. Nachdem wir den Schlüssel zum Verständnis des Textes gefunden hatten, erkannten wir, dass es sich um Abschnittsüberschriften handelte, deren Reihenfolge und damit der Kontext sich jedoch verändert hatte. Es war die aufregendste Zeit meiner beruflichen Laufbahn.
    
    
  F: Es muss frustrierend gewesen sein, 43 Jahre Ihres Lebens mit der Übersetzung der Kupferrolle verbracht zu haben und dann festzustellen, dass die ganze Angelegenheit innerhalb von drei Monaten nach dem Erscheinen der zweiten Schriftrolle gelöst wurde.
    
    
  A: Ganz und gar nicht. Die Schriftrollen vom Toten Meer, darunter die Kupferrolle, wurden durch Zufall entdeckt, als ein Hirte in Palästina einen Stein in eine Höhle warf und etwas zersplittern hörte. So wurde die erste der Handschriften gefunden. Das ist keine Archäologie, sondern Glück. Aber ohne all die Jahrzehnte eingehender Forschung wären wir Herrn Kain nie begegnet ...
    
    
  Frage: Herr Kain? Wovon reden Sie? Sagen Sie mir nicht, dass in der Kupferrolle ein Milliardär erwähnt wird!
    
    
  A: Ich kann darüber nicht mehr sprechen. Ich habe schon zu viel gesagt.
    
    
  28
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Mittwoch, 12. Juli 2006, 19:33 Uhr.
    
    
  Die nächsten Stunden verliefen in hektischer Betriebsamkeit. Professor Forrester beschloss, sein Lager am Eingang des Canyons aufzuschlagen. Der Lagerplatz war durch zwei Felswände vor dem Wind geschützt, die sich zunächst verjüngten, dann wieder weiteten und schließlich in einem Abstand von 800 Fuß wieder zusammenliefen und so etwas wie den Zeigefinger bildeten. Zwei Canyonarme im Osten und Südosten bildeten den Mittel- und Ringfinger der Kralle.
    
  Die Gruppe würde in Spezialzelten übernachten, die von einer israelischen Firma entwickelt worden waren, um der Wüstenhitze standzuhalten. Der Aufbau der Zelte nahm einen Großteil des Tages in Anspruch. Das Entladen der Lastwagen oblag Robert Frick und Tommy Eichberg, die hydraulische Seilwinden an KamAZ-Lkw einsetzten, um große Metallkisten mit der nummerierten Ausrüstung der Expedition abzuladen.
    
  "Viertausendfünfhundert Pfund Lebensmittel, zweihundertfünfzig Pfund Medikamente, viertausend Pfund archäologische Ausrüstung und elektrische Geräte, zweitausend Pfund Stahlschienen, ein Bohrer und ein Minibagger. Was halten Sie davon?"
    
  Andrea war verblüfft und machte sich Notizen für ihren Artikel, indem sie die Punkte auf Tommys Liste abhakte. Da sie wenig Erfahrung im Zeltaufbau hatte, bot sie ihre Hilfe beim Ausladen an, und Eichberg übertrug ihr die Aufgabe, jede Kiste ihrem Bestimmungsort zuzuordnen. Sie tat dies nicht aus Hilfsbereitschaft, sondern weil sie glaubte, je schneller sie fertig war, desto eher konnte sie mit Fowler und Harel allein sprechen. Der Arzt war derweil damit beschäftigt, das Krankenzelt aufzubauen.
    
  "Da kommt Nummer vierunddreißig, Tommy!", rief Frick von der Ladefläche des zweiten Lastwagens. Die Kette der Seilwinde war an zwei Metallhaken an beiden Seiten der Kiste befestigt; sie klapperte laut, als sie die Ladung auf den sandigen Boden absenkte.
    
  "Vorsicht, das Ding wiegt eine Tonne."
    
  Die junge Journalistin blickte besorgt auf die Liste und fürchtete, etwas übersehen zu haben.
    
  "Diese Liste ist falsch, Tommy. Es sind nur 33 Kästchen darauf."
    
  "Keine Sorge. Diese Kiste ist etwas Besonderes... und hier kommen die Verantwortlichen dafür", sagte Eichberg und löste die Ketten.
    
  Andrea blickte von ihrer Liste auf und sah Marla Jackson und Tevi Waak, zwei von Deckers Soldaten. Beide knieten sich neben die Kiste und öffneten die Schlösser. Der Deckel sprang mit einem leisen Zischen ab, als wäre er unter Vakuum versiegelt gewesen. Andrea warf einen verstohlenen Blick auf den Inhalt. Die beiden Söldner schienen es nicht zu stören.
    
  Es war, als ob sie erwarteten, dass ich hinschaue.
    
  Der Inhalt des Koffers hätte nicht banaler sein können: Säcke mit Reis, Kaffee und Bohnen, in Zwanzigerreihen angeordnet. Andrea verstand nichts, vor allem nicht, als Marla Jackson in jede Hand ein Päckchen nahm und sie ihr plötzlich gegen die Brust warf, sodass sich die Muskeln ihrer Arme unter ihrer dunklen Haut abzeichneten.
    
  "Das war"s, Schneewittchen."
    
  Andrea musste ihr Tablet fallen lassen, um die Pakete aufzufangen. Waaka unterdrückte ein Kichern, während Jackson, den überraschten Reporter ignorierend, in den leeren Raum griff und kräftig zog. Die Paketstapel glitt beiseite und gaben eine weitaus weniger prosaische Fracht frei.
    
  Gewehre, Maschinengewehre und Handfeuerwaffen lagen Schicht für Schicht auf Tabletts. Während Jackson und Waaka die Tabletts - insgesamt sechs - entfernten und sie sorgfältig auf die anderen Kisten stapelten, näherten sich Dekkers verbliebene Soldaten sowie der Südafrikaner selbst und begannen, sich zu bewaffnen.
    
  "Ausgezeichnet, meine Herren", sagte Decker. "Wie ein weiser Mann einst sagte: Große Männer sind wie Adler ... sie bauen ihre Nester auf einsamen Höhen. Die erste Wache übernehmen Jackson und die Gottliebs. Sucht euch Deckung hier, dort und dort." Er zeigte auf drei Stellen oben auf den Canyonwänden, die zweite davon nicht weit von dem Ort entfernt, wo Andrea einige Stunden zuvor die mysteriöse Gestalt gesehen zu haben glaubte. "Brecht die Funkstille nur alle zehn Minuten, um euch zu melden. Das gilt auch für dich, Torres. Wenn du mit Maloney Rezepte austauschst, wie damals in Laos, bekommst du es mit mir zu tun. März."
    
  Die Zwillinge Gottlieb und Marla Jackson machten sich in drei verschiedene Richtungen auf die Suche nach geeigneten Zugängen zu den Wachposten, von denen aus Deckers Soldaten die Expedition während ihres Aufenthalts vor Ort ununterbrochen bewachen würden. Nachdem sie ihre Positionen ausfindig gemacht hatten, befestigten sie alle drei Meter Seile und Aluminiumleitern an der Felswand, um den Aufstieg zu erleichtern.
    
    
  Andrea staunte derweil über die Genialität moderner Technik. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass sie innerhalb der nächsten Woche so nah an einer Dusche sein würde. Doch zu ihrer Überraschung befanden sich unter den letzten Gegenständen, die von den KAMAZ-Lkw entladen wurden, zwei fertige Duschen und zwei tragbare Toiletten aus Kunststoff und Fiberglas.
    
  "Was ist los, Schöne?", fragte Robert Frick. "Bist du nicht froh, dass du nicht in den Sand scheißen musst?"
    
  Der hagere junge Mann bestand nur aus Ellbogen und Knien und bewegte sich nervös. Andrea reagierte auf seine vulgäre Bemerkung mit einem lauten Lachen und half ihm, die Toiletten zu sichern.
    
  'Das ist richtig, Robert. Und wie ich sehe, wird es sogar getrennte Badezimmer für ihn und sie geben...'
    
  "Das ist ein bisschen unfair, wenn man bedenkt, dass ihr nur zu viert seid und wir zwanzig. Nun ja, wenigstens müsst ihr eure eigene Latrine graben", sagte Freak.
    
  Andrea erbleichte. Egal wie müde sie war, allein der Gedanke, die Schaufel zu heben, ließ ihre Hände Blasen bekommen. Das Ungeheuer wurde immer schneller.
    
  "Ich verstehe nicht, was daran lustig sein soll."
    
  "Du bist weißer geworden als der Hintern meiner Tante Bonnie. Das ist das Lustige daran."
    
  "Kümmere dich nicht um ihn, Schatz", warf Tommy ein. "Wir nehmen den Minibagger. Das dauert nur zehn Minuten."
    
  "Du verdirbst immer den Spaß, Tommy. Du hättest sie noch ein bisschen länger schwitzen lassen sollen." Freak schüttelte den Kopf und ging weg, um sich jemand anderen zu suchen, den er ärgern konnte.
    
    
  29
    
    
    
  HACAN
    
  Er war vierzehn, als er mit dem Studium begann.
    
  Natürlich musste er zunächst vieles vergessen.
    
  Zunächst einmal war alles, was er in der Schule, von seinen Freunden und zu Hause gelernt hatte, erfunden. Nichts davon war wahr. Alles war eine Lüge, vom Feind, den Unterdrückern des Islam. Sie hätten einen Plan, flüsterte ihm der Imam ins Ohr. Sie würden damit beginnen, Frauen Freiheit zu gewähren. Sie würden sie den Männern gleichstellen, um uns zu schwächen. Sie wüssten, dass wir stärker und fähiger seien. Sie wüssten, dass wir Gott ernster nähmen. Dann würden sie uns einer Gehirnwäsche unterziehen, die heiligen Imame manipulieren. Sie versuchten, unser Urteilsvermögen mit unreinen Bildern von Lust und Ausschweifung zu trüben. Sie würden Homosexualität fördern. Sie lügen, lügen, lügen. Sie würden sogar über Daten lügen. Sie behaupteten, es sei der 22. Mai. Aber du wüsstest, welcher Tag es sei.
    
  'Der sechzehnte Tag des Shawwal, Lehrer.'
    
  Sie reden von Integration, vom Zusammenleben mit anderen. Aber du weißt, was Gott will.
    
  "Nein, ich weiß es nicht, Lehrer", sagte der verängstigte Junge. Wie konnte er in Gottes Gedanken sein?
    
  "Gott will Rache für die Kreuzzüge; für die Kreuzzüge, die vor tausend Jahren stattfanden und die heute stattfinden. Gott will, dass wir das Kalifat wiederherstellen, das sie 1924 zerstörten. Seit diesem Tag ist die muslimische Gemeinschaft in Gebiete zersplittert, die von unseren Feinden kontrolliert werden. Man braucht nur die Zeitung zu lesen, um zu sehen, wie unsere muslimischen Brüder unterdrückt, gedemütigt und dem Völkermord ausgesetzt sind. Und die größte Beleidigung ist der Pfahl, der ins Herz des Dar al-Islam getrieben wurde: Israel."
    
  "Ich hasse Juden, Lehrer."
    
  Nein. Du glaubst es nur. Hör mir genau zu. Dieser Hass, den du jetzt zu empfinden glaubst, wird in wenigen Jahren wie ein winziger Funke erscheinen im Vergleich zur Vernichtung eines ganzen Waldes. Nur wahre Gläubige sind zu einer solchen Wandlung fähig. Und du wirst einer von ihnen sein. Du bist etwas Besonderes. Ich brauche dir nur in die Augen zu sehen, um zu erkennen, dass du die Kraft hast, die Welt zu verändern. Die muslimische Gemeinschaft zu vereinen. Die Scharia nach Amman, Kairo, Beirut zu bringen. Und dann nach Berlin. Nach Madrid. Nach Washington.
    
  "Wie können wir das tun, Lehrer? Wie können wir das islamische Recht in der ganzen Welt verbreiten?"
    
  "Sie sind noch nicht bereit zu antworten."
    
  'Ja, ich bin's, Lehrerin.'
    
  Möchtest du mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Verstand lernen?
    
  "Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als Gottes Wort zu befolgen."
    
  "Nein, noch nicht. Aber bald ..."
    
    
  30
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Mittwoch, 12. Juli 2006, 20:27 Uhr.
    
    
  Die Zelte waren endlich aufgebaut, Toiletten und Duschen installiert, die Leitungen an den Wassertank angeschlossen, und die zivilen Expeditionsmitarbeiter ruhten sich in dem kleinen, von den Zelten umschlossenen Platz aus. Andrea, die mit einer Flasche Gatorade in der Hand auf dem Boden saß, gab ihre Suche nach Pater Fowler auf. Weder er noch Dr. Harel schienen in der Nähe zu sein, also widmete sie sich der Betrachtung der Stoff- und Aluminiumkonstruktionen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Jedes Zelt war ein länglicher Würfel mit einer Tür und Plastikfenstern. Eine Holzplattform, die auf einem Dutzend Betonblöcken etwa einen halben Meter über dem Boden stand, schützte die Zeltbewohner vor der sengenden Hitze des Sandes. Das Dach bestand aus einem großen Stück Stoff, das an einer Seite im Boden verankert war, um die Sonneneinstrahlung besser zu brechen. Jedes Zelt hatte ein eigenes Stromkabel, das zu einem zentralen Generator in der Nähe des Treibstofftankers führte.
    
  Von den sechs Zelten unterschieden sich drei leicht. Eines diente als Krankenstation, zwar einfach konstruiert, aber hermetisch abgeriegelt. Ein anderes war ein kombiniertes Küchen- und Speisezelt. Es war klimatisiert, sodass die Expeditionsteilnehmer sich dort während der heißesten Stunden des Tages ausruhen konnten. Das letzte Zelt gehörte Kain und stand etwas abseits von den anderen. Es hatte keine sichtbaren Fenster und war mit Seilen abgesperrt - eine stumme Warnung, dass der Milliardär nicht gestört werden wollte. Kain blieb in seinem H3, der von Dekker gesteuert wurde, bis sein Zelt aufgebaut war, tauchte aber nie auf.
    
  Ich bezweifle, dass er vor Ende der Expedition auftaucht. Ob sein Zelt wohl eine eingebaute Toilette hat?, dachte Andrea und nahm gedankenverloren einen Schluck aus ihrer Flasche. Da kommt jemand, der die Antwort vielleicht kennt.
    
  'Hallo, Herr Russell.'
    
  "Wie geht es Ihnen?", fragte der Assistent und lächelte höflich.
    
  "Sehr gut, vielen Dank. Hören Sie, nun zu diesem Interview mit Herrn Cain..."
    
  "Das ist leider noch nicht möglich", warf Russell ein.
    
  "Ich hoffe, Sie haben mich nicht nur zum Sightseeing hierhergebracht. Ich möchte, dass Sie wissen, dass..."
    
  "Willkommen, meine Damen und Herren", unterbrach Professor Forrester mit rauer Stimme die Beschwerden des Reporters. "Entgegen unserer Erwartungen ist es Ihnen gelungen, alle Zelte rechtzeitig aufzubauen. Herzlichen Glückwunsch. Bitte beteiligen Sie sich daran."
    
  Sein Tonfall war so unaufrichtig wie der schwache Applaus, der folgte. Der Professor sorgte stets dafür, dass sich seine Zuhörer etwas unwohl fühlten, wenn nicht gar gedemütigt, doch die Expeditionsteilnehmer blieben standhaft um ihn herum, während die Sonne hinter den Klippen unterging.
    
  "Bevor wir zum Abendessen kommen und die Zelte aufteilen, möchte ich meine Geschichte beenden", fuhr der Archäologe fort. "Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen erzählt habe, dass einige wenige Auserwählte den Schatz aus Jerusalem trugen? Nun, diese Gruppe tapferer Männer ..."
    
  "Eine Frage lässt mich nicht los", warf Andrea ein und ignorierte den durchdringenden Blick des alten Mannes. "Du sagtest, Yirm Əy áhu sei der Verfasser der Zweiten Schriftrolle. Dass er sie vor der Zerstörung des Salomonischen Tempels durch die Römer verfasst habe. Liege ich da falsch?"
    
  "Nein, Sie irren sich nicht."
    
  Hat er noch weitere Notizen hinterlassen?
    
  "Nein, das hat er nicht getan."
    
  Haben die Leute, die die Bundeslade aus Jerusalem trugen, irgendetwas zurückgelassen?
    
  'NEIN'.
    
  "Woher wissen Sie dann, was passiert ist? Diese Leute trugen einen sehr schweren, mit Gold überzogenen Gegenstand, fast zweihundert Meilen weit? Ich bin lediglich mit einer Kamera und einer Flasche Wasser die Düne hinaufgeklettert, und das war"s ..."
    
  Der alte Mann errötete mit jedem Wort, das Andrea sprach, immer mehr, bis der Kontrast zwischen seinem kahlen Kopf und seinem Bart sein Gesicht wie eine Kirsche auf einem Wattebausch aussehen ließ.
    
  Wie bauten die Ägypter die Pyramiden? Wie errichteten die Osterinsulaner ihre zehntausend Tonnen schweren Statuen? Wie meißelten die Nabatäer die Stadt Petra aus denselben Felsen?
    
  Er spuckte Andrea jedes Wort entgegen und beugte sich dabei so nah an sie heran, dass sein Gesicht direkt neben ihrem war. Die Reporterin wandte den Blick ab, um seinem widerlichen Atem zu entgehen.
    
  "Mit Glauben. Man braucht Glauben, um 185 Meilen in der prallen Sonne und über unwegsames Gelände zu wandern. Man braucht Glauben, um daran zu glauben, dass man es schaffen kann."
    
  "Abgesehen von der zweiten Schriftrolle haben Sie also keinerlei Beweise", sagte Andrea, unfähig, sich zurückzuhalten.
    
  "Nein, das werde ich nicht tun. Aber ich habe eine Theorie, und hoffen wir, dass ich Recht habe, Miss Otero, sonst fahren wir unverrichteter Dinge nach Hause."
    
  Die Reporterin wollte gerade antworten, als sie einen leichten Stoß mit dem Ellbogen in die Rippen spürte. Sie drehte sich um und sah Pater Fowler, der sie mit warnendem Blick ansah.
    
  "Wo warst du, Vater?", flüsterte sie. "Ich habe überall gesucht. Wir müssen reden."
    
  Fowler brachte sie mit einer Geste zum Schweigen.
    
  "Die acht Männer, die mit der Bundeslade Jerusalem verließen, erreichten am nächsten Morgen Jericho." Forrester trat zurück und wandte sich an die vierzehn Männer, die ihm mit wachsendem Interesse zuhörten. "Wir begeben uns nun in den Bereich der Spekulation, aber es sind die Spekulationen von jemandem, der sich seit Jahrzehnten mit genau dieser Frage beschäftigt. In Jericho hätten sie Vorräte und Wasser aufgenommen. Sie überquerten den Jordan bei Bethanien und erreichten die Königsstraße nahe dem Berg Nebo. Diese Straße ist die älteste durchgehende Verbindungsstraße der Geschichte, der Weg, der Abraham von Chaldäa nach Kanaan führte. Diese acht Hebräer gingen auf dieser Route nach Süden, bis sie Petra erreichten, wo sie die Straße verließen und sich auf den Weg zu einem mythischen Ort machten, der den Jerusalemern wie das Ende der Welt erschienen sein muss. Dieser Ort."
    
  "Professor, haben Sie eine Ahnung, wo genau im Canyon wir suchen sollten? Denn dieser Ort ist riesig", sagte Dr. Harel.
    
  "Hier kommt ihr alle ins Spiel, und zwar ab morgen. David, Gordon... zeigt ihnen die Ausrüstung."
    
  Zwei Assistenten erschienen, jeder mit einer seltsamen Vorrichtung bekleidet. Über ihrer Brust trugen sie ein Geschirr, an dem ein metallenes, rucksackförmiges Gerät befestigt war. Das Geschirr hatte vier Riemen, von denen eine quadratische Metallkonstruktion herabhing, die den Körper auf Hüfthöhe umschloss. An den vorderen Ecken dieser Konstruktion befanden sich zwei lampenartige Objekte, die an Autoscheinwerfer erinnerten und nach unten gerichtet waren.
    
  Das hier, meine Lieben, wird eure Sommerkleidung für die nächsten Tage sein. Das Gerät heißt Protonenpräzessionsmagnetometer.
    
  Es ertönten bewundernde Pfiffe.
    
  "Das ist ein einprägsamer Titel, nicht wahr?", sagte David Pappas.
    
  "Sei still, David. Wir arbeiten an der Theorie, dass die von Jeremia auserwählten Leute die Bundeslade irgendwo in dieser Schlucht versteckt haben. Das Magnetometer wird uns den genauen Standort verraten."
    
  "Wie funktioniert das?", fragte Andrea.
    
  Das Gerät sendet ein Signal aus, das das Erdmagnetfeld misst. Sobald es darauf eingestellt ist, erkennt es jede Anomalie im Magnetfeld, beispielsweise das Vorhandensein von Metall. Sie müssen die genaue Funktionsweise nicht verstehen, da das Gerät ein drahtloses Signal direkt an meinen Computer sendet. Sollten Sie etwas entdecken, werde ich es vor Ihnen erfahren.
    
  "Ist es schwierig zu handhaben?", fragte Andrea.
    
  "Nicht, wenn man laufen kann. Jedem von euch wird eine Reihe von Abschnitten in der Schlucht zugewiesen, die jeweils etwa fünfzig Fuß voneinander entfernt sind. Ihr müsst lediglich den Startknopf an eurem Gurtzeug drücken und alle fünf Sekunden einen Schritt machen. Das ist alles."
    
  Gordon machte einen Schritt vorwärts und blieb stehen. Fünf Sekunden später ertönte ein leiser Pfiff. Gordon machte einen weiteren Schritt, und der Pfiff verstummte. Fünf Sekunden später ertönte er erneut.
    
  "Sie werden das zehn Stunden am Tag tun, in Schichten von eineinhalb Stunden, mit fünfzehnminütigen Ruhepausen", sagte Forrester.
    
  Alle fingen an zu meckern.
    
  "Was ist mit Menschen, die andere Verpflichtungen haben?"
    
  "Kümmern Sie sich um sie, wenn Sie nicht im Canyon arbeiten, Mr. Freak."
    
  'Sie erwarten von uns, dass wir zehn Stunden am Tag in dieser Sonne laufen?'
    
  Ich rate Ihnen, viel Wasser zu trinken - mindestens einen Liter pro Stunde. Bei 111 Grad dehydriert der Körper schnell.
    
  "Was ist, wenn wir unsere zehn Stunden bis zum Ende des Tages nicht gearbeitet haben?", quiekte eine andere Stimme.
    
  "Dann werden Sie sie heute Abend fertigstellen, Mr. Hanley."
    
  "Ist Demokratie nicht verdammt großartig?", murmelte Andrea.
    
  Offenbar nicht leise genug, denn Forrester hörte sie.
    
  "Erscheint Ihnen unser Plan unfair, Miss Otero?", fragte der Archäologe mit einschmeichelnder Stimme.
    
  "Jetzt, wo du es erwähnst, ja", erwiderte Andrea trotzig. Sie lehnte sich zur Seite, aus Angst vor einem weiteren Ellbogenstoß von Fowler, doch es geschah nichts.
    
  "Die jordanische Regierung hat uns eine fadenscheinige, einmonatige Genehmigung zum Phosphatabbau erteilt. Stellen Sie sich vor, ich würde langsamer arbeiten? Wir könnten die Datenerhebung im Canyon in drei Wochen abschließen, aber in der vierten Woche hätten wir nicht mehr genug Zeit, die Arche auszugraben. Wäre das fair?"
    
  Andrea senkte verlegen den Kopf. Sie hasste diesen Mann wirklich, daran gab es keinen Zweifel.
    
  "Will sonst noch jemand Miss Oteros Gewerkschaft beitreten?", fragte Forrester und musterte die Anwesenden. "Nein? Gut. Von nun an seid ihr keine Ärzte, Priester, Ölplattformarbeiter oder Köche mehr. Ihr seid meine Packtiere. Viel Spaß."
    
    
  31
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 13. Juli 2006, 12:27 Uhr.
    
    
  Schritt, warten, pfeifen, Schritt.
    
  Andrea Otero hat nie eine Liste der drei schlimmsten Ereignisse ihres Lebens erstellt. Erstens, weil Andrea Listen hasste; zweitens, weil sie trotz ihrer Intelligenz wenig zur Selbstreflexion fähig war; und drittens, weil ihre ausnahmslose Reaktion bei Problemen darin bestand, sich davonzuschleichen und etwas anderes zu tun. Hätte sie am Abend zuvor fünf Minuten über ihre schlimmsten Erlebnisse nachgedacht, wäre der Bohnenvorfall zweifellos ganz oben auf der Liste gestanden.
    
  Es war der letzte Schultag, und sie meisterte ihre Teenagerjahre mit festem, entschlossenem Schritt. Sie verließ den Unterricht mit nur einem Gedanken im Kopf: die Eröffnung des neuen Schwimmbads in der Wohnanlage ihrer Familie zu besuchen. Deshalb aß sie schnell auf, um als Erste in ihren Badeanzug zu schlüpfen. Noch während sie den letzten Bissen kaute, stand sie vom Tisch auf. Da ließ ihre Mutter die Bombe platzen.
    
  Wer ist als Nächstes mit dem Abwasch dran?
    
  Andrea zögerte keine Sekunde, denn ihr älterer Bruder Miguel Angel war an der Reihe. Doch ihre drei anderen Brüder wollten an einem so besonderen Tag nicht auf ihren Anführer warten und riefen wie aus einem Mund: "Andrea!"
    
  "Das sieht ganz danach aus. Spinnst du? Ich war vorgestern dran."
    
  "Schatz, bitte zwing mich nicht, dir den Mund mit Seife auszuwaschen."
    
  "Ach komm schon, Mama. Sie hat es verdient", sagte einer ihrer Brüder.
    
  "Aber Mama, ich bin noch nicht dran", jammerte Andrea und stampfte mit dem Fuß auf den Boden.
    
  "Nun ja, du wirst sie trotzdem tun und sie Gott als Buße für deine Sünden darbringen. Du machst gerade eine sehr schwere Zeit durch", sagte ihre Mutter.
    
  Miguel Angel unterdrückte ein Lächeln, und seine Brüder stießen sich siegessicher an.
    
  Eine Stunde später versuchte Andrea, die sich nie beherrschen konnte, fünf passende Antworten auf diese Ungerechtigkeit zu finden. Doch in diesem Moment fiel ihr nur eine ein.
    
  'Maaaaaaa!'
    
  "Mama, alles gut! Spül das Geschirr ab und lass deine Brüder schon mal zum Pool gehen."
    
  Plötzlich begriff Andrea alles: Ihre Mutter wusste, dass sie nicht an der Reihe war.
    
  Es wäre schwer zu verstehen, was sie als Nächstes tat, wenn man nicht das jüngste von fünf Kindern und das einzige Mädchen wäre, aufgewachsen in einem traditionell katholischen Elternhaus, wo man schon vor der Sünde schuldig ist; die Tochter eines altmodischen Militärs, der unmissverständlich klargemacht hatte, dass seine Söhne an erster Stelle standen. Andrea wurde getreten, bespuckt, misshandelt und verstoßen, nur weil sie eine Frau war, obwohl sie viele Eigenschaften eines Jungen besaß und sicherlich dieselben Gefühle teilte.
    
  An diesem Tag sagte sie, sie habe genug.
    
  Andrea kehrte zum Tisch zurück und nahm den Deckel vom Topf mit dem Bohnen-Tomaten-Eintopf, den sie gerade aufgegessen hatten. Er war halb voll und noch warm. Ohne nachzudenken, schüttete sie den Rest über Miguel Ángels Kopf und ließ den Topf wie einen Hut stehen.
    
  "Du spülst das Geschirr, du Mistkerl."
    
  Die Folgen waren verheerend. Andrea musste nicht nur abwaschen, sondern ihr Vater hatte sich auch noch eine interessantere Strafe ausgedacht. Er verbot ihr nicht etwa, den ganzen Sommer über zu schwimmen. Das wäre zu einfach gewesen. Stattdessen befahl er ihr, sich an den Küchentisch zu setzen, von dem aus man einen herrlichen Blick auf den Pool hatte, und legte sieben Pfund getrocknete Bohnen darauf.
    
  "Zähl sie. Wenn du mir sagst, wie viele es sind, kannst du zum Pool gehen."
    
  Andrea breitete die Bohnen auf dem Tisch aus und begann, sie einzeln zu zählen und in den Topf zu geben. Als sie bei eintausendzweihundertdreiundachtzig angelangt war, stand sie auf, um ins Badezimmer zu gehen.
    
  Als sie zurückkam, war der Topf leer. Jemand hatte die Bohnen wieder auf den Tisch gestellt.
    
  Papa, deine Haare werden eher grau, als dass du mich weinen hörst, dachte sie.
    
  Natürlich weinte sie. In den nächsten fünf Tagen musste sie, egal aus welchem Grund sie den Tisch verließ, jedes Mal, wenn sie zurückkam, die Bohnen wieder von vorne zählen, insgesamt dreiundvierzig Mal.
    
    
  Gestern Abend hätte Andrea den Vorfall mit den Bohnen als eine der schlimmsten Erfahrungen ihres Lebens betrachtet, sogar noch schlimmer als die brutale Prügelattacke, die sie im Jahr zuvor in Rom erlitten hatte. Nun aber steht die Erfahrung mit dem Magnetometer ganz oben auf ihrer Liste.
    
  Der Tag begann pünktlich um fünf Uhr, dreiviertel Stunden vor Sonnenaufgang, mit einem lauten Hupen. Andrea musste mit Dr. Harel und Kira Larsen in der Krankenstation übernachten; die Geschlechter waren durch Forresters prüde Regeln getrennt. Deckers Wachen befanden sich in einem anderen Zelt, das Hilfspersonal in einem weiteren und Forresters vier Assistenten und Pater Fowler im letzten. Der Professor schlief lieber allein in dem kleinen Zelt, das achtzig Dollar gekostet und ihn auf all seinen Expeditionen begleitet hatte. Doch er schlief wenig. Um fünf Uhr morgens war er schon wieder da, zwischen den Zelten, und hupte so lange, bis er von der bereits erschöpften Menge ein paar Morddrohungen kassierte.
    
  Andrea stand auf, fluchte im Dunkeln und suchte nach ihrem Handtuch und ihren Toilettenartikeln, die sie neben der Luftmatratze und dem Schlafsack, die ihr als Bett dienten, liegen gelassen hatte. Sie wollte gerade zur Tür gehen, als Harel sie rief. Trotz der frühen Stunde war sie bereits angezogen.
    
  'Du denkst doch nicht etwa daran, zu duschen?'
    
  'Sicherlich'.
    
  "Das habt ihr vielleicht schon auf die harte Tour gelernt, aber ich muss euch daran erinnern, dass Duschen nach individuellen Regeln funktionieren und jeder von uns das Wasser höchstens dreißig Sekunden am Tag benutzen darf. Wenn ihr euren Anteil jetzt verschwendet, werdet ihr uns heute Abend anflehen, euch anzuspucken."
    
  Andrea sank besiegt auf die Matratze zurück.
    
  "Danke, dass du mir den Tag ruiniert hast."
    
  "Stimmt, aber ich habe dir den Abend gerettet."
    
  "Ich sehe schrecklich aus", sagte Andrea und band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, den sie seit dem College nicht mehr getragen hatte.
    
  "Schlimmer als schrecklich."
    
  "Verdammt, Doc, du hättest sagen sollen: ‚Nicht so schlimm wie bei mir" oder ‚Nein, du siehst toll aus." Du weißt schon, weibliche Solidarität."
    
  "Nun ja, ich war nie eine gewöhnliche Frau", sagte Harel und blickte Andrea direkt in die Augen.
    
  Was zum Teufel meinten Sie damit, Doc?, fragte sich Andrea, während sie ihre Shorts anzog und ihre Stiefel schnürte. Sind Sie wirklich der, für den ich Sie halte? Und noch wichtiger ... soll ich den ersten Schritt machen?
    
    
  Schritt, warten, pfeifen, Schritt.
    
  Stowe Erling geleitete Andrea zu ihrem zugewiesenen Platz und half ihr in den Gurt. Dort befand sie sich mitten auf einem etwa 15 Meter breiten und 15 Meter großen Stück Land, das mit Schnüren markiert war, an deren Ecken jeweils 20 Zentimeter lange Spikes befestigt waren.
    
  Leiden.
    
  Da war zunächst das Gewicht. 16 Kilo schienen anfangs nicht viel zu sein, vor allem, weil sie am Sicherheitsgurt hingen. Aber nach zwei Stunden schmerzten Andreas Schultern unerträglich.
    
  Dann kam die Hitze. Mittags war der Boden kein Sand mehr - er glich einem Grill. Und nach einer halben Stunde Schichtbeginn war ihr das Wasser ausgegangen. Die Ruhepausen zwischen den Schichten dauerten fünfzehn Minuten, aber acht davon gingen für das Verlassen und Zurückkehren zu den Sektoren und das Holen von Flaschen mit kaltem Wasser drauf, weitere zwei für das erneute Auftragen von Sonnencreme. Übrig blieben etwa drei Minuten, in denen Forrester sich ständig räusperte und auf die Uhr schaute.
    
  Und obendrein war es immer wieder dasselbe. Dieser blöde Schritt, warten, pfeifen, Schritt.
    
  Verdammt, in Guantanamo wäre ich besser dran. Auch wenn die Sonne dort unerbittlich brennt, müssen sie wenigstens nicht diese blöde Last mit sich herumschleppen.
    
  'Guten Morgen. Es ist ein bisschen warm, nicht wahr?', sagte eine Stimme.
    
  'Fahr zur Hölle, Vater.'
    
  "Trinken Sie etwas Wasser", sagte Fowler und reichte ihr eine Flasche.
    
  Er trug eine Sergehose und sein übliches schwarzes Kurzarmhemd mit Stehkragen. Er trat aus ihrem Viertel zurück, setzte sich auf den Boden und beobachtete sie amüsiert.
    
  "Kannst du mir erklären, wen du bestochen hast, damit du dieses Ding nicht tragen musst?", fragte Andrea und leerte gierig die Flasche.
    
  Professor Forrester hat großen Respekt vor meinen religiösen Pflichten. Auch er ist auf seine Weise ein Mann Gottes.
    
  "Eher ein egoistischer Wahnsinniger."
    
  "Das auch. Und du?"
    
  "Nun ja, zumindest die Förderung der Sklaverei gehört nicht zu meinen Fehlern."
    
  "Ich spreche über Religion."
    
  "Willst du etwa meine Seele mit einer halben Flasche Wasser retten?"
    
  Wird das genügen?
    
  "Ich brauche mindestens einen vollständigen Vertrag."
    
  Fowler lächelte und reichte ihr eine weitere Flasche.
    
  "Wenn Sie kleine Schlucke nehmen, stillt es Ihren Durst besser."
    
  'Danke schön'.
    
  'Sie werden meine Frage nicht beantworten?'
    
  "Religion ist mir zu komplex. Ich fahre lieber Fahrrad."
    
  Der Priester lachte und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Er wirkte müde.
    
  "Ach, Miss Otero, seien Sie mir nicht böse, dass ich jetzt nicht die Maultierarbeit erledigen muss. Sie glauben doch nicht etwa, dass all diese Quadrate einfach so durch Zauberei entstanden sind?"
    
  Die Quadranten begannen etwa 60 Meter von den Zelten entfernt. Die übrigen Expeditionsmitglieder waren über die Schlucht verteilt, jeder in seinem eigenen Tempo, wartend, pfeifend, schlurfend. Andrea erreichte das Ende ihres Abschnitts, machte einen Schritt nach rechts, drehte sich um 180 Grad und ging dann weiter, dem Priester den Rücken zugewandt.
    
  "Und so war ich da und habe versucht, euch beide zu finden... Das also habt ihr, du und Doc, die ganze Nacht gemacht."
    
  "Es waren noch andere Leute da, also brauchst du dir keine Sorgen zu machen."
    
  "Was meinst du damit, Vater?"
    
  Fowler sagte nichts. Lange Zeit war nur der Rhythmus von Gehen, Warten, Pfeifen und Schlurfen zu hören.
    
  "Woher wusstest du das?", fragte Andrea besorgt.
    
  "Ich hatte es geahnt. Jetzt weiß ich es."
    
  'Mist'.
    
  "Ich bedauere, Ihre Privatsphäre verletzt zu haben, Miss Otero."
    
  "Verdammt noch mal!", sagte Andrea und biss sich in die Faust. "Für eine Zigarette würde ich töten."
    
  'Was hält dich auf?'
    
  "Professor Forrester sagte mir, es würde die Instrumente stören."
    
  "Wissen Sie was, Frau Otero? Für jemanden, der so tut, als hätte er alles im Griff, sind Sie ziemlich naiv. Tabakrauch beeinflusst das Erdmagnetfeld nicht. Zumindest nicht laut meinen Quellen."
    
  'Alter Bastard'
    
  Andrea durchwühlte ihre Taschen und zündete sich dann eine Zigarette an.
    
  "Wirst du es Doc erzählen, Vater?"
    
  "Harel ist klug, viel klüger als ich. Und sie ist Jüdin. Sie braucht den Rat des alten Priesters nicht."
    
  Soll ich?
    
  'Nun, Sie sind doch katholisch, oder?'
    
  "Ich habe vor vierzehn Jahren das Vertrauen in deine Ausrüstung verloren, Vater."
    
  "Welche denn? Die militärische oder die kirchliche?"
    
  "Beides. Meine Eltern haben mich echt mies behandelt."
    
  "Das tun alle Eltern. Ist das nicht der Beginn des Lebens?"
    
  Andrea drehte den Kopf und konnte ihn aus dem Augenwinkel sehen.
    
  "Wir haben also etwas gemeinsam."
    
  'Du kannst es dir nicht vorstellen. Warum hast du uns gestern Abend gesucht, Andrea?'
    
  Der Reporter blickte sich um, bevor er antwortete. Die nächste Person war David Pappas, der etwa dreißig Meter entfernt in einem Gurtzeug gesichert war. Ein heißer Windstoß wehte vom Canyoneingang herüber und wirbelte wunderschönen Sand zu Andreas Füßen auf.
    
  "Gestern, als wir am Eingang der Schlucht waren, bin ich zu Fuß auf diese riesige Düne geklettert. Oben angekommen, begann ich mit meinem Teleobjektiv zu fotografieren und sah einen Mann."
    
  'Wo?', platzte es aus Fowler heraus.
    
  "Oben auf der Klippe hinter dir. Ich habe ihn nur einen Augenblick gesehen. Er trug hellbraune Kleidung. Ich habe niemandem etwas gesagt, weil ich nicht wusste, ob es etwas mit dem Mann zu tun hatte, der versucht hat, mich auf Behemoth zu töten."
    
  Fowler kniff die Augen zusammen, fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf und holte tief Luft. Sein Gesichtsausdruck war besorgt.
    
  "Miss Otero, diese Expedition ist äußerst gefährlich, und ihr Erfolg hängt von der Geheimhaltung ab. Wenn nur irgendjemand die Wahrheit darüber wüsste, warum wir hier sind ..."
    
  "Werden sie uns rauswerfen?"
    
  "Sie hätten uns alle getötet."
    
  'UM'.
    
  Andrea blickte auf und war sich der Isolation dieses Ortes und ihrer Lage vollkommen bewusst - sollte jemand Deckers dünne Wachenlinie durchbrechen.
    
  "Ich muss sofort mit Albert sprechen", sagte Fowler.
    
  'Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie könnten Ihr Satellitentelefon hier nicht benutzen? Decker hatte einen Frequenzscanner?'
    
  Der Priester sah sie nur an.
    
  'Oh, Mist. Nicht schon wieder', sagte Andrea.
    
  "Wir werden es heute Abend tun."
    
    
  32
    
    
    
  2700 Fuß westlich der Ausgrabungsstätte
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Freitag, 14. Juli 2006, 1:18 Uhr.
    
    
  Der große Mann hieß O und weinte. Er musste die anderen verlassen. Er wollte nicht, dass sie seine Gefühle bemerkten, geschweige denn darüber sprachen. Und es wäre sehr gefährlich gewesen, den Grund für seine Tränen preiszugeben.
    
  In Wahrheit lag es an dem Mädchen. Sie erinnerte ihn zu sehr an seine eigene Tochter. Er hasste es, sie töten zu müssen. Tahir zu töten war leicht, ja sogar eine Erleichterung. Er musste zugeben, dass er es genossen hatte, mit ihm zu spielen - ihm die Hölle zu zeigen, hier, auf Erden.
    
  Bei dem Mädchen war das anders. Sie war erst sechzehn Jahre alt.
    
  Und doch stimmten D und W ihm zu: Die Mission war zu wichtig. Nicht nur das Leben der anderen Brüder in der Höhle stand auf dem Spiel, sondern das gesamte Dar al-Islam. Mutter und Tochter wussten zu viel. Es durfte keine Ausnahmen geben.
    
  "Das ist ein sinnloser, beschissener Krieg", sagte er.
    
  "Redest du jetzt also mit dir selbst?"
    
  Es war W, der zu mir heraufkroch. Er mochte keine Risiken und sprach immer nur flüsternd, selbst in der Höhle.
    
  "Ich habe gebetet."
    
  "Wir müssen zurück in unser Loch. Sie könnten uns sehen."
    
  Auf der Westmauer steht nur ein Wachposten, und der hat von hier aus keine direkte Sichtlinie. Keine Sorge.
    
  "Was, wenn er seine Position ändert? Sie haben Nachtsichtgeräte."
    
  "Ich sagte doch, keine Sorge. Der große Schwarze hat Dienst. Er raucht ständig, und das Licht seiner Zigarette blendet ihn", sagte O, genervt davon, reden zu müssen, anstatt die Stille zu genießen.
    
  "Lasst uns zurück in die Höhle gehen. Wir werden Schach spielen."
    
  Es täuschte ihn keine Sekunde. Wir wussten, dass er niedergeschlagen war. Afghanistan, Pakistan, Jemen. Sie hatten viel zusammen durchgemacht. Er war ein guter Kamerad. So ungeschickt seine Bemühungen auch waren, er versuchte ihn aufzumuntern.
    
  O hatte sich im Sand ausgestreckt. Sie befanden sich in einer Nische am Fuße einer Felsformation. Die Höhle darunter war nur etwa hundert Quadratmeter groß. O hatte sie drei Monate zuvor entdeckt und die Aktion geplant. Es war kaum genug Platz für alle, aber selbst wenn die Höhle hundertmal größer gewesen wäre, wäre O lieber draußen gewesen. Er fühlte sich in diesem lauten Loch gefangen, geplagt vom Schnarchen und den Fürzen seiner Brüder.
    
  "Ich glaube, ich bleibe noch ein bisschen länger hier. Ich mag die Kälte."
    
  'Wartest du auf Hookans Signal?'
    
  "Bis dahin wird es noch einige Zeit dauern. Die Ungläubigen haben noch nichts gefunden."
    
  "Ich hoffe, sie beeilen sich. Ich habe es satt, hier herumzusitzen, Dosenfutter zu essen und in eine Dose zu pinkeln."
    
  O antwortete nicht. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Brise auf seiner Haut. Das Warten gefiel ihm ganz gut.
    
  "Warum sitzen wir hier und tun nichts? Wir sind gut bewaffnet. Ich sage, wir gehen hin und töten sie alle", beharrte W.
    
  "Wir werden Hukans Anweisungen befolgen."
    
  'Hookan geht zu viele Risiken ein.'
    
  "Ich weiß. Aber er ist schlau. Er hat mir eine Geschichte erzählt. Weißt du, wie ein Buschmann in der Kalahari Wasser findet, wenn er weit weg von zu Hause ist? Er findet einen Affen und beobachtet ihn den ganzen Tag. Er darf sich vom Affen nicht erwischen lassen, sonst ist es vorbei. Wenn der Buschmann geduldig ist, zeigt ihm der Affe schließlich, wo er Wasser findet. Einen Felsspalt, eine kleine Tümpel ... Orte, die der Buschmann niemals entdeckt hätte."
    
  'Und was macht er dann?'
    
  "Er trinkt Wasser und isst Affen."
    
    
  33
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Freitag, 14. Juli 2006, 01:18 Uhr
    
    
  Stow Erling kaute nervös auf seinem Kugelschreiber herum und verfluchte Professor Forrester aus Leibeskräften. Es war nicht seine Schuld, dass die Daten aus einem der Sektoren nicht dort angekommen waren, wo sie hingehörten. Er hatte genug zu tun: Er musste sich mit den Beschwerden der angeheuerten Prospektoren herumschlagen, ihnen beim An- und Ausziehen ihrer Gurte helfen, die Batterien in ihrer Ausrüstung wechseln und sicherstellen, dass niemand zweimal denselben Sektor durchquerte.
    
  Natürlich war jetzt niemand da, der ihm beim Anlegen des Gurtes helfen konnte. Und mitten in der Nacht, nur mit einer Gaslaterne als Lichtquelle, war die Operation alles andere als einfach. Forrester kümmerte sich um niemanden - um niemanden außer sich selbst. Sobald er nach dem Abendessen die Anomalie in den Daten entdeckt hatte, befahl er Stowe, eine neue Analyse von Quadrant 22K durchzuführen.
    
  Vergeblich bat Stowe Forrester - er flehte ihn beinahe an -, es ihm am nächsten Tag zu erlauben. Ohne die Verknüpfung der Daten aus allen Sektoren würde das Programm nicht funktionieren.
    
  Dieser verdammte Pappas! Gilt der nicht als der weltweit führende Topografiearchäologe? Ein ausgebildeter Softwareentwickler, oder? Mist - genau das ist er. Er hätte Griechenland nie verlassen sollen. Verdammt! Ich muss dem Alten in den Hintern kriechen, damit er mich die Magnetometer-Code-Header vorbereiten lässt, und am Ende gibt er sie Pappas. Zwei Jahre, ganze zwei Jahre, Forresters Empfehlungen recherchieren, seine kindischen Fehler korrigieren, ihm Medikamente kaufen, seinen Mülleimer voller infiziertem, blutigem Gewebe leeren. Zwei Jahre, und er behandelt mich so.
    
  Glücklicherweise hatte Stowe die komplizierte Bewegungsabfolge abgeschlossen, und das Magnetometer lag nun auf seinen Schultern und war betriebsbereit. Er hob die Lampe an und positionierte sie etwa auf halber Höhe des Hangs. Sektor 22K umfasste einen Teil des sandigen Hangs nahe dem Gelenk des Canyons.
    
  Der Boden hier war anders als die schwammige, rosafarbene Oberfläche am Grund der Schlucht oder das ausgetrocknete Gestein, das den Rest des Gebiets bedeckte. Der Sand war dunkler, und der Hang selbst wies ein Gefälle von etwa 14 Prozent auf. Während er ging, gab der Sand nach, als würde sich ein Tier unter seinen Stiefeln bewegen. Als Stow den Hang hinaufstieg, musste er sich an den Gurten des Magnetometers festhalten, um das Instrument im Gleichgewicht zu halten.
    
  Als er sich bückte, um die Laterne abzustellen, verfing sich seine rechte Hand an einem aus dem Rahmen herausragenden Eisensplitter und verletzte ihn dabei.
    
  'Verdammt!'
    
  Während er an dem Stück lutschte, begann er, das Instrument in diesem langsamen, irritierenden Rhythmus über die Fläche zu bewegen.
    
  Er ist nicht mal Amerikaner. Nicht mal Jude, verdammt nochmal. Er ist ein mieser griechischer Einwanderer. Ein orthodoxer Grieche, bevor er für den Professor anfing. Er konvertierte erst nach drei Monaten bei uns zum Judentum. Schnelle Konversion - sehr praktisch. Ich bin so müde. Warum tue ich mir das an? Hoffentlich finden wir die Bundeslade. Dann werden sich die Geschichtsinstitute um mich reißen, und ich bekomme eine Festanstellung. Der Alte wird nicht lange durchhalten - wahrscheinlich nur so lange, bis er sich den ganzen Ruhm einheimsen kann. Aber in drei oder vier Jahren werden sie über sein Team reden. Über mich. Ich wünschte, seine verfaulten Lungen würden in den nächsten Stunden platzen. Ich frage mich, wen Kain dann mit der Expedition beauftragt hätte? Sicher nicht Pappas. Wenn er sich schon in die Hose macht, sobald der Professor ihn nur ansieht, stellt euch vor, was er erst macht, wenn er Kain sieht. Nein, sie brauchen jemanden Stärkeren, jemanden mit Charisma. Ich frage mich, wie Kain wirklich ist. Man sagt, er sei sehr krank. Aber warum ist er dann den ganzen Weg hierher gekommen?
    
  Stow blieb wie angewurzelt stehen, auf halber Höhe des Hangs, direkt vor der Canyonwand. Er glaubte, Schritte zu hören, aber das war unmöglich. Er blickte zurück zum Lager. Alles war unverändert.
    
  Natürlich. Ich bin der Einzige, der schon wach ist. Na ja, abgesehen von den Wachen, aber die sind dick eingepackt und schnarchen wahrscheinlich. Vor wem wollen die uns denn beschützen? Es wäre besser, wenn -
    
  Der junge Mann hielt erneut inne. Er hatte etwas gehört, und diesmal wusste er, dass er sich das nicht einbildete. Er legte den Kopf schief, um besser zu hören, doch das nervtötende Pfeifen ertönte wieder. Stowe tastete nach dem Schalter an dem Instrument und drückte ihn schnell einmal. So konnte er das Pfeifen abstellen, ohne das Instrument auszuschalten (was einen Alarm in Forresters Computer ausgelöst hätte) - etwas, das gestern ein Dutzend Leute mit furchtbaren Gefühlen herausgefunden hätten.
    
  Das müssen zwei Soldaten beim Schichtwechsel sein. Komm schon, du bist zu alt, um Angst im Dunkeln zu haben.
    
  Er schaltete das Gerät aus und ging den Hügel hinunter. Jetzt, wo er darüber nachdachte, wäre es besser, wieder ins Bett zu gehen. Wenn Forrester sich ärgern wollte, war das seine Sache. Er hatte gleich am Morgen damit begonnen und das Frühstück ausgelassen.
    
  Das ist alles. Ich werde vor dem Alten aufstehen, wenn es heller ist.
    
  Er lächelte und schalt sich selbst, weil er sich über Kleinigkeiten Sorgen gemacht hatte. Jetzt konnte er endlich ins Bett gehen, und das war alles, was er brauchte. Wenn er sich beeilte, konnte er drei Stunden schlafen.
    
  Plötzlich riss etwas an seinem Gurtzeug. Stowe fiel zurück und fuchtelte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Doch gerade als er dachte, er würde fallen, spürte er, wie ihn jemand packte.
    
  Der junge Mann spürte nicht, wie sich die Messerspitze in seine Lendenwirbelsäule bohrte. Die Hand, die seinen Gurt umklammerte, zog sich fester zusammen. Stowe erinnerte sich plötzlich an seine Kindheit, als er mit seinem Vater auf dem Chebacco-See Schwarzbarsche angelte. Sein Vater hielt den Fisch in der Hand und schlitzte ihn dann mit einer einzigen schnellen Bewegung auf. Die Bewegung erzeugte ein feuchtes, zischendes Geräusch, das dem letzten sehr ähnlich war, was Stowe gehört hatte.
    
  Die Hand ließ den jungen Mann los, der wie eine Stoffpuppe zu Boden fiel.
    
  Stow stieß im Sterben einen gebrochenen Laut aus, ein kurzes, trockenes Stöhnen, und dann herrschte Stille.
    
    
  34
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Freitag, 14. Juli 2006, 14:33 Uhr
    
    
  Der erste Teil des Plans war, pünktlich aufzuwachen. Soweit, so gut. Von da an ging alles schief.
    
  Andrea klemmte ihre Armbanduhr zwischen Wecker und Kopf; sie hatte sie auf 2:30 Uhr gestellt. Sie sollte sich mit Fowler in Quadrant 14B treffen, wo sie arbeitete, als sie dem Priester von dem Mann auf der Klippe erzählte. Die Reporterin wusste nur, dass der Priester ihre Hilfe brauchte, um Deckers Frequenzscanner zu deaktivieren. Fowler hatte ihr nicht verraten, wie er das anstellen wollte.
    
  Um sicherzustellen, dass sie pünktlich erschien, gab Fowler ihr seine Armbanduhr, da ihre keinen Wecker hatte. Es war eine robuste schwarze MTM Special Ops-Uhr mit Klettverschluss, die fast so alt aussah wie Andrea selbst. Auf der Rückseite der Uhr stand die Inschrift: "Damit andere leben können."
    
  "Damit andere leben können." Was für ein Mensch trägt so eine Uhr? Bestimmt kein Priester. Priester tragen Uhren für zwanzig Euro, bestenfalls eine billige Lotus mit Kunstlederarmband. So etwas hat doch gar keinen Charakter, dachte Andrea, bevor sie einschlief. Als der Wecker klingelte, schaltete sie ihn vorsichtshalber sofort aus und nahm die Uhr mit. Fowler hatte ihr unmissverständlich klargemacht, was mit ihr passieren würde, wenn sie sie verlöre. Außerdem leuchtete ihr kleines LED-Licht im Gesicht, sodass sie sich im Canyon besser orientieren konnte, ohne über eines der Absperrseile zu stolpern oder mit dem Kopf gegen einen Felsen zu knallen.
    
  Während sie nach ihrer Kleidung suchte, lauschte Andrea, ob jemand aufgewacht war. Kira Larsens Schnarchen beruhigte die Reporterin, doch sie beschloss, mit dem Anziehen ihrer Schuhe zu warten, bis sie draußen war. Als sie sich leise zur Tür schlich, zeigte sie ihre übliche Ungeschicklichkeit und ließ ihre Uhr fallen.
    
  Die junge Reporterin versuchte, ihre Nerven zu beruhigen und sich die Aufteilung der Krankenstation einzuprägen. Am anderen Ende standen zwei Tragen, ein Tisch und ein Schrank mit medizinischen Instrumenten. Drei Mitbewohnerinnen schliefen nahe dem Eingang auf ihren Matratzen und Schlafsäcken. Andrea lag in der Mitte, Larsen links von ihr und Harel rechts.
    
  Anhand von Kiras Schnarchen orientierte sie sich und begann, den Boden abzusuchen. Sie spürte die Kante ihrer eigenen Matratze. Ein Stück weiter berührte sie eine von Larsens weggeworfenen Socken. Sie verzog das Gesicht und wischte sich die Hand an ihrer Hose ab. Sie suchte weiter auf ihrer Matratze. Ein Stück weiter. Das musste Harels Matratze sein.
    
  Es war leer.
    
  Überrascht zog Andrea ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete es an, wobei sie die Flamme mit ihrem Körper vor Larsen abschirmte. Harel war nirgends in der Krankenstation zu finden. Fowler hatte ihr eingeschärft, Harel nichts von ihren Plänen zu erzählen.
    
  Die Reporterin hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, schnappte sich die Uhr, die sie zwischen den Matratzen gefunden hatte, und verließ das Zelt. Im Camp herrschte Totenstille. Andrea war froh, dass die Krankenstation nahe der nordwestlichen Canyonwand lag, sodass sie auf dem Weg zur oder von der Toilette niemandem begegnen würde.
    
  Ich bin sicher, Harel ist da. Ich verstehe nicht, warum wir ihr nicht sagen können, was wir tun, wenn sie schon von dem Satellitentelefon des Priesters weiß. Die beiden führen etwas Seltsames im Schilde.
    
  Einen Augenblick später ertönte das Horn des Professors. Andrea erstarrte; Angst packte sie wie ein in die Enge getriebenes Tier. Zuerst dachte sie, Forrester hätte sie entdeckt, bis ihr klar wurde, dass das Geräusch von weit her kam. Das Horn war gedämpft, aber sein Echo hallte schwach durch die Schlucht.
    
  Es gab zwei Explosionen, und dann war alles vorbei.
    
  Dann fing es wieder an und hörte nicht mehr auf.
    
  Das ist ein Notsignal. Darauf würde ich mein Leben verwetten.
    
  Andrea wusste nicht, an wen sie sich wenden sollte. Harel war nirgends zu sehen und Fowler wartete in Raum 14B auf sie. Ihre beste Option war Tommy Eichberg. Das Wartungszelt war gerade am nächsten, und mithilfe ihrer Uhr fand Andrea den Reißverschluss und stürmte hinein.
    
  'Tommy, Tommy, bist du da?'
    
  Ein halbes Dutzend Köpfe hoben sich aus ihren Schlafsäcken.
    
  "Es ist zwei Uhr morgens, um Himmels willen!", sagte ein zerzauster Brian Hanley und rieb sich die Augen.
    
  "Steh auf, Tommy. Ich glaube, der Professor ist in Schwierigkeiten."
    
  Tommy war bereits aus seinem Schlafsack geklettert.
    
  'Was passiert?'
    
  "Es ist das Horn des Professors. Es hat nicht aufgehört."
    
  "Ich höre nichts."
    
  "Komm mit mir. Ich glaube, er ist im Canyon."
    
  'Eine Minute.'
    
  'Worauf wartest du noch, Chanukka?'
    
  "Nein, ich warte darauf, dass du dich umdrehst. Ich bin nackt."
    
  Andrea kam murmelnd aus dem Zelt. Draußen ertönte noch immer das Horn, doch jeder Ton wurde leiser. Die Druckluft ging zur Neige.
    
  Tommy gesellte sich zu ihr, gefolgt von den übrigen Männern im Zelt.
    
  "Geh und sieh im Zelt des Professors nach, Robert", sagte Tommy und deutete auf den hageren Bohrmeister. "Und du, Brian, geh und warne die Soldaten."
    
  Dieser letzte Befehl war unnötig. Decker, Maloney, Torres und Jackson näherten sich bereits, noch nicht vollständig ausgerüstet, aber mit schussbereiten Maschinengewehren.
    
  "Was zum Teufel ist hier los?", fragte Decker mit einem Funkgerät in seiner riesigen Hand. "Meine Leute sagen, dass am Ende des Canyons irgendetwas die Hölle losbricht."
    
  "Miss Otero glaubt, der Professor steckt in Schwierigkeiten", sagte Tommy. "Wo sind Ihre Beobachter?"
    
  "Dieser Sektor befindet sich in einem blinden Fleck. Vaaka sucht nach einer besseren Position."
    
  "Guten Abend. Was gibt"s Neues? Mr. Cain versucht zu schlafen", sagte Jacob Russell und trat auf die Gruppe zu. Er trug einen zimtfarbenen Seidenpyjama, und sein Haar war leicht zerzaust. "Ich dachte ..."
    
  Decker unterbrach ihn mit einer Geste. Das Radio knisterte, und Vaakis gleichmäßige Stimme ertönte aus dem Lautsprecher.
    
  "Colonel, ich sehe Forrester und die Leiche am Boden. Ende."
    
  'Was macht Professor da, Nest Nummer Eins?'
    
  Er beugte sich über die Leiche. Fertig.
    
  "Verstanden, Nest Eins. Bleibt auf eurer Position und deckt uns. Nest Zwei und Drei, bereitmachen. Wenn eine Maus furzt, will ich es wissen."
    
  Decker unterbrach die Verbindung und erteilte weitere Befehle. In den wenigen Augenblicken, die er mit Vaaka kommunizierte, erwachte das gesamte Lager zum Leben. Tommy Eichberg schaltete einen der starken Halogen-Flutlichtstrahler ein, der gewaltige Schatten auf die Canyonwände warf.
    
  Andrea stand derweil etwas abseits von dem Kreis um Decker. Über seine Schulter konnte sie Fowler, vollständig angezogen, hinter der Krankenstation vorbeigehen sehen. Er blickte sich um, kam dann herüber und stellte sich hinter die Reporterin.
    
  "Sag nichts. Wir reden später."
    
  'Wo ist Harel?'
    
  Fowler blickte Andrea an und zog die Augenbrauen hoch.
    
  Er hat keine Ahnung.
    
  Plötzlich schöpfte Andrea Verdacht und wandte sich an Decker, doch Fowler packte ihren Arm und hielt sie zurück. Nach einem kurzen Wortwechsel mit Russell traf der massige Südafrikaner seine Entscheidung. Er übertrug Maloney die Leitung des Lagers und machte sich zusammen mit Torres und Jackson auf den Weg zu Sektor 22K.
    
  "Lass mich los, Vater! Er sagte, da läge eine Leiche", sagte Andrea und versuchte, sich zu befreien.
    
  'Warten'.
    
  "Sie hätte es sein können."
    
  'Festhalten.'
    
  Inzwischen hob Russell die Hände und wandte sich an die Gruppe.
    
  "Bitte, bitte. Wir sind alle sehr besorgt, aber ständiges Hin- und Herlaufen hilft niemandem. Sehen Sie sich um und sagen Sie mir, ob jemand fehlt. Herr Eichberg? Und Brian?"
    
  "Er kümmert sich um den Generator. Der Treibstoff ist fast weg."
    
  'Herr Pappas?'
    
  "Alle hier außer Stow Erling, Sir", sagte Pappas nervös, seine Stimme zitterte vor Anspannung. "Er war im Begriff, Sektor 22K erneut zu überqueren. Die Datenköpfe waren fehlerhaft."
    
  'Dr. Harel?'
    
  "Dr. Harel ist nicht hier", sagte Kira Larsen.
    
  'So ist sie doch nicht? Hat irgendjemand eine Ahnung, wo sie sein könnte?', fragte ein überraschter Russell.
    
  "Wo kann denn jemand sein?", fragte eine Stimme hinter Andrea. Die Reporterin drehte sich um, Erleichterung spiegelte sich in ihrem Gesicht. Harel stand hinter ihr, die Augen blutunterlaufen, nur mit Stiefeln und einem langen roten Hemd bekleidet. "Entschuldigen Sie mich, aber ich habe Schlaftabletten genommen und bin noch etwas benommen. Was ist passiert?"
    
  Während Russell den Arzt informierte, hatte Andrea gemischte Gefühle. Sie war zwar froh, dass es Harel gut ging, aber sie konnte nicht verstehen, wo der Arzt die ganze Zeit gewesen sein konnte oder warum er gelogen hatte.
    
  Und ich bin nicht die Einzige, dachte Andrea und beobachtete ihre Zeltgenossin. Kira Larsen hatte Harel fest im Blick. Sie verdächtigte die Ärztin. Bestimmt hatte sie bemerkt, dass sie vor ein paar Minuten nicht mehr in ihrem Bett lag. Wenn Blicke Laserstrahlen wären, hätte Doc ein Loch im Rücken, so groß wie eine kleine Pizza.
    
    
  35
    
    
    
  KINE
    
  Der alte Mann stieg auf einen Stuhl und löste einen der Knoten, die die Zeltwände zusammenhielten. Er knotete ihn fest, löste ihn wieder und knotete ihn erneut fest.
    
  "Sir, Sie tun es schon wieder."
    
  'Jemand ist tot, Jakob. Tot.'
    
  "Sir, der Knoten ist in Ordnung. Bitte kommen Sie herunter. Sie müssen das nehmen." Russell hielt einen kleinen Pappbecher mit einigen Tabletten darin hin.
    
  "Ich werde sie nicht nehmen. Ich muss auf der Hut sein. Ich könnte der Nächste sein. Gefällt dir dieser Knoten?"
    
  'Ja, Mr. Kine.'
    
  "Das nennt man doppelte Acht. Es ist ein sehr guter Knoten. Mein Vater hat mir gezeigt, wie man ihn macht."
    
  "Das ist ein perfekter Knoten, mein Herr. Bitte steigen Sie von Ihrem Stuhl herunter."
    
  'Ich möchte nur sichergehen...'
    
  "Mein Herr, Sie verfallen wieder in zwanghaftes Verhalten."
    
  'Benutzen Sie diesen Ausdruck nicht in Bezug auf mich.'
    
  Der alte Mann drehte sich so abrupt um, dass er das Gleichgewicht verlor. Jakob wollte Kain auffangen, war aber nicht schnell genug, und der alte Mann stürzte.
    
  "Geht es Ihnen gut?" Ich rufe Dr. Harel an!
    
  Der alte Mann weinte auf dem Boden, aber nur ein kleiner Teil seiner Tränen war auf den Sturz zurückzuführen.
    
  'Jemand ist tot, Jakob. Jemand ist tot.'
    
    
  36
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Freitag, 14. Juli 2006, 3:13 Uhr.
    
    
  'Mord'.
    
  "Sind Sie sicher, Doktor?"
    
  Stow Erlings Leiche lag inmitten eines Kreises aus Gaslaternen. Sie warfen ein fahles Licht, und die Schatten auf den umliegenden Felsen verschwammen in einer Nacht, die plötzlich von Gefahr erfüllt schien. Andrea unterdrückte ein Schaudern, als sie den Körper im Sand betrachtete.
    
  Als Decker und seine Begleiter vor wenigen Minuten am Tatort eintrafen, fand er den alten Professor vor, der die Hand des Toten hielt und unaufhörlich einen inzwischen nutzlosen Alarm betätigte. Decker schob den Professor beiseite und rief nach Dr. Harel. Die Ärztin bat Andrea, sie zu begleiten.
    
  "Lieber nicht", sagte Andrea. Ihr war schwindlig und sie war verwirrt, als Decker per Funk meldete, dass sie Stow Erling tot aufgefunden hatten. Sie musste unwillkürlich daran denken, wie sehr sie sich gewünscht hatte, die Wüste möge ihn einfach verschlingen.
    
  "Bitte. Ich bin sehr besorgt, Andrea. Hilf mir."
    
  Die Ärztin wirkte aufrichtig besorgt, also ging Andrea wortlos neben ihr her. Die Reporterin überlegte, wie sie Harel fragen konnte, wo zum Teufel sie gewesen war, als das ganze Schlamassel angefangen hatte, aber sie konnte es nicht tun, ohne zu verraten, dass auch sie an einem Ort gewesen war, an dem sie nicht hätte sein sollen. Als sie Quadrant 22K erreichten, stellten sie fest, dass Decker es geschafft hatte, die Leiche zu beleuchten, damit Harel die Todesursache feststellen konnte.
    
  "Sagen Sie es mir, Colonel. Wenn es kein Mord war, dann war es ein sehr entschlossener Selbstmord. Er hat eine Stichwunde am unteren Ende der Wirbelsäule, die definitiv tödlich ist."
    
  "Und es ist sehr schwierig, das zu erreichen", sagte Decker.
    
  "Was meinen Sie?", fragte Russell, der neben Decker stand.
    
  Ein Stück weiter entfernt hockte Kira Larsen neben dem Professor und versuchte, ihn zu trösten. Sie legte ihm eine Decke um die Schultern.
    
  "Er meint damit, dass es eine perfekt ausgeführte Wunde war. Ein sehr scharfes Messer. Von Stowe war kaum Blut zu sehen", sagte Harel und zog die Latexhandschuhe aus, die sie bei der Untersuchung der Leiche getragen hatte.
    
  "Ein Profi, Herr Russell", fügte Decker hinzu.
    
  "Wer hat ihn gefunden?"
    
  "Professor Forresters Computer hat einen Alarm, der losgeht, wenn eines der Magnetometer ausfällt", sagte Decker und nickte dem alten Mann zu. "Er war hier, um mit Stow zu sprechen. Als er ihn am Boden liegen sah, dachte er, er schliefe, und fing an, ihm ins Ohr zu hupen, bis er begriff, was passiert war. Dann hupte er weiter, um uns zu warnen."
    
  'Ich will mir gar nicht vorstellen, wie Mr. Kane reagieren wird, wenn er erfährt, dass Stowe getötet wurde. Wo zum Teufel waren Ihre Leute, Decker? Wie konnte das passieren?'
    
  "Sie müssen, wie von mir befohlen, über den Canyon hinausgeschaut haben. Es sind nur drei, die in einer mondlosen Nacht ein sehr großes Gebiet abdecken. Sie haben ihr Bestes gegeben."
    
  "So viel ist es nicht", sagte Russell und deutete auf die Leiche.
    
  "Russell, ich hab"s dir doch gesagt. Es ist Wahnsinn, hier mit nur sechs Mann anzukommen. Wir haben zwar drei Mann für den vierstündigen Notfall-Sicherheitsdienst, aber um ein so gefährliches Gebiet abzusichern, brauchen wir mindestens zwanzig. Also gib mir nicht die Schuld."
    
  "Das kommt nicht in Frage. Sie wissen ja, was passieren wird, wenn die jordanische Regierung -"
    
  "Könntet ihr beiden bitte aufhören zu streiten!" Der Professor stand auf, die Decke hing ihm über die Schultern. Seine Stimme bebte vor Wut. "Einer meiner Assistenten ist tot. Ich habe ihn hierher geschickt. Könntet ihr bitte aufhören, euch gegenseitig die Schuld zuzuschieben?"
    
  Russell verstummte. Zu Andreas Überraschung tat Decker es ihm gleich, doch er behielt die Fassung, als er sich an Dr. Harel wandte.
    
  "Können Sie uns noch etwas anderes sagen?"
    
  "Ich nehme an, er wurde dort getötet und rutschte dann den Hang hinunter, angesichts der Felsen, die mit ihm herabstürzten."
    
  "Können Sie sich das vorstellen?", sagte Russell und zog eine Augenbraue hoch.
    
  "Tut mir leid, aber ich bin kein Gerichtsmediziner, sondern nur ein Arzt mit Spezialisierung auf Kriegsmedizin. Ich bin definitiv nicht qualifiziert, einen Tatort zu analysieren. Ich glaube jedenfalls nicht, dass Sie in der Mischung aus Sand und Gestein hier Fußabdrücke oder andere Hinweise finden werden."
    
  "Wissen Sie, ob Erling irgendwelche Feinde hatte, Professor?", fragte Decker.
    
  "Er kam mit David Pappas nicht zurecht. Ich war für die Rivalität zwischen ihnen verantwortlich."
    
  'Hast du sie jemals kämpfen sehen?'
    
  "Oftmals, aber es kam nie zu Handgreiflichkeiten." Forrester hielt inne und schüttelte dann Decker den Finger vor dem Gesicht. "Moment mal. Sie wollen doch nicht etwa andeuten, dass einer meiner Assistenten das getan hat?"
    
  Andrea betrachtete Stow Erlings Leiche mit einer Mischung aus Schock und Ungläubigkeit. Sie wollte zu dem Lampenkreis gehen und an seinem Zopf ziehen, um ihm zu beweisen, dass er nicht tot war, dass alles nur der dumme Scherz des Professors gewesen war. Erst als sie sah, wie der gebrechliche alte Mann dem riesigen Dekker mit erhobenem Zeigefinger ins Gesicht zeigte, begriff sie die Tragweite der Situation. In diesem Moment brach das Geheimnis, das sie zwei Tage lang gehütet hatte, wie ein Damm unter Druck.
    
  'Herr Decker'.
    
  Der Südafrikaner drehte sich zu ihr um, sein Gesichtsausdruck war eindeutig nicht freundlich.
    
  "Fräulein Otero, Schopenhauer sagte, die erste Begegnung mit einem Gesicht hinterlasse einen unauslöschlichen Eindruck. Fürs Erste habe ich genug von Ihrem Gesicht - verstanden?"
    
  "Ich weiß gar nicht, warum du hier bist, niemand hat dich eingeladen", fügte Russell hinzu. "Diese Geschichte ist nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Geh zurück ins Camp."
    
  Die Reporterin wich einen Schritt zurück, begegnete aber dem Blick sowohl des Söldners als auch der jungen Managerin. Andrea ignorierte Fowlers Rat und beschloss, reinen Tisch zu machen.
    
  "Ich gehe nicht. Der Tod dieses Mannes könnte meine Schuld sein."
    
  Decker kam ihr so nahe, dass Andrea die trockene Hitze seiner Haut spüren konnte.
    
  'Sprich lauter.'
    
  "Als wir am Canyon ankamen, glaubte ich, jemanden oben auf der Klippe zu sehen."
    
  'Was? Und es ist dir nicht in den Sinn gekommen, etwas zu sagen?'
    
  "Ich habe mir damals nicht viel dabei gedacht. Tut mir leid."
    
  'Super, es tut dir leid. Dann ist ja alles gut. Scheiße!'
    
  Russell schüttelte fassungslos den Kopf. Decker kratzte sich an der Narbe im Gesicht und versuchte zu begreifen, was er gerade gehört hatte. Harel und der Professor sahen Andrea ungläubig an. Nur Kira Larson reagierte: Sie stieß Forrester beiseite, stürzte auf Andrea zu und gab ihr eine Ohrfeige.
    
  'Hündin!'
    
  Andrea war so fassungslos, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte. Doch als sie den Schmerz in Kiras Gesicht sah, verstand sie und ließ ihre Hände sinken.
    
  Es tut mir leid. Verzeiht mir.
    
  "Schlampe!", wiederholte der Archäologe, stürzte sich auf Andrea und schlug ihr ins Gesicht und gegen die Brust. "Du hättest allen sagen können, dass wir beobachtet werden. Weißt du denn nicht, wonach wir suchen? Verstehst du nicht, wie sehr uns das alle betrifft?"
    
  Harel und Decker packten Larsen an den Armen und zogen sie zurück.
    
  "Er war mein Freund", murmelte sie und wich ein wenig zurück.
    
  In diesem Moment traf David Pappas am Unfallort ein. Er rannte und schwitzte. Offensichtlich war er mindestens einmal gestürzt, denn er hatte Sand im Gesicht und auf seiner Brille.
    
  'Professor! Professor Forrester!'
    
  'Was ist los, David?'
    
  "Daten. Stowe-Daten", sagte Pappas, beugte sich vor und kniete nieder, um wieder zu Atem zu kommen.
    
  Der Professor machte eine abweisende Geste.
    
  "Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, David. Dein Kollege ist tot."
    
  "Aber, Professor, Sie müssen zuhören. Die Schlagzeilen. Ich habe sie korrigiert."
    
  'Sehr gut, David. Wir sprechen morgen.'
    
  Dann tat David Pappas etwas, was er ohne die angespannte Atmosphäre jener Nacht niemals getan hätte. Er packte Forresters Decke und riss den alten Mann herum, sodass dieser ihm gegenüberstand.
    
  'Du verstehst das nicht. Wir haben einen Spitzenwert von 7911!'
    
  Zuerst reagierte Professor Forrester nicht, dann aber sprach er sehr langsam und bedächtig mit so leiser Stimme, dass David ihn kaum hören konnte.
    
  'Wie groß?'
    
  "Riesig, Sir."
    
  Der Professor sank auf die Knie. Sprachlos beugte er sich flehend vor und zurück.
    
  'Was bedeutet 7911, David?', fragte Andrea.
    
  "Atomgewicht 79. Position 11 im Periodensystem", sagte der junge Mann mit zitternder Stimme. Es war, als hätte er sich mit der Überbringung dieser Botschaft völlig entleert. Sein Blick ruhte auf der Leiche.
    
  'Und das ist...?'
    
  "Gold, Miss Otero. Stow Erling hat die Bundeslade gefunden."
    
    
  37
    
    
    
  Einige Fakten über die Bundeslade, abgeschrieben aus dem Moleskine-Notizbuch von Professor Cecil Forrester.
    
  Die Bibel sagt: "Und sie sollen eine Lade aus Akazienholz anfertigen; ihre Länge soll zweieinhalb Ellen, ihre Breite eineinhalb Ellen und ihre Höhe eineinhalb Ellen betragen. Und du sollst sie innen und außen mit reinem Gold überziehen und ringsum einen goldenen Kranz anbringen. Und du sollst vier goldene Ringe gießen und sie an ihren vier Ecken anbringen; zwei Ringe auf dieser Seite und zwei Ringe auf jener Seite. Und du sollst Stangen aus Akazienholz anfertigen und sie mit Gold überziehen. Und du sollst die Stangen in die Ringe an den Seiten der Lade stecken, damit die Lade mit ihnen getragen werden kann."
    
  Ich werde die gebräuchliche Elle verwenden. Ich weiß, ich werde dafür kritisiert werden, denn nur wenige Wissenschaftler tun das; sie greifen auf die ägyptische Elle und die "heilige" Elle zurück, die viel prestigeträchtiger sind. Aber ich habe Recht.
    
  Folgendes wissen wir mit Sicherheit über die Arche:
    
  • Baujahr: 1453 v. Chr. am Fuße des Berges Sinai.
    
  • Länge 44 Zoll
    
  • Breite 25 Zoll
    
  • Höhe 25 Zoll
    
  • Fassungsvermögen: 84 Gallonen
    
  • 600 Pfund Gewicht
    
  Manche Leute schätzen das Gewicht der Arche auf etwa 1.100 Pfund. Und dann gibt es da noch den Idioten, der behauptet, sie hätte über eine Tonne gewogen. Das ist doch Wahnsinn! Und die nennen sich Experten. Sie übertreiben das Gewicht der Arche nur allzu gern. Arme Idioten! Sie verstehen einfach nicht, dass Gold, selbst wenn es schwer ist, zu weich ist. Die Ringe könnten dieses Gewicht nicht tragen, und die Holzstangen wären nicht lang genug, damit mehr als vier Männer sie bequem tragen könnten.
    
  Gold ist ein sehr weiches Metall. Letztes Jahr sah ich einen ganzen Raum, der mit dünnen Goldblechen bedeckt war, gefertigt aus einer einzigen, recht großen Münze mit Techniken aus der Bronzezeit. Die Juden waren geschickte Handwerker, und sie besaßen in der Wüste keine großen Goldmengen. Sie hätten sich auch nicht mit einem so schweren Gewicht belastet, dass sie sich ihren Feinden schutzlos ausgeliefert hätten. Nein, sie hätten eine kleine Menge Gold verwendet und daraus dünne Bleche geformt, um Holz zu bedecken. Akazienholz ist ein haltbares Holz, das Jahrhunderte ohne Schaden überdauern kann, besonders wenn es mit einer dünnen Metallschicht überzogen ist, die nicht rostet und von den Einflüssen der Zeit unberührt bleibt. Dies war ein Objekt, geschaffen für die Ewigkeit. Wie hätte es anders sein können, schließlich hatte der Zeitlose die Anweisungen gegeben?
    
    
  38
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Freitag, 14. Juli 2006, 14:21 Uhr.
    
    
  "Die Daten wurden also manipuliert."
    
  "Jemand anderes hat die Information erhalten, Vater."
    
  "Deshalb haben sie ihn getötet."
    
  "Ich verstehe, was, wo und wann. Wenn Sie mir nur noch sagen, wie und wer, werde ich die glücklichste Frau der Welt sein."
    
  "Ich arbeite daran."
    
  "Glauben Sie, es war ein Fremder?" Vielleicht der Mann, den ich oben im Canyon gesehen habe?
    
  "Ich glaube nicht, dass du so dumm bist, junge Dame."
    
  "Ich habe immer noch Schuldgefühle."
    
  "Nun, Sie sollten damit aufhören. Ich war es, der Sie gebeten hat, niemandem etwas zu erzählen. Aber glauben Sie mir: Jemand auf dieser Expedition ist ein Mörder. Deshalb ist es wichtiger denn je, dass wir mit Albert sprechen."
    
  "Gut. Aber ich glaube, Sie wissen mehr, als Sie mir sagen - viel mehr. Gestern gab es für diese Tageszeit ungewöhnliche Aktivitäten in der Schlucht. Die Ärztin war nicht im Bett."
    
  "Ich hab"s dir doch gesagt... ich arbeite daran."
    
  "Verdammt, Vater. Du bist der Einzige, den ich kenne, der so viele Sprachen spricht, aber nicht gern redet."
    
  Pater Fowler und Andrea Otero saßen im Schatten der Westwand des Canyons. Da nach dem Schock über Stowe Earlings Ermordung in der Nacht zuvor niemand viel geschlafen hatte, war der Tag schleppend und bedrückend angelaufen. Doch nach und nach trat die Nachricht, dass Stowes Magnetometer Gold entdeckt hatte, in den Hintergrund und veränderte die Stimmung im Camp. Im Quadranten 22K herrschte reges Treiben, mit Professor Forrester im Zentrum: Gesteinsanalysen, weitere Magnetometertests und, am wichtigsten, Bodenhärtemessungen für die Ausgrabungen.
    
  Das Verfahren bestand darin, einen elektrischen Draht durch die Erde zu führen, um zu bestimmen, wie viel Strom er leiten konnte. Beispielsweise hat ein mit Erde gefülltes Loch einen geringeren elektrischen Widerstand als die unberührte Erde in seiner Umgebung.
    
  Die Testergebnisse waren eindeutig: Der Boden war zu diesem Zeitpunkt extrem instabil. Das brachte Forrester in Rage. Andrea sah zu, wie er wild gestikulierte, Papiere in die Luft warf und seine Arbeiter beschimpfte.
    
  "Warum ist der Professor so wütend?", fragte Fowler.
    
  Der Priester saß auf einem flachen Felsen, etwa einen halben Meter über Andrea. Er spielte mit einem kleinen Schraubenzieher und einigen Kabeln, die er aus Brian Hanleys Werkzeugkasten genommen hatte, und schenkte dem Geschehen um ihn herum kaum Beachtung.
    
  "Sie haben Tests durchgeführt. Sie können die Bundeslade nicht einfach ausgraben", erwiderte Andrea. Sie hatte wenige Minuten zuvor mit David Pappas gesprochen. "Sie glauben, dass sie sich in einem künstlichen Loch befindet. Wenn sie einen Minibagger einsetzen, besteht eine gute Chance, dass das Loch einstürzt."
    
  "Sie müssen möglicherweise eine Alternative finden. Das könnte Wochen dauern."
    
  Andrea machte mit ihrer Digitalkamera weitere Fotos und betrachtete sie anschließend auf dem Monitor. Sie hatte einige hervorragende Bilder von Forrester, der buchstäblich Schaum vor dem Mund hatte. Die entsetzte Kira Larsen warf schockiert den Kopf zurück, als sie die Nachricht von Erlings Tod hörte.
    
  "Forrester schreit sie schon wieder an. Ich weiß nicht, wie seine Assistenten das aushalten."
    
  'Vielleicht ist es genau das, was sie alle heute Morgen brauchen, meinst du nicht?'
    
  Andrea wollte Fowler gerade sagen, sie solle aufhören, Unsinn zu reden, als ihr klar wurde, dass sie selbst schon immer eine starke Verfechterin der Selbstbestrafung als Mittel zur Vermeidung von Trauer gewesen war.
    
  LB ist der beste Beweis dafür. Wenn ich meine eigenen Ratschläge befolgen würde, hätte ich ihn schon längst aus dem Fenster geworfen. Verdammte Katze! Hoffentlich frisst er nicht das Shampoo der Nachbarin. Und wenn doch, hoffe ich, dass sie mich nicht dafür bezahlen lässt.
    
  Forresters Schreie ließen die Leute auseinanderstieben wie Kakerlaken, als das Licht anging.
    
  "Vielleicht hat er recht, Vater. Aber ich glaube nicht, dass es viel Respekt vor dem verstorbenen Kollegen zeugt, weiterzuarbeiten."
    
  Fowler blickte von seiner Arbeit auf.
    
  "Ich mache ihm keinen Vorwurf. Er muss sich beeilen. Morgen ist Samstag."
    
  "Oh ja. Samstag. Juden dürfen freitags nach Sonnenuntergang nicht einmal das Licht anmachen. Das ist doch Unsinn."
    
  "Sie glauben wenigstens an etwas. Woran glaubst du?"
    
  "Ich war schon immer ein praktischer Mensch."
    
  "Ich nehme an, Sie meinen einen Ungläubigen."
    
  "Ich meine das wohl ganz praktisch. Zwei Stunden pro Woche an einem Ort voller Weihrauch zu verbringen, würde genau 343 Tage meines Lebens in Anspruch nehmen. Nichts für ungut, aber ich glaube nicht, dass es sich lohnt. Nicht einmal für die vermeintliche Ewigkeit."
    
  Der Priester kicherte.
    
  Hast du jemals an irgendetwas geglaubt?
    
  "Ich glaubte an Beziehungen."
    
  'Was ist passiert?'
    
  "Ich habe Mist gebaut. Sagen wir einfach, sie hat es eher geglaubt als ich."
    
  Fowler schwieg. Andreas Stimme klang etwas gezwungen. Ihr wurde klar, dass der Priester wollte, dass sie sich aussprach.
    
  "Außerdem, Vater ... ich glaube nicht, dass der Glaube der einzige Beweggrund für diese Expedition ist. Die Arche wird viel Geld kosten."
    
  Es gibt weltweit etwa 125.000 Tonnen Gold. Glauben Sie, dass Herr Kain dreizehn oder vierzehn davon aus der Bundeslade holen muss?
    
  "Ich spreche von Forrester und seinen fleißigen Bienen", erwiderte Andrea. Sie liebte es zu streiten, aber sie hasste es, wenn ihre Argumente so leicht widerlegt wurden.
    
  "Okay. Brauchen Sie einen praktischen Grund? Sie leugnen alles. Ihre Arbeit hält sie am Laufen."
    
  'Was zum Teufel redest du da?'
    
  "Die Phasen der Trauer von Dr. C. Blair-Ross".
    
  "Oh ja. Verleugnung, Wut, Depression und all das."
    
  "Genau. Sie befinden sich alle im ersten Stadium."
    
  "Wenn man hört, wie der Professor schreit, könnte man meinen, er wäre im zweiten Teil."
    
  Es wird ihnen heute Abend besser gehen. Professor Forrester wird die Trauerrede halten. Ich glaube, es wird interessant sein, ihn einmal etwas Nettes über jemand anderen als sich selbst sagen zu hören.
    
  'Was wird mit dem Leichnam geschehen, Vater?'
    
  "Sie werden die Leiche in einen versiegelten Leichensack legen und sie vorerst begraben."
    
  Andrea blickte Fowler ungläubig an.
    
  'Das ist doch nicht dein Ernst!'
    
  "Das ist jüdisches Gesetz. Jeder, der stirbt, muss innerhalb von vierundzwanzig Stunden begraben werden."
    
  'Du weißt, was ich meine. Werden sie ihn nicht zu seiner Familie zurückbringen?'
    
  "Niemand und nichts darf das Lager verlassen, Miss Otero. Erinnern Sie sich?"
    
  Andrea verstaute die Kamera in ihrem Rucksack und zündete sich eine Zigarette an.
    
  "Diese Leute sind verrückt. Hoffentlich ruiniert uns diese blöde Exklusivstory nicht alle."
    
  "Sie sprechen immer von Ihrer Exklusivität, Miss Otero. Ich verstehe nicht, was Sie so verzweifelt suchen."
    
  "Ruhm und Reichtum. Und du?"
    
  Fowler stand auf und breitete die Arme aus. Er lehnte sich zurück, wobei seine Wirbelsäule laut knackte.
    
  "Ich befolge nur Befehle. Wenn die Bundeslade echt ist, will der Vatikan das wissen, um sie als ein Objekt zu erkennen, das Gottes Gebote enthält."
    
  Eine sehr einfache, ziemlich originelle Antwort. Und sie stimmt ganz bestimmt nicht, Vater. Du bist ein sehr schlechter Lügner. Aber tun wir mal so, als ob ich dir glauben würde.
    
  "Vielleicht", sagte Andrea nach einem Moment. "Aber warum haben Ihre Vorgesetzten dann keinen Historiker geschickt?"
    
  Fowler zeigte ihr, woran er gearbeitet hatte.
    
  "Weil ein Historiker das nicht konnte."
    
  "Was ist das?", fragte Andrea neugierig. Es sah aus wie ein einfacher Lichtschalter, aus dem ein paar Drähte herauskamen.
    
  "Wir müssen den gestrigen Plan, Albert zu kontaktieren, verwerfen. Nach Erlings Tod werden sie noch misstrauischer sein. Deshalb werden wir stattdessen Folgendes tun ..."
    
    
  39
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Freitag, 14. Juli 2006, 15:42 Uhr.
    
    
  Vater, sag mir noch einmal, warum ich das tue.
    
  Weil Sie die Wahrheit wissen wollen. Die Wahrheit darüber, was hier vor sich geht. Darüber, warum man sich die Mühe gemacht hat, Sie in Spanien zu kontaktieren, wo Cain doch tausend Reporter hätte finden können, die erfahrener und bekannter wären als Sie, direkt in New York.
    
  Das Gespräch hallte Andrea noch in den Ohren nach. Es war dieselbe Frage, die eine leise Stimme in ihrem Kopf schon seit geraumer Zeit stellte. Sie wurde vom Pride Philharmonic Orchestra übertönt, begleitet von Mr. Wiz Duty, einem Bariton, und Miss Glory at Any Price, einer Sopranistin. Doch Fowlers Worte brachten die leise Stimme wieder zum Vorschein.
    
  Andrea schüttelte den Kopf und versuchte, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Der Plan war, die dienstfreie Zeit auszunutzen, in der die Soldaten sich ausruhen, ein Nickerchen machen oder Karten spielen wollten.
    
  "Da kommst du ins Spiel", sagte Fowler. "Auf mein Zeichen hin schiebst du dich unter das Zelt."
    
  "Zwischen dem Holzboden und dem Sand? Bist du verrückt?"
    
  "Dort ist genug Platz. Du musst etwa einen halben Meter kriechen, bis du den Verteilerkasten erreichst. Das Kabel, das den Generator mit dem Zelt verbindet, ist orange. Zieh es schnell heraus, verbinde es mit dem Ende meines Kabels und das andere Ende meines Kabels wieder mit dem Verteilerkasten. Drück dann drei Minuten lang alle fünfzehn Sekunden diesen Knopf. Und dann verschwinde schnell von dort."
    
  Was wird das bringen?
    
  "Technologisch gesehen ist das nichts allzu Kompliziertes. Es wird zu einem leichten Abfall des Stroms führen, ohne ihn vollständig abzuschalten. Der Frequenzscanner schaltet sich nur zweimal ab: einmal beim Anschließen des Kabels und einmal beim Trennen."
    
  'Und die restliche Zeit?'
    
  "Es wird sich im Startmodus befinden, wie ein Computer beim Laden seines Betriebssystems. Solange niemand unter das Zelt schaut, wird es keine Probleme geben."
    
  Außer dem, was war: Hitze.
    
  Als Fowler das Signal gab, war es ein Leichtes, unter das Zelt zu kriechen. Andrea duckte sich, tat so, als würde sie sich die Schnürsenkel binden, sah sich um und rollte dann unter die Holzplattform. Es war, als würde man in ein Fass mit heißem Öl springen. Die Luft war geschwängert von der Hitze des Tages, und der Generator neben dem Zelt erzeugte einen sengenden Hitzestrahl, der in den Raum strahlte, in dem Andrea kroch.
    
  Sie stand nun unter dem Verteilerkasten, ihr Gesicht und ihre Hände brannten. Sie nahm Fowlers Schalter und hielt ihn in der rechten Hand bereit, während sie mit der linken ruckartig an dem orangefarbenen Kabel zog. Sie verband es mit Fowlers Gerät, dann das andere Ende mit dem Verteilerkasten und wartete.
    
  Diese nutzlose, verlogene Uhr! Sie zeigt erst zwölf Sekunden an, aber es fühlt sich an wie zwei Minuten. Mann, ich halte diese Hitze nicht mehr aus!
    
  Dreizehn, vierzehn, fünfzehn.
    
  Sie drückte den Unterbrechungsknopf.
    
  Der Tonfall der Soldatenstimmen über ihr veränderte sich.
    
  Es sieht so aus, als hätten sie etwas bemerkt. Hoffentlich machen sie kein großes Aufhebens darum.
    
  Sie lauschte dem Gespräch aufmerksamer. Es hatte ursprünglich nur dazu gedient, sie von der Hitze abzulenken und einer Ohnmacht vorzubeugen. Sie hatte an diesem Morgen nicht genug getrunken und spürte nun die Folgen. Ihr Hals und ihre Lippen waren trocken, und ihr war etwas schwindelig. Doch dreißig Sekunden später versetzte das Gehörte Andrea in Panik. So sehr, dass sie drei Minuten später immer noch da stand, alle fünfzehn Sekunden den Knopf drückte und gegen das Gefühl ankämpfte, gleich ohnmächtig zu werden.
    
    
  40
    
    
  IRGENDWO IN FAIRFAX COUNTY, VIRGINIA
    
    
  Freitag, 14. Juli 2006, 8:42 Uhr.
    
    
  Hast du es?
    
  "Ich glaube, ich habe etwas. Es war nicht einfach. Dieser Kerl ist sehr gut darin, seine Spuren zu verwischen."
    
  'Ich brauche mehr als Vermutungen, Albert. Hier sterben bereits Menschen.'
    
  'Menschen sterben doch immer, oder?'
    
  "Diesmal ist es anders. Es macht mir Angst."
    
  'Du? Das kann ich nicht glauben. Du hattest nicht einmal Angst vor den Koreanern. Und damals...'
    
  'Albert...'
    
  "Entschuldigen Sie. Ich habe um ein paar Gefallen gebeten. CIA-Experten haben einige Daten von den Netcatch-Computern wiederhergestellt. Orville Watson ist einem Terroristen namens Hakan auf der Spur."
    
  'Spritze'.
    
  "Wenn du das sagst. Ich kann kein Arabisch. Es sieht so aus, als ob der Mann Kain gejagt hat."
    
  "Sonst noch etwas? Nationalität? Ethnische Zugehörigkeit?"
    
  "Nichts. Nur ein paar vage Informationen, ein paar abgefangene E-Mails. Keine der Dateien hat das Feuer überstanden. Festplatten sind sehr empfindlich."
    
  "Sie müssen Watson finden. Er ist der Schlüssel zu allem. Es ist dringend."
    
  "Ich bin dabei."
    
    
  41
    
    
    
  IM ZELT DES SOLDATEN, FÜNF MINUTEN VORHER
    
  Marla Jackson las nicht gern Zeitung, und deshalb landete sie im Gefängnis. Natürlich sah Marla das anders. Sie glaubte, sie säße im Gefängnis, weil sie eine gute Mutter war.
    
  Die Wahrheit über Marlas Leben lag irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Sie hatte eine arme, aber relativ normale Kindheit - so normal, wie es in Lorton, Virginia, möglich war, einer Stadt, die von ihren eigenen Einwohnern als "Amerikas Arschloch" bezeichnet wurde. Marla wurde in eine schwarze Familie der Unterschicht hineingeboren. Sie spielte mit Puppen und Seilspringen, ging zur Schule und wurde mit fünfzehneinhalb Jahren schwanger.
    
  Marla wollte die Schwangerschaft unbedingt verhindern. Aber sie konnte unmöglich wissen, dass Curtis ein Loch in das Kondom gestochen hatte. Sie hatte keine Wahl. Sie hatte von einer verrückten Praxis unter einigen Teenagern gehört, die versuchten, sich Ansehen zu verschaffen, indem sie Mädchen vor ihrem Schulabschluss schwängerten. Aber das war etwas, was anderen Mädchen passierte. Curtis liebte sie.
    
  Curtis ist verschwunden.
    
  Marla machte ihren Schulabschluss und wurde Mitglied eines exklusiven Kreises junger Mütter. Ihre Tochter Mae wurde, im Guten wie im Schlechten, zum Mittelpunkt ihres Lebens. Marlas Traum, genug Geld für ein Studium der Wetterfotografie zu sparen, musste sie aufgeben. Sie nahm eine Stelle in einer Fabrik an, was ihr neben ihren Mutterpflichten kaum Zeit zum Zeitunglesen ließ. Dies zwang sie schließlich zu einer folgenschweren Entscheidung.
    
  Eines Nachmittags verkündete ihr Chef, er wolle ihre Arbeitszeit erhöhen. Die junge Mutter hatte schon Frauen gesehen, die erschöpft und mit gesenkten Köpfen die Fabrik verließen und ihre Uniformen in Supermarkttüten trugen; Frauen, deren Söhne allein gelassen und entweder in eine Besserungsanstalt geschickt oder in einer Bandenschlägerei erschossen worden waren.
    
  Um dies zu verhindern, meldete sich Marla zur Armeereserve. So konnte die Fabrik ihre Arbeitszeit nicht erhöhen, da dies mit ihren Anweisungen auf dem Militärstützpunkt kollidiert wäre. Dadurch hätte sie mehr Zeit mit Baby May verbringen können.
    
  Marla beschloss, sich am Tag nach der Bekanntgabe des nächsten Einsatzortes - Irak - der Militärpolizeikompanie anzuschließen. Die Nachricht erschien auf Seite 6 des Lorton Chronicle. Im September 2003 winkte Marla May zum Abschied und stieg auf dem Stützpunkt in einen LKW. Das Mädchen umarmte ihre Großmutter und weinte bitterlich, mit all dem Schmerz, den ein sechsjähriges Kind empfinden kann. Beide starben vier Wochen später, als Mrs. Jackson, die keine so gute Mutter wie Marla war, im Bett noch eine Zigarette rauchte.
    
  Als Marla die Nachricht erhielt, konnte sie nicht nach Hause zurückkehren und bat ihre schockierte Schwester inständig, alle Vorbereitungen für die Totenwache und die Beerdigung zu treffen. Anschließend beantragte sie eine Verlängerung ihres Einsatzes im Irak und widmete sich mit ganzem Herzen ihrer nächsten Aufgabe - als Parlamentsabgeordnete im Gefängnis Abu Ghraib.
    
  Ein Jahr später erschienen im nationalen Fernsehen mehrere verstörende Fotos. Sie zeigten, dass Marla innerlich zerbrochen war. Die gutherzige Mutter aus Lorton, Virginia, war zur Peinigerin irakischer Gefangener geworden.
    
  Natürlich war Marla nicht allein. Sie glaubte, der Verlust ihrer Tochter und ihrer Mutter sei irgendwie die Schuld von "Saddams dreckigen Hunden". Marla wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen und zu vier Jahren Haft verurteilt. Sie verbüßte sechs Monate. Nach ihrer Entlassung ging sie direkt zur Sicherheitsfirma DX5 und fragte nach einer Stelle. Sie wollte in den Irak zurückkehren.
    
  Man gab ihr eine Stelle, aber sie kehrte nicht sofort in den Irak zurück. Stattdessen geriet sie buchstäblich in die Hände von Mogens Dekker.
    
  Achtzehn Monate vergingen, und Marla hatte viel gelernt. Sie konnte viel besser schießen, kannte sich besser in Philosophie aus und hatte Erfahrung im Liebesleben mit einem Weißen. Colonel Decker war von einer Frau mit kräftigen Beinen und einem engelsgleichen Gesicht sofort fasziniert. Marla fand ihn irgendwie beruhigend, und den Rest des Trostes empfand sie beim Geruch von Schießpulver. Sie tötete zum ersten Mal, und es gefiel ihr.
    
  Viel.
    
  Sie mochte ihre Crew auch ... manchmal. Decker hatte sie gut ausgewählt: eine Handvoll skrupelloser Killer, die es genossen, im Auftrag der Regierung ungestraft zu morden. Auf dem Schlachtfeld waren sie wie Blutsbrüder. Doch an einem heißen, schwülen Tag wie diesem, als sie Deckers Befehl, sich zu schlafen, ignorierten und stattdessen Karten spielten, änderte sich alles. Sie wurden so gereizt und gefährlich wie ein Gorilla auf einer Cocktailparty. Der Schlimmste von ihnen war Torres.
    
  "Du machst mir falsche Hoffnungen, Jackson. Und du hast mich noch nicht mal geküsst", sagte der kleine Kolumbianer. Marla fühlte sich besonders unwohl, als er mit seiner kleinen, rostigen Rasierklinge spielte. Wie er selbst wirkte sie harmlos, doch sie konnte einem Mann die Kehle durchschneiden, als wäre sie aus Butter. Der Kolumbianer schnitt kleine weiße Streifen vom Rand des Plastiktisches, an dem sie saßen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
    
  "Du bist ein richtiger Idiot, Torres. Jackson hat ein volles Haus, und du redest nur Blödsinn", sagte Alric Gottlieb, der ständig mit englischen Präpositionen kämpfte. Der größere der Zwillinge hasste Torres seit dem WM-Spiel zwischen ihren beiden Ländern mit neuem Eifer. Sie hatten sich gegenseitig beschimpft und die Fäuste fliegen lassen. Trotz seiner 1,88 Meter Körpergröße hatte Alric nachts Schlafprobleme. Wenn er noch lebte, dann nur, weil Torres sich nicht sicher war, ob er beide Zwillinge besiegen konnte.
    
  "Ich sage ja nur, dass ihre Karten ein bisschen zu gut sind", erwiderte Torres, und ihr Lächeln wurde breiter.
    
  "Na, willst du jetzt einen Deal abschließen oder nicht?", fragte Marla, die zwar betrogen hatte, aber die Fassung bewahren wollte. Sie hatte ihm bereits fast zweihundert Dollar abgerungen.
    
  Diese Pechsträhne kann nicht mehr lange anhalten. Ich muss anfangen, ihn gewinnen zu lassen, sonst werde ich eines Nachts mit dieser Klinge im Hals enden, dachte sie.
    
  Nach und nach begann Torres, sich zu verteilen, und verzog dabei alle möglichen Gesichter, um sie abzulenken.
    
  Ehrlich gesagt, ist dieser Kerl süß. Wenn er nicht so ein Psycho wäre und nicht so komisch riechen würde, hätte er mich total angeturnt.
    
  In diesem Moment begann ein Frequenzscanner, der auf einem Tisch sechs Fuß von ihrem Spielort entfernt stand, zu piepen.
    
  "Was zum Teufel?", sagte Marla.
    
  "Das ist ein verdammter Scanner, Jackson."
    
  "Torres, komm und sieh dir das an."
    
  "Ich mach"s verdammt nochmal. Ich wette fünf Dollar mit dir."
    
  Marla stand auf und blickte auf den Bildschirm des Scanners, ein Gerät von der Größe eines kleinen Videorekorders, das sonst niemand benutzte, nur dass dieses Exemplar einen LCD-Bildschirm hatte und hundertmal so viel kostete.
    
  "Es scheint alles in Ordnung zu sein; es läuft wieder", sagte Marla und kehrte zum Tisch zurück. "Ich sehe mir Ihre Note A an und gebe Ihnen fünf Pfund."
    
  "Ich gehe jetzt", sagte Alric und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
    
  'So ein Quatsch. Er hat ja noch nicht mal ein Date', sagte Marla.
    
  'Glauben Sie, Sie haben hier das Sagen, Mrs. Decker?', sagte Torres.
    
  Marla störten sich weniger an seinen Worten als vielmehr an seinem Tonfall. Plötzlich vergaß sie, dass sie ihn hatte gewinnen lassen.
    
  'Auf keinen Fall, Torres. Ich lebe in einem farbenfrohen Land, Mann.'
    
  'Welche Farbe? Brauner Scheiß?'
    
  "Jede Farbe außer Gelb. Komisch ... die Farbe der Unterhose ist dieselbe wie die oben auf Ihrer Flagge."
    
  Marla bereute es sofort, nachdem sie es ausgesprochen hatte. Torres mochte zwar ein dreckiger, verkommener Verbrecher aus Medellín sein, aber für einen Kolumbianer waren sein Land und seine Flagge so heilig wie Jesus. Ihr Gegner presste die Lippen so fest zusammen, dass sie fast verschwanden, und seine Wangen röteten sich leicht. Marla fühlte sich gleichzeitig entsetzt und erregt; sie genoss es, Torres zu demütigen und in seiner Wut zu schwelgen.
    
  Jetzt verliere ich die zweihundert Dollar, die ich ihm abgerungen habe, und noch mal zweihundert von meinem eigenen Geld. Dieses Schwein ist so wütend, dass es mich wahrscheinlich schlagen wird, obwohl es weiß, dass Decker es umbringen wird.
    
  Alrik blickte sie an, mehr als nur ein wenig besorgt. Marla wusste, wie sie auf sich selbst aufpassen konnte, aber in diesem Moment fühlte sie sich, als durchquerte sie ein Minenfeld.
    
  "Na los, Torres, hol Jackson hoch. Sie blufft."
    
  'Lass ihn in Ruhe. Ich glaube nicht, dass er heute vorhat, neue Kunden zu rasieren, oder, du Mistkerl?'
    
  'Wovon redest du, Jackson?'
    
  'Sag bloß nicht, du warst nicht diejenige, die gestern Abend mit dem weißen Professor geschlafen hat?'
    
  Torres wirkte sehr ernst.
    
  "Ich war es nicht."
    
  "Es trug ganz klar Ihre Handschrift: ein kleines, spitzes Instrument, tief im hinteren Bereich positioniert."
    
  "Ich sage Ihnen, ich war es nicht."
    
  "Und ich sage, ich habe gesehen, wie du dich auf dem Boot mit einem weißen Typen mit Pferdeschwanz gestritten hast."
    
  "Gib es auf, ich streite mich mit vielen Leuten. Niemand versteht mich."
    
  "Wer war es dann? Simun? Oder vielleicht ein Priester?"
    
  "Natürlich hätte es auch eine alte Krähe sein können."
    
  "Das ist nicht dein Ernst, Torres", warf Alric ein. "Dieser Priester ist einfach ein herzlicherer Bruder."
    
  "Hat er es dir nicht erzählt? Dieser berüchtigte Auftragskiller hat eine panische Angst vor dem Priester."
    
  "Ich habe vor nichts Angst. Ich sage Ihnen nur, dass er gefährlich ist", sagte Torres und verzog das Gesicht.
    
  "Ich glaube, Sie haben die Geschichte geglaubt, dass er für die CIA arbeitet. Er ist schließlich ein alter Mann."
    
  "Nur drei oder vier Jahre älter als dein seniler Freund. Und wer weiß, vielleicht könnte der Chef ja sogar einem Esel mit bloßen Händen das Genick brechen."
    
  "Verdammt richtig, du Mistkerl", sagte Marla, die es liebte, mit ihrem Mann anzugeben.
    
  "Er ist viel gefährlicher, als du denkst, Jackson. Wenn du mal kurz nachdenken würdest, würdest du den Bericht lesen. Der Typ ist ein Fallschirmjäger der Spezialeinheit. Es gibt keinen Besseren. Ein paar Monate bevor der Boss dich zum Maskottchen der Gruppe ernannt hat, hatten wir einen Einsatz in Tikrit. Wir hatten ein paar Spezialkräfte in unserer Einheit. Du glaubst nicht, was ich den Kerl schon habe machen sehen ... die sind total verrückt. Überall um die lauert der Tod."
    
  "Parasiten sind eine Katastrophe. Hart wie Hämmer", sagte Alric.
    
  "Fahrt zur Hölle, ihr zwei verdammten katholischen Babys", sagte Marla. "Was glaubt ihr, was er in diesem schwarzen Aktenkoffer hat? C4? Eine Pistole? Ihr patrouilliert hier in der Schlucht mit M4s, die neunhundert Schuss pro Minute abfeuern können. Was will er denn machen, euch mit seiner Bibel schlagen? Vielleicht fragt er den Arzt nach einem Skalpell, um euch die Eier abzuschneiden."
    
  "Um die Ärztin mache ich mir keine Sorgen", sagte Torres und winkte ab. "Sie ist doch nur eine Mossad-Lesbe. Mit der komme ich klar. Aber Fowler ..."
    
  'Vergiss die alte Krähe. Hey, wenn das alles nur eine Ausrede ist, um nicht zugeben zu müssen, dass du dich um einen weißen Professor gekümmert hast...'
    
  "Jackson, ich sage dir, ich war"s nicht. Aber glaub mir, hier ist niemand der, der er vorgibt zu sein."
    
  "Dann sei Dank haben wir das Upsilon-Protokoll für diese Mission", sagte Jackson und zeigte stolz ihre makellos weißen Zähne, die ihrer Mutter achtzig Doppelschichten in dem Diner gekostet hatten, in dem sie arbeitete.
    
  "Sobald dein Freund ‚Sarsaparilla" sagt, werden Köpfe rollen. Der Erste, den ich mir vornehme, ist der Priester."
    
  'Erwähne den Code nicht, du Mistkerl. Mach einfach das Upgrade.'
    
  "Niemand wird den Einsatz erhöhen", sagte Alric und deutete auf Torres. Der Kolumbianer hielt seine Chips in der Hand. "Der Frequenzscanner funktioniert nicht. Sie versucht immer wieder zu starten."
    
  'Verdammt. Irgendwas stimmt mit dem Strom nicht. Lass es in Ruhe.'
    
  'Halt die Klappe, Affe! Wir können das Ding nicht ausschalten, sonst kriegen wir Ärger mit Decker. Ich schau mal im Sicherungskasten nach. Spielt ihr zwei ruhig weiter.'
    
  Torres sah so aus, als wolle er weiterspielen, doch dann blickte er Jackson kalt an und stand auf.
    
  'Warte, weißer Mann. Ich möchte meine Beine vertreten.'
    
  Marla merkte, dass sie mit ihren Spötteleien über Torres' Männlichkeit zu weit gegangen war, und der Kolumbianer setzte sie ganz oben auf seine Liste potenzieller Opfer. Sie empfand nur ein wenig Reue. Torres hasste sowieso jeden, warum ihm also nicht einen guten Grund liefern?
    
  "Ich gehe auch", sagte sie.
    
  Die drei traten hinaus in die sengende Hitze. Alrik hockte sich in der Nähe des Bahnsteigs hin.
    
  'Hier sieht alles in Ordnung aus. Ich werde den Generator überprüfen.'
    
  Kopfschüttelnd kehrte Marla ins Zelt zurück, um sich kurz hinzulegen. Doch bevor sie hineinging, bemerkte sie den Kolumbianer, der am Ende der Plattform kniete und im Sand buddelte. Er hob den Gegenstand auf und betrachtete ihn mit einem seltsamen Lächeln.
    
  Marla verstand die Bedeutung des mit Blumen verzierten roten Feuerzeugs nicht.
    
    
  42
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Freitag, 14. Juli 2006, 20:31 Uhr.
    
    
  Andreas Tag war ein Wimpernschlag vom Tod entfernt.
    
  Sie hatte es gerade noch geschafft, unter der Plattform hervorzukriechen, als sie die Soldaten vom Tisch aufstehen hörte. Keine Minute früher. Ein paar Sekunden länger die heiße Luft des Generators, und sie wäre für immer bewusstlos geworden. Sie kroch zur gegenüberliegenden Zelttür, stand auf und tastete sich langsam zum Lazarett vor, bemüht, nicht zu stürzen. Am liebsten hätte sie geduscht, aber das war ausgeschlossen, da sie Fowler auf keinen Fall begegnen wollte. Sie schnappte sich zwei Wasserflaschen und ihre Kamera und verließ das Lazarettzelt erneut. Sie suchte sich ein ruhiges Plätzchen auf den Felsen in der Nähe ihres Zeigefingers.
    
  Sie fand Schutz auf einem kleinen Hang oberhalb des Canyonbodens und saß dort, den Archäologen bei ihrer Arbeit zusehends. Sie wusste nicht, wie weit ihre Trauer fortgeschritten war. Irgendwann waren Fowler und Dr. Harel vorbeigekommen, vermutlich auf der Suche nach ihr. Andrea verbarg ihren Kopf hinter den Felsen und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten.
    
  Ihre erste Schlussfolgerung war, dass sie Fowler nicht trauen konnte - das wusste sie bereits - und auch Doc nicht, was ihr Unbehagen noch verstärkte. Ihre Gedanken über Harel beschränkten sich im Wesentlichen auf eine starke körperliche Anziehung.
    
  Ich muss sie nur ansehen und werde schon erregt.
    
  Doch der Gedanke, dass sie eine Mossad-Spionin war, war für Andrea unerträglich.
    
  Ihre zweite Schlussfolgerung war, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als dem Priester und dem Arzt zu vertrauen, wenn sie das Ganze lebend überstehen wollte. Diese Worte über das Upsilon-Protokoll untergruben völlig ihr Verständnis davon, wer tatsächlich die Kontrolle über die Operation hatte.
    
  Auf der einen Seite Forrester und seine Schergen, viel zu feige, um ein Messer zu ergreifen und einen der Ihren zu töten. Oder vielleicht doch nicht? Dann das Unterstützungspersonal, gefangen in ihren undankbaren Jobs - niemand beachtet sie groß. Cain und Russell, die Köpfe hinter diesem Wahnsinn. Eine Söldnertruppe und ein geheimes Codewort, um mit dem Töten zu beginnen. Aber wen töten, oder wen sonst? Fest steht, im Guten wie im Schlechten, dass unser Schicksal besiegelt war, als wir uns dieser Expedition anschlossen. Und es scheint völlig klar, dass es zum Schlechten ist.
    
  Andrea musste wohl eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, ging die Sonne gerade unter, und ein schweres, graues Licht ersetzte den sonst so starken Kontrast zwischen Sand und Schatten in der Schlucht. Andrea bedauerte, den Sonnenuntergang verpasst zu haben. Jeden Tag ging sie um diese Zeit auf die offene Fläche jenseits der Schlucht. Die Sonne versank im Sand und enthüllte warme Schichten, die wie Wellen am Horizont wirkten. Ihr letzter Lichtstrahl glich einer gewaltigen orangefarbenen Explosion, die noch Minuten nach ihrem Verschwinden am Himmel nachklang.
    
  Hier, am "Zeigefinger" des Canyons, bot sich als einzige Dämmerungslandschaft eine große, kahle Sandsteinklippe. Seufzend griff sie in ihre Hosentasche und zog eine Zigarettenschachtel heraus. Ihr Feuerzeug war nirgends zu finden. Überrascht suchte sie in ihren anderen Taschen, bis eine spanische Stimme ihr Herz bis zum Hals schlagen ließ.
    
  'Suchst du das, meine kleine Schlampe?'
    
  Andrea blickte auf. Etwa anderthalb Meter über ihr lag Torres am Hang, die Hand ausgestreckt, und bot ihr ein rotes Feuerzeug an. Sie vermutete, der Kolumbianer müsse schon eine Weile dort gewesen sein - sie beobachtet - und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie versuchte, ihre Angst nicht zu zeigen, stand auf und griff nach dem Feuerzeug.
    
  "Hat deine Mutter dir denn nicht beigebracht, wie man mit einer Dame spricht, Torres?", sagte Andrea und beherrschte ihre Nerven so weit, dass sie sich eine Zigarette anzünden und den Rauch in Richtung des Söldners blasen konnte.
    
  "Natürlich, aber ich sehe hier keine Dame."
    
  Torres starrte auf Andreas glatte Oberschenkel. Sie trug eine Hose, die sie oberhalb der Knie aufgeknöpft hatte, um Shorts daraus zu machen. In der Hitze hatte sie sie noch weiter hochgekrempelt, und ihre weiße Haut wirkte im Kontrast zu ihrer Bräune sinnlich und einladend auf ihn. Als Andrea bemerkte, wohin der Kolumbianer sie blickte, verstärkte sich ihre Angst. Sie wandte sich dem Ende der Schlucht zu. Ein lauter Schrei hätte genügt, um alle auf sich aufmerksam zu machen. Das Team hatte ein paar Stunden zuvor - fast zeitgleich mit ihrem kurzen Aufenthalt unter dem Zelt der Soldaten - begonnen, mehrere Testlöcher zu graben.
    
  Als sie sich jedoch umdrehte, sah sie niemanden. Der Minibagger stand allein am Rand.
    
  "Alle sind zur Beerdigung gegangen, Baby. Wir sind ganz allein."
    
  'Solltest du nicht auf deinem Posten sein, Torres?', sagte Andrea und deutete auf eine der Klippen, wobei sie versuchte, unbeteiligt zu wirken.
    
  "Ich bin doch nicht die Einzige, die schon mal an einem Ort war, wo sie nicht hätte sein sollen, oder? Das müssen wir ändern, daran besteht kein Zweifel."
    
  Der Soldat sprang zu Andrea hinunter. Sie befanden sich auf einer felsigen Plattform, kaum größer als eine Tischtennisplatte, etwa fünf Meter über dem Canyonboden. Am Rand der Plattform war ein Haufen unregelmäßig geformter Steine aufgeschichtet; er hatte Andrea zuvor Deckung geboten, versperrte ihr nun aber den Fluchtweg.
    
  "Ich verstehe nicht, wovon du redest, Torres", sagte Andrea, um Zeit zu gewinnen.
    
  Der Kolumbianer trat einen Schritt vor. Er war nun so nah an Andrea, dass sie Schweißperlen auf seiner Stirn sehen konnte.
    
  "Natürlich tust du das. Und jetzt wirst du mir einen Gefallen tun, wenn du klug bist. Es ist wirklich schade, dass so ein hübsches Mädchen lesbisch sein muss. Aber ich glaube, das liegt daran, dass du noch nie richtig geraucht hast."
    
  Andrea machte einen Schritt zurück in Richtung der Felsen, doch der Kolumbianer stellte sich zwischen sie und die Stelle, wo sie auf die Plattform geklettert war.
    
  'Das würdest du dich nicht trauen, Torres. Die anderen Wachen könnten uns gerade jetzt beobachten.'
    
  "Nur Waaka kann uns sehen ... und er wird nichts unternehmen. Er wird ein bisschen neidisch sein und es nicht mehr können. Zu viele Steroide. Aber keine Sorge, bei mir funktioniert alles bestens. Du wirst schon sehen."
    
  Andrea erkannte, dass es kein Entkommen gab, und traf in ihrer Verzweiflung eine Entscheidung. Sie warf ihre Zigarette zu Boden, stemmte beide Füße fest auf den Stein und beugte sich leicht vor. Sie würde es ihm nicht leichter machen.
    
  "Na los, du Hurensohn! Wenn du es willst, dann hol es dir!"
    
  Ein plötzliches Funkeln huschte über Torres' Augen, eine Mischung aus Aufregung über die Herausforderung und Wut über die Beleidigung seiner Mutter. Er stürzte vor, packte Andreas Hand und riss sie grob an sich heran - mit einer Kraft, die für jemanden so Kleines unmöglich schien.
    
  'Ich liebe es, dass du danach fragst, Schlampe.'
    
  Andrea riss sich um und stieß ihm den Ellbogen mit voller Wucht ins Gesicht. Blut spritzte auf die Steine, und Torres stieß ein wütendes Knurren aus. Er riss heftig an Andreas T-Shirt, zerriss den Ärmel und gab ihren schwarzen BH frei. Beim Anblick dessen wurde der Soldat noch erregter. Er packte Andreas Arme, um ihr in die Brust zu beißen, doch im letzten Moment wich die Reporterin zurück, und Torres' Zähne versanken im Nichts.
    
  "Ach komm schon, es wird dir gefallen. Du weißt doch, was du willst."
    
  Andrea versuchte, ihm mit dem Knie zwischen die Beine oder in den Magen zu treten, doch Torres ahnte ihre Bewegungen voraus, drehte sich weg und schlug die Beine übereinander.
    
  "Lass dich nicht unterkriegen", sagte sich Andrea. Sie erinnerte sich an einen Bericht, den sie vor zwei Jahren über eine Gruppe von Vergewaltigungsopfern verfolgt hatte. Sie war mit einigen anderen jungen Frauen zu einem Anti-Vergewaltigungs-Workshop gegangen, der von einer Kursleiterin geleitet wurde, die als Teenagerin selbst beinahe vergewaltigt worden wäre. Die Frau hatte ein Auge verloren, aber nicht ihre Jungfräulichkeit. Der Vergewaltiger hatte alles verloren. Wenn er dich unterkriegen konnte, hatte er dich in der Hand.
    
  Ein weiterer kräftiger Griff von Torres riss ihren BH-Träger ab. Torres fand, das reiche, und verstärkte den Druck auf Andreas Handgelenke. Sie konnte ihre Finger kaum noch bewegen. Brutal verdrehte er ihren rechten Arm, während ihr linker frei blieb. Andrea stand nun mit dem Rücken zu ihm, konnte sich aber aufgrund des Drucks des Kolumbianers auf ihren Arm nicht rühren. Er zwang sie, sich nach vorn zu beugen, und trat ihr gegen die Knöchel, um ihre Beine auseinanderzudrücken.
    
  "Ein Vergewaltiger ist an zwei Stellen am verwundbarsten", hallten die Worte der Ausbilderin in ihrem Kopf wider. Die Worte waren so eindringlich, die Frau so selbstsicher, so souverän, dass Andrea einen Schub neuer Stärke verspürte. "Wenn er dir die Kleider vom Leib reißt und wenn er sich selbst entkleidet. Wenn du Glück hast und er sich zuerst entkleidet, nutze es aus."
    
  Mit einer Hand öffnete Torres seinen Gürtel, und seine Tarnhose rutschte ihm bis zu den Knöcheln. Andrea konnte seine Erektion sehen, hart und bedrohlich.
    
  Warte, bis er sich über dich beugt.
    
  Der Söldner beugte sich über Andrea und suchte nach dem Verschluss ihrer Hose. Sein drahtiger Bart streifte ihren Nacken - das war das Signal, das sie brauchte. Blitzschnell hob sie den linken Arm und verlagerte ihr Gewicht auf die rechte Seite. Überrascht ließ Torres Andreas rechte Hand los, und sie stürzte nach rechts. Der Kolumbianer stolperte über seine Hose und fiel nach vorn, wobei er hart auf dem Boden aufschlug. Er versuchte aufzustehen, doch Andrea war schneller. Sie versetzte ihm drei schnelle Tritte in den Magen und achtete darauf, dass der Soldat sie nicht am Knöchel packte und zu Fall brachte. Die Tritte trafen, und als Torres sich zum Schutz zusammenkauerte, bot er ihr eine viel empfindlichere Stelle für Angriffe.
    
  "Danke, Gott. Ich werde das nie leid werden", gestand die Jüngste und einzige Tochter der fünf Geschwister leise, zog ihr Bein zurück und sprengte Torres die Hoden. Sein Schrei hallte von den Canyonwänden wider.
    
  "Das bleibt unter uns", sagte Andrea. "Jetzt sind wir quitt."
    
  "Ich krieg dich noch, du Schlampe. Ich werde dich so fertigmachen, dass du an meinem Schwanz erstickst", jammerte Torres und brach fast in Tränen aus.
    
  "Wenn ich so darüber nachdenke ...", begann Andrea. Sie erreichte den Rand der Terrasse und wollte gerade hinuntergehen, drehte sich aber blitzschnell um, rannte ein paar Schritte und trat Torres erneut zwischen die Beine. Es war zwecklos für ihn, sich mit den Händen zu schützen. Diesmal war der Schlag noch heftiger, und Torres rang nach Luft, sein Gesicht war gerötet, und zwei dicke Tränen rannen ihm über die Wangen.
    
  "Jetzt läuft es richtig gut für uns und wir sind gleichauf."
    
    
  43
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Freitag, 14. Juli 2006, 21:43 Uhr.
    
    
  Andrea kehrte so schnell wie möglich, ohne zu rennen, ins Lager zurück. Sie blickte nicht zurück und kümmerte sich auch nicht um ihre zerrissene Kleidung, bis sie die Zeltreihe erreichte. Sie verspürte ein seltsames Schamgefühl wegen des Geschehenen, vermischt mit der Angst, dass jemand ihre Manipulation am Frequenzscanner entdecken könnte. Trotz ihres ausgeleierten T-Shirts versuchte sie, so normal wie möglich auszusehen, und ging zur Krankenstation. Glücklicherweise begegnete sie niemandem. Als sie das Zelt betreten wollte, stieß sie mit Kira Larsen zusammen, die gerade ihre Sachen hinaustrug.
    
  'Was ist los, Kira?'
    
  Die Archäologin blickte sie kalt an.
    
  "Du hattest nicht einmal den Anstand, für Stowe auf der Hespeda zu erscheinen. Ich schätze, das spielt keine Rolle. Du kanntest ihn nicht. Er war für dich nur ein Niemand, richtig? Deshalb war es dir auch egal, dass er deinetwegen gestorben ist."
    
  Andrea wollte gerade erwidern, dass andere Dinge sie auf Distanz hielten, aber sie bezweifelte, dass Kira das verstehen würde, und schwieg deshalb.
    
  "Ich weiß nicht, was du vorhast", fuhr Kira fort und schob sich an ihr vorbei. "Du weißt genau, dass die Ärztin in jener Nacht nicht in ihrem Bett war. Sie mag alle anderen getäuscht haben, aber mich nicht. Ich werde mit dem Rest des Teams schlafen. Dank dir ist ein Bett frei."
    
  Andrea war froh, als sie ging - sie hatte keine Lust auf weitere Konfrontationen und stimmte im Grunde Kira in allen Punkten zu. Schuldgefühle hatten in ihrer katholischen Erziehung eine große Rolle gespielt, und Unterlassungssünden waren genauso allgegenwärtig und schmerzhaft wie alle anderen.
    
  Sie betrat das Zelt und sah Dr. Harel, die sich abgewandt hatte. Offensichtlich hatte sie sich mit Larsen gestritten.
    
  "Ich bin froh, dass es dir gut geht. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht."
    
  "Drehen Sie sich um, Doc. Ich weiß, Sie haben geweint."
    
  Harel wandte sich ihr zu und rieb sich die geröteten Augen.
    
  "Es ist wirklich dumm. Eine simple Sekretion der Tränendrüsen, und trotzdem ist es uns allen unangenehm."
    
  Lügen sind noch viel schändlicher.
    
  Der Arzt bemerkte dann Andreas zerrissene Kleidung, etwas, das Larsen in ihrem Ärger offenbar übersehen oder nicht kommentiert hatte.
    
  'Was ist mit dir passiert?'
    
  "Ich bin die Treppe hinuntergefallen. Wechseln Sie nicht das Thema. Ich weiß, wer Sie sind."
    
  Harel wählte jedes Wort sorgfältig.
    
  'Was weißt du schon?'
    
  "Ich weiß, dass die Kampfmedizin beim Mossad einen hohen Stellenwert hat, zumindest scheint es so. Und dass Ihre Notfallvertretung kein so großer Zufall war, wie Sie mir erzählt haben."
    
  Der Arzt runzelte die Stirn und ging dann zu Andrea hinüber, die in ihrem Rucksack nach etwas Sauberem zum Anziehen suchte.
    
  "Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musstest, Andrea. Ich bin nur eine einfache Analystin, keine Feldagentin. Meine Regierung will, dass jede archäologische Expedition, die nach der Bundeslade sucht, überwacht wird. Das ist die dritte Expedition, an der ich in sieben Jahren teilnehme."
    
  "Sind Sie wirklich Ärztin?" Oder ist auch das eine Lüge?", sagte Andrea und zog sich ein anderes T-Shirt an.
    
  'Ich bin Arzt'.
    
  "Und wieso kommst du so gut mit Fowler klar?" Weil ich auch herausgefunden habe, dass er ein CIA-Agent ist, falls du das noch nicht wusstest.
    
  "Sie wusste es bereits, und Sie schulden mir eine Erklärung", sagte Fowler.
    
  Er stand an der Tür, runzelte die Stirn, war aber erleichtert, nachdem er den ganzen Tag nach Andrea gesucht hatte.
    
  "So ein Quatsch", sagte Andrea und zeigte mit dem Finger auf den Priester, der überrascht zurückwich. "Ich wäre beinahe unter dem Bahnsteig in der Hitze gestorben, und als ob das nicht schon genug wäre, hat einer von Deckers Hunden versucht, mich zu vergewaltigen. Ich habe keine Lust, mit euch beiden zu reden. Zumindest noch nicht."
    
  Fowler berührte Andreas Hand und bemerkte die blauen Flecken an ihren Handgelenken.
    
  "Geht es dir gut?"
    
  "Besser denn je", sagte sie und schob seine Hand weg. Das Letzte, was sie wollte, war Kontakt zu einem Mann.
    
  'Miss Otero, haben Sie die Soldaten reden hören, als Sie sich unter dem Bahnsteig befanden?'
    
  "Was zum Teufel hast du da gemacht?", unterbrach Harel ihn schockiert.
    
  "Ich habe sie geschickt. Sie hat mir geholfen, den Frequenzscanner zu deaktivieren, damit ich meinen Kontakt in Washington anrufen konnte."
    
  "Ich möchte informiert werden, Pater", sagte Harel.
    
  Fowler senkte seine Stimme fast zu einem Flüstern.
    
  "Wir brauchen Informationen, und wir werden sie nicht in dieser Blase einsperren. Oder glaubst du, ich weiß nicht, dass du dich jede Nacht heimlich rausschleichst, um SMS nach Tel Aviv zu schicken?"
    
  "Berühren", sagte Harel und verzog das Gesicht.
    
  War es das, was Sie taten, Doc?, dachte Andrea und biss sich auf die Unterlippe. Sie überlegte, was sie tun sollte. Vielleicht hatte ich mich geirrt und hätte Ihnen doch vertrauen sollen. Ich hoffe es, denn es gibt keine andere Wahl.
    
  'Sehr gut, Vater. Ich werde euch beiden erzählen, was ich gehört habe...'
    
    
  44
    
    
    
  Fowler und Harel
    
  "Wir müssen sie hier rausholen", flüsterte der Priester.
    
  Die Schatten des Canyons umgaben sie, und die einzigen Geräusche kamen aus dem Speisezelt, wo die Expeditionsteilnehmer gerade mit dem Abendessen begannen.
    
  "Ich verstehe nicht, wie das gehen soll, Vater. Ich hatte überlegt, einen der Humvees zu stehlen, aber wir müssten ihn erst über diese Düne bekommen. Und ich glaube nicht, dass wir damit weit kämen. Was wäre, wenn wir allen in der Gruppe erzählen würden, was hier wirklich los ist?"
    
  'Angenommen, wir könnten das tun, und sie würden uns glauben... was würde es bringen?'
    
  In der Dunkelheit unterdrückte Harel ein Stöhnen der Wut und Hilflosigkeit.
    
  "Mir fällt nur die gleiche Antwort ein, die Sie mir gestern bezüglich des Muttermals gegeben haben: Abwarten und sehen."
    
  "Es gibt nur einen Weg", sagte Fowler. "Aber er wird gefährlich sein, und ich werde Ihre Hilfe brauchen."
    
  "Du kannst auf mich zählen, Vater. Aber erkläre mir zuerst, was dieses Upsilon-Protokoll ist."
    
  "Es handelt sich um ein Verfahren, bei dem die Sicherheitskräfte alle Mitglieder der Gruppe töten, die sie eigentlich schützen sollen, sobald ein Codewort über Funk durchgegeben wird. Sie töten alle außer demjenigen, der sie angeheuert hat, und allen anderen, die seiner Meinung nach in Ruhe gelassen werden sollen."
    
  "Ich verstehe nicht, wie so etwas existieren kann."
    
  "Offiziell stimmt das nicht. Aber mehrere Soldaten, die als Söldner verkleidet in Spezialeinheiten dienten, haben das Konzept beispielsweise aus asiatischen Ländern übernommen."
    
  Harel erstarrte einen Moment lang.
    
  Gibt es eine Möglichkeit herauszufinden, wer im Fernsehen ist?
    
  "Nein", sagte der Priester schwach. "Und das Schlimmste ist, dass derjenige, der die Militärwachen anheuert, immer ein anderer ist als derjenige, der eigentlich die Verantwortung tragen sollte."
    
  'Dann Kain...', sagte Harel und öffnete die Augen.
    
  "Das ist richtig, Doktor. Kain ist nicht derjenige, der uns tot sehen will. Es ist jemand anderes."
    
    
  45
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Samstag, 15. Juli 2006, 2:34 Uhr.
    
    
  Zunächst herrschte im Krankenzelt vollkommene Stille. Da Kira Larsen bei den anderen Assistentinnen schlief, war das Atmen der beiden verbliebenen Frauen das einzige Geräusch.
    
  Nach einer Weile war ein leises Kratzen zu hören. Es war der Reißverschluss von Hawnvëiler, der luftdichteste und sicherste der Welt. Nicht einmal Staub konnte eindringen, doch nichts konnte einen Eindringling daran hindern, sich Zutritt zu verschaffen, sobald er etwa fünfzig Zentimeter geöffnet war.
    
  Darauf folgte eine Reihe leiser Geräusche: das Geräusch von Sockenfüßen auf Holz; das Klicken einer kleinen Plastikbox, die geöffnet wurde; dann ein noch leiseres, aber unheilvolleres Geräusch: vierundzwanzig nervöse Keratinbeine, die in der kleinen Box herumhuschten.
    
  Dann folgte eine gedämpfte Stille, denn die Bewegungen waren für das menschliche Ohr fast unhörbar: Das halb offene Ende des Schlafsacks hob sich, vierundzwanzig kleine Füße landeten auf dem Stoff im Inneren, das Ende des Stoffs kehrte in seine ursprüngliche Position zurück und bedeckte die Besitzer dieser vierundzwanzig kleinen Füße.
    
  Sieben Sekunden lang herrschte erneut nur Atemgeräusch in der Stille. Das Schlurfen der Sockenfüße aus dem Zelt war noch leiser als zuvor, und der Landstreicher hatte den Reißverschluss nicht geschlossen. Andreas Bewegung in ihrem Schlafsack war so kurz, dass sie fast unhörbar war. Doch sie reichte aus, um die anderen im Schlafsack zu verärgern und ihre Verwirrung und ihren Ärger darüber auszudrücken, dass der Landstreicher ihn vor dem Betreten des Zeltes so heftig geschüttelt hatte.
    
  Der erste Stich traf sie, und Andrea durchbrach die Stille mit ihren Schreien.
    
    
  46
    
    
    
  Al-Qaida-Handbuch, gefunden von Scotland Yard in einem sicheren Haus, Seiten 131 ff. Übersetzt von WM und SA 1.
    
    
  Militärforschung für den Dschihad gegen die Tyrannei
    
    
  Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen [...]
    
  Kapitel 14: Entführungen und Morde mit Gewehren und Pistolen
    
  Ein Revolver ist die bessere Wahl, denn obwohl er weniger Patronen fasst als eine automatische Pistole, klemmt er nicht und die leeren Patronenhülsen bleiben im Zylinder, was die Ermittlungen erschwert.
    
  [...]
    
    
  Die wichtigsten Körperteile
    
  Der Schütze muss die lebenswichtigen Körperteile kennen, um eine kritische Wunde zuzufügen und diese Bereiche des zu tötenden Opfers gezielt anvisieren zu können. Diese sind:
    
  1. Der Kreis, der die beiden Augen, die Nase und den Mund umfasst, ist die Tötungszone. Der Schütze sollte nicht tiefer, nach links oder rechts zielen, da er sonst riskiert, dass die Kugel nicht tödlich wirkt.
    
  2. Der Halsbereich, in dem Arterien und Venen zusammenlaufen.
    
  3. Herz
    
  4. Magen
    
  5. Leber
    
  6. Nieren
    
  7. Wirbelsäule
    
  Grundsätze und Regeln des Feuers
    
  Die größten Zielfehler entstehen durch körperliche Anspannung oder Nervosität, die zu einem Zucken der Hand führen können. Dies kann durch zu starken Druck auf den Abzug oder durch Ziehen statt Drücken verursacht werden. Dadurch weicht die Mündung der Waffe vom Ziel ab.
    
  Aus diesem Grund müssen Brüder beim Zielen und Schießen folgende Regeln beachten:
    
  1. Beherrsche dich beim Betätigen des Abzugs, damit sich die Waffe nicht bewegt.
    
  2. Betätigen Sie den Abzug, ohne zu viel Kraft anzuwenden oder ihn zu fest zu drücken.
    
  3. Lass dich nicht vom Geräusch des Schusses beeinflussen und konzentriere dich nicht darauf, wie er klingen wird, denn das würde deine Hände zum Zittern bringen.
    
  4. Ihr Körper sollte normal und nicht angespannt sein, und Ihre Gliedmaßen sollten entspannt sein; aber nicht zu sehr.
    
  5. Beim Schießen zielen Sie mit dem rechten Auge auf die Mitte des Ziels.
    
  6. Schließen Sie Ihr linkes Auge, wenn Sie mit der rechten Hand schießen, und umgekehrt.
    
  7. Verschwende nicht zu viel Zeit mit dem Zielen, sonst könnten dich deine Nerven im Stich lassen.
    
  8. Empfinde keine Reue, wenn du abdrückst. Du tötest den Feind deines Gottes.
    
    
  47
    
    
    
  Vorort von Washington
    
  Freitag, 14. Juli 2006, 20:34 Uhr.
    
    
  Nazim nahm einen Schluck von seiner Cola, stellte sie aber sofort wieder ab. Sie enthielt viel zu viel Zucker, wie alle Getränke in Restaurants, wo man sich so oft nachfüllen konnte, wie man wollte. Der Dönerladen Mayur, wo er sein Abendessen gekauft hatte, war so ein Laden.
    
  "Weißt du, ich habe neulich eine Dokumentation über einen Mann gesehen, der einen Monat lang nichts anderes als McDonald"s-Hamburger gegessen hat."
    
  "Das ist widerlich."
    
  Harufs Augen waren halb geschlossen. Er hatte schon eine Weile versucht zu schlafen, aber es ging nicht. Vor zehn Minuten hatte er aufgegeben und den Kindersitz wieder aufrecht gestellt. Dieser Ford war einfach zu unbequem.
    
  'Sie sagten, seine Leber habe sich in p &# 226;t é verwandelt.'
    
  "So etwas kann nur in den Vereinigten Staaten passieren. Dem Land mit den dicksten Menschen der Welt. Wissen Sie, es verbraucht bis zu 87 Prozent der weltweiten Ressourcen."
    
  Nazim schwieg. Er war zwar Amerikaner, aber ein Amerikaner anderer Art. Er hatte nie gelernt, sein Land zu hassen, obwohl seine Lippen etwas anderes vermuten ließen. Harufs Hass auf die Vereinigten Staaten erschien ihm zu allumfassend. Lieber stellte er sich den Präsidenten kniend im Oval Office vor, mit Blick nach Mekka, als das Weiße Haus in Flammen aufgehen zu sehen. Einmal hatte er etwas Ähnliches zu Haruf gesagt, woraufhin Haruf ihm eine CD mit Fotos eines kleinen Mädchens zeigte. Es waren Tatortfotos.
    
  "Israelische Soldaten haben sie in Nablus vergewaltigt und ermordet. Für so etwas gibt es nicht genug Hass auf der Welt."
    
  Nazims Blut kochte beim Gedanken an diese Bilder, doch er versuchte, diese Gedanken zu verdrängen. Anders als bei Haruf war Hass nicht die Quelle seiner Energie. Seine Motive waren egoistisch und verdreht; sie zielten darauf ab, etwas für sich selbst zu erlangen. Seine Beute.
    
  Ein paar Tage zuvor, als sie das Netcatch-Büro betreten hatten, war Nazim fast völlig ahnungslos gewesen. Irgendwie fühlte er sich schlecht, denn die zwei Minuten, die sie mit der Zerstörung von Kafirun 2 verbracht hatten, waren fast aus seinem Gedächtnis verschwunden. Er versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, aber es war, als wären es die Erinnerungen eines anderen, wie diese verrückten Träume in den glamourösen Filmen, die seine Schwester so mochte, in denen die Hauptfigur sich selbst von außen sieht. Niemand träumt davon, sich selbst von außen zu sehen.
    
  'Harouf'.
    
  'Sprechen Sie mit mir.'
    
  'Erinnert ihr euch, was letzten Dienstag passiert ist?'
    
  'Sprichst du von einer Operation?'
    
  'Rechts'.
    
  Haruf blickte ihn an, zuckte mit den Achseln und lächelte traurig.
    
  "Jedes Detail".
    
  Nazim wandte den Blick ab, weil er sich für das schämte, was er gleich sagen würde.
    
  'Ich... ich erinnere mich nicht mehr an viel, wissen Sie?'
    
  "Du solltest Allah danken, gepriesen sei sein Name. Als ich das erste Mal jemanden getötet habe, konnte ich eine Woche lang nicht schlafen."
    
  'Du?'
    
  Nazims Augen weiteten sich.
    
  Haruf wuschelte dem jungen Mann spielerisch durch die Haare.
    
  "Das stimmt, Nazim. Du bist jetzt ein Dschihadist, und wir sind gleichgestellt. Wundere dich nicht, dass auch ich schwere Zeiten durchgemacht habe. Manchmal ist es schwer, Gottes Schwert zu sein. Aber du wurdest mit der Gabe gesegnet, die unangenehmen Details zu vergessen. Das Einzige, was bleibt, ist der Stolz auf das, was du erreicht hast."
    
  Dem jungen Mann ging es deutlich besser als in den letzten Tagen. Er schwieg eine Weile und sprach ein Dankgebet. Er spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterrann, doch er wagte es nicht, den Motor zu starten und die Klimaanlage einzuschalten. Das Warten schien endlos.
    
  "Sind Sie sicher, dass er dort ist?", fragte Nazim und deutete auf die Mauer, die das Anwesen umgab. "Ich fange an, daran zu zweifeln. Sollten wir nicht lieber woanders suchen?"
    
  2 Ungläubige, laut Koran.
    
  Haruf dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf.
    
  "Ich hätte nicht die geringste Ahnung, wo ich suchen sollte. Wie lange verfolgen wir ihn schon? Einen Monat? Er war nur einmal hier und hatte Pakete dabei. Er ging mit leeren Händen. Dieses Haus ist leer. Vielleicht gehörte es ja einem Freund, und er tat ihm einen Gefallen. Aber das ist unsere einzige Verbindung, und wir sollten Ihnen dankbar sein, dass Sie sie gefunden haben."
    
  Es stimmte. Eines Tages, als Nazim Watson eigentlich allein folgen sollte, begann der Junge sich seltsam zu verhalten. Er wechselte auf der Autobahn die Spur und fuhr auf einem völlig anderen Weg nach Hause als sonst. Nazim drehte das Radio lauter und stellte sich vor, er wäre eine Spielfigur in Grand Theft Auto, einem beliebten Videospiel, in dem der Protagonist ein Krimineller ist, der Missionen wie Entführungen, Morde, Drogenhandel und den Raub von Prostituierten erledigen muss. Es gab eine Stelle im Spiel, an der man ein flüchtendes Auto verfolgen musste. Das war eine seiner Lieblingsstellen, und was er dabei lernte, half ihm, Watson zu folgen.
    
  Glaubst du, er weiß von uns?
    
  "Ich glaube nicht, dass er irgendetwas über Hukan weiß, aber ich bin sicher, unser Anführer hat gute Gründe, ihn tot sehen zu wollen. Gib mir die Flasche. Ich muss mal pinkeln."
    
  Nazim reichte ihm eine Zwei-Liter-Flasche. Haruf öffnete seinen Hosenstall und urinierte hinein. Sie hatten mehrere leere Flaschen dabei, um sich diskret im Auto erleichtern zu können. Lieber den Aufwand in Kauf nehmen und die Flaschen später wegwerfen, als dass sie jemand beim Pinkeln auf der Straße oder beim Betreten einer der Kneipen in der Nähe erwischen würde.
    
  "Wisst ihr was? Scheiß drauf", sagte Haruf und verzog das Gesicht. "Ich werfe diese Flasche in die Gasse, und dann suchen wir ihn in Kalifornien, im Haus seiner Mutter. Scheiß drauf."
    
  'Warte, Haruf.'
    
  Nazim deutete auf das Tor des Anwesens. Ein Kurier auf einem Motorrad klingelte. Eine Sekunde später erschien jemand.
    
  'Er ist da! Siehst du, Nazim, ich hab's dir doch gesagt. Herzlichen Glückwunsch!'
    
  Haruf war aufgeregt. Er klopfte Nazim auf den Rücken. Der Junge fühlte sich gleichzeitig glücklich und nervös, als wären in ihm eine heiße und eine kalte Welle aufeinandergeprallt.
    
  'Super, Junge. Jetzt werden wir endlich das beenden, was wir angefangen haben.'
    
    
  48
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Samstag, 15. Juli 2006, 2:34 Uhr.
    
    
  Harel schreckte durch Andreas Schreie auf. Die junge Reporterin saß auf ihrem Schlafsack, umklammerte ihr Bein und schrie.
    
  'Oh Gott, das tut weh!'
    
  Harels erster Gedanke war, dass Andrea im Schlaf Krämpfe bekommen hatte. Sie sprang auf, schaltete das Licht im Krankenzimmer an und nahm Andreas Bein in die Hand, um es zu massieren.
    
  Da sah sie die Skorpione.
    
  Mindestens drei von ihnen waren aus dem Schlafsack gekrochen und huschten panisch umher, die Schwänze aufgestellt, bereit zu stechen. Sie hatten eine kränkliche gelbe Farbe. Entsetzt sprang Dr. Harel auf einen der Untersuchungstische. Sie war barfuß und somit eine leichte Beute.
    
  'Doktor, helfen Sie mir! Oh Gott, mein Bein brennt wie Feuer... Doktor! Oh Gott!'
    
  Andreas Schreie halfen der Ärztin, ihre Angst zu kanalisieren und die Situation etwas anders zu sehen. Sie konnte ihre junge Freundin nicht hilflos und leidend zurücklassen.
    
  Lass mich überlegen. Was zum Teufel weiß ich noch über diese Mistviecher? Es sind gelbe Skorpione. Das Mädchen hat höchstens zwanzig Minuten, bevor es brenzlig wird. Vorausgesetzt, sie wurde nur von einem gestochen. Wenn es mehrere waren...
    
  Dem Arzt kam ein schrecklicher Gedanke. Wenn Andrea gegen Skorpiongift allergisch war, war es um sie geschehen.
    
  'Andrea, hör mir ganz genau zu.'
    
  Andrea öffnete die Augen und sah sie an. Das Mädchen lag auf ihrem Bett, umklammerte ihr Bein und starrte leer vor sich hin. Offensichtlich litt sie große Schmerzen. Harel hatte eine übermenschliche Anstrengung unternommen, um ihre lähmende Angst vor Skorpionen zu überwinden. Es war eine natürliche Angst, eine, die jede israelische Frau wie sie, geboren in Beerscheba am Rande der Wüste, schon als junges Mädchen entwickelt hatte. Sie versuchte, den Fuß auf den Boden zu setzen, aber es gelang ihr nicht.
    
  'Andrea. Andrea, standen Herzgifte auf der Allergieliste, die du mir gegeben hast?'
    
  Andrea stieß erneut einen Schmerzensschrei aus.
    
  "Woher soll ich das wissen? Ich trage eine Liste mit mir herum, weil ich mir nie mehr als zehn Namen gleichzeitig merken kann. Igitt! Doktor, kommen Sie da runter, um Gottes willen, oder Jehovas willen, oder wessen auch immer. Die Schmerzen sind noch schlimmer ..."
    
  Harel versuchte erneut, ihre Angst zu überwinden, indem sie einen Fuß auf den Boden setzte, und nach zwei Sprüngen befand sie sich auf ihrer Matratze.
    
  Hoffentlich sind sie nicht hier. Bitte, Gott, lass sie nicht in meinem Schlafsack sein...
    
  Sie ließ den Schlafsack auf den Boden fallen, nahm in jede Hand einen Stiefel und kehrte zu Andrea zurück.
    
  "Ich muss schnell meine Stiefel anziehen und zum Erste-Hilfe-Kasten gehen. Gleich geht es dir wieder gut", sagte sie und zog ihre Stiefel an. "Das Gift ist sehr gefährlich, aber es dauert fast eine halbe Stunde, bis es einen Menschen tötet. Halte durch."
    
  Andrea antwortete nicht. Harel blickte auf. Andrea legte die Hand an ihren Hals, und ihr Gesicht begann sich blau zu verfärben.
    
  Oh mein Gott! Sie ist allergisch. Sie erleidet einen anaphylaktischen Schock.
    
  Harel hatte vergessen, ihren anderen Schuh anzuziehen, und kniete sich neben Andrea, ihre nackten Füße berührten den Boden. Noch nie hatte sie jeden Quadratzentimeter ihrer Haut so intensiv gespürt. Sie suchte nach den Stellen, an denen die Skorpione Andrea gestochen hatten, und entdeckte zwei kleine Löcher an der linken Wade der Reporterin, jeweils umgeben von einer entzündeten Stelle von der Größe eines Tennisballs.
    
  Verdammt. Die haben sie echt erwischt.
    
  Die Zeltklappe öffnete sich und Pater Fowler trat ein. Auch er war barfuß.
    
  'Was passiert?'
    
  Harel beugte sich über Andrea und versuchte, ihr Mund-zu-Mund-Beatmung zu geben.
    
  "Vater, bitte beeilen Sie sich. Sie steht unter Schock. Ich brauche Adrenalin."
    
  "Wo ist es?"
    
  "Im Schrank ganz hinten, im zweiten Fach von oben. Dort befinden sich mehrere grüne Ampullen. Bringen Sie mir eine und eine Spritze."
    
  Sie beugte sich vor und blies Andrea mehr Luft in den Mund, doch der Tumor in ihrem Hals verhinderte, dass Luft in ihre Lungen gelangte. Wäre Harel nicht sofort vom Schock erwacht, wäre ihre Freundin tot.
    
  Und es wird deine Schuld sein, dass du so ein Feigling warst und auf den Tisch geklettert bist.
    
  "Was zum Teufel ist passiert?", rief der Priester und rannte zum Schrank. "Steht sie unter Schock?"
    
  "Raus hier!", brüllte Doc die sechs verschlafenen Köpfe an, die in die Krankenstation spähten. Harel wollte nicht, dass einer der Skorpione entkam und sich ein weiteres Opfer suchte. "Sie wurde von einem Skorpion gestochen, Vater. Hier sind gerade drei. Seid vorsichtig."
    
  Pater Fowler zuckte bei der Nachricht leicht zusammen und näherte sich vorsichtig dem Arzt mit Adrenalin und einer Spritze. Harel verabreichte Andrea sofort fünf CCS-Injektionen in den entblößten Oberschenkel.
    
  Fowler packte den Fünf-Gallonen-Wasserkanister am Griff.
    
  "Kümmern Sie sich um Andrea", sagte er zu dem Arzt. "Ich werde sie finden."
    
  Nun wandte Harel ihre volle Aufmerksamkeit der jungen Reporterin zu, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt nur noch ihren Zustand beobachten konnte. Es würde das Adrenalin sein, das seine Wirkung entfaltete. Sobald das Hormon in Andreas Blutkreislauf gelangte, würden die Nervenenden in ihren Zellen zu feuern beginnen. Die Fettzellen in ihrem Körper würden anfangen, Lipide abzubauen und so zusätzliche Energie freizusetzen, ihr Herzschlag würde sich beschleunigen, der Blutzuckerspiegel würde steigen, ihr Gehirn würde Dopamin produzieren, und - am wichtigsten - ihre Bronchien würden sich erweitern und die Schwellung in ihrem Hals würde verschwinden.
    
  Mit einem lauten Seufzer holte Andrea zum ersten Mal wieder selbstständig Luft. Für Dr. Harel war das Geräusch fast so schön wie die drei dumpfen Schläge, die sie im Hintergrund gegen Pater Fowlers Kanister gehört hatte, als die Medizin ihre Wirkung entfaltete. Als Pater Fowler sich neben sie auf den Boden setzte, war sich Doc sicher, dass aus den drei Skorpionen nun drei Flecken auf dem Boden geworden waren.
    
  "Und das Gegenmittel? Etwas, um das Gift zu neutralisieren?", fragte der Priester.
    
  "Ja, aber ich möchte ihr die Spritze noch nicht geben. Sie wird aus dem Blut von Pferden hergestellt, die Hunderten von Skorpionstichen ausgesetzt waren und deshalb irgendwann immun werden. Der Impfstoff enthält immer Spuren des Giftstoffs, und ich möchte ihn nicht noch einmal erleiden."
    
  Fowler beobachtete die junge Spanierin. Ihr Gesicht begann langsam wieder normal auszusehen.
    
  "Vielen Dank für alles, was Sie getan haben, Doktor", sagte er. "Ich werde es nicht vergessen."
    
  "Kein Problem", antwortete Harel, der sich inzwischen der Gefahr, die sie durchgemacht hatten, nur allzu bewusst war und zu zittern begann.
    
  Wird es irgendwelche Konsequenzen geben?
    
  "Nein. Ihr Körper kann das Gift jetzt bekämpfen." Sie hielt die grüne Phiole hoch. "Es ist reines Adrenalin, es ist, als würde man ihrem Körper eine Waffe geben. Jedes Organ in ihrem Körper wird seine Kapazität verdoppeln und sie vor dem Ersticken bewahren. In ein paar Stunden wird es ihr wieder gut gehen, auch wenn sie sich elend fühlen wird."
    
  Fowlers Gesichtsausdruck entspannte sich etwas. Er deutete zur Tür.
    
  "Denkst du dasselbe wie ich?"
    
  "Ich bin doch kein Idiot, Vater. Ich war schon hunderte Male in der Wüste meines Landes. Das Letzte, was ich abends mache, ist, zu überprüfen, ob alle Türen verschlossen sind. Ich überprüfe sie sogar doppelt. Dieses Zelt ist sicherer als ein Schweizer Bankkonto."
    
  Drei Skorpione. Alle gleichzeitig. Mitten in der Nacht...
    
  'Ja, Vater. Das ist bereits das zweite Mal, dass jemand versucht hat, Andrea zu töten.'
    
    
  49
    
    
    
  ORVILLE WATSONS SICHERES HAUS
    
  WASHINGTON, D.C. UMKREISE
    
    
  Freitag, 14. Juli 2006, 23:36 Uhr.
    
    
  Seit Orville Watson mit der Terroristenjagd begann, hatte er einige grundlegende Vorsichtsmaßnahmen getroffen: Er hatte dafür gesorgt, dass er Telefonnummern, Adressen und Postleitzahlen unter verschiedenen Namen besaß, und dann über eine nicht näher genannte ausländische Geschäftspartnerin ein Haus erworben, das nur ein Genie zu ihm zurückverfolgen konnte. Ein Notversteck für den Fall, dass die Dinge schiefgingen.
    
  Natürlich birgt ein nur dir bekanntes Versteck seine Tücken. Zunächst einmal musst du es selbst bestücken. Orville kümmerte sich darum. Alle drei Wochen brachte er Konserven, Fleisch für den Gefrierschrank und einen Stapel DVDs mit den neuesten Filmen. Dann entsorgte er alles Veraltete, schloss das Versteck ab und verschwand.
    
  Es war paranoides Verhalten ... daran gab es keinen Zweifel. Orvilles einziger Fehler, abgesehen davon, dass er sich von Nazim verfolgen ließ, war, beim letzten Mal eine Tüte Hershey-Schokoriegel zu vergessen. Das war ein unkluger Genuss, nicht nur wegen der 330 Kalorien pro Riegel, sondern auch, weil eine Eilbestellung bei Amazon Terroristen hätte verraten können, dass man sich in dem Haus befand, das sie observierten.
    
  Aber Orville konnte nicht anders. Er hätte auf Essen, Wasser, Internetzugang, seine Sammlung erotischer Fotos, seine Bücher und seine Musik verzichten können. Doch als er am frühen Mittwochmorgen nach Hause kam, seine Feuerwehrjacke in den Müll warf, in den Schrank schaute, wo er seine Pralinen aufbewahrte, und sah, dass er leer war, sank ihm das Herz. Er konnte keine drei oder vier Monate ohne Schokolade auskommen, da er seit der Scheidung seiner Eltern völlig davon abhängig war.
    
  Ich könnte schlimmere Süchte haben, dachte er und versuchte, sich zu beruhigen. Heroin, Crack, die Republikaner wählen.
    
  Orville hatte in seinem Leben noch nie Heroin probiert, aber selbst der betäubende Wahnsinn dieser Droge konnte sich nicht mit dem unkontrollierbaren Rausch vergleichen, den er verspürte, als er beim Auspacken der Schokolade das Knistern der Alufolie hörte.
    
  Wäre Orville ein wahrer Freudianer, würde er vielleicht schlussfolgern, dass es daran lag, dass die Familie Watson vor ihrer Scheidung Weihnachten 1993 im Haus seines Onkels in Harrisburg, Pennsylvania, verbracht hatte. Als besonderes Geschenk unternahmen seine Eltern mit Orville einen Ausflug zur Hershey-Fabrik, die nur 22 Kilometer außerhalb von Harrisburg lag. Orvilles Knie wurden weich, als sie das Gebäude betraten und den Duft von Schokolade einatmeten. Er bekam sogar ein paar Hershey-Riegel mit seinem Namen darauf geschenkt.
    
  Doch nun wurde Orville von einem anderen Geräusch noch viel mehr beunruhigt: dem Geräusch von zerbrechendem Glas, es sei denn, seine Ohren spielten ihm einen Streich.
    
  Er schob vorsichtig einen kleinen Stapel Schokoladenpapier beiseite und stand auf. Drei Stunden lang hatte er dem Verlangen nach Schokolade widerstanden - eine persönliche Bestleistung. Doch nun, da er seiner Sucht endlich nachgegeben hatte, wollte er es richtig krachen lassen. Und wenn er nach Freud"scher Logik vorgegangen wäre, hätte er schätzungsweise siebzehn Pralinen gegessen, eine für jedes Mitglied seiner Firma, das bei dem Anschlag am Montag ums Leben gekommen war.
    
  Orville glaubte jedoch nicht an Sigmund Freud und dessen Schwindel. Wenn es um Glasscherben ging, vertraute er auf Smith & Wesson. Deshalb bewahrte er einen speziellen .38er Revolver neben seinem Bett auf.
    
  Das darf doch nicht wahr sein! Der Alarm ist an.
    
  Er nahm die Pistole und den daneben auf dem Nachttisch liegenden Gegenstand. Es sah aus wie ein Schlüsselanhänger, war aber eine einfache Fernbedienung mit zwei Knöpfen. Der erste Knopf löste einen stillen Alarm auf der Polizeiwache aus. Der zweite aktivierte eine Sirene auf dem gesamten Anwesen.
    
  "Es ist so laut, dass es Nixon davon aufwecken und ihn zum Stepptanz bringen könnte", sagte der Mann, der den Wecker gestellt hatte.
    
  "Nixon ist in Kalifornien begraben."
    
  "Jetzt wissen Sie, wie mächtig es ist."
    
  Orville drückte beide Knöpfe, um kein Risiko einzugehen. Da er keine Sirenen hörte, wollte er den Idioten, der das System installiert und geschworen hatte, es ließe sich nicht abschalten, am liebsten verprügeln.
    
  "Scheiße, Scheiße, Scheiße", fluchte Orville leise vor sich hin und umklammerte seine Pistole. "Was zum Teufel soll ich jetzt tun? Der Plan war doch, hierherzukommen und in Sicherheit zu sein. Was ist mit dem Handy...?"
    
  Es stand auf dem Nachttisch, oben auf einer alten Ausgabe von Vanity Fair.
    
  Sein Atem ging flach, und er begann zu schwitzen. Als er das Geräusch von zerbrechendem Glas hörte - wahrscheinlich aus der Küche -, saß er im Dunkeln in seinem Bett, spielte Sims auf seinem Laptop und lutschte an einem Schokoriegel, der noch in der Verpackung klebte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass die Klimaanlage ein paar Minuten zuvor ausgegangen war.
    
  Wahrscheinlich haben sie gleichzeitig mit der angeblich zuverlässigen Alarmanlage den Strom abgestellt. Vierzehntausend Dollar. Verdammt!
    
  Vor Angst und in der schwülen Sommerhitze Washingtons, die ihn schweißgebadet zurückließ, verlor er die Pistole immer fester in der Hand, und jeder Schritt fühlte sich unsicher an. Orville musste unbedingt so schnell wie möglich von dort weg.
    
  Er durchquerte die Umkleidekabine und spähte in den Flur im Obergeschoss. Niemand war da. Es gab keinen anderen Weg ins Erdgeschoss als über die Treppe, aber Orville hatte einen Plan. Am Ende des Flurs, gegenüber der Treppe, befand sich ein kleines Fenster, und draußen wuchs ein recht kümmerlicher Kirschbaum, der einfach nicht blühen wollte. Egal. Die Äste waren dicht und nah genug am Fenster, um selbst einem so unerfahrenen wie Orville den Abstieg auf diesem Weg zu ermöglichen.
    
  Er ging in den Vierfüßlerstand, steckte die Pistole in den engen Bund seiner Shorts und zwang seinen massigen Körper, drei Meter über den Teppich zum Fenster zu kriechen. Ein weiteres Geräusch aus dem Stockwerk darunter bestätigte, dass tatsächlich jemand ins Haus eingebrochen war.
    
  Er öffnete das Fenster und knirschte mit den Zähnen, wie Tausende es täglich tun, wenn sie versuchen, leise zu sein. Zum Glück hing ihr Leben nicht davon ab; leider tat er es. Er hörte bereits Schritte die Treppe heraufkommen.
    
  Alle Vorsicht fahren lassend, stand Orville auf, öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Die Äste standen etwa anderthalb Meter auseinander, und Orville musste sich strecken, um mit den Fingern einen der dicksten zu berühren.
    
  Das wird nicht funktionieren.
    
  Ohne nachzudenken, stellte er einen Fuß auf die Fensterbank, stieß sich ab und sprang mit einer Präzision, die selbst der wohlwollendste Beobachter nicht als elegant bezeichnet hätte. Seine Finger griffen nach einem Ast, doch in seiner Eile rutschte ihm die Pistole in die Hose, und nach einer kurzen, kalten Berührung mit dem, was er "kleinen Timmy" nannte, glitt der Ast sein Bein hinunter und fiel in den Garten.
    
  Verdammt! Was konnte denn noch schiefgehen?
    
  In diesem Moment brach der Ast.
    
  Orville landete mit seinem vollen Gewicht auf seinem Hintern und verursachte einen lauten Knall. Mehr als dreißig Prozent des Stoffes seiner Shorts waren bei dem Sturz gerissen, wie er später bemerkte, als er blutende Wunden an seinem Rücken sah. Doch in diesem Moment nahm er sie nicht wahr, denn er wollte das Ding nur so weit wie möglich vom Haus wegbringen. Also rannte er zum Tor seines Grundstücks, etwa 20 Meter den Hügel hinunter. Er hatte zwar keinen Schlüssel, hätte es aber notfalls aufgebrochen. Auf halbem Weg den Hügel hinunter wich die Angst, die ihn beschlichen hatte, einem Gefühl der Genugtuung.
    
  Zwei unmögliche Fluchten in einer Woche. Komm drüber hinweg, Batman.
    
  Er konnte es nicht fassen, aber die Tore waren offen. Orville streckte die Arme in der Dunkelheit aus und steuerte auf den Ausgang zu.
    
  Plötzlich trat eine dunkle Gestalt aus dem Schatten der Mauer, die das Grundstück umgab, und rammte ihm die Nase ins Gesicht. Orville spürte die volle Wucht des Aufpralls und hörte ein entsetzliches Knirschen, als seine Nase brach. Wimmernd und sich das Gesicht haltend, fiel Orville zu Boden.
    
  Eine Gestalt rannte den Weg vom Haus herunter und richtete eine Pistole auf Orvilles Hinterkopf. Das war unnötig, denn Orville war bereits bewusstlos. Nazim stand neben ihm, hielt nervös eine Schaufel in der Hand, mit der er Orville schlug und dabei die klassische Schlaghaltung eines Baseballspielers vor dem Werfer einnahm. Es war ein perfekter Schlag. Nazim war in seiner Highschool-Zeit ein guter Schlagmann gewesen, und irgendwie glaubte er, sein Trainer wäre stolz auf diesen fantastischen Schlag im Dunkeln.
    
  "Habe ich dir das nicht gesagt?", fragte Haruf atemlos. "Zerbrochenes Glas wirkt immer. Sie rennen wie verängstigte Kaninchen davon, wohin man sie auch schickt. Komm schon, leg das hin und hilf mir, es ins Haus zu tragen."
    
    
  50
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Samstag, 15. Juli 2006, 6:34 Uhr.
    
    
  Andrea wachte auf und fühlte sich, als hätte sie Pappe zerkaut. Sie lag auf der Untersuchungsliege, neben der Pater Fowler und Dr. Harel, beide im Schlafanzug, auf Stühlen dösten.
    
  Sie wollte gerade aufstehen, um ins Badezimmer zu gehen, als die Tür aufsprang und Jacob Russell erschien. Assistent Cain trug ein Funkgerät am Gürtel und war nachdenklich in Falten gelegt. Da er sah, dass der Priester und der Arzt schliefen, schlich er auf Zehenspitzen zum Tisch und flüsterte Andrea etwas zu.
    
  'Wie geht es dir?'
    
  Erinnerst du dich an den Morgen nach deinem Schulabschluss?
    
  Russell lächelte und nickte.
    
  "Nun ja, es ist im Prinzip dasselbe, nur dass sie den Alkohol durch Bremsflüssigkeit ersetzt haben", sagte Andrea und fasste sich an den Kopf.
    
  "Wir haben uns wirklich Sorgen um dich gemacht. Was mit Erling passiert ist und jetzt das... Wir haben wirklich Pech."
    
  In diesem Moment erwachten Andreas Schutzengel gleichzeitig.
    
  "Pech? Das ist Quatsch", sagte Harel und streckte sich auf ihrem Stuhl. "Was hier passiert ist, war ein versuchter Mord."
    
  'Worüber redest du?'
    
  "Ich würde es auch gern wissen", sagte Andrea schockiert.
    
  "Mr. Russell", sagte Fowler, stand auf und ging auf seinen Assistenten zu, "ich beantrage hiermit formell die Evakuierung von Miss Otero nach Behemoth."
    
  "Pater Fowler, ich schätze Ihre Sorge um Miss Oteros Wohlergehen, und normalerweise würde ich Ihnen sofort zustimmen. Aber das würde bedeuten, gegen die Sicherheitsbestimmungen des Betriebs zu verstoßen, und das ist ein gewaltiger Schritt ..."
    
  "Hör mal zu", unterbrach Andrea.
    
  "Ihre Gesundheit ist nicht in unmittelbarer Gefahr, oder, Dr. Harel?"
    
  "Nun ja... streng genommen nein", sagte Harel und musste schließlich nachgeben.
    
  "In ein paar Tagen ist sie wieder wie neu."
    
  'Hör mir zu...', beharrte Andrea.
    
  "Sehen Sie, Vater, es hätte keinen Sinn, Fräulein Otero zu evakuieren, bevor sie ihre Aufgabe erfüllen konnte."
    
  "Selbst wenn jemand versucht, sie zu töten?", fragte Fowler angespannt.
    
  Dafür gibt es keine Beweise. Es war ein unglücklicher Zufall, dass die Skorpione in ihren Schlafsack gelangten, aber...
    
  'STOP!', schrie Andrea.
    
  Erstaunt drehten sich alle drei zu ihr um.
    
  "Könntest du bitte aufhören, über mich zu reden, als wäre ich nicht da, und mir wenigstens einen verdammten Moment zuhören? Oder darf ich meine Meinung nicht äußern, bevor du mich von dieser Expedition wirfst?"
    
  'Natürlich. Nur zu, Andrea', sagte Harel.
    
  "Zuerst möchte ich wissen, wie die Skorpione in meinen Schlafsack gekommen sind."
    
  "Ein bedauerlicher Unfall", kommentierte Russell.
    
  "Das kann kein Unfall gewesen sein", erwiderte Pater Fowler. "Das Krankenzimmer ist ein hermetisch abgeriegeltes Zelt."
    
  "Sie verstehen das nicht", sagte Cains Assistent und schüttelte enttäuscht den Kopf. "Alle sind beunruhigt wegen dem, was mit Stow Erling passiert ist. Überall kursieren Gerüchte. Manche sagen, es war einer der Soldaten, andere, Pappas, als er erfuhr, dass Erling die Arche entdeckt hatte. Wenn ich Miss Otero jetzt evakuiere, wollen viele andere auch weg. Jedes Mal, wenn sie mich sehen, wollen Hanley, Larsen und ein paar andere, dass ich sie zurück zum Schiff schicke. Ich habe ihnen gesagt, dass sie zu ihrer eigenen Sicherheit hierbleiben müssen, weil wir ihnen einfach nicht garantieren können, dass sie sicher zum Behemoth gelangen. Dieses Argument wäre hinfällig, wenn ich Sie evakuieren würde, Miss Otero."
    
  Andrea schwieg einige Augenblicke.
    
  'Mr. Russell, soll ich das so verstehen, dass ich nicht jederzeit gehen kann, wann immer ich will?'
    
  "Nun, ich bin gekommen, um Ihnen ein Angebot meines Chefs zu unterbreiten."
    
  "Ich bin ganz Ohr."
    
  "Ich glaube, Sie verstehen das nicht ganz. Mr. Cain persönlich wird Ihnen ein Angebot machen." Russell nahm das Funkgerät von seinem Gürtel und drückte den Rufknopf. "Hier, Sir", sagte er und reichte es Andrea.
    
  'Hallo und guten Morgen, Miss Otero.'
    
  Die Stimme des alten Mannes war angenehm, obwohl er einen leichten bayerischen Akzent hatte.
    
  Wie jener Gouverneur von Kalifornien. Der, der Schauspieler war.
    
  'Miss Otero, sind Sie da?'
    
  Andrea war so überrascht, die Stimme des alten Mannes zu hören, dass es eine Weile dauerte, bis sich ihr trockener Hals wieder beruhigt hatte.
    
  'Ja, ich bin hier, Mr. Cain.'
    
  "Miss Otero, ich würde Sie gerne später, gegen Mittag, auf einen Drink mit mir einladen. Wir können uns unterhalten, und ich beantworte gerne Ihre Fragen."
    
  'Ja, selbstverständlich, Herr Cain. Das würde mir sehr gefallen.'
    
  Fühlst du dich gut genug, um in mein Zelt zu kommen?
    
  'Ja, Sir. Es sind nur noch zwölf Meter von hier.'
    
  "Na dann, bis später."
    
  Andrea gab Russell das Funkgerät zurück, der sich höflich verabschiedete und ging. Fowler und Harel sagten kein Wort; sie starrten Andrea nur missbilligend an.
    
  "Hör auf, mich so anzusehen", sagte Andrea, lehnte sich auf der Untersuchungsliege zurück und schloss die Augen. "Ich darf mir diese Chance nicht entgehen lassen."
    
  "Findest du es nicht einen überraschenden Zufall, dass er dir gerade ein Vorstellungsgespräch angeboten hat, als wir dich gefragt haben, ob du gehen könntest?", sagte Harel ironisch.
    
  "Nun, das kann ich nicht ablehnen", beharrte Andrea. "Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, mehr über diesen Mann zu erfahren."
    
  Der Priester winkte abweisend mit der Hand.
    
  "Millionäre und Reporter. Die sind alle gleich, die glauben, die Wahrheit zu kennen."
    
  'Genau wie die Kirche, Pater Fowler?'
    
    
  51
    
    
    
  ORVILLE WATSONS SICHERES HAUS
    
  WASHINGTON, D.C. UMKREISE
    
    
  Samstag, 15. Juli 2006, 12:41 Uhr
    
    
  Die Ohrfeigen weckten Orville auf.
    
  Sie waren weder zu heftig noch zu zahlreich, gerade genug, um ihn zurück ins Leben zu holen und ihn zu zwingen, einen seiner Vorderzähne auszuspucken, den er mit der Schaufel beschädigt hatte. Als der junge Orville ihn ausspuckte, durchfuhr ihn der Schmerz seiner gebrochenen Nase wie eine Herde wilder Pferde. Die Schläge des Mannes mit den mandelförmigen Augen trafen ihn in einem rhythmischen Rhythmus.
    
  "Sieh mal. Er ist wach", sagte der ältere Mann zu seinem Partner, der groß und schlank war. Der ältere Mann schlug Orville noch ein paar Mal, bis dieser aufstöhnte. "Du bist nicht gerade in Bestform, was, Kunde 3?"
    
  Orville lag auf dem Küchentisch, nur mit seiner Armbanduhr bekleidet. Obwohl er nie zu Hause kochte - ja, überhaupt nie irgendwo -, besaß er eine voll ausgestattete Küche. Orville verfluchte seinen Perfektionismus, als er das Kochgeschirr neben der Spüle betrachtete und den Kauf der scharfen Küchenmesser, Korkenzieher und Grillspieße bereute...
    
  'Hören...'
    
  'Den Mund halten!'
    
  Ein junger Mann richtete eine Pistole auf ihn. Der Ältere, der wohl um die dreißig gewesen sein musste, hob einen der Spieße auf und zeigte ihn Orville. Die scharfe Spitze blitzte kurz im Licht der Halogen-Deckenleuchten auf.
    
  "Wissen Sie, was das ist?"
    
  "Das ist Schaschlik. Die kosten 5,99 Dollar pro Portion bei Walmart. Hör mal ...", sagte Orville und versuchte, sich aufzusetzen. Ein anderer Mann legte seine Hand zwischen Orvilles volle Brüste und zwang ihn, sich wieder hinzulegen.
    
  "Ich habe dir gesagt, du sollst die Klappe halten."
    
  Er nahm den Spieß und stach, sich vorbeugend, die Spitze direkt in Orvilles linke Hand. Der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte sich nicht, selbst als das scharfe Metall seine Hand auf dem Holztisch festklemmte.
    
  Zuerst war Orville zu benommen, um zu begreifen, was geschehen war. Dann durchfuhr ihn plötzlich ein stechender Schmerz wie ein elektrischer Schlag im Arm. Er schrie auf.
    
  "Weißt du, wer die Spieße erfunden hat?", fragte der kleinere Mann und packte Orville am Gesicht, um ihn zum Ansehen zu zwingen. "Das waren unsere Leute. Genauer gesagt, in Spanien nannte man sie maurische Kebabs. Sie haben sie erfunden, als es als schlechte Manieren galt, mit einem Messer am Tisch zu essen."
    
  So, ihr Mistkerle, jetzt reicht's! Ich hab was zu sagen.
    
  Orville war kein Feigling, aber auch nicht dumm. Er wusste, wie viel Schmerz er ertragen konnte und wann er getroffen wurde. Dreimal atmete er geräuschvoll durch den Mund ein. Er wagte es nicht, durch die Nase zu atmen und sich dadurch noch mehr Schmerzen zuzufügen.
    
  "Okay, genug. Ich erzähle euch, was ihr wissen wollt. Ich singe, ich plaudere aus dem Nähkästchen, ich zeichne eine grobe Skizze, ein paar Pläne. Gewalt ist nicht nötig."
    
  Das letzte Wort wäre beinahe in einen Schrei übergegangen, als er sah, wie der Mann einen weiteren Spieß ergriff.
    
  "Natürlich werden Sie reden. Aber wir sind kein Folterkomitee. Wir sind ein Exekutivkomitee. Wir wollen das Ganze sehr langsam angehen. Nazim, setzen Sie ihm die Pistole an den Kopf."
    
  Der Mann namens Nazim, mit völlig ausdruckslosem Gesicht, setzte sich auf einen Stuhl und drückte Orville den Lauf einer Pistole an den Schädel. Orville erstarrte, als er das kalte Metall spürte.
    
  "Wenn du schon mal in Gesprächslaune bist ... erzähl mir doch, was du über Hakan weißt."
    
  Orville schloss die Augen. Er hatte Angst. Tja, das war's.
    
  "Nichts. Ich habe nur hier und da etwas aufgeschnappt."
    
  "Das ist Blödsinn", sagte der kleine Mann und schlug ihm dreimal ins Gesicht. "Wer hat dir gesagt, du sollst ihm folgen? Wer weiß, was in Jordanien passiert ist?"
    
  "Ich weiß nichts über Jordan."
    
  "Du lügst."
    
  "Es ist wahr. Ich schwöre bei Allah!"
    
  Diese Worte schienen etwas in seinen Angreifern zu wecken. Nazim drückte den Lauf der Pistole fester gegen Orvilles Kopf. Der andere drückte einen zweiten Spieß in seinen nackten Körper.
    
  "Du ekelst mich an, Kunde. Sieh dir an, wie du dein Talent missbraucht hast - um deine Religion zu zerstören und deine muslimischen Brüder zu verraten. Und das alles für eine Handvoll Bohnen."
    
  Er fuhr mit der Spitze des Spießes über Orvilles Brust und verweilte kurz an dessen linker Brust. Vorsichtig hob er eine Hautfalte an und ließ sie dann abrupt fallen, sodass sich das Fett auf Orvilles Bauch wellte. Das Metall hinterließ einen Kratzer, und Blutstropfen vermischten sich mit dem nervösen Schweiß auf Orvilles nacktem Körper.
    
  "Nur waren es nicht gerade ein paar Bohnen", fuhr der Mann fort und drückte die scharfe Stahlklinge etwas tiefer in das Fleisch. "Du hast mehrere Häuser, ein schönes Auto, Angestellte ... Und sieh dir diese Uhr an, gepriesen sei Allah."
    
  "Du schaffst es, wenn du loslässt", dachte Orville, aber er sagte kein Wort, weil er nicht noch einmal von einer Stahlstange durchbohrt werden wollte. "Verdammt, ich weiß nicht, wie ich da wieder rauskomme."
    
  Er versuchte krampfhaft, sich irgendetwas auszudenken, was er sagen könnte, damit die beiden Männer ihn in Ruhe ließen. Doch der furchtbare Schmerz in seiner Nase und seinem Arm schrie ihm zu, dass es solche Worte nicht gab.
    
  Mit der freien Hand nahm Nazim Orville die Uhr vom Handgelenk und reichte sie dem anderen Mann.
    
  "Hallo ... Jaeger-LeCoultre. Nur das Beste, nicht wahr? Wie viel zahlt Ihnen der Staat dafür, dass Sie eine Ratte sind? Bestimmt eine Menge. Genug für eine 20.000-Dollar-Uhr."
    
  Der Mann warf seine Uhr auf den Küchenboden und stampfte mit den Füßen, als hinge sein Leben davon ab, doch er schaffte es lediglich, das Zifferblatt zu zerkratzen, wodurch der theatralische Effekt völlig dahin war.
    
  "Ich verfolge nur Kriminelle", sagte Orville. "Du hast kein Monopol auf Allahs Botschaft."
    
  "Wage es nicht, seinen Namen noch einmal auszusprechen!", sagte der kleine Mann und spuckte Orville ins Gesicht.
    
  Orvilles Oberlippe begann zu zittern, doch er war kein Feigling. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er im Sterben lag, und so sprach er mit all der Würde, die er aufbringen konnte. "Omak zanya fih erd 4", sagte er, sah dem Mann direkt in die Augen und versuchte, nicht zu stottern. Wut blitzte in den Augen des Mannes auf. Es war klar, dass die beiden Männer geglaubt hatten, sie könnten Orville brechen und ihn um sein Leben betteln sehen. Sie hatten nicht erwartet, dass er so mutig sein würde.
    
  "Du wirst weinen wie ein Mädchen", sagte der ältere Mann.
    
  Seine Hand schnellte hoch und rammte den zweiten Spieß mit voller Wucht in Orvilles rechten Arm. Orville konnte sich nicht beherrschen und stieß einen Schrei aus, der seinen Mut von vorhin völlig widerlegte. Blut spritzte ihm in den offenen Mund, und er begann zu würgen. Hustenanfälle durchzuckten seinen Körper vor Schmerzen, als seine Hände von den Spießen losgerissen wurden, die sie am Holztisch fixiert hatten.
    
  Allmählich ließ der Husten nach, und die Worte des Mannes bewahrheiteten sich, als zwei dicke Tränen über Orvilles Wangen auf den Tisch rollten. Offenbar war dies alles, was der Mann brauchte, um Orville von seiner Qual zu befreien. Ihm war ein neues Küchengerät gewachsen: ein langes Messer.
    
  "Es ist vorbei, Kunde-"
    
  Ein Schuss knallte und hallte von den an der Wand hängenden Metallpfannen wider. Der Mann stürzte zu Boden. Sein Partner drehte sich nicht einmal um, um zu sehen, woher der Schuss kam. Er sprang über die Küchentheke, wobei seine Gürtelschnalle die teure Oberfläche zerkratzte, und landete auf den Händen. Ein zweiter Schuss zersplitterte einen Teil des Türrahmens etwa einen halben Meter über seinem Kopf, als Nazim verschwand.
    
  Orville, dessen Gesicht zerschunden war und dessen Handflächen wie eine bizarre Parodie eines Kruzifixes bluteten, konnte sich kaum umdrehen, um zu sehen, wer ihn vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Es war ein hagerer, hellhaariger Mann von etwa dreißig Jahren, gekleidet in Jeans und mit einem Halsband, das wie das eines Priesters aussah.
    
  "Schöne Pose, Orville", sagte der Priester und rannte an ihm vorbei, um den zweiten Terroristen zu verfolgen. Er duckte sich hinter den Türrahmen und sprang dann plötzlich hervor, die Pistole in beiden Händen. Vor ihm befand sich nur ein leerer Raum mit einem offenen Fenster.
    
  Der Priester kehrte in die Küche zurück. Orville hätte sich vor Staunen die Augen gerieben, wenn seine Hände nicht auf dem Tisch festgehalten worden wären.
    
  "Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber danke. Könnten Sie bitte versuchen, mich gehen zu lassen?"
    
  Mit seiner verletzten Nase klang es wie "eisweiße Flamme".
    
  "Zähne zusammenbeißen. Das wird wehtun", sagte der Priester und packte den Spieß mit der rechten Hand. Obwohl er versuchte, ihn gerade herauszuziehen, schrie Orville vor Schmerz auf. "Weißt du, du bist nicht leicht zu finden."
    
  Orville unterbrach ihn und hob die Hand. Die Wunde war deutlich zu sehen. Erneut die Zähne zusammenbeißend, rollte Orville nach links und zog den zweiten Spieß selbst heraus. Diesmal schrie er nicht.
    
  "Können Sie gehen?", fragte der Priester und half ihm aufzustehen.
    
  'Ist der Papst Pole?'
    
  "Nicht mehr. Mein Auto steht in der Nähe. Haben Sie eine Ahnung, wo Ihr Gast hingegangen ist?"
    
  'Woher zum Teufel soll ich das wissen?', sagte Orville, griff nach einer Rolle Küchentücher neben dem Fenster und wickelte seine Hände in dicke Lagen Papier ein, die wie riesige Klumpen Zuckerwatte aussahen, die sich langsam rosa vor Blut färbten.
    
  "Lass das und geh vom Fenster weg. Ich verbinde dich im Auto. Ich dachte, du wärst ein Terrorismus-Experte."
    
  "Und ich nehme an, Sie sind von der CIA?" Ich dachte, ich hätte Glück gehabt.
    
  'Nun ja, mehr oder weniger. Mein Name ist Albert, und ich komme von ISL 5.'
    
  'Verbindung? Mit wem? Mit dem Vatikan?'
    
  Albert antwortete nicht. Agenten der Heiligen Allianz bestätigten niemals ihre Zugehörigkeit zu der Gruppe.
    
  "Dann vergiss es", sagte Orville und kämpfte gegen den Schmerz an. "Sieh mal, hier kann uns niemand helfen. Ich bezweifle, dass irgendjemand die Schüsse überhaupt gehört hat. Die nächsten Nachbarn wohnen eine halbe Meile entfernt. Hast du ein Handy?"
    
  "Keine gute Idee. Wenn die Polizei kommt, bringen sie dich ins Krankenhaus und wollen dich dann verhören. Die CIA wird in einer halben Stunde mit einem Blumenstrauß in deinem Zimmer stehen."
    
  'Du weißt also, wie man das Ding benutzt?', sagte Orville und zeigte auf die Pistole.
    
  "Nicht wirklich. Ich hasse Waffen. Du hast Glück, dass ich den Kerl erstochen habe und nicht dich."
    
  "Na, dann solltest du sie besser mögen", sagte Orville, hob seine Zuckerwattehände und richtete seine Pistole auf ihn. "Was für ein Agent bist du eigentlich?"
    
  "Ich habe nur eine Grundausbildung", sagte Albert grimmig. "Mein Spezialgebiet sind Computer."
    
  "Na, das ist ja wunderbar! Mir wird ganz schwindelig", sagte Orville, dem die Ohnmacht drohte. Nur Alberts Hand verhinderte, dass er zu Boden fiel.
    
  'Glaubst du, du kannst zum Auto gelangen, Orville?'
    
  Orville nickte, war sich aber nicht ganz sicher.
    
  "Wie viele sind es?", fragte Albert.
    
  "Der Einzige, der übrig geblieben ist, ist der, den du verscheucht hast. Aber er wird im Garten auf uns warten."
    
  Albert warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen.
    
  "Dann los. Den Hang hinunter, näher an die Wand... er könnte überall sein."
    
    
  52
    
    
    
  ORVILLE WATSONS SICHERES HAUS
    
  WASHINGTON, D.C. UMKREISE
    
    
  Samstag, 15. Juli 2006, 13:03 Uhr.
    
    
  Nazim hatte große Angst.
    
  Er hatte sich die Szene seines Martyriums unzählige Male ausgemalt. Abstrakte Alpträume, in denen er in einem gewaltigen Feuerball umkommen würde, etwas Enormes, das im Fernsehen weltweit übertragen würde. Harufs Tod war eine absurde Enttäuschung, die Nazim verwirrt und verängstigt zurückließ.
    
  Er flüchtete in den Garten, aus Angst, die Polizei könnte jeden Moment auftauchen. Einen Augenblick lang reizte ihn das noch halb geöffnete Haupttor. Das Zirpen der Grillen und Zikaden erfüllte die Nacht mit Hoffnung und Leben, und einen Moment lang zögerte Nazim.
    
  Nein. Ich habe mein Leben der Ehre Allahs und dem Heil meiner Lieben gewidmet. Was würde mit meiner Familie geschehen, wenn ich jetzt wegliefe, wenn ich nachgäbe?
    
  Nazim ging also nicht durch das Tor. Er blieb im Schatten, hinter einer Reihe überwucherter Löwenmäulchen, die noch einige gelbliche Blüten trugen. Um die Anspannung in seinem Körper zu lösen, wechselte er seine Pistole von einer Hand in die andere.
    
  Mir geht es gut. Ich bin über die Küchentheke gesprungen. Die Kugel, die auf mich zukam, hat mich um Haaresbreite verfehlt. Einer von ihnen ist ein Priester, der andere ist verwundet. Ich bin ihnen mehr als gewachsen. Ich muss nur die Straße zum Tor im Auge behalten. Wenn ich Polizeiautos höre, klettere ich über die Mauer. Es ist teuer, aber ich kann es schaffen. Rechts ist eine Stelle, die etwas tiefer aussieht. Schade, dass Haruf nicht hier ist. Er war ein Genie im Türenöffnen. Das Tor zum Anwesen hat er in nur fünfzehn Sekunden geöffnet. Ob er wohl schon bei Allah ist? Ich werde ihn vermissen. Er hätte gewollt, dass ich bleibe und Watson erledige. Er wäre jetzt tot, wenn Haruf nicht so lange gewartet hätte, aber nichts erzürnte ihn mehr als jemand, der seine eigenen Brüder verriet. Ich weiß nicht, wie es dem Dschihad helfen sollte, wenn ich heute Nacht sterbe, ohne vorher die Kunda abzunehmen. Nein. So darf ich nicht denken. Ich muss mich auf das Wesentliche konzentrieren. Das Reich, in das ich hineingeboren wurde, ist dem Untergang geweiht. Und ich werde mit meinem Blut dazu beitragen. Auch wenn ich mir wünschte, es geschehe nicht heute.
    
  Ein Geräusch drang vom Weg herüber. Nazim lauschte genauer. Sie kamen näher. Er musste schnell handeln. Er musste -
    
  "Okay. Waffe fallen lassen. Weiter."
    
  Nazim dachte nicht einmal nach. Er sprach kein letztes Gebet. Er drehte sich einfach um, die Pistole in der Hand.
    
    
  Albert, der aus dem Hinterausgang des Hauses gekommen war und sich dicht an der Mauer entlang bewegt hatte, um sicher zum Tor zu gelangen, bemerkte in der Dunkelheit die fluoreszierenden Streifen auf Nazims Nike-Turnschuhen. Es war anders als damals, als er instinktiv auf Haruf geschossen hatte, um Orvilles Leben zu retten, und ihn nur durch Zufall getroffen hatte. Diesmal überraschte er den jungen Mann aus nächster Nähe. Albert stellte sich mit beiden Füßen fest auf den Boden, zielte auf Nazims Brust und drückte halb ab, um ihn aufzufordern, die Waffe fallen zu lassen. Als Nazim sich umdrehte, drückte Albert den Abzug ganz durch und riss dem jungen Mann die Brust auf.
    
    
  Nazim nahm den Schuss nur noch vage wahr. Er spürte keinen Schmerz, obwohl er merkte, wie er zu Boden ging. Er versuchte, Arme und Beine zu bewegen, aber es war sinnlos, und er konnte nicht sprechen. Er sah, wie sich der Schütze über ihn beugte, seinen Puls prüfte und dann den Kopf schüttelte. Einen Augenblick später erschien Watson. Nazim sah einen Tropfen von Watsons Blut fallen, als dieser sich zu ihm beugte. Er wusste nie, ob sich dieser Tropfen mit seinem eigenen Blut vermischt hatte, das aus der Brustwunde floss. Seine Sicht verschwamm mit jeder Sekunde, aber er konnte Watsons Stimme noch immer beten hören.
    
  Gepriesen sei Allah, der uns das Leben geschenkt und uns die Möglichkeit gegeben hat, Ihn aufrichtig und rechtschaffen zu preisen. Gepriesen sei Allah, der uns den Heiligen Koran gelehrt hat, der besagt, dass wir selbst dann, wenn jemand die Hand gegen uns erheben würde, um uns zu töten, nicht die Hand gegen ihn erheben sollen. Vergib ihm, Herr des Universums, denn seine Sünden sind die Sünden eines getäuschten Unschuldigen. Bewahre ihn vor den Qualen der Hölle und bringe ihn Dir nahe, o Herr des Thrones.
    
  Danach fühlte sich Nazim viel besser. Es war, als wäre eine Last von ihm genommen worden. Er gab alles für Allah. Er ließ sich in einen solchen Frieden sinken, dass er die Polizeisirenen in der Ferne für das Zirpen von Grillen hielt. Eine von ihnen zirpte direkt neben seinem Ohr, und das war das Letzte, was er hörte.
    
    
  Wenige Minuten später beugten sich zwei uniformierte Polizisten über einen jungen Mann, der ein Trikot der Washington Redskins trug. Seine Augen waren geöffnet und blickten zum Himmel hinauf.
    
  "Zentrale, hier spricht Einheit 23. Wir haben 10:54 Uhr. Schicken Sie einen Krankenwagen -"
    
  "Vergiss es. Er hat keinen Erfolg gehabt."
    
  "Zentrale, stornieren Sie den Krankenwagen vorerst. Wir sperren den Tatort ab."
    
  Einer der Offiziere betrachtete das Gesicht des jungen Mannes und dachte, es sei eine Schande, dass er seinen Verletzungen erlegen war. Er hätte mein Sohn sein können. Doch der Mann würde deswegen nicht schlaflose Nächte haben. Er hatte schon genug tote Kinder auf den Straßen Washingtons gesehen, um das Oval Office damit auszulegen. Und doch hatte keines von ihnen einen solchen Gesichtsausdruck wie dieses.
    
  Einen Moment lang überlegte er, seinen Partner anzurufen und ihn zu fragen, was zum Teufel mit dem friedlichen Lächeln des Mannes nicht stimmte. Natürlich tat er es nicht.
    
  Er hatte Angst, sich lächerlich zu machen.
    
    
  53
    
    
    
  IRGENDWO IN FAIRFAX COUNTY, VIRGINIA
    
  Samstag, 15. Juli 2006, 14:06 Uhr.
    
    
  Orville Watsons und Alberts Versteck lagen fast 40 Kilometer voneinander entfernt. Orville legte die Strecke auf dem Rücksitz von Alberts Toyota zurück, halb schlafend, halb bei Bewusstsein, aber zumindest waren seine Hände ordentlich verbunden, dank des Erste-Hilfe-Kastens, den der Priester in seinem Auto mitführte.
    
  Eine Stunde später, in einen Frotteemantel gekleidet - das Einzige, was Albert besaß und das ihm passte -, schluckte Orville mehrere Tylenol-Tabletten und spülte sie mit dem Orangensaft hinunter, den ihm der Priester gebracht hatte.
    
  "Sie haben viel Blut verloren. Das wird helfen, die Situation zu stabilisieren."
    
  Orville wollte lediglich seinen Körper in einem Krankenhausbett stabilisieren, aber angesichts seiner eingeschränkten Fähigkeiten beschloss er, lieber bei Albert zu bleiben.
    
  "Haben Sie zufällig einen Hershey's-Riegel?"
    
  "Nein, tut mir leid. Ich vertrage keine Schokolade - ich bekomme davon Pickel. Aber in einer Weile gehe ich kurz zu Seven Eleven, um mir etwas zu essen, ein paar übergroße T-Shirts und vielleicht auch Süßigkeiten zu holen, wenn du magst."
    
  "Vergiss es. Nach dem, was heute Abend passiert ist, werde ich Hershey wohl für den Rest meines Lebens hassen."
    
  Albert zuckte mit den Achseln. "Das liegt an dir."
    
  Orville deutete auf die vielen Computer, die Alberts Wohnzimmer vollstellten. Zehn Monitore standen auf einem fast vier Meter langen Tisch und waren mit einem Kabelsalat verbunden, der so dick war wie ein Oberschenkel und sich an der Wand entlang auf dem Boden erstreckte. "Sie haben eine hervorragende Ausstattung, Herr Internationaler Verbindungsmann", sagte Orville und durchbrach die angespannte Stimmung. Als er den Priester beobachtete, wurde ihm klar, dass sie beide in der gleichen Situation waren. Seine Hände zitterten leicht, und er wirkte etwas verloren. "Ein HarperEdwards-System mit TINCom-Motherboards ... Sie haben mich also aufgespürt, richtig?"
    
  "Ihre Offshore-Firma in Nassau, mit der Sie das Safehouse gekauft haben. Ich habe 48 Stunden gebraucht, um den Server ausfindig zu machen, auf dem die ursprüngliche Transaktion gespeichert war. 2143 Schritte. Sie sind ein braver Junge."
    
  "Sie auch", sagte Orville beeindruckt.
    
  Die beiden Männer sahen sich an und nickten, sie erkannten ihre Hackerkollegen. Für Albert bedeutete dieser kurze Moment der Entspannung, dass der Schock, den er so lange unterdrückt hatte, plötzlich wie eine Horde Rowdys über ihn hereinbrach. Albert schaffte es nicht mehr ins Badezimmer. Er übergab sich in die Popcornschüssel, die er am Abend zuvor auf dem Tisch stehen gelassen hatte.
    
  "Ich habe noch nie jemanden getötet. Dieser Kerl... den anderen habe ich gar nicht bemerkt, weil ich handeln musste, ich habe geschossen, ohne nachzudenken. Aber der Junge... er war einfach nur ein Kind. Und er hat mir in die Augen geschaut."
    
  Orville sagte nichts, weil er nichts zu sagen hatte.
    
  Sie standen zehn Minuten lang so da.
    
  "Jetzt verstehe ich ihn", sagte der junge Priester schließlich.
    
  'WHO?'
    
  "Mein Freund. Jemand, der töten musste und deswegen gelitten hat."
    
  'Sprichst du von Fowler?'
    
  Albert musterte ihn misstrauisch.
    
  "Woher kennen Sie diesen Namen?"
    
  "Denn das ganze Durcheinander begann, als Cain Industries mich in Anspruch nahm. Sie wollten etwas über Pater Anthony Fowler wissen. Und mir ist aufgefallen, dass Sie ebenfalls Priester sind."
    
  Das machte Albert noch nervöser. Er packte Orville am Bademantel.
    
  "Was hast du ihnen erzählt?", schrie er. "Ich muss es wissen!"
    
  "Ich habe ihnen alles erzählt", sagte Orville entschieden. "Seine Ausbildung, seine Verwicklung in die CIA, in die Heilige Allianz ..."
    
  'Oh Gott! Wissen sie, was seine wahre Mission ist?'
    
  "Ich weiß es nicht. Sie haben mir zwei Fragen gestellt. Die erste war: Wer ist er? Die zweite: Wer wäre ihm wichtig?"
    
  "Was hast du herausgefunden? Und wie?"
    
  "Ich habe nichts herausgefunden. Ich hätte aufgegeben, wenn ich nicht einen anonymen Umschlag mit einem Foto und dem Namen der Reporterin erhalten hätte: Andrea Otero. In dem Briefumschlag stand, dass Fowler alles tun würde, um sie vor Schaden zu bewahren."
    
  Albert ließ Orvilles Morgenmantel los und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, um sich ein Bild von dem Geschehen zu machen.
    
  "Es ergibt alles Sinn ... Als Kain in den Vatikan ging und behauptete, den Schlüssel zur Bundeslade zu besitzen und dass diese sich möglicherweise in den Händen eines alten Nazi-Kriegsverbrechers befinde, versprach Sirin, seinen besten Mann für die Expedition zu gewinnen. Im Gegenzug sollte Kain einen vatikanischen Beobachter mitnehmen. Indem Sirin dir Oteros Namen nannte, stellte er sicher, dass Kain Fowler an der Expedition teilnehmen ließ, denn so konnte Chirin ihn durch Otero kontrollieren, und Fowler würde die Mission zu ihrem Schutz annehmen. Ein manipulativer Mistkerl", sagte Albert und unterdrückte ein Lächeln, das halb Abscheu, halb Bewunderung ausdrückte.
    
  Orville blickte ihn mit offenem Mund an.
    
  "Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen."
    
  "Du hast Glück: Wäre das der Fall gewesen, hätte ich dich töten müssen. Nur Spaß. Hör zu, Orville, ich bin nicht losgerannt, um dein Leben zu retten, weil ich ein CIA-Agent bin. Das bin ich nicht. Ich bin nur ein kleines Glied in einer Kette und tue einem Freund einen Gefallen. Und dieser Freund schwebt in großer Gefahr, unter anderem wegen des Berichts, den du Cain über ihn gegeben hast. Fowler ist in Jordanien, auf einer waghalsigen Expedition, um die Bundeslade zu bergen. Und, so seltsam es auch klingen mag, die Expedition könnte erfolgreich sein."
    
  "Khakan", sagte Orville kaum hörbar. "Ich habe zufällig etwas über Jordan und Khukan erfahren. Ich habe die Information an Kain weitergegeben."
    
  "Die Mitarbeiter der Firma haben das von Ihren Festplatten extrahiert, aber sonst nichts."
    
  "Ich habe auf einem der von Terroristen genutzten Mailserver eine Erwähnung von Kain gefunden. Wie viel wissen Sie über islamischen Terrorismus?"
    
  "Genau das, was ich in der New York Times gelesen habe."
    
  "Dann sind wir noch nicht einmal am Anfang. Hier ein Schnellkurs: Die hohe Meinung der Medien über Osama bin Laden, den Bösewicht in diesem Film, ist bedeutungslos. Al-Qaida als übermächtige Organisation existiert nicht. Es gibt keinen Kopf, den man abschlagen könnte. Der Dschihad hat keinen Kopf. Der Dschihad ist ein Gebot Gottes. Es gibt Tausende von Zellen auf verschiedenen Ebenen. Sie kontrollieren und inspirieren sich gegenseitig, haben aber nichts gemeinsam."
    
  "Dagegen kann man nicht ankämpfen."
    
  "Genau. Es ist wie der Versuch, eine Krankheit zu heilen. Es gibt keine Wunderwaffe wie eine Invasion im Irak, Libanon oder Iran. Wir können nur weiße Blutkörperchen produzieren, um die Krankheitserreger einzeln abzutöten."
    
  "Das ist Ihre Aufgabe."
    
  "Das Problem ist, dass es unmöglich ist, in islamische Terrorzellen einzudringen. Sie lassen sich nicht bestechen. Was sie antreibt, ist die Religion, oder zumindest ihr verzerrtes Verständnis davon. Ich denke, das können Sie verstehen."
    
  Alberts Gesichtsausdruck war schüchtern.
    
  "Sie verwenden ein anderes Vokabular", fuhr Orville fort. "Es ist eine zu komplexe Sprache für dieses Land. Sie verwenden möglicherweise Dutzende verschiedener Decknamen, einen anderen Kalender ... ein Westler braucht Dutzende von Überprüfungen und mentalen Codes für jede Information. Genau da komme ich ins Spiel. Mit einem Mausklick bin ich direkt dabei, zwischen einem dieser Fanatiker und einem anderen, der dreitausend Meilen entfernt ist."
    
  'Internet'.
    
  "Auf dem Computerbildschirm sieht es viel besser aus", sagte Orville und strich sich über seine plattgedrückte Nase, die vom Betadine inzwischen orange war. Albert versuchte, sie mit einem Stück Pappe und etwas Klebeband zu begradigen, wusste aber, dass sie sie in einem Monat wieder brechen müssten, wenn er Orville nicht bald ins Krankenhaus brachte.
    
  Albert dachte einen Moment nach.
    
  "Also, dieser Hakan, der wollte Kain verfolgen."
    
  "Ich erinnere mich nicht mehr an viel, außer dass der Typ ziemlich ernst wirkte. Die Wahrheit ist, dass ich Kaine nur Rohinformationen gegeben habe. Ich hatte keine Gelegenheit, irgendetwas im Detail zu analysieren."
    
  'Dann...'
    
  "Wissen Sie, es war wie eine Gratisprobe. Man gibt ihnen ein bisschen was, lehnt sich zurück und wartet. Irgendwann fragen sie nach mehr. Schauen Sie mich nicht so an. Die Leute müssen ja auch ihren Lebensunterhalt verdienen."
    
  "Wir müssen diese Informationen zurückbekommen", sagte Albert und trommelte mit den Fingern auf seinem Stuhl. "Erstens, weil die Leute, die dich angegriffen haben, besorgt darüber waren, was du wusstest. Und zweitens, falls Hookan Teil der Expedition ist ..."
    
  "Alle meine Dateien sind verschwunden oder wurden verbrannt."
    
  "Nicht alle. Es gibt eine Kopie."
    
  Orville verstand nicht sofort, was Albert meinte.
    
  "Auf keinen Fall. Mach nicht mal Witze darüber. Dieser Ort ist undurchdringlich."
    
  "Nichts ist unmöglich, außer einer Sache - ich muss noch eine Minute ohne Essen überleben", sagte Albert und nahm die Autoschlüssel. "Versuch dich zu entspannen. Ich bin in einer halben Stunde zurück."
    
  Der Priester wollte gerade gehen, als Orville ihm nachrief. Schon der bloße Gedanke, in die Festung Kain Tower einzubrechen, beunruhigte Orville. Es gab nur einen Weg, seine Nervosität zu bändigen.
    
  'Albert...?'
    
  'Ja?'
    
  "Ich habe meine Meinung über Schokolade geändert."
    
    
  54
    
    
    
  HACAN
    
  Der Imam hatte Recht.
    
  Er sagte ihm, der Dschihad werde seine Seele und sein Herz erfüllen. Er warnte ihn vor denen, die er als schwache Muslime bezeichnete, weil sie wahre Gläubige als Radikale beschimpften.
    
  Ihr dürft keine Angst davor haben, wie andere Muslime auf unser Handeln reagieren. Gott hat sie nicht auf diese Aufgabe vorbereitet. Er hat ihre Herzen und Seelen nicht mit dem Feuer entflammt, das in uns brennt. Sollen sie doch denken, der Islam sei eine Religion des Friedens. Er hilft uns. Er schwächt die Verteidigung unserer Feinde; er schafft Lücken, durch die wir eindringen können. Er platzt aus allen Nähten.
    
  Er spürte es. Er konnte die Schreie in seinem Herzen hören, die auf den Lippen anderer nur Gemurmel waren.
    
  Er spürte dies zum ersten Mal, als er gebeten wurde, den Dschihad anzuführen. Man hatte ihn eingeladen, weil er ein besonderes Talent besaß. Es war ihm nicht leichtgefallen, sich den Respekt seiner Brüder zu verdienen. Er war nie in den Schlachtfeldern Afghanistans oder des Libanon gewesen. Er hatte nicht den orthodoxen Weg beschritten, und doch haftete das Wort Gottes tief in seinem Wesen, wie ein Weinstock an einem jungen Baum.
    
  Es geschah außerhalb der Stadt, in einem Lagerhaus. Mehrere Brüder hielten einen anderen zurück, der sich von den Versuchungen der Außenwelt hatte verleiten lassen und dadurch Gottes Gebote missachtet hatte.
    
  Der Imam sagte ihm, er müsse standhaft bleiben und seinen Wert beweisen. Alle Augen würden auf ihn gerichtet sein.
    
  Auf dem Weg zum Lagerhaus kaufte er eine Injektionsnadel und drückte deren Spitze leicht gegen die Autotür. Er musste mit dem Verräter sprechen, mit demjenigen, der sich die Annehmlichkeiten zunutze machen wollte, die man eigentlich von der Erde tilgen sollte. Seine Aufgabe war es, ihn von seinem Irrtum zu überzeugen. Völlig nackt, mit gefesselten Händen und Füßen, war er sich sicher, dass der Mann gehorchen würde.
    
  Statt zu reden, betrat er die Lagerhalle, ging direkt auf den Verräter zu und stach ihm eine gebogene Spritze ins Auge. Er ignorierte dessen Schreie, riss die Spritze heraus und verletzte ihn dabei am Auge. Ohne zu zögern, stach er ihm ins andere Auge und riss es heraus.
    
  Keine fünf Minuten später flehte der Verräter sie an, ihn zu töten. Hakan lächelte. Die Botschaft war klar. Seine Aufgabe war es, Schmerzen zuzufügen und jene, die sich von Gott abgewandt hatten, in den Tod treiben zu lassen.
    
  Hakan. Spritze.
    
  An diesem Tag verdiente er sich seinen Namen.
    
    
  55
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Samstag, 15. Juli 2006, 12:34 Uhr.
    
    
  "Weißrussisch, bitte."
    
    
  "Sie überraschen mich, Miss Otero. Ich hätte gedacht, Sie würden einen Manhattan trinken, etwas Trendigeres und Postmoderneres", sagte Raymond Kane lächelnd. "Lassen Sie mich ihn Ihnen selbst mixen. Danke, Jacob."
    
  'Sind Sie sicher, Sir?', fragte Russell, der nicht gerade erfreut darüber schien, den alten Mann allein mit Andrea zu lassen.
    
  "Entspann dich, Jacob. Ich werde Miss Otero nicht angreifen. Es sei denn, sie wünscht es."
    
  Andrea bemerkte, dass sie rot anlief wie ein Schulmädchen. Während der Milliardär den Drink zubereitete, sah sie sich um. Drei Minuten zuvor, als Jacob Russell sie aus der Krankenstation abgeholt hatte, war sie so nervös gewesen, dass ihre Hände gezittert hatten. Nachdem sie ein paar Stunden damit verbracht hatte, ihre Fragen zu überarbeiten, zu verfeinern und neu zu formulieren, riss sie fünf Seiten aus ihrem Notizbuch, knüllte sie zusammen und steckte sie in die Tasche. Dieser Mann war nicht normal, und sie würde ihm keine normalen Fragen stellen.
    
  Als sie Kains Zelt betrat, kamen ihr Zweifel an ihrer Entscheidung. Das Zelt war in zwei Räume unterteilt. Der eine diente als eine Art Vorraum, in dem offenbar Jacob Russell arbeitete. Dort standen ein Schreibtisch, ein Laptop und, wie Andrea vermutet hatte, ein Kurzwellenradio.
    
  So hält man also Kontakt zum Schiff... Ich dachte, du wärst nicht so abgeschnitten wie wir anderen.
    
  Rechts davon trennte ein dünner Vorhang das Foyer von Kaines Zimmer - ein Beweis für die Symbiose zwischen dem jungen Assistenten und dem alten Mann.
    
  Ich frage mich, wie weit die beiden in ihrer Beziehung gehen. Irgendetwas an unserem Freund Russell, mit seiner metrosexuellen Art und seinem Ego, wirkt auf mich nicht vertrauenswürdig. Ich überlege, ob ich so etwas im Interview andeuten sollte.
    
  Als sie durch den Vorhang trat, nahm sie einen Hauch von Sandelholz wahr. Ein einfaches Bett - wenn auch deutlich bequemer als die Luftmatratzen, auf denen wir geschlafen hatten - stand an einer Seite des Zimmers. Eine verkleinerte Version der Toilette/Dusche, die sich die anderen Expeditionsteilnehmer teilten, ein kleiner Schreibtisch ohne Papiere - und ohne sichtbaren Computer -, eine kleine Bar und zwei Stühle vervollständigten die Einrichtung. Alles war weiß. Ein Bücherstapel, so hoch wie Andrea selbst, drohte umzukippen, sobald sich jemand näherte. Sie versuchte gerade, die Titel zu lesen, als Kain auftauchte und direkt auf sie zuging, um sie zu begrüßen.
    
  Aus der Nähe wirkte er größer als Andrea ihn auf dem Achterdeck der Behemoth erblickt hatte. Ein etwa 1,70 Meter großer, faltiger Mann mit weißem Haar, weißer Kleidung und nackten Füßen. Doch insgesamt wirkte er seltsam jugendlich, bis man genauer hinsah: zwei blaue Löcher, umgeben von Tränensäcken und Falten, die sein Alter verdeutlichten.
    
  Er reichte ihr nicht die Hand, sondern ließ Andrea in der Luft hängen, während er sie mit einem eher entschuldigenden Lächeln ansah. Jacob Russell hatte sie bereits gewarnt, Kane unter keinen Umständen zu berühren, aber sie wäre sich selbst nicht treu, wenn sie es nicht versuchen würde. Es verschaffte ihr ohnehin einen gewissen Vorteil. Der Milliardär wirkte sichtlich etwas unbehaglich, als er Andrea einen Cocktail anbot. Die Reporterin, ihrem Beruf treu, würde ein Getränk niemals ablehnen, egal zu welcher Tageszeit.
    
  "Man kann viel über einen Menschen erfahren, wenn man sieht, was er trinkt", sagte Cain und reichte ihr das Glas. Er hielt seine Finger nah am Rand, sodass Andrea es problemlos nehmen konnte, ohne es zu berühren.
    
  "Wirklich? Und was sagt der White Russian über mich aus?", fragte Andrea, setzte sich und nahm ihren ersten Schluck.
    
  "Mal sehen ... Ein süßes Gebräu, viel Wodka, Kaffeelikör, Sahne. Das sagt mir, dass du gerne trinkst, dass du mit Alkohol umgehen kannst, dass du dir Zeit genommen hast, um herauszufinden, was dir schmeckt, dass du auf deine Umgebung achtest und dass du wählerisch bist."
    
  "Ausgezeichnet", sagte Andrea mit einem Anflug von Ironie, ihrer besten Verteidigung, wenn sie unsicher war. "Weißt du was? Ich würde sagen, du hast dich vorher informiert und wusstest ganz genau, dass ich gerne trinke. In keiner mobilen Bar findet man eine Flasche frische Sahne, geschweige denn in der eines agoraphobischen Milliardärs, der selten Kunden hat, vor allem nicht mitten in der jordanischen Wüste, und der, soweit ich das beurteilen kann, Scotch mit Wasser trinkt."
    
  "Nun bin ich derjenige, der überrascht ist", sagte Kane, drehte dem Reporter den Rücken zu und schenkte sich ein Getränk ein.
    
  "Das kommt der Wahrheit genauso nahe wie der Unterschied zwischen unseren Bankguthaben, Mr. Kane."
    
  Der Milliardär wandte sich stirnrunzelnd an sie, sagte aber nichts.
    
  "Ich würde sagen, es war eher ein Test, und ich habe Ihnen die erwartete Antwort gegeben", fuhr Andrea fort. "Nun sagen Sie mir bitte, warum Sie mir dieses Interview geben."
    
  Kain nahm einen anderen Stuhl, vermied aber Andreas Blick.
    
  "Das war Teil unserer Vereinbarung."
    
  "Ich glaube, ich habe die falsche Frage gestellt. Warum ich?"
    
  "Ach, der Fluch des G'vir, des reichen Mannes. Jeder will seine verborgenen Motive kennen. Jeder glaubt, er habe einen Plan, besonders wenn er Jude ist."
    
  "Sie haben meine Frage nicht beantwortet."
    
  "Junge Dame, ich fürchte, Sie müssen sich entscheiden, welche Antwort Sie wollen - die Antwort auf diese Frage oder auf alle anderen."
    
  Andrea biss sich wütend auf die Unterlippe. Der alte Kerl war schlauer, als er aussah.
    
  Er hat mich herausgefordert, ohne sich auch nur im Geringsten zu beeindrucken. Na gut, Alter, ich folge deinem Beispiel. Ich werde mein Herz ganz öffnen, deine Geschichte schlucken, und wenn du es am wenigsten erwartest, werde ich genau das erfahren, was ich wissen will, selbst wenn ich dir dafür mit einer Pinzette die Zunge herausreißen muss.
    
  "Warum trinkst du, wenn du deine Medikamente nimmst?", fragte Andrea mit bewusst aggressiver Stimme.
    
  "Ich nehme an, Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass ich Medikamente gegen meine Agoraphobie nehme", erwiderte Kane. "Ja, ich nehme Medikamente gegen Angstzustände, und nein, ich sollte nicht trinken. Ich tue es trotzdem. Als mein Urgroßvater achtzig war, hasste mein Großvater es, ihn zittern zu sehen. Das ist betrunken. Bitte unterbrechen Sie mich, falls Sie ein jiddisches Wort nicht verstehen, Frau Otero."
    
  "Dann muss ich Sie ständig unterbrechen, weil ich nichts weiß."
    
  "Wie du wünschst. Mein Urgroßvater trank mal und mal nicht, und mein Großvater pflegte zu sagen: ‚Du solltest dich beruhigen, Tate." Er sagte immer: ‚Leck mich, ich bin achtzig Jahre alt, und ich trinke, wenn ich will." Er starb mit achtundneunzig Jahren, als ihn ein Maultier in den Magen trat."
    
  Andrea lachte. Kains Stimme veränderte sich, als er von seinem Vorfahren sprach; er erweckte seine Anekdote zum Leben wie ein geborener Geschichtenerzähler, indem er verschiedene Stimmen benutzte.
    
  'Sie wissen viel über Ihre Familie. Hatten Sie ein enges Verhältnis zu Ihren Älteren?'
    
  "Nein, meine Eltern starben im Zweiten Weltkrieg. Trotz ihrer Erzählungen erinnere ich mich aufgrund der Umstände meiner frühen Kindheit kaum daran. Fast alles, was ich über meine Familie weiß, stammt aus verschiedenen Quellen. Sagen wir einfach, als ich mich endlich dazu durchringen wollte, bereiste ich ganz Europa auf der Suche nach meinen Wurzeln."
    
  "Erzählen Sie mir etwas über diese Wurzeln. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich unser Interview aufzeichne?", fragte Andrea und zog ihr digitales Aufnahmegerät aus der Tasche. Es konnte 35 Stunden hochwertige Sprachaufnahmen liefern.
    
  "Erzählen Sie weiter. Diese Geschichte beginnt in einem harten Winter in Wien, als ein jüdisches Paar auf dem Weg zu einem Nazi-Krankenhaus ist..."
    
    
  56
    
    
    
  ELLIS ISLAND, NEW YORK
    
  Dezember 1943
    
    
  Yudel weinte leise in der Dunkelheit des Laderaums. Das Schiff näherte sich dem Pier, und die Matrosen bedeuteten den Flüchtlingen, die jeden Zentimeter des türkischen Frachters gefüllt hatten, auszusteigen. Alle eilten nach vorn, auf der Suche nach frischer Luft. Doch Yudel rührte sich nicht. Er packte Jora Mayers kalte Finger und weigerte sich zu glauben, dass sie tot war.
    
  Es war nicht seine erste Begegnung mit dem Tod. Seit er das geheime Versteck in Richter Raths Haus verlassen hatte, hatte er schon viele davon gesehen. Die Flucht aus diesem kleinen, erstickenden und doch sicheren Loch war ein ungeheurer Schock gewesen. Seine erste Begegnung mit Sonnenlicht hatte ihm gezeigt, dass Monster draußen, im Freien, lebten. Seine erste Erfahrung in der Stadt hatte ihm beigebracht, dass jede kleine Ecke ein Versteck war, von dem aus er die Straße überblicken konnte, bevor er schnell zur nächsten huschte. Seine erste Begegnung mit Zügen hatte ihn vor ihrem Lärm und den Monstern, die in den Gängen auf und ab gingen und nach Opfern suchten, entsetzt. Zum Glück ließen sie einen in Ruhe, wenn man ihnen gelbe Karten zeigte. Seine erste Erfahrung mit der Arbeit auf dem offenen Feld hatte ihn Schnee hassen lassen, und die bittere Kälte hatte seine Füße beim Gehen gefrieren lassen. Seine erste Begegnung mit dem Meer war eine Begegnung mit furchterregenden und unerreichbaren Weiten, einer Gefängnismauer von innen gesehen.
    
  Auf dem Schiff, das ihn nach Istanbul brachte, fühlte sich Yudel besser, zusammengekauert in einer dunklen Ecke. Sie brauchten nur anderthalb Tage, um den türkischen Hafen zu erreichen, aber es vergingen sieben Monate, bis sie abreisen konnten.
    
  Jora Mayer kämpfte unermüdlich um ein Ausreisevisum. Damals war die Türkei neutral, und viele Flüchtlinge drängten sich an den Docks und bildeten lange Schlangen vor Konsulaten und humanitären Organisationen wie dem Roten Halbmond. Großbritannien beschränkte mit jedem Tag die Zahl der Juden, die nach Palästina einreisen durften. Die Vereinigten Staaten verweigerten die Einreise weiterer Juden. Die Welt verschloss die Augen vor den alarmierenden Nachrichten über Massenmord in Konzentrationslagern. Selbst eine renommierte Zeitung wie die Londoner Times tat den nationalsozialistischen Völkermord als bloße "Horrorgeschichten" ab.
    
  Trotz aller Hindernisse tat Jora, was sie konnte. Sie bettelte auf der Straße und deckte die kleine Yudel nachts mit ihrem Mantel zu. Sie versuchte, das Geld, das Dr. Rath ihr gegeben hatte, nicht anzurühren. Sie schliefen, wo immer sie konnten. Manchmal war es ein stinkendes Hotel oder die überfüllte Lobby des Roten Halbmonds, wo nachts Flüchtlinge jeden Zentimeter des grauen Fliesenbodens bedeckten und es ein Luxus war, aufstehen zu können, um sich zu erleichtern.
    
  Jora konnte nur hoffen und beten. Sie hatte keine Kontakte und sprach lediglich Jiddisch und Deutsch, wobei sie sich weigerte, Jiddisch zu benutzen, da es unangenehme Erinnerungen weckte. Ihr Gesundheitszustand besserte sich nicht. An jenem Morgen, als sie zum ersten Mal Blut hustete, beschloss sie, nicht länger zu warten. Sie fasste sich ein Herz und gab das gesamte restliche Geld einem jamaikanischen Seemann, der auf einem amerikanischen Frachtschiff arbeitete. Das Schiff sollte in wenigen Tagen ablegen. Einem Besatzungsmitglied gelang es, das Geld in den Laderaum zu schmuggeln. Dort landete es unter Hunderten von Menschen, die das Glück hatten, jüdische Verwandte in den Vereinigten Staaten zu haben, die ihre Visumanträge unterstützten.
    
  Jora starb 36 Stunden vor ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten an Tuberkulose. Yudel wich trotz seiner eigenen Krankheit nicht von ihrer Seite. Er bekam eine schwere Ohrenentzündung und war mehrere Tage lang taub. Sein Kopf fühlte sich an wie ein mit Marmelade gefülltes Fass, und jedes laute Geräusch klang wie galoppierende Pferde auf dem Deckel. Deshalb hörte er den Matrosen nicht, der ihn anschrie, er solle verschwinden. Der Matrose, der es leid war, den Jungen zu bedrohen, begann, ihn zu treten.
    
  Beweg dich endlich, du Idiot! Die warten schon beim Zoll auf dich.
    
  Yudel versuchte erneut, Jora festzuhalten. Der Matrose - ein kleiner, pickeliger Mann - packte ihn am Hals und riss ihn gewaltsam weg.
    
  Jemand wird kommen und sie mitnehmen. Verschwinde!
    
  Der Junge riss sich los. Er durchsuchte Joras Mantel und fand den Brief seines Vaters, von dem Jora ihm so oft erzählt hatte. Er nahm ihn und versteckte ihn in seinem Hemd, bevor der Seemann ihn wieder packte und ins grelle Tageslicht stieß.
    
  Yudel stieg die Stufen hinunter in das Gebäude, wo Zollbeamte in blauen Uniformen an langen Tischen warteten, um die Schlangen von Einwanderern abzufertigen. Fieberhaft zitternd, reihte sich Yudel in die Schlange ein. Seine Füße brannten in den abgelaufenen Stiefeln; er sehnte sich danach, zu fliehen und sich vor dem Licht zu verstecken.
    
  Schließlich war er an der Reihe. Ein Zollbeamter mit kleinen Augen und schmalen Lippen musterte ihn über seine goldumrandete Brille hinweg.
    
  - Name und Visum?
    
  Yudel starrte auf den Boden. Er verstand es nicht.
    
  Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Ihr Name und Ihr Visum. Sind Sie geistig behindert?
    
  Ein anderer Zollbeamter, jünger und mit einem buschigen Schnurrbart, versuchte, seinen Kollegen zu beruhigen.
    
  Beruhige dich, Creighton. Er reist allein und versteht das nicht.
    
  Diese jüdischen Ratten verstehen mehr, als du denkst. Verdammt! Heute ist mein letztes Schiff und meine letzte Ratte. Bei Murphy wartet ein kaltes Bier auf mich. Wenn dich das glücklich macht, dann pass gut auf ihn auf, Gunther.
    
  Ein Beamter mit einem großen Schnurrbart ging um den Schreibtisch herum und hockte sich vor Yudel hin. Er begann mit Yudel zu sprechen, zuerst auf Französisch, dann auf Deutsch und schließlich auf Polnisch. Der Junge starrte weiterhin auf den Boden.
    
  "Er hat kein Visum und ist geistig behindert. Wir schicken ihn mit dem nächsten verdammten Schiff zurück nach Europa", warf der bebrillte Beamte ein. "Sag was, Idiot!" Er beugte sich über den Tisch und schlug Yudel ins Ohr.
    
  Einen Augenblick lang spürte Yudel nichts. Doch dann durchfuhr ihn plötzlich ein stechender Schmerz im Kopf, als wäre er erstochen worden, und aus seinem entzündeten Ohr ergoss sich ein Schwall heißen Eiters.
    
  Er rief das Wort "Mitgefühl" auf Jiddisch.
    
  "Rahmones!"
    
  Der schnauzbärtige Beamte wandte sich wütend an seinen Kollegen.
    
  "Genug, Creighton!"
    
  "Unbekanntes Kind, versteht die Sprache nicht, kein Visum. Abschiebung."
    
  Der Mann mit dem Schnurrbart durchsuchte rasch die Taschen des Jungen. Es gab kein Visum. Tatsächlich befanden sich in seinen Taschen nur ein paar Brotkrumen und ein Umschlag mit hebräischer Schrift. Er suchte nach Geld, fand aber nur den Brief, den er Yudel zurück in die Tasche steckte.
    
  "Er hat dich erwischt, verdammt noch mal! Hast du seinen Namen nicht gehört? Wahrscheinlich hat er sein Visum verloren. Du willst ihn doch nicht abschieben, Creighton. Wenn doch, sitzen wir hier noch fünfzehn Minuten länger."
    
  Der bebrillte Beamte holte tief Luft und gab nach.
    
  Sag ihm, er soll seinen Nachnamen laut sagen, damit ich ihn hören kann, und dann gehen wir ein Bier trinken. Wenn er das nicht kann, wird er sofort abgeschoben.
    
  "Hilf mir, Junge", flüsterte der Mann mit dem Schnurrbart. "Glaub mir, du willst nicht zurück nach Europa oder im Waisenhaus landen. Du musst diesen Kerl davon überzeugen, dass da draußen Menschen auf dich warten." Er versuchte es erneut und benutzte das einzige jiddische Wort, das er kannte: "Mishpoche?", was so viel wie Familie bedeutet.
    
  Mit zitternden Lippen, kaum hörbar, sprach Yudel sein zweites Wort aus. "Cohen", sagte er.
    
  Der Mann mit dem Schnurrbart blickte den Mann mit der Brille erleichtert an.
    
  "Ihr habt ihn gehört. Sein Name ist Raymond. Sein Name ist Raymond Kane."
    
    
  57
    
    
    
  KINE
    
  Vor der Plastiktoilette im Zelt kniend, kämpfte er gegen den Brechreiz an, während sein Assistent vergeblich versuchte, ihm Wasser einzuflößen. Dem alten Mann gelang es schließlich, die Übelkeit zu unterdrücken. Er hasste Erbrechen, dieses befreiende und zugleich erschöpfende Gefühl, alles loszuwerden, was ihn innerlich zerfraß. Es war ein wahrer Spiegel seiner Seele.
    
  "Du ahnst nicht, wie viel mich das gekostet hat, Jacob. Du ahnst nicht, was in der Sprachtherapie-Stufe 6 steckt ... Wenn ich mit ihr spreche, fühle ich mich so verletzlich. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Sie möchte eine weitere Sitzung."
    
  "Ich fürchte, Sie müssen sie noch etwas länger ertragen, mein Herr."
    
  Der alte Mann warf einen Blick zur Bar auf der anderen Seite des Raumes. Sein Assistent bemerkte die Richtung seines Blicks, warf ihm einen missbilligenden Blick zu, woraufhin der alte Mann den Blick abwandte und seufzte.
    
  "Die Menschen sind voller Widersprüche, Jakob. Am Ende genießen wir das, was wir am meisten hassen. Einer Fremden von meinem Leben zu erzählen, hat mir eine Last von den Schultern genommen. Für einen Moment fühlte ich mich mit der Welt verbunden. Ich hatte geplant, sie zu täuschen, vielleicht Lügen mit der Wahrheit zu vermischen. Stattdessen habe ich ihr alles erzählt."
    
  "Du hast das getan, weil du weißt, dass das kein echtes Interview ist. Sie kann es nicht veröffentlichen."
    
  'Vielleicht. Oder vielleicht musste ich einfach nur reden. Glaubst du, sie ahnt etwas?'
    
  "Ich glaube nicht, Sir. Jedenfalls sind wir fast am Ziel."
    
  "Sie ist sehr klug, Jacob. Behalte sie gut im Auge. Sie könnte sich als mehr als nur eine Randfigur in der ganzen Sache herausstellen."
    
    
  58
    
    
    
  ANDREA UND DOK
    
  Das Einzige, woran sie sich aus dem Albtraum erinnerte, war kalter Schweiß, lähmende Angst und nach Luft schnappen in der Dunkelheit, während sie versuchte, sich zu erinnern, wo sie war. Es war ein wiederkehrender Traum, doch Andrea wusste nie, wovon er handelte. Alles war ausgelöscht, sobald sie erwachte, und nur Spuren von Angst und Einsamkeit blieben zurück.
    
  Doch Doc war sofort an ihrer Seite, kroch zu ihrer Matratze, setzte sich neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Der eine hatte Angst, weiterzugehen, der andere, dass sie es nicht tun würde. Andrea schluchzte. Doc umarmte sie.
    
  Ihre Stirnen berührten sich, dann ihre Lippen.
    
  Wie ein Auto, das sich stundenlang einen Berg hinaufgequält und endlich den Gipfel erreicht hat, würde der nächste Moment entscheidend sein, der Moment des Gleichgewichts.
    
  Andreas Zunge suchte verzweifelt Docs, und sie erwiderte den Kuss. Doc zog Andreas T-Shirt herunter und fuhr mit der Zunge über die feuchte, salzige Haut ihrer Brüste. Andrea sank zurück auf die Matratze. Sie hatte keine Angst mehr.
    
  Das Auto raste ohne Bremsen den Berg hinunter.
    
    
  59
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Sonntag, 16. Juli 2006, 1:28 Uhr.
    
    
  Sie blieben lange eng beieinander, unterhielten sich, küssten sich immer wieder, als könnten sie es nicht fassen, einander gefunden zu haben und dass der andere noch da war.
    
  'Wow, Doktor. Sie wissen wirklich, wie man sich um seine Patienten kümmert', sagte Andrea, streichelte Doktors Nacken und spielte mit den Locken in ihrem Haar.
    
  "Das ist Teil meines heuchlerischen Eides."
    
  "Ich dachte, es wäre der hippokratische Eid."
    
  "Ich habe einen weiteren Eid geschworen."
    
  "Egal wie viele Witze du machst, du wirst mich nicht vergessen lassen, dass ich immer noch wütend auf dich bin."
    
  "Es tut mir leid, Andrea, dass ich dir nicht die Wahrheit über mich gesagt habe. Ich nehme an, Lügen gehört zu meinem Job."
    
  Was gehört sonst noch zu Ihren Aufgaben?
    
  "Meine Regierung will wissen, was hier vor sich geht. Und fragen Sie mich nicht mehr danach, denn ich werde es Ihnen nicht sagen."
    
  "Wir haben Mittel und Wege, dich zum Reden zu bringen", sagte Andrea und verlagerte ihre Streicheleinheiten auf eine andere Stelle an Docs Körper.
    
  "Ich bin sicher, ich kann das Verhör abwehren", flüsterte Doc.
    
  Die beiden Frauen schwiegen mehrere Minuten lang, bis Doc ein langes, fast lautloses Stöhnen ausstieß. Dann zog sie Andrea an sich und flüsterte ihr ins Ohr.
    
  'Chedva'.
    
  "Was bedeutet das?", flüsterte Andrea zurück.
    
  'Das ist mein Name.'
    
  Andrea stieß einen überraschten Seufzer aus. Doc spürte ihre Freude und umarmte sie fest.
    
  'Dein geheimer Name?'
    
  "Sag das bloß nicht laut. Du bist jetzt der Einzige, der es weiß."
    
  'Und deine Eltern?'
    
  "Sie leben nicht mehr."
    
  'Es tut mir Leid'.
    
  "Meine Mutter starb, als ich noch ein Mädchen war, und mein Vater starb im Gefängnis in der Negev-Wüste."
    
  "Warum war er dort?"
    
  "Bist du sicher, dass du das wissen willst? Das ist eine beschissene, enttäuschende Geschichte."
    
  "Mein Leben ist voller beschissener Enttäuschungen, Doc. Es wäre schön, zur Abwechslung mal jemand anderem zuzuhören."
    
  Es herrschte einen kurzen Moment Stille.
    
  "Mein Vater war Katsa, ein Spezialagent des Mossad. Es gibt immer nur dreißig von ihnen, und kaum jemand im Institut erreicht diesen Rang. Ich bin seit sieben Jahren dabei und nur Bat Leveiha, der niedrigste Rang. Ich bin sechsunddreißig, also glaube ich nicht, dass ich befördert werde. Aber mein Vater war mit neunundzwanzig Jahren Katsa. Er hat viel außerhalb Israels gearbeitet und 1983 eine seiner letzten Operationen durchgeführt. Er lebte einige Monate in Beirut."
    
  'Du bist nicht mit ihm gegangen?'
    
  Ich begleitete ihn nur, wenn er nach Europa oder in die Vereinigten Staaten reiste. Beirut war damals kein geeigneter Ort für ein junges Mädchen. Eigentlich war es für niemanden geeignet. Dort lernte er Pater Fowler kennen. Fowler war auf dem Weg ins Bekaa-Tal, um Missionare zu befreien. Mein Vater bewunderte ihn sehr. Er sagte, die Rettung dieser Menschen sei die mutigste Tat gewesen, die er je in seinem Leben gesehen habe, und in der Presse wurde kein Wort darüber verloren. Die Missionare sagten lediglich, sie seien befreit worden.
    
  "Ich glaube, diese Art von Arbeit ist nicht öffentlichkeitswirksam."
    
  "Nein, das stimmt nicht. Während der Mission entdeckte mein Vater etwas Unerwartetes: Informationen, die darauf hindeuteten, dass eine Gruppe islamistischer Terroristen mit einem mit Sprengstoff beladenen LKW einen Angriff auf eine amerikanische Einrichtung plante. Mein Vater meldete dies seinem Vorgesetzten, der daraufhin erwiderte, dass die Amerikaner, wenn sie sich in den Libanon einmischten, alles verdient hätten, was ihnen widerfahren sei."
    
  "Was hat dein Vater beruflich gemacht?"
    
  Er schickte einen anonymen Brief an die amerikanische Botschaft, um sie zu warnen; doch da es keine verlässliche Quelle gab, wurde der Brief ignoriert. Am nächsten Tag durchbrach ein mit Sprengstoff beladener LKW die Tore des Marinestützpunkts und tötete 241 Marinesoldaten.
    
  'Mein Gott.'
    
  Mein Vater kehrte nach Israel zurück, doch die Geschichte war damit noch nicht zu Ende. Die CIA forderte vom Mossad eine Erklärung, und dabei fiel der Name meines Vaters. Einige Monate später wurde er auf der Rückreise von einer Deutschlandreise am Flughafen angehalten. Die Polizei durchsuchte sein Gepäck und fand 200 Gramm Plutonium sowie Beweise dafür, dass er versucht hatte, es an die iranische Regierung zu verkaufen. Mit dieser Menge hätte der Iran eine mittelgroße Atombombe bauen können. Mein Vater kam praktisch ohne Gerichtsverfahren ins Gefängnis.
    
  "Hat ihm jemand Beweise untergeschoben?"
    
  Die CIA hat sich gerächt. Sie benutzten meinen Vater, um Agenten weltweit eine Botschaft zu übermitteln: Wenn ihr noch einmal von so etwas hört, lasst es uns unbedingt wissen, sonst sorgen wir dafür, dass ihr am Arsch seid.
    
  "Oh, Doc, das muss dich zutiefst erschüttert haben. Wenigstens wusste dein Vater, dass du an ihn geglaubt hast."
    
  Es folgte erneut Stille, diesmal eine lange.
    
  "Ich schäme mich, das zuzugeben, aber ... viele Jahre lang habe ich nicht an die Unschuld meines Vaters geglaubt. Ich dachte, er sei müde, er wolle nur ein bisschen Geld verdienen. Er war völlig allein. Alle hatten ihn vergessen, auch ich."
    
  Konnten Sie sich vor seinem Tod mit ihm versöhnen?
    
  'NEIN'.
    
  Plötzlich umarmte Andrea den Arzt, der daraufhin zu weinen begann.
    
  "Zwei Monate nach seinem Tod wurde Sodi Bayoters streng vertraulicher Bericht freigegeben. Darin wurde die Unschuld meines Vaters festgestellt, und dies wurde durch konkrete Beweise untermauert, darunter die Tatsache, dass das Plutonium den Vereinigten Staaten gehörte."
    
  'Moment mal... Sie meinen, der Mossad wusste von Anfang an von alldem?'
    
  "Sie haben ihn verraten, Andrea. Um ihre Doppelzüngigkeit zu vertuschen, haben sie den Kopf meines Vaters an die CIA ausgeliefert. Die CIA war zufrieden, und das Leben ging weiter - abgesehen von zweihunderteinundvierzig Soldaten und meinem Vater in seiner Hochsicherheitszelle."
    
  'Bastarde...'
    
  Mein Vater ist in Gilot, nördlich von Tel Aviv, begraben, auf einem Friedhof für Gefallene im Kampf gegen die Araber. Er war der einundsiebzigste Mossad-Offizier, der dort mit allen Ehren beigesetzt und als Kriegsheld gefeiert wurde. Nichts davon kann das Leid, das sie mir zugefügt haben, ungeschehen machen.
    
  'Ich verstehe es nicht, Doc. Ich weiß es wirklich nicht. Warum zum Teufel arbeiten Sie für die?'
    
  "Aus demselben Grund, aus dem mein Vater zehn Jahre im Gefängnis verbracht hat: weil Israel an erster Stelle steht."
    
  "Noch so ein Wahnsinniger, genau wie Fowler."
    
  "Du hast mir immer noch nicht verraten, woher ihr beiden euch kennt."
    
  Andreas Stimme wurde dunkler. Diese Erinnerung war nicht gerade angenehm.
    
  Im April 2005 reiste ich nach Rom, um über den Tod des Papstes zu berichten. Zufällig stieß ich auf eine Aufnahme eines Serienmörders, der behauptete, zwei Kardinäle ermordet zu haben, die am Konklave zur Wahl des Nachfolgers von Johannes Paul II. teilnehmen sollten. Der Vatikan versuchte, die Sache zu vertuschen, und ich fand mich auf dem Dach eines Gebäudes wieder, wo ich um mein Leben kämpfte. Zugegeben, Fowler sorgte dafür, dass ich nicht auf dem Bürgersteig landete. Aber dabei gelang es ihm, meine Exklusivstory zu ergattern.
    
  "Ich verstehe. Das muss unangenehm gewesen sein."
    
  Andrea hatte keine Gelegenheit zu antworten. Draußen ertönte eine furchtbare Explosion, die die Zeltwände erzittern ließ.
    
  'Was war das?'
    
  'Einen Moment lang dachte ich, es wäre... Nein, das konnte nicht sein...' Der Arzt brach mitten im Satz ab.
    
  Ein Schrei war zu hören.
    
  Und noch etwas.
    
  Und dann noch vieles mehr.
    
    
  60
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Sonntag, 16. Juli 2006, 1:41 Uhr.
    
    
  Draußen herrschte Chaos.
    
  'Bringt die Eimer.'
    
  "Bring sie dorthin."
    
  Jacob Russell und Mogens Dekker riefen sich inmitten des Schlammstroms, der aus einem der Wassertransporter floss, widersprüchliche Befehle zu. Ein riesiges Loch im Heck des Tanks spuckte kostbares Wasser aus und verwandelte den umliegenden Boden in einen dicken, rötlichen Schlamm.
    
  Mehrere Archäologen, Brian Hanley und sogar Pater Fowler rannten in Unterwäsche von einem Ort zum anderen und versuchten, mit Eimern eine Kette zu bilden, um so viel Wasser wie möglich zu sammeln. Nach und nach schlossen sich ihnen die übrigen, noch etwas verschlafenen Expeditionsmitglieder an.
    
  Jemand - Andrea war sich nicht sicher, wer es war, da er von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt war - versuchte, in der Nähe von Kains Zelt eine Sandmauer zu errichten, um den Schlammstrom, der darauf zuströmte, aufzuhalten. Er schaufelte immer wieder in den Sand, musste aber bald den Schlamm wieder wegschaufeln und hörte deshalb auf. Zum Glück stand das Zelt des Milliardärs etwas höher, und Kain musste sein Lager nicht verlassen.
    
  Andrea und Doc zogen sich derweil schnell an und reihten sich in die Schlange der Nachzügler ein. Als sie leere Eimer zurückbrachten und volle vorausschickten, wurde der Reporterin klar, dass das, was sie und Doc vor der Explosion getan hatten, der Grund dafür war, dass sie als Einzige ihre Kleidung vollständig angezogen hatten, bevor sie gingen.
    
  "Holt mir einen Schweißbrenner!", rief Brian Hanley von der Spitze der Reihe neben dem Panzer. Die Reihe folgte dem Befehl und wiederholte seine Worte wie eine Litanei.
    
  "So etwas gibt es nicht", signalisierte die Kette zurück.
    
  Robert Frick war am anderen Ende der Leitung. Er wusste genau, dass man das Loch mit einem Schweißbrenner und einer großen Stahlplatte abdichten konnte, aber er erinnerte sich nicht, die Platte ausgepackt zu haben und hatte auch keine Zeit gehabt, nachzusehen. Er musste einen Weg finden, das gerettete Wasser zu lagern, fand aber nichts, was groß genug war.
    
  Frick kam plötzlich der Gedanke, dass die großen Metallbehälter, mit denen sie die Ausrüstung transportierten, Wasser enthalten könnten. Wenn sie sie näher an den Fluss brächten, könnten sie vielleicht mehr Wasser schöpfen. Die Gottlieb-Zwillinge, Marla Jackson und Tommy Eichberg hoben einen der Behälter auf und versuchten, ihn in Richtung des Lecks zu bewegen, doch die letzten Meter waren unmöglich, da sie auf dem rutschigen Untergrund den Halt verloren. Trotzdem gelang es ihnen, zwei Behälter zu füllen, bevor der Wasserdruck nachließ.
    
  "Es ist jetzt leer. Versuchen wir, das Loch zu stopfen."
    
  Als das Wasser das Loch erreichte, konnten sie mit mehreren Metern wasserdichtem Segeltuch einen provisorischen Verschluss basteln. Drei Männer drückten auf das Segeltuch, doch das Loch war so groß und unregelmäßig geformt, dass sich das Leck dadurch nur verlangsamte.
    
  Nach einer halben Stunde war das Ergebnis enttäuschend.
    
  "Ich glaube, wir konnten noch etwa 475 Gallonen von den 8.700 Gallonen, die noch im Tank waren, retten", sagte Robert Frick niedergeschlagen, seine Hände zitterten vor Erschöpfung.
    
  Die meisten Expeditionsmitglieder drängten sich vor den Zelten. Frick, Russell, Decker und Harel befanden sich in der Nähe des Tankers.
    
  "Ich fürchte, es wird keine Duschen mehr geben", sagte Russell. "Wir haben genug Wasser für zehn Tage, wenn wir etwas mehr als zwölf Pints pro Person zuteilen. Reicht das, Doktor?"
    
  Es wird jeden Tag heißer. Mittags erreicht die Temperatur 110 Grad. Für jeden, der in der Sonne arbeitet, ist das lebensgefährlich. Ganz abgesehen von der Notwendigkeit, zumindest grundlegende Hygienemaßnahmen zu beachten.
    
  "Und vergiss nicht, dass wir kochen müssen", sagte Frick sichtlich besorgt. Er liebte Suppe und konnte sich nicht vorstellen, die nächsten Tage nichts anderes als Würstchen zu essen.
    
  "Wir müssen damit klarkommen", sagte Russell.
    
  "Was, wenn die Arbeit länger als zehn Tage dauert, Mr. Russell? Dann müssen wir mehr Wasser aus Aqaba holen. Ich bezweifle, dass das den Erfolg der Mission gefährden wird."
    
  "Dr. Harel, es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich über Funk erfahren habe, dass Israel sich seit vier Tagen im Krieg mit dem Libanon befindet."
    
  'Wirklich? Ich hatte keine Ahnung', log Harel.
    
  "Jede radikale Gruppe in der Region unterstützt den Krieg. Können Sie sich vorstellen, was passiert wäre, wenn ein einheimischer Händler versehentlich der falschen Person erzählt hätte, er habe ein paar Amerikanern, die in der Wüste herumirrten, Wasser verkauft? Pleite zu sein und mit denselben Kriminellen zu tun zu haben, die Erling getötet haben, wäre das geringste unserer Probleme gewesen."
    
  "Ich verstehe", sagte Harel, als ihr klar wurde, dass ihre Chance, Andrea da rauszuholen, dahin war. "Aber beschwer dich nicht, wenn alle einen Hitzschlag bekommen."
    
  "Verdammt!", rief Russell und trat frustriert gegen einen der LKW-Reifen. Harel erkannte Cains Assistenten kaum wieder. Er war über und über mit Dreck bedeckt, sein Haar war zerzaust, und sein besorgter Gesichtsausdruck stand im krassen Gegensatz zu seinem üblichen Auftreten - er war, wie Andrea sagte, eine männliche Version von Bree Van de Kamp 7, immer ruhig und unerschütterlich. Es war das erste Mal, dass sie ihn fluchen hörte.
    
  "Ich wollte dich nur warnen", antwortete Doc.
    
  'Wie geht es Ihnen, Decker? Haben Sie eine Ahnung, was hier passiert ist?' Cains Adjutant wandte sich dem südafrikanischen Kommandanten zu.
    
  Decker, der seit dem kläglichen Versuch, einen Teil ihrer Wasservorräte zu retten, kein Wort gesagt hatte, kniete hinten im Wassertransporter und betrachtete das riesige Loch im Metall.
    
  'Mr. Decker?', wiederholte Russell ungeduldig.
    
  Der Südafrikaner stand auf.
    
  "Schau: ein rundes Loch mitten im LKW. Das ist leicht zu machen. Wenn das unser einziges Problem wäre, könnten wir es einfach kaschieren." Er deutete auf die unregelmäßige Linie, die das Loch kreuzte. "Aber diese Linie macht die Sache komplizierter."
    
  'Was meinst du?', fragte Harel.
    
  "Wer auch immer das getan hat, hat eine dünne Sprengstofflinie auf den Tank gelegt, die in Verbindung mit dem Wasserdruck im Inneren dazu führte, dass sich das Metall nach außen statt nach innen ausbeulte. Selbst mit einem Schweißbrenner hätten wir das Loch nicht abdichten können. Das ist das Werk eines Künstlers."
    
  'Unglaublich! Wir haben es hier mit dem verdammten Leonardo da Vinci zu tun', sagte Russell und schüttelte den Kopf.
    
    
  61
    
    
    
  Eine MP3-Datei, die von der jordanischen Wüstenpolizei nach dem Unglück der Moses-Expedition auf dem digitalen Aufnahmegerät von Andrea Otero gefunden wurde.
    
  FRAGE: Professor Forrester, es gibt etwas, das mich sehr interessiert, und zwar die angeblichen übernatürlichen Phänomene, die mit der Bundeslade in Verbindung gebracht werden.
    
    
  ANTWORT: Wir sind wieder dabei.
    
    
  Frage: Professor, die Bibel erwähnt eine Reihe unerklärlicher Phänomene, wie zum Beispiel dieses Licht-
    
    
  A: Es ist nicht die andere Welt. Es ist die Schechina, Gottes Gegenwart. Man muss respektvoll darüber sprechen. Und ja, die Juden glaubten, dass gelegentlich ein Leuchten zwischen den Cherubim erschien, ein klares Zeichen dafür, dass Gott in ihnen gegenwärtig war.
    
    
  Frage: Oder der Israelit, der nach der Berührung der Bundeslade tot umfiel. Glauben Sie wirklich, dass Gottes Macht in der Reliquie wohnt?
    
    
  A: Frau Otero, Sie müssen verstehen, dass die Menschen vor 3.500 Jahren eine andere Weltanschauung und eine völlig andere Beziehung zur Welt hatten. Wenn schon Aristoteles, der uns mehr als tausend Jahre näher lebte, den Himmel als eine Vielzahl konzentrischer Kugeln sah, stellen Sie sich vor, was die Juden über die Bundeslade dachten.
    
    
  F: Ich fürchte, Sie haben mich verwirrt, Professor.
    
    
  A: Es ist schlicht eine Frage der wissenschaftlichen Methode. Anders gesagt: eine rationale Erklärung - oder besser gesagt, deren Fehlen. Die Juden konnten nicht erklären, wie eine goldene Truhe von selbst leuchten konnte, also beschränkten sie sich darauf, einem Phänomen, das jenseits des Verständnisses der Antike lag, einen Namen und eine religiöse Erklärung zu geben.
    
    
  Frage: Und wie lautet die Erklärung, Professor?
    
    
  A: Haben Sie schon mal von der Bagdad-Batterie gehört? Nein, natürlich nicht. Davon hört man nichts im Fernsehen.
    
    
  Frage: Professor...
    
    
  A: Die Bagdad-Batterie ist eine Reihe von Artefakten, die 1938 im Stadtmuseum gefunden wurden. Sie bestand aus Tongefäßen mit Kupferzylindern, die mit Asphalt fixiert waren und jeweils einen Eisenstab enthielten. Mit anderen Worten: Es handelte sich um ein primitives, aber effektives elektrochemisches Gerät, mit dem verschiedene Objekte durch Elektrolyse mit Kupfer beschichtet wurden.
    
    
  F: Das ist nicht weiter verwunderlich. Im Jahr 1938 war diese Technologie fast neunzig Jahre alt.
    
    
  A: Frau Otero, wenn Sie mich ausreden ließen, sähen Sie nicht so dumm aus. Forscher, die die Bagdad-Batterie analysierten, stellten fest, dass sie aus dem alten Sumer stammt und konnten sie auf 2500 v. Chr. datieren. Das ist tausend Jahre vor der Bundeslade und 43 Jahrhunderte vor Faraday, dem Mann, der angeblich den Strom erfunden hat.
    
    
  Frage: Und war die Arche ähnlich?
    
    
  A: Die Arche war ein elektrischer Kondensator. Die Konstruktion war sehr raffiniert und ermöglichte die Ansammlung statischer Elektrizität: zwei Goldplatten, getrennt durch eine isolierende Holzschicht, aber verbunden durch zwei goldene Putten, die als positive und negative Anschlüsse dienten.
    
    
  Frage: Aber wenn es ein Kondensator war, wie konnte er dann die elektrische Energie speichern?
    
    
  A: Die Antwort ist recht nüchtern. Die Gegenstände in der Stiftshütte und im Tempel bestanden aus Leder, Leinen und Ziegenhaar - drei der fünf Materialien, die die größte Menge statischer Elektrizität erzeugen können. Unter den richtigen Bedingungen konnte die Bundeslade etwa zweitausend Volt abgeben. Es ist daher verständlich, dass nur wenige Auserwählte sie berühren durften. Man kann davon ausgehen, dass diese Auserwählten sehr dicke Handschuhe trugen.
    
  Frage: Sie bestehen also darauf, dass die Arche nicht von Gott stammt?
    
    
  A: Frau Otero, nichts könnte meiner Absicht ferner liegen. Ich meine, dass Gott Moses beauftragte, die Gebote an einem sicheren Ort aufzubewahren, damit sie über die Jahrhunderte hinweg geachtet würden und zu einem zentralen Bestandteil des jüdischen Glaubens würden. Und dass die Menschen künstliche Mittel erfunden haben, um die Legende der Bundeslade am Leben zu erhalten.
    
    
  Frage: Was ist mit anderen Katastrophen, wie dem Einsturz der Mauern von Jericho und Sand- und Feuerstürmen, die ganze Städte zerstörten?
    
    
  A: Erfand Geschichten und Mythen.
    
    
  Frage: Sie lehnen also die Vorstellung ab, dass die Arche eine Katastrophe bringen könnte?
    
    
  A: Absolut.
    
    
  62
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Dienstag, 18. Juli 2006, 13:02 Uhr.
    
    
  Achtzehn Minuten vor ihrem Tod dachte Kira Larsen an Feuchttücher. Es war eine Art Reflex. Kurz nach der Geburt ihrer kleinen Tochter Bente vor zwei Jahren hatte sie die Vorteile der kleinen Tücher entdeckt, die stets feucht waren und einen angenehmen Duft hinterließen.
    
  Ein weiterer Vorteil war, dass ihr Mann sie hasste.
    
  Kira war keine schlechte Person. Aber für sie gehörte es zu den positiven Nebeneffekten der Ehe, dass sie die kleinen Schwächen ihres Mannes erkannte und sie nutzte, um ein paar Sticheleien auszuteilen und zu sehen, was passieren würde. Alex musste sich jetzt mit Feuchttüchern begnügen, da er sich um Bent kümmern musste, bis die Expedition beendet war. Kira kehrte triumphierend zurück, zufrieden, dass sie ihrem unfreiwilligen Schwiegervater ein paar Pluspunkte eingebracht hatte.
    
  Bin ich eine schlechte Mutter, weil ich die Verantwortung für unser Kind mit ihm teilen möchte? Wirklich? Auf keinen Fall!
    
  Vor zwei Tagen, als die erschöpfte Kira hörte, wie Jacob Russell sagte, sie müssten ihre Arbeit intensivieren und es gäbe keine Duschen mehr, dachte sie, sie könne mit allem leben. Nichts würde sie davon abhalten, sich als Archäologin einen Namen zu machen. Leider stimmen Realität und Vorstellungskraft nicht immer überein.
    
  Sie ertrug die Demütigung der anschließenden Durchsuchung nach dem Angriff auf den Wassertransporter stoisch. Von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, stand sie da und sah zu, wie Soldaten ihre Papiere und Unterwäsche durchwühlten. Viele Expeditionsmitglieder protestierten, doch alle atmeten erleichtert auf, als die Suche beendet wurde und nichts gefunden worden war. Die Moral der Gruppe war durch die jüngsten Ereignisse stark beeinträchtigt.
    
  "Wenigstens ist es nicht einer von uns", sagte David Pappas, als die Lichter ausgingen und sich Angst in jeden Schatten ausbreitete. "Das könnte uns trösten."
    
  "Wer auch immer es war, weiß wahrscheinlich nicht, was wir hier tun. Es könnten Beduinen sein, die wütend auf uns sind, weil wir in ihr Gebiet eingedrungen sind. Mit all den Maschinengewehren auf den Klippen werden sie nichts anderes tun."
    
  "Nicht, dass die Maschinengewehre Stowe viel genützt hätten."
    
  "Ich bleibe dabei, dass Dr. Harel etwas über seinen Tod weiß", beharrte Kira.
    
  Sie erzählte allen, dass der Arzt trotz der vorgetäuschten Situation nicht in Kiras Bett gewesen sei, als diese in jener Nacht aufwachte, aber niemand schenkte ihr viel Beachtung.
    
  "Beruhigt euch alle. Das Beste, was ihr für Erling und für euch selbst tun könnt, ist, herauszufinden, wie wir diesen Tunnel graben. Ich will, dass ihr sogar im Schlaf darüber nachdenkt", sagte Forrester, der auf Dekkers Drängen sein Zelt auf der anderen Seite des Lagers zurückgelassen und sich den anderen angeschlossen hatte.
    
  Kira hatte Angst, aber die wütende Empörung des Professors inspirierte sie.
    
  Niemand wird uns hier vertreiben. Wir haben eine Mission zu erfüllen, und wir werden sie erfüllen, koste es, was es wolle. Danach wird alles besser sein, dachte sie, ohne zu ahnen, dass sie ihren Schlafsack in einem törichten Versuch, sich zu schützen, komplett zugezippt hatte.
    
    
  Nach 48 anstrengenden Stunden hatte das Archäologenteam die Route festgelegt, die sie beschreiten würden, um das Objekt zu erreichen. Sie würden schräg graben. Kira weigerte sich, es anders als "das Objekt" zu nennen, bis sie sicher waren, dass es das war, was sie erwartet hatten, und nicht ... nicht einfach etwas anderes.
    
  Am Dienstagmorgen war das Frühstück schon längst vergessen. Alle Expeditionsteilnehmer halfen beim Bau einer Stahlplattform, die dem Minibagger den Zugang zum Berghang ermöglichen sollte. Andernfalls wäre die kleine, aber leistungsstarke Maschine aufgrund des unebenen Geländes und des steilen Hangs beim Arbeitsbeginn leicht umgekippt. David Pappas entwarf die Konstruktion so, dass sie etwa sechs Meter über dem Canyonboden mit dem Graben eines Tunnels beginnen konnten. Dieser Tunnel sollte sich dann fünfzehn Meter tief erstrecken und anschließend diagonal in die entgegengesetzte Richtung zum Ziel führen.
    
  Das war der Plan. Kiras Tod wäre eine der unvorhergesehenen Folgen gewesen.
    
    
  Achtzehn Minuten vor dem Absturz war Kira Larsens Haut so klebrig, als trüge sie einen stinkenden Gummianzug. Die anderen nutzten einen Teil ihrer Wasserrationen, um sich so gut wie möglich zu reinigen. Nicht Kira. Sie war unglaublich durstig - sie schwitzte immer stark, besonders nach der Schwangerschaft - und nahm sogar heimlich kleine Schlucke aus den Wasserflaschen der anderen.
    
  Sie schloss kurz die Augen und stellte sich Bentes Zimmer vor: Auf der Kommode stand eine Packung Feuchttücher, die sich in diesem Moment himmlisch auf ihrer Haut angefühlt hätten. Sie malte sich aus, wie sie sich damit abwischte und den Schmutz und Staub entfernte, der sich in ihren Haaren, an ihren Ellbogen und an den Rändern ihres BHs angesammelt hatte. Und dann würde sie ihr Kleines in den Arm nehmen, mit ihr im Bett spielen, wie jeden Morgen, und ihr erklären, dass ihre Mutter einen Schatz gefunden hatte.
    
  Der wertvollste Schatz von allen.
    
  Kira trug mehrere Holzplanken, mit denen Gordon Darwin und Ezra Levin die Tunnelwände verstärkt hatten, um einen Einsturz zu verhindern. Der Tunnel sollte drei Meter breit und zweieinhalb Meter hoch sein. Der Professor und David Pappas hatten stundenlang über die Maße gestritten.
    
  "Das dauert doppelt so lange! Glaubst du etwa, das hier ist Archäologie, Pappas? Das ist eine verdammte Rettungsaktion, und wir haben nur begrenzt Zeit, falls dir das noch nicht aufgefallen ist!"
    
  "Wenn wir den Tunnel nicht breit genug machen, können wir die Erde nicht so einfach ausheben, der Bagger stößt an die Wände, und das Ganze stürzt über uns ein. Vorausgesetzt, wir stoßen nicht auf den Felsgrund der Klippe; in diesem Fall wären all die Mühen umsonst und wir hätten weitere zwei Tage verloren."
    
  "Zum Teufel mit dir, Pappas, und deinem Harvard-Masterabschluss!"
    
  Am Ende gewann David, und der Tunnel war zehn Fuß mal acht Fuß groß.
    
    
  Kira strich sich gedankenverloren ein Insekt aus dem Haar, während sie zum anderen Ende des Tunnels ging, wo Robert Frick mit der Erdwand vor ihm kämpfte. Tommy Eichberg belud derweil das Förderband, das entlang des Tunnelbodens verlief und etwa einen halben Meter von der Plattform entfernt endete, wobei es stetig eine Staubwolke vom Canyonboden aufwirbelte. Der ausgehobene Erdhügel war nun fast so hoch wie die Tunnelöffnung.
    
  "Hallo, Kira", begrüßte Eichberg sie. Seine Stimme klang müde. "Hast du Hanley gesehen? Er sollte mich ablösen."
    
  "Er ist unten und versucht, elektrische Lampen zu installieren. Bald werden wir hier unten nichts mehr sehen können."
    
  Sie waren fast acht Meter tief in den Berghang vorgedrungen, und gegen 14 Uhr drang kein Tageslicht mehr bis ins hintere Ende des Tunnels, was die Arbeit praktisch unmöglich machte. Eichberg fluchte laut.
    
  "Muss ich denn noch eine Stunde so weiterschaufeln?", fragte er und warf die Schaufel zu Boden. "Das ist doch Unsinn!"
    
  'Geh nicht, Tommy. Wenn du gehst, kann Freak auch nicht weitermachen.'
    
  "Na gut, Kira, übernimm du das Kommando. Ich muss mal kurz pinkeln."
    
  Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging er.
    
  Kira blickte zu Boden. Erde auf das Förderband zu schaufeln war eine furchtbare Arbeit. Man musste sich ständig bücken, sich schnell bewegen und den Hebel des Baggers im Auge behalten, um nicht getroffen zu werden. Aber sie wollte sich gar nicht vorstellen, was der Professor sagen würde, wenn sie eine Stunde Pause machten. Er würde ihr wie immer die Schuld geben. Kira war insgeheim überzeugt, dass Forester sie hasste.
    
  Vielleicht war er eifersüchtig auf meine Verbindung zu Stowe Erling. Vielleicht wünschte er, er wäre Stowe. Dieser alte Schlingel. Ich wünschte, du wärst jetzt an seiner Stelle, dachte sie und bückte sich, um die Schaufel aufzuheben.
    
  "Schau mal dort drüben, hinter dich!"
    
  Freak drehte den Bagger leicht, und die Kabine krachte beinahe gegen Kiras Kopf.
    
  'Seien Sie vorsichtig!'
    
  "Ich hab"s dir ja gesagt, Schöne. Tut mir leid."
    
  Kira verzog das Gesicht, als sie die Maschine ansah, denn es war unmöglich, Freak böse zu sein. Der stämmige Bediener hatte ein übles Temperament und fluchte und furzte ständig während der Arbeit. Er war ein Mann im wahrsten Sinne des Wortes, ein Mensch aus Fleisch und Blut. Das schätzte Kira über alles, besonders im Vergleich zu den blassen Abbildern des Lebens, die Forresters Assistenten darstellten.
    
  Den Arschkriecherclub, wie Stowe sie nannte. Er wollte nichts mit ihnen zu tun haben.
    
  Sie begann, Schutt auf das Förderband zu schaufeln. Nach einer Weile musste ein weiteres Segment an das Band angefügt werden, da der Tunnel tiefer in den Berg vordrang.
    
  'Hey, Gordon, Ezra! Hört auf, die Befestigungen auszubauen und bringt bitte ein weiteres Segment für das Förderband.'
    
  Gordon Darwin und Ezra Levin befolgten ihre Befehle mechanisch. Wie alle anderen spürten auch sie, dass sie bereits an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gestoßen waren.
    
  So nutzlos wie Froschschenkel, wie mein Großvater immer sagte. Aber wir sind so nah dran; ich kann schon mal die Häppchen beim Begrüßungsempfang im Jerusalem Museum probieren. Noch ein Zug, und ich halte alle Journalisten fern. Noch ein Drink, und Herr "Ich-arbeite-bis-bis-zum-Ende-mit-meiner-Sekretärin" muss mich endlich mal respektieren. Ehrlich!
    
  Darwin und Levin transportierten ein weiteres Förderbandsegment. Die Anlage bestand aus einem Dutzend flacher, jeweils etwa 45 cm langer Rollen, die durch ein Elektrokabel verbunden waren. Es handelte sich im Grunde um mit robustem Kunststoffband umwickelte Walzen, die jedoch eine große Materialmenge pro Stunde beförderten.
    
  Kira nahm die Schaufel wieder in die Hand, nur um die beiden Männer dazu zu bringen, das schwere Förderband noch etwas länger festzuhalten. Die Schaufel erzeugte ein lautes, metallisches Klirren.
    
  Einen Augenblick lang blitzte das Bild des Grabes, das gerade geöffnet worden war, vor Kiras inneren Augen auf.
    
  Dann neigte sich der Boden. Kira verlor das Gleichgewicht, und Darwin und Levin stolperten und verloren die Kontrolle über das Teil, das auf Kiras Kopf fiel. Die junge Frau schrie auf, aber es war kein Schrei des Entsetzens. Es war ein Schrei der Überraschung und Angst.
    
  Der Boden bebte erneut. Die beiden Männer verschwanden aus Kiras Blickfeld, wie zwei Kinder, die einen Hügel hinunterrodeln. Vielleicht schrien sie, doch sie hörte sie nicht, genauso wenig wie die gewaltigen Erdbrocken, die von den Wänden brachen und mit einem dumpfen Aufprall zu Boden stürzten. Auch spürte sie nicht den scharfen Stein, der von der Decke fiel und ihren Tempel in ein blutiges Trümmerfeld verwandelte, oder das schabende Metall des Minibaggers, als er von der Plattform krachte und zehn Meter tiefer auf die Felsen aufschlug.
    
  Kira bekam von nichts mit, denn alle fünf ihrer Sinne waren auf ihre Fingerspitzen gerichtet, genauer gesagt auf die viereinhalb Zoll Kabel, mit denen sie sich an dem Transportermodul festhielt, das fast parallel zum Rand des Abgrunds gefallen war.
    
  Sie versuchte, sich mit den Beinen festzuhalten, aber es half nichts. Ihre Hände berührten den Rand des Abgrunds, und der Boden gab unter ihrem Gewicht nach. Der Schweiß an ihren Händen verhinderte, dass Kira sich festhalten konnte, und aus den viereinhalb Zoll Kabel wurden dreieinhalb. Ein weiterer Ausrutscher, ein weiterer Ruck, und nun waren nur noch knapp zwei Zoll Kabel übrig.
    
  In einer dieser seltsamen Launen des menschlichen Geistes verfluchte Kira die Tatsache, dass sie Darwin und Levin etwas länger als nötig hatte warten lassen. Hätten sie das Kabelsegment an der Tunnelwand liegen lassen, wäre es nicht in die Stahlrollen des Förderbandes geraten.
    
  Schließlich verschwand das Kabel und Kira versank in Dunkelheit.
    
    
  63
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Dienstag, 18. Juli 2006, 14:07 Uhr.
    
    
  "Mehrere Menschen sind tot."
    
  'WHO?'
    
  'Larsen, Darwin, Levine und Frick'.
    
  'Auf keinen Fall, nicht Levin. Den haben sie lebend rausgeholt.'
    
  'Der Arzt ist da oben.'
    
  'Sind Sie sicher?'
    
  'Ich sag's dir doch!'
    
  'Was ist passiert? Schon wieder eine Bombe?'
    
  "Es war ein Einsturz. Nichts Mysteriöses."
    
  "Das war Sabotage, ich schwöre es. Sabotage."
    
    
  Ein Kreis schmerzverzerrter Gesichter versammelte sich um den Bahnsteig. Ein Raunen der Besorgnis ging durch den Raum, als Pappas, gefolgt von Professor Forrester, aus dem Tunneleingang trat. Hinter ihnen standen die Brüder Gottlieb, die aufgrund ihrer Fähigkeiten im Abseilen von Decker beauftragt worden waren, mögliche Überlebende zu retten.
    
  Die deutschen Zwillinge trugen die erste Leiche auf einer Trage, die mit einer Decke bedeckt war.
    
  "Das ist Darwin; ich erkenne seine Schuhe."
    
  Der Professor ging auf die Gruppe zu.
    
  "Der Einsturz ereignete sich aufgrund eines natürlichen Hohlraums im Erdreich, den wir nicht berücksichtigt hatten. Die Geschwindigkeit, mit der wir den Tunnel gegraben haben, ließ uns das nicht zu ..." Er brach ab, unfähig fortzufahren.
    
  "Ich glaube, das ist das Nächste, was er jemals an ein Eingeständnis seines Fehlers herankommen wird", dachte Andrea, die mitten in der Gruppe stand. Sie hatte ihre Kamera in der Hand, bereit, Fotos zu machen, doch als ihr klar wurde, was geschehen war, setzte sie den Objektivdeckel wieder auf.
    
  Die Zwillinge legten den Leichnam vorsichtig auf den Boden, zogen dann die Trage darunter hervor und kehrten in den Tunnel zurück.
    
  Eine Stunde später lagen die Leichen dreier Archäologen und eines Kameramanns am Rand der Plattform. Levin wurde als Letzter geborgen. Es dauerte weitere zwanzig Minuten, ihn aus dem Tunnel zu ziehen. Obwohl er als Einziger den Sturz überlebt hatte, konnte Dr. Harel nichts mehr für ihn tun.
    
  "Er hat zu schwere innere Verletzungen", flüsterte sie Andrea zu, sobald sie gegangen war. Das Gesicht und die Hände des Arztes waren mit Schmutz bedeckt. "Ich würde lieber ..."
    
  "Sag nichts mehr", sagte Andrea und drückte heimlich ihre Hand. Sie ließ ihn los, um sich die Mütze über den Kopf zu ziehen, wie auch die anderen. Nur die Soldaten hielten sich nicht an die jüdischen Bräuche, vielleicht aus Unwissenheit.
    
  Es herrschte absolute Stille. Eine warme Brise wehte von den Klippen herab. Plötzlich durchbrach eine Stimme die Stille; sie klang tief bewegt. Andrea drehte den Kopf und traute ihren Augen nicht.
    
  Die Stimme gehörte Russell. Er ging hinter Raymond Keen, und sie waren nicht mehr als hundert Fuß vom Bahnsteig entfernt.
    
  Der Milliardär näherte sich ihnen barfuß, die Schultern hochgezogen, die Arme verschränkt. Sein Assistent folgte ihm, sein Gesichtsausdruck finster. Er beruhigte sich erst, als er merkte, dass die anderen ihn hören konnten. Offensichtlich hatte Russells Anblick von Kaine vor dessen Zelt ihn äußerst nervös gemacht.
    
  Langsam wandten sich alle den beiden Gestalten zu, die sich näherten. Neben Andrea und Decker war Forrester der Einzige, der Raymond Ken je persönlich gesehen hatte. Und das war nur ein einziges Mal geschehen, während einer langen, angespannten Besprechung im Cain Tower, als Forrester ohne zu zögern den seltsamen Forderungen seines neuen Chefs zugestimmt hatte. Die Belohnung dafür war natürlich enorm.
    
  Genauso teuer war es. Er lag dort auf dem Boden, mit Decken zugedeckt.
    
  Kain blieb etwa vier Meter entfernt stehen, ein wackeliger, zögernder alter Mann mit einer Kippa, so weiß wie seine übrige Kleidung. Seine Dürre und seine geringe Körpergröße ließen ihn noch gebrechlicher wirken, doch Andrea unterdrückte den Drang, niederzuknien. Sie spürte, wie sich die Haltung der Menschen um ihn herum veränderte, als würden sie von einem unsichtbaren Magnetfeld beeinflusst. Brian Hanley, keine drei Meter entfernt, begann, sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen zu verlagern. David Pappas senkte den Kopf, und selbst Fowlers Augen schienen seltsam zu glänzen. Der Priester stand abseits der Gruppe, ein wenig abseits von den anderen.
    
  "Meine lieben Freunde, ich hatte noch keine Gelegenheit, mich vorzustellen. Mein Name ist Raymond Kane", sagte der alte Mann, dessen klare Stimme sein gebrechliches Aussehen Lügen strafte.
    
  Einige der Anwesenden nickten, aber der alte Mann bemerkte es nicht und sprach weiter.
    
  "Ich bedaure, dass wir uns zum ersten Mal unter solch schrecklichen Umständen treffen mussten, und ich möchte uns bitten, gemeinsam zu beten." Er senkte den Blick, neigte den Kopf und sprach: "El malei rachamim shochen bamromim hamtzi menukha nehonach al kanfei hashechina bema alot kedoshim utehorim kezohar harakiya meirim umazhirim lenishmat. 8 Amen."
    
  Alle wiederholten "Amen".
    
  Seltsamerweise fühlte sich Andrea besser, obwohl sie nicht verstand, was sie gehört hatte, und es nicht ihren Kindheitsvorstellungen entsprach. Für einen Moment herrschte eine leere, einsame Stille in der Gruppe, bis Dr. Harel das Wort ergriff.
    
  'Sollen wir nach Hause gehen, Sir?' Sie streckte flehend die Hände aus.
    
  "Nun müssen wir das Halacha befolgen und unsere Brüder begraben", erwiderte Kain. Sein Tonfall war ruhig und vernünftig, ganz im Gegensatz zu Docs rauer Erschöpfung. "Danach werden wir uns einige Stunden ausruhen und dann unsere Arbeit fortsetzen. Wir dürfen das Opfer dieser Helden nicht umsonst gewesen sein lassen."
    
  Nachdem Kaine dies gesagt hatte, kehrte er in sein Zelt zurück, gefolgt von Russell.
    
  Andrea blickte sich um und sah in den Gesichtern der anderen nichts als Zustimmung.
    
  "Ich kann nicht glauben, dass diese Leute diesen Mist glauben", flüsterte sie Harel zu. "Er kam uns nicht einmal nahe. Er stand ein paar Meter von uns entfernt, als ob wir an der Pest litten oder ihm etwas antun wollten."
    
  "Wir sind nicht diejenigen, vor denen er sich fürchtete."
    
  'Was zum Teufel redest du da?'
    
  Harel antwortete nicht.
    
  Doch Andrea entging weder die Richtung ihres Blicks noch der mitfühlende Blick, der zwischen dem Arzt und Fowler ausgetauscht wurde. Der Priester nickte.
    
  Wenn wir es nicht waren, wer dann?
    
    
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  Ein Dokument, das aus Haruf Waadis E-Mail-Konto extrahiert wurde, welches als Kommunikationszentrale zwischen Terroristen der syrischen Zelle diente.
    
  Brüder, der auserwählte Moment ist gekommen. Hakan hat euch gebeten, euch auf morgen vorzubereiten. Ein Einheimischer wird euch mit der nötigen Ausrüstung versorgen. Eure Reise führt euch mit dem Auto von Syrien nach Amman, wo Ahmed euch weitere Anweisungen geben wird. K.
    
    
  Salam Alaikum. Bevor ich gehe, möchte ich Sie noch einmal an die Worte von Al-Tabrizi erinnern, die mir stets eine Quelle der Inspiration waren. Ich hoffe, Sie finden darin ähnlichen Trost auf Ihrer Mission.
    
  Der Gesandte Gottes sagte: Ein Märtyrer genießt sechs Vorrechte vor Gott. Er vergibt dir deine Sünden nach dem ersten Tropfen deines Blutes; Er führt dich ins Paradies und erspart dir die Qualen des Grabes; Er gewährt dir Erlösung von den Schrecken der Hölle und setzt dir eine Krone der Herrlichkeit auf, deren Rubin jeweils wertvoller ist als die ganze Welt und alles, was darin ist; Er verheiratet dich mit 72 Huris mit tiefschwarzen Augen; und Er wird deine Fürsprache für 72 deiner Verwandten annehmen.
    
  Danke, U. Heute hat mich meine Frau gesegnet und sich mit einem Lächeln von mir verabschiedet. Sie sagte: "Vom ersten Tag an, als ich dich traf, wusste ich, dass du zum Märtyrer bestimmt bist. Heute ist der glücklichste Tag meines Lebens." Gepriesen sei Allah, dass er mir eine Frau wie sie geschenkt hat.
    
    
  Alles Gute, D.O.
    
  Ist deine Seele nicht übervoll? Wenn wir das mit irgendjemandem teilen könnten, dann schreit es laut heraus.
    
    
  Ich würde das auch gern teilen, aber ich kann deine Euphorie nicht nachvollziehen. Ich fühle mich seltsam ruhig. Das ist meine letzte Nachricht, denn in wenigen Stunden reise ich mit meinen beiden Brüdern zu unserem Treffen nach Amman.
    
    
  Ich teile Ws Gefühl des Friedens. Euphorie ist verständlich, aber gefährlich. Moralisch, weil sie die Tochter des Stolzes ist. Taktisch, weil sie zu Fehlern führen kann. Du musst einen klaren Kopf bewahren, D. Sobald du in der Wüste bist, musst du stundenlang in der sengenden Sonne auf Hakans Signal warten. Deine Euphorie kann schnell in Verzweiflung umschlagen. Suche nach dem, was dir Frieden schenkt.
    
    
  Was würden Sie empfehlen? D
    
    
  Denkt an die Märtyrer vor uns. Unser Kampf, der Kampf der Umma, besteht aus kleinen Schritten. Die Brüder, die die Ungläubigen in Madrid niedermetzelten, taten einen kleinen Schritt. Die Brüder, die die Twin Towers zerstörten, vollbrachten zehn solcher Schritte. Unsere Mission besteht aus tausend Schritten. Ihr Ziel ist es, die Eindringlinge für immer in die Knie zu zwingen. Versteht ihr? Euer Leben, euer Blut, wird zu einem Ziel führen, das kein anderer Bruder auch nur ersehnen kann. Stellt euch einen König der Antike vor, der ein tugendhaftes Leben führte, seinen Samen in einem riesigen Harem vermehrte, seine Feinde besiegte und sein Reich im Namen Gottes ausdehnte. Er kann sich mit der Zufriedenheit eines Mannes umsehen, der seine Pflicht erfüllt hat. Genau so solltet ihr euch fühlen. Findet Zuflucht in diesem Gedanken und gebt ihn an die Krieger weiter, die ihr mit nach Jordanien nehmen werdet.
    
    
  Ich habe viele Stunden über deine Worte nachgedacht, O, und bin dir dankbar. Meine Seele ist anders, mein Geist ist Gott näher. Das Einzige, was mich noch immer traurig stimmt, ist, dass dies unsere letzten Nachrichten aneinander sein werden und dass wir, obwohl wir siegen werden, uns erst in einem anderen Leben wiedersehen werden. Ich habe viel von dir gelernt und dieses Wissen an andere weitergegeben.
    
  Bis in alle Ewigkeit, Bruder. Salam Aleikum.
    
    
  65
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Mittwoch, 19. Juli 2006, 11:34 Uhr
    
    
  An einem Gurtzeug hängend, 7,5 Meter über dem Boden, genau an der Stelle, wo am Vortag vier Menschen gestorben waren, fühlte sich Andrea lebendiger denn je. Sie konnte nicht leugnen, dass die unmittelbare Möglichkeit des Todes sie erregte und sie seltsamerweise aus dem zehnjährigen Dornröschenschlaf riss.
    
  Plötzlich rücken Fragen darüber, wen man mehr hasst - den Vater, weil er ein homophober Fanatiker ist, oder die Mutter, weil sie die geizigste Person der Welt ist - in den Hintergrund und werden von Fragen wie "Hält dieses Seil mein Gewicht aus?" abgelöst.
    
  Andrea, die nie Skifahren gelernt hatte, bat darum, langsam zum Grund der Höhle hinabgelassen zu werden, teils aus Angst, teils weil sie verschiedene Blickwinkel für ihre Fotos ausprobieren wollte.
    
  "Kommt schon, Leute. Langsamer. Ich habe einen guten Vertrag!", rief sie, warf den Kopf zurück und sah Brian Hanley und Tommy Eichberg an, die sie mit dem Lift herunterließen.
    
  Das Seil hörte auf, sich zu bewegen.
    
  Unter ihr lagen die Überreste eines Baggers, wie ein von einem wütenden Kind zerschlagenes Spielzeug. Ein Teil des Arms ragte in einem seltsamen Winkel heraus, und auf der zersplitterten Windschutzscheibe war noch getrocknetes Blut zu sehen. Andrea wandte die Kamera von der Szene ab.
    
  Ich hasse Blut, ich hasse es.
    
  Selbst ihr Mangel an beruflicher Ethik hatte seine Grenzen. Sie konzentrierte sich auf den Höhlenboden, doch gerade als sie den Auslöser drücken wollte, begann sie sich am Seil zu drehen.
    
  "Können Sie das bitte beenden? Ich kann mich nicht konzentrieren."
    
  "Miss, Sie sind nicht aus Federn gemacht, wissen Sie?", rief Brian Hanley ihr zu.
    
  "Ich denke, es ist am besten, wenn wir dich weiterhin degradieren", fügte Tommy hinzu.
    
  "Was ist denn los? Ich wiege doch nur 55 Kilo - kannst du das nicht akzeptieren? Du wirkst viel stärker", sagte Andrea, die Männer schon immer zu manipulieren wusste.
    
  "Sie wiegt weit über acht Steine", beklagte sich Hanley leise.
    
  "Das habe ich gehört", sagte Andrea und tat so, als sei sie beleidigt.
    
  Sie war so begeistert von dem Erlebnis, dass sie Hanley unmöglich böse sein konnte. Der Elektriker hatte die Höhle so hervorragend ausgeleuchtet, dass sie nicht einmal den Blitz ihrer Kamera brauchte. Dank der großen Blendenöffnung ihres Objektivs konnte sie exzellente Aufnahmen der letzten Ausgrabungsphase machen.
    
  Ich kann es nicht fassen! Wir stehen kurz vor der größten Entdeckung aller Zeiten, und das Foto, das auf jeder Titelseite erscheint, wird von mir sein!
    
  Der Reporter warf zum ersten Mal einen genaueren Blick in das Innere der Höhle. David Pappas berechnete, dass sie einen diagonalen Tunnel hinunter zum vermuteten Standort der Arche bauen müssten, doch der Weg mündete - auf die abrupteste Art und Weise - in einen natürlichen Abgrund im Boden, der an die Canyonwand angrenzte.
    
    
  "Stellen Sie sich die Canyonwände vor 30 Millionen Jahren vor", erklärte Pappas am Vortag und fertigte eine kleine Skizze in seinem Notizbuch an. "Damals gab es in der Gegend Wasser, wodurch der Canyon entstand. Mit dem Klimawandel erodierten die Felswände und bildeten diese Landform aus verdichteter Erde und Gestein, die die Canyonwände wie eine riesige Decke umgibt und die Art von Höhlen verschließt, auf die wir gestoßen sind. Leider kostete mein Fehler mehrere Menschenleben. Hätte ich überprüft, ob der Untergrund des Tunnels fest war ..."
    
  "Ich wünschte, ich könnte sagen, ich verstehe, wie du dich fühlst, David, aber ich habe keine Ahnung. Ich kann dir nur meine Hilfe anbieten, und alles andere ist mir egal."
    
  "Vielen Dank, Miss Otero. Das bedeutet mir sehr viel. Vor allem, da mir einige Expeditionsmitglieder immer noch Stowes Tod vorwerfen, nur weil wir uns ständig gestritten haben."
    
  'Nenn mich einfach Andrea, okay?'
    
  "Selbstverständlich." Der Archäologe rückte verlegen seine Brille zurecht.
    
  Andrea bemerkte, dass David vor lauter Stress fast explodierte. Sie überlegte, ihn zu umarmen, doch irgendetwas an ihm beunruhigte sie zunehmend. Es war, als würde ein Gemälde, das man gerade betrachtet hatte, plötzlich erleuchtet und eine völlig andere Szene enthüllen.
    
  'Sag mir, David, glaubst du, dass die Leute, die die Bundeslade vergraben haben, von diesen Höhlen wussten?'
    
  "Ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es einen Eingang zum Canyon, den wir noch nicht gefunden haben, weil er von Felsen oder Schlamm bedeckt ist - irgendwo, wo sie die Arche damals hinabgelassen haben. Wir hätten ihn wahrscheinlich längst gefunden, wenn diese verdammte Expedition nicht so chaotisch verlaufen wäre und wir nicht einfach improvisiert hätten. Stattdessen haben wir etwas getan, was kein Archäologe jemals tun sollte. Vielleicht ein Schatzsucher, ja, aber dafür wurde ich definitiv nicht ausgebildet."
    
    
  Andrea hatte Fotografie gelernt, und genau das tat sie nun. Noch immer kämpfte sie mit dem sich drehenden Seil, griff mit der linken Hand über den Kopf nach einem Felsvorsprung, während sie mit der rechten die Kamera auf den hinteren Teil der Höhle richtete: einen hohen, aber engen Raum mit einer noch kleineren Öffnung am anderen Ende. Brian Hanley hatte einen Generator und starke Taschenlampen aufgebaut, die nun lange Schatten von Professor Forrester und David Pappas auf die raue Felswand warfen. Jedes Mal, wenn sich einer von ihnen bewegte, wirbelten feine Sandkörner auf. Die Höhle roch trocken und stechend, wie ein Tonaschenbecher, der zu lange im Brennofen gestanden hatte. Der Professor hustete trotz Atemschutzmaske weiter.
    
  Andrea machte noch ein paar Fotos, bevor Hanley und Tommy des Wartens müde wurden.
    
  "Lass den Stein los. Wir bringen dich ganz nach unten."
    
  Andrea tat, wie ihr gesagt wurde, und eine Minute später stand sie wieder festen Boden unter den Füßen. Sie löste ihren Gurt, und das Seil wurde wieder nach oben geführt. Nun war Brian Hanley an der Reihe.
    
  Andrea ging auf David Pappas zu, der gerade versuchte, dem Professor beim Aufsetzen zu helfen. Der alte Mann zitterte, und seine Stirn war schweißbedeckt.
    
  "Nehmen Sie etwas von meinem Wasser, Professor", sagte David und reichte ihm seine Flasche.
    
  "Idiot! Du trinkst das hier. Du solltest in die Höhle gehen", sagte der Professor. Diese Worte lösten einen weiteren Hustenanfall aus. Er riss sich die Maske vom Gesicht und spuckte einen großen Blutklumpen auf den Boden. Obwohl seine Stimme durch die Krankheit beeinträchtigt war, konnte der Professor immer noch scharfe Beleidigungen ausstoßen.
    
  David hängte die Flasche wieder an seinen Gürtel und ging zu Andrea hinüber.
    
  "Vielen Dank, dass Sie uns geholfen haben. Nach dem Unfall waren nur noch der Professor und ich übrig... Und in seinem Zustand ist er kaum noch zu gebrauchen", fügte er mit gesenkter Stimme hinzu.
    
  "Der Kot meiner Katze sieht besser aus."
    
  "Er wird ... nun ja, Sie wissen schon. Die einzige Möglichkeit, das Unvermeidliche hinauszuzögern, war, den ersten Flieger in die Schweiz zu nehmen, um sich behandeln zu lassen."
    
  "Genau das meinte ich."
    
  'Mit dem Staub in dieser Höhle...'
    
  "Ich bekomme zwar kaum Luft, aber mein Gehör ist perfekt", sagte der Professor, obwohl jedes Wort mit einem Keuchen endete. "Hört auf, über mich zu reden, und macht euch an die Arbeit! Ich sterbe erst, wenn ihr die Bundeslade da rausgeholt habt, ihr nutzlosen Idioten!"
    
  David sah wütend aus. Einen Moment lang dachte Andrea, er würde gleich antworten, doch die Worte schienen ihm im Halse stecken zu bleiben.
    
  Du bist völlig am Ende, nicht wahr? Du hasst ihn von ganzem Herzen, aber du kannst ihm nicht widerstehen... Er hat dir nicht nur die Eier abgeschnitten, er hat dich gezwungen, sie zum Frühstück zu braten, dachte Andrea und empfand ein wenig Mitleid mit ihrer Assistentin.
    
  'Also, David, sag mir, was ich tun soll.'
    
  'Folgen Sie mir.'
    
  Etwa drei Meter im Inneren der Höhle veränderte sich die Wandoberfläche leicht. Ohne das tausende Watt starke Licht, das den Raum erhellte, hätte Andrea es wahrscheinlich nicht bemerkt. Anstelle von blankem, massivem Fels gab es nun eine Fläche, die aus übereinandergestapelten Felsbrocken zu bestehen schien.
    
  Was auch immer es war, es war von Menschenhand geschaffen.
    
  'Oh mein Gott, David.'
    
  "Was ich nicht verstehe, ist, wie sie es geschafft haben, eine so stabile Mauer zu bauen, ohne Mörtel zu verwenden und ohne auf der anderen Seite arbeiten zu können."
    
  "Vielleicht gibt es auf der anderen Seite des Saals einen Ausgang. Du sagtest, es sollte einen geben."
    
  "Sie könnten Recht haben, aber ich glaube nicht. Ich habe neue Magnetometermessungen durchgeführt. Hinter diesem Felsblock befindet sich ein instabiles Gebiet, das wir bereits mit unseren ersten Messungen identifiziert haben. Tatsächlich wurde die Kupferrolle in genau derselben Grube gefunden wie diese hier."
    
  'Zufall?'
    
  "Das bezweifle ich."
    
  David kniete sich hin und berührte vorsichtig die Mauer mit den Fingerspitzen. Als er den kleinsten Spalt zwischen den Steinen fand, versuchte er mit aller Kraft daran zu ziehen.
    
  "Das ist unmöglich", fuhr er fort. "Dieses Loch in der Höhle wurde absichtlich verschlossen; und aus irgendeinem Grund liegen die Steine jetzt noch dichter beieinander als ursprünglich. Vielleicht war die Wand über zweitausend Jahre hinweg einem ständigen Druck ausgesetzt. Fast so, als ob ..."
    
  'Als ob was?'
    
  "Es ist, als hätte Gott selbst den Eingang versiegelt. Nicht lachen."
    
  "Ich lache nicht", dachte Andrea. "Nichts davon ist lustig."
    
  "Können wir die Steine nicht einfach einzeln herausnehmen?"
    
  "Nicht zu wissen, wie dick die Mauer ist und was sich dahinter befindet."
    
  'Und wie wollen Sie das anstellen?'
    
  'Ein Blick ins Innere'.
    
  Vier Stunden später gelang es David Pappas mit der Hilfe von Brian Hanley und Tommy Eichberg, ein kleines Loch in die Wand zu bohren. Sie mussten den Motor eines großen Bohrgeräts - das sie bisher noch nicht benutzt hatten, da sie nur Erde und Sand ausgehoben hatten - zerlegen und ihn Stück für Stück in den Tunnel hinablassen. Hanley bastelte am Höhleneingang aus den Überresten eines zerstörten Minibaggers eine seltsame Vorrichtung.
    
  "Das ist mal eine Überarbeitung!", sagte Hanley zufrieden mit seinem Werk.
    
  Das Ergebnis war nicht nur hässlich, sondern auch wenig praktisch. Alle vier mussten mit aller Kraft drücken, um es festzuhalten. Schlimmer noch: Um zu starke Vibrationen der Wand zu vermeiden, konnten nur die kleinsten Bohrer verwendet werden. "Sieben Fuß!", rief Hanley gegen das Klappern des Motors an.
    
  David fädelte eine Glasfaserkamera mit einem kleinen Sucher durch das Loch, aber das an der Kamera befestigte Kabel war zu steif und zu kurz, und der Boden auf der anderen Seite war voller Hindernisse.
    
  'Verdammt! So etwas werde ich nie sehen können.'
    
  Andrea spürte etwas an sich streifen und legte die Hand an ihren Nacken. Jemand bewarf sie mit kleinen Steinen. Sie drehte sich um.
    
  Forrester versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, doch er war wegen des Motorenlärms nicht zu hören. Pappas trat näher und beugte sein Ohr zu dem alten Mann.
    
  "Genau das ist es!", rief David aufgeregt und überglücklich. "Genau das werden wir tun, Professor. Brian, könntest du das Loch vielleicht etwas größer machen? Sagen wir, etwa drei Viertel Zoll mal ein Viertel Zoll?"
    
  "Mach bloß keine Witze darüber", sagte Hanley und kratzte sich am Kopf. "Wir haben keine kleinen Bohrmaschinen mehr."
    
  Mit dicken Handschuhen zog er die letzten rauchenden Bohrer heraus, die ihre Form verloren hatten. Andrea erinnerte sich daran, wie sie versucht hatte, ein wunderschön gerahmtes Foto der Manhattaner Skyline an einer tragenden Wand ihrer Wohnung aufzuhängen. Ihr Bohrer war nun so brauchbar wie ein Salzstängel.
    
  "Freak hätte wahrscheinlich gewusst, was zu tun ist", sagte Brian traurig und blickte auf die Ecke, wo sein Freund gestorben war. "Er hatte viel mehr Erfahrung mit solchen Dingen als ich."
    
  Pappas sagte einige Minuten lang nichts. Die anderen konnten seine Gedanken fast hören.
    
  'Was wäre, wenn ich dich die mittelgroßen Bohrer benutzen lasse?', sagte er schließlich.
    
  "Dann gäbe es kein Problem. Ich könnte es in zwei Stunden schaffen. Aber die Vibrationen wären viel stärker. Das Gebiet ist eindeutig instabil ... es ist ein großes Risiko. Ist Ihnen das bewusst?"
    
  David lachte, ohne dass auch nur ein Hauch von Humor in ihm aufkam.
    
  "Sie fragen mich, ob mir bewusst ist, dass viertausend Tonnen Gestein einstürzen und das größte Bauwerk der Weltgeschichte in Staub verwandeln könnten? Dass es jahrelange Arbeit und Investitionen in Millionenhöhe vernichten würde? Dass es das Opfer von fünf Menschen sinnlos machen würde?"
    
  Verdammt! Er ist heute völlig anders. Er ist genauso... davon befallen wie der Professor, dachte Andrea.
    
  "Ja, ich weiß, Brian", fügte David hinzu. "Und ich werde dieses Risiko eingehen."
    
    
  66
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Mittwoch, 19. Juli 2006, 19:01 Uhr.
    
    
  Andrea machte ein weiteres Foto von Pappas, der vor der Steinmauer kniete. Sein Gesicht lag im Schatten, aber das Gerät, mit dem er durch das Loch spähte, war deutlich zu erkennen.
    
  "Viel besser, David ... Nicht, dass du besonders gut aussehend wärst", bemerkte Andrea trocken zu sich selbst. Ein paar Stunden später würde sie den Gedanken bereuen, aber zu diesem Zeitpunkt hätte nichts der Wahrheit näher kommen können. Dieses Auto war atemberaubend.
    
  "Stowe nannte es immer einen Angriff. Einen lästigen Roboterforscher, aber wir nennen ihn Freddy."
    
  Gibt es dafür einen besonderen Grund?
    
  "Nur um Stowe eins auszuwischen. Er war ein arroganter Idiot", antwortete David. Andrea war überrascht von dem Zorn, den der sonst so schüchterne Archäologe an den Tag legte.
    
  Freddie war ein mobiles, ferngesteuertes Kamerasystem, das an Orten eingesetzt werden konnte, die für Menschen zu gefährlich waren. Es wurde von Stow Erling entwickelt, der die Premiere seines Roboters leider nicht mehr miterleben wird. Um Hindernisse wie Felsen zu überwinden, war Freddie mit Kettenlaufwerken ausgestattet, ähnlich denen von Panzern. Der Roboter konnte außerdem bis zu zehn Minuten unter Wasser bleiben. Erling hatte die Idee von einer Gruppe Archäologen in Boston übernommen und sie mit der Hilfe mehrerer Ingenieure des MIT weiterentwickelt. Diese verklagten ihn zwar, weil er den ersten Prototyp auf diese Mission geschickt hatte, doch das kümmerte Erling nicht mehr.
    
  "Wir werden es durch das Loch stecken, um einen Blick in das Innere der Grotte zu werfen", sagte David. "So können wir feststellen, ob wir die Wand gefahrlos zerstören können, ohne das zu beschädigen, was sich auf der anderen Seite befindet."
    
  "Wie kann ein Roboter dort sehen?"
    
  Freddy ist mit Nachtsichtgeräten ausgestattet. Der zentrale Mechanismus sendet einen Infrarotstrahl aus, den nur die Linsen erfassen können. Die Bilder sind nicht perfekt, aber ausreichend. Wir müssen nur aufpassen, dass er nicht stecken bleibt oder umkippt. Wenn das passiert, sind wir aufgeschmissen.
    
    
  Die ersten Schritte waren recht einfach. Der erste Abschnitt war zwar eng, bot Freddy aber genügend Platz, um in die Höhle zu gelangen. Die Überquerung des unebenen Abschnitts zwischen Wand und Boden gestaltete sich etwas schwieriger, da dieser uneben und mit losen Steinen übersät war. Glücklicherweise lassen sich die Ketten des Roboters unabhängig voneinander steuern, sodass er Kurven fahren und kleinere Hindernisse überwinden kann.
    
  "Sechzig Grad links", sagte David und konzentrierte sich auf den Bildschirm, auf dem er kaum mehr als ein schwarz-weißes Steinfeld erkennen konnte. Tommy Eichberg bediente auf Davids Bitte hin die Steuerung; er hatte trotz seiner dicken Finger eine ruhige Hand. Jede Schiene wurde über ein kleines Rad am Bedienfeld gesteuert, das über zwei dicke Kabel mit Freddie verbunden war. Diese Kabel lieferten Strom und konnten im Notfall auch dazu benutzt werden, die Maschine manuell wieder hochzuziehen.
    
  'Wir sind fast da. Oh nein!'
    
  Der Bildschirm zuckte, als der Roboter beinahe umkippte.
    
  'Verdammt! Sei vorsichtig, Tommy!', rief David.
    
  "Beruhig dich, Mann. Diese Räder sind empfindlicher als die Klitoris einer Nonne. Entschuldige die Ausdrucksweise, Miss", sagte Tommy und wandte sich an Andrea. "Mein Mund kommt direkt aus der Bronx."
    
  "Mach dir keine Sorgen. Meine Ohren kommen aus Harlem", sagte Andrea und stimmte dem Witz zu.
    
  "Sie müssen die Situation noch etwas stabilisieren", sagte David.
    
  'Ich versuche es!'
    
  Eichberg drehte vorsichtig das Lenkrad, und der Roboter begann, die unebene Fläche zu überqueren.
    
  "Hast du eine Ahnung, wie weit Freddie gereist ist?", fragte Andrea.
    
  "Etwa zweieinhalb Meter von der Wand entfernt", antwortete David und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Temperatur stieg aufgrund des Generators und der grellen Beleuchtung minütlich an.
    
  'Und das hat er - Moment!'
    
  'Was?'
    
  "Ich glaube, ich habe etwas gesehen", sagte Andrea.
    
  "Bist du sicher? Es ist nicht einfach, das Ruder noch herumzureißen."
    
  "Tommy, bitte geh nach links."
    
  Eichberg blickte Pappas an, der nickte. Das Bild auf dem Bildschirm begann sich langsam zu bewegen und enthüllte eine dunkle, kreisförmige Kontur.
    
  'Geh ein Stück zurück.'
    
  Es erschienen zwei Dreiecke mit dünnen Auswüchsen, eines nebeneinander.
    
  Eine Reihe von zusammengefügten Quadraten.
    
  "Ein bisschen weiter zurück. Du bist zu nah."
    
  Schließlich wurde die Geometrie in etwas Erkennbares verwandelt.
    
  'Oh mein Gott. Es ist ein Totenkopf.'
    
  Andrea blickte Pappas zufrieden an.
    
  "Hier ist die Antwort: So haben sie es geschafft, die Kammer von innen abzudichten, David."
    
  Der Archäologe hörte nicht zu. Er starrte gebannt auf den Bildschirm, murmelte etwas vor sich hin und umklammerte ihn wie ein verrückter Wahrsager, der in eine Kristallkugel blickt. Ein Schweißtropfen rann ihm über die fettige Nase und landete auf dem Bild eines Schädels, wo eigentlich die Wange des Toten hätte sein sollen.
    
  Genau wie eine Träne, dachte Andrea.
    
  "Schnell, Tommy! Geh da drüben drumherum und dann noch ein Stück weiter vorwärts", sagte Pappas mit noch angespannterer Stimme. "Links, Tommy!"
    
  'Ganz ruhig, Baby. Lass uns das in Ruhe angehen. Ich glaube, da ist...'
    
  "Lass mich das machen", sagte David und griff nach den Bedienelementen.
    
  "Was machst du da?", fragte Eichberg wütend. "Verdammt! Lass los!"
    
  Pappas und Eichberg rangen mehrere Sekunden lang um die Kontrolle über das Fahrzeug und lösten dabei das Lenkrad. Davids Gesicht war hochrot, und Eichberg atmete schwer.
    
  "Vorsicht!", schrie Andrea und starrte auf den Bildschirm. Das Bild huschte wild hin und her.
    
  Plötzlich erstarrte er. Eichberg ließ die Steuerung los, und David stürzte rückwärts und schlug mit der Schläfe gegen die Ecke des Monitors. Doch in diesem Moment war er mehr mit dem Gesehenen beschäftigt als mit der Schnittwunde an seinem Kopf.
    
  "Genau das habe ich dir doch versucht zu sagen, Junge", sagte Eichberg. "Der Boden ist uneben."
    
  "Verdammt! Warum hast du nicht losgelassen?", schrie David. "Das Auto hat sich überschlagen."
    
  "Halt einfach den Mund!", schrie Eichberg zurück. "Du bist es, der alles überstürzt."
    
  Andrea schrie die beiden an, sie sollten still sein.
    
  "Hört auf zu streiten! Es ist nicht völlig gescheitert. Seht selbst." Sie zeigte auf den Bildschirm.
    
  Immer noch wütend näherten sich die beiden Männer dem Monitor. Auch Brian Hanley, der nach draußen gegangen war, um Werkzeug zu holen, und sich während des kurzen Kampfes abgeseilt hatte, kam näher.
    
  "Ich denke, wir kriegen das hin", sagte er und betrachtete die Situation. "Wenn wir alle gleichzeitig am Seil ziehen, bekommen wir den Roboter wahrscheinlich wieder auf die Schienen. Wenn wir zu sanft ziehen, schleifen wir ihn nur herum und er bleibt stecken."
    
  "Das wird nicht funktionieren", sagte Pappas. "Wir werden das Kabel herausziehen."
    
  "Wir haben nichts zu verlieren, wenn wir es versuchen, oder?"
    
  Sie stellten sich in einer Reihe auf, jeder hielt das Kabel mit beiden Händen so nah wie möglich am Loch. Hanley zog das Seil straff.
    
  Meine Rechnung ist: Zieh mit aller Kraft! Eins, zwei, drei!
    
  Alle vier zogen gleichzeitig am Kabel. Plötzlich fühlte es sich in ihren Händen zu locker an.
    
  "Verdammt. Wir haben es deaktiviert."
    
  Hanley zog so lange am Seil, bis das Ende sichtbar wurde.
    
  'Stimmt. Verdammt! Tut mir leid, Papa...'
    
  Der junge Archäologe wandte sich verärgert ab, bereit, jeden oder alles, was vor ihm auftauchte, zu verprügeln. Er hob einen Schraubenschlüssel und wollte gerade auf den Monitor einschlagen, vielleicht als Vergeltung für die Schnittwunde, die er zwei Minuten zuvor erlitten hatte.
    
  Doch Andrea kam näher, und dann verstand sie.
    
  NEIN.
    
  Ich kann es nicht fassen.
    
  Weil ich es nie wirklich geglaubt habe, oder? Ich habe nie gedacht, dass es dich geben könnte.
    
  Die Übertragung des Roboters blieb auf dem Bildschirm. Als sie am Kabel zogen, richtete sich Freddy auf, bevor es sich löste. In einer anderen Position, ohne den Schädel im Weg, zeigte das Bild auf dem Bildschirm einen Blitz von etwas, das Andrea zunächst nicht identifizieren konnte. Dann erkannte sie, dass es ein Infrarotstrahl war, der von einer Metalloberfläche reflektiert wurde. Die Reporterin glaubte, die gezackte Kante von etwas zu sehen, das wie ein riesiger Kasten aussah. Oben meinte sie, eine Gestalt zu erkennen, war sich aber nicht sicher.
    
  Der Mann, der sich sicher war, war Pappas, der wie gebannt zusah.
    
  "Es ist da, Professor. Ich habe es gefunden. Ich habe es für Sie gefunden..."
    
  Andrea wandte sich dem Professor zu und machte gedankenverloren ein Foto. Sie wollte seine erste Reaktion festhalten, was auch immer sie sein mochte - Überraschung, Freude, die Erfüllung seiner langen Suche, seine Hingabe und seine emotionale Isolation. Sie machte drei Fotos, bevor sie den alten Mann tatsächlich ansah.
    
  Seine Augen waren ausdruckslos, und nur ein Rinnsal Blut floss aus seinem Mund und seinen Bart hinunter.
    
  Brian rannte auf ihn zu.
    
  'Verdammt! Wir müssen ihn hier rausholen. Er atmet nicht.'
    
    
  67
    
    
    
  UNTERE OSTSEITE
    
  NEW YORK
    
    
  Dezember 1943
    
    
  Yudel war so hungrig, dass er seinen Körper kaum noch spürte. Er irrte nur noch durch die Straßen Manhattans, suchte Zuflucht in Hinterhöfen und Gassen und blieb nie lange an einem Ort. Ständig erschrak er, hörte ein Geräusch, ein Licht oder eine Stimme, und er rannte davon, die zerfetzten Kleider, die er besaß, fest umklammert. Abgesehen von seiner Zeit in Istanbul kannte er nur die Unterkunft, die er mit seiner Familie teilte, und den Laderaum eines Schiffes als Zuhause. Für den Jungen waren das Chaos, der Lärm und die grellen Lichter New Yorks Teil eines beängstigenden Dschungels voller Gefahren. Er trank aus öffentlichen Brunnen. Einmal packte ihn ein betrunkener Bettler am Bein, als er vorbeiging. Später rief ihm ein Polizist um die Ecke zu. Seine Gestalt erinnerte Yudel an das Monster mit der Taschenlampe, das sie gesucht hatte, als sie sich unter der Treppe in Richter Raths Haus versteckt hatten. Er rannte los, um sich zu verstecken.
    
  Am Nachmittag seines dritten Tages in New York ging die Sonne unter, als der erschöpfte Junge in einer schäbigen Gasse nahe der Broome Street auf einen Müllhaufen sank. Über ihm hallten die Wohnräume wider vom Klappern von Töpfen und Pfannen, Streitereien, sexuellen Begegnungen und dem Leben selbst. Yudel muss für einen Moment das Bewusstsein verloren haben. Als er wieder zu sich kam, krabbelte etwas über sein Gesicht. Er wusste, was es war, noch bevor er die Augen öffnete. Die Ratte beachtete ihn nicht. Sie steuerte auf eine umgekippte Mülltonne zu, wo sie den Geruch von trockenem Brot wahrnahm. Es war ein großes Stück, zu schwer zum Tragen, also verschlang die Ratte es gierig.
    
  Yudel kroch zum Mülleimer und griff nach einer Dose; seine Finger zitterten vor Hunger. Er warf sie nach der Ratte und verfehlte sie. Die Ratte blickte ihn kurz an und knabberte dann weiter an dem Brot. Der Junge griff nach dem abgebrochenen Griff seines Regenschirms und schüttelte ihn vor der Ratte, die schließlich davonrannte, um sich eine einfachere Möglichkeit zum Hungerstillen zu suchen.
    
  Der Junge griff nach einem Stück altem Brot. Gierig öffnete er den Mund, schloss ihn dann aber wieder und legte das Brot auf seinen Schoß. Er zog einen schmutzigen Lappen aus seinem Bündel, bedeckte damit seinen Kopf und dankte dem Herrn für das Brot.
    
  "Baruch Atah Adonai, Eloheinu Melech ha-olam, ha motzi lechem min ha-aretz." 10
    
  Einen Augenblick zuvor hatte sich in der Gasse eine Tür geöffnet. Der alte Rabbi hatte, von Yudel unbemerkt, beobachtet, wie der Junge mit der Ratte kämpfte. Als er den Segen über das Brot von den Lippen des hungernden Kindes hörte, rann ihm eine Träne über die Wange. So etwas hatte er noch nie gesehen. In diesem Glauben gab es keine Verzweiflung, keinen Zweifel.
    
  Der Rabbi starrte das Kind lange an. Seine Synagoge war sehr arm, und er konnte kaum genug Geld auftreiben, um sie offen zu halten. Deshalb verstand selbst er seine Entscheidung nicht.
    
  Nachdem Yudel das Brot gegessen hatte, schlief er augenblicklich inmitten des verrottenden Mülls ein. Er wachte erst wieder auf, als der Rabbi ihn vorsichtig hochhob und in die Synagoge trug.
    
  Der alte Ofen wird die Kälte noch ein paar Nächte halten. Dann werden wir sehen, dachte der Rabbi.
    
  Während er dem Jungen die schmutzigen Kleider auszog und ihn mit seiner einzigen Decke zudeckte, fand der Rabbiner die blaugrüne Karte, die die Beamten Yudel auf Ellis Island gegeben hatten. Auf der Karte war der Junge als Raymond Kane ausgewiesen, seine Familie lebte in Manhattan. Er fand außerdem einen Umschlag mit folgendem hebräischen Text:
    
  Für meinen Sohn, Yudel Cohen
    
  Wird erst bei deiner Bar Mitzwa im November 1951 vorgelesen.
    
    
  Der Rabbi öffnete den Umschlag in der Hoffnung, darin einen Hinweis auf die Identität des Jungen zu finden. Was er las, schockierte und verwirrte ihn, doch es bestätigte seine Überzeugung, dass der Allmächtige den Jungen zu ihm geführt hatte.
    
  Draußen begann es heftig zu schneien.
    
    
  68
    
    
    
  Brief von Joseph Cohen an seinen Sohn Yudel
    
  Vene,
    
  Dienstag, 9. Februar 1943
    
  Lieber Yudel,
    
  Ich schreibe diese hastig verfassten Zeilen in der Hoffnung, dass die Zuneigung, die wir für dich empfinden, die Leere füllen kann, die die Eile und Unerfahrenheit deines Briefpartners hinterlassen haben. Ich war nie jemand, der viele Gefühle zeigte, wie deine Mutter nur allzu gut weiß. Seit deiner Geburt hat die erzwungene Nähe des Raumes, in dem wir eingesperrt waren, an meinem Herzen genagt. Es betrübt mich, dass ich dich nie in der Sonne spielen gesehen habe und es auch nie sehen werde. Der Ewige hat uns im Schmelztiegel einer Prüfung geformt, die sich als zu schwer für uns erwies. Es liegt an dir, das zu vollbringen, was wir nicht konnten.
    
  In wenigen Minuten brechen wir auf, um deinen Bruder zu suchen, und werden nicht zurückkehren. Deine Mutter ist unvernünftig, und ich kann sie nicht allein dorthin gehen lassen. Mir ist bewusst, dass ich dem sicheren Tod entgegengehe. Wenn du diesen Brief liest, bist du dreizehn Jahre alt. Du wirst dich fragen, welcher Wahnsinn deine Eltern dazu trieb, direkt in die Arme des Feindes zu laufen. Ein Grund für diesen Brief ist, dass ich selbst die Antwort auf diese Frage finden möchte. Wenn du erwachsen bist, wirst du wissen, dass es Dinge gibt, die wir tun müssen, selbst wenn wir wissen, dass das Ergebnis gegen uns sein könnte.
    
  Die Zeit drängt, aber ich muss dir etwas sehr Wichtiges sagen. Seit Jahrhunderten hüten Mitglieder unserer Familie einen heiligen Gegenstand. Es ist die Kerze, die bei deiner Geburt da war. Durch einen unglücklichen Zufall ist sie nun das Einzige, was wir noch besitzen, und deshalb zwingt mich deine Mutter, sie zu riskieren, um deinen Bruder zu retten. Es wird ein Opfer sein, so sinnlos wie unser eigenes Leben. Aber es macht mir nichts aus. Ich hätte das nicht getan, wenn du nicht zurückgelassen worden wärst. Ich glaube an dich. Ich wünschte, ich könnte dir erklären, warum diese Kerze so wichtig ist, aber die Wahrheit ist, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es meine Aufgabe war, ihn zu beschützen, eine Aufgabe, die seit Generationen vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde, und eine Aufgabe, in der ich versagt habe, wie in so vielen Bereichen meines Lebens.
    
  Finde die Kerze, Yudel. Wir geben sie dem Arzt, der deinen Bruder im Kinderkrankenhaus Am Spiegelgrund behandelt. Wenn das wenigstens dazu beiträgt, die Freiheit deines Bruders zu erkaufen, könnt ihr gemeinsam danach suchen. Wenn nicht, bete ich zum Allmächtigen, dass er dich beschützt und dass der Krieg endlich vorbei ist, wenn du das hier liest.
    
  Da ist noch etwas. Von dem großen Erbe, das für dich und Elan bestimmt war, ist nur noch sehr wenig übrig. Die Fabriken unserer Familie sind in Nazihand. Auch unsere Bankkonten in Österreich wurden beschlagnahmt. Unsere Wohnungen brannten in der Reichspogromnacht nieder. Aber zum Glück können wir euch etwas hinterlassen. Wir hatten immer einen Familiennotfallfonds auf einem Schweizer Konto. Wir haben ihn nach und nach aufgestockt, indem wir alle zwei bis drei Monate verreisten, auch wenn wir nur ein paar hundert Schweizer Franken mitnahmen. Deine Mutter und ich genossen unsere kleinen Ausflüge und verbrachten oft Wochenenden dort. Es ist kein Vermögen, etwa 50.000 Mark, aber es wird dir bei deiner Ausbildung und dem Berufseinstieg helfen, wo auch immer du sein wirst. Das Geld ist auf ein Nummernkonto bei der Credit Suisse eingezahlt, Kontonummer 336923348927R, auf meinen Namen. Der Bankberater wird nach dem Passwort fragen. Es lautet "Perpignan".
    
  Das ist alles. Verrichte täglich deine Gebete und verliere das Licht der Tora nicht aus den Augen. Ehre stets dein Zuhause und dein Volk.
    
  Gepriesen sei der Ewige, unser einziger Gott, die allgegenwärtige Gegenwart, der wahre Richter. Er gebietet mir, und ich gebiete euch. Möge er euch beschützen!
    
  Dein Vater,
    
  Joseph Cohen
    
    
  69
    
    
    
  HACAN
    
  Er hatte sich so lange zurückgehalten, dass er, als sie ihn endlich fanden, nur noch Angst empfand. Doch dann wich die Angst der Erleichterung, der Erleichterung darüber, dass er diese schreckliche Maske endlich ablegen konnte.
    
  Es sollte am nächsten Morgen passieren. Alle würden im Speisezelt frühstücken. Niemand würde etwas ahnen.
    
  Vor zehn Minuten war er unter die Plattform des Speisezeltes gekrochen und hatte es aufgebaut. Es war ein simples, aber unglaublich wirkungsvolles Gerät, perfekt getarnt. Sie wären darüber gewesen, ohne etwas zu ahnen. Eine Minute später müssten sie sich vor Allah verantworten.
    
  Er war sich nicht sicher, ob er nach der Explosion das Signal geben sollte. Die Brüder würden kommen und die überheblichen kleinen Soldaten vernichten. Diejenigen, die überlebt hatten, natürlich.
    
  Er beschloss, noch ein paar Stunden zu warten. Er würde ihnen Zeit geben, ihre Arbeit zu beenden. Es gab keine andere Möglichkeit und keinen Ausweg.
    
  Er dachte an die Buschmänner. Der Affe hatte das Wasser gefunden, aber es noch nicht zurückgebracht...
    
    
  70
    
    
    
  TURM VON KAIN
    
  NEW YORK
    
    
  Mittwoch, 19. Juli 2006, 23:22 Uhr.
    
    
  "Dir auch, Kumpel", sagte der dünne, blonde Klempner. "Ist mir egal. Ich werde bezahlt, ob ich arbeite oder nicht."
    
  "Amen", stimmte der korpulente Klempner mit dem Pferdeschwanz zu. Seine orangefarbene Uniform saß so eng, dass sie hinten fast zu platzen schien.
    
  "Vielleicht ist das so besser", sagte der Wachmann und stimmte ihnen zu. "Kommt morgen wieder, und dann ist Ruhe. Macht mir nicht das Leben schwerer. Zwei meiner Männer sind krankgeschrieben, und ich kann niemanden abstellen, der auf euch aufpasst. Hier die Regeln: Keine Nanny, kein Fremdpersonal nach 20 Uhr."
    
  "Sie können sich gar nicht vorstellen, wie dankbar wir sind", sagte der blonde Mann. "Hoffentlich kümmert sich die nächste Schicht um das Problem. Ich habe keine Lust, geplatzte Rohre zu reparieren."
    
  'Was? Moment, Moment', sagte der Wachmann. 'Wovon reden Sie, von einem Rohrbruch?'
    
  "Das ist alles. Sie haben versagt. Dasselbe ist bei Saatchi passiert. Wer hat das verantwortet, Benny?"
    
  "Ich glaube, es war Louie Pigtails", sagte der dicke Mann.
    
  "Ein toller Kerl, Louis. Gott segne ihn."
    
  "Amen. Nun, bis später, Sergeant. Gute Nacht."
    
  'Sollen wir zu Spinato gehen, Freund?'
    
  Verrichten Bären ihre Notdurft im Wald?
    
  Die beiden Klempner packten ihre Ausrüstung zusammen und gingen zum Ausgang.
    
  "Moment", sagte der Wachmann, immer besorgter. "Was ist mit Louie Pigtails passiert?"
    
  "Weißt du, er hatte mal so einen Notfall. Eines Nachts kam er wegen eines Alarms oder so nicht ins Gebäude. Jedenfalls stieg der Druck in den Abflussrohren, und die fingen an zu platzen, und, weißt du, überall war Scheiße, einfach überall."
    
  'Ja... wie das verdammte Vietnam.'
    
  'Alter, du warst nie in Vietnam, oder? Mein Vater war dort.'
    
  "Dein Vater war in den Siebzigern high."
    
  "Das Schlimme ist, aus Louis mit Zöpfen ist jetzt der kahlköpfige Louis. Stellt euch mal vor, was für eine beschissene Szene das war. Hoffentlich ist da oben nichts Wertvolles, denn morgen wird alles ein beschissenes Braun sein."
    
  Der Wachmann warf erneut einen Blick auf den zentralen Monitor in der Lobby. Die Notleuchte in Zimmer 328E blinkte ununterbrochen gelb und signalisierte ein Problem mit der Wasser- oder Gasleitung. Das Gebäude war so intelligent, dass es einem sogar meldete, wenn sich die Schnürsenkel gelöst hatten.
    
  Er überprüfte das Verzeichnis, um den Standort von 328E zu ermitteln. Als er erkannte, wo es sich befand, wurde er kreidebleich.
    
  "Verdammt, das ist der Sitzungssaal im 38. Stock."
    
  "Schlechtes Geschäft, was, Kumpel?", sagte der dicke Klempner. "Ich bin mir sicher, es ist voll mit Ledermöbeln und Van Gongs."
    
  'Van Gogh? Was soll der Quatsch! Du hast ja gar keine Kultur. Das ist Van Gogh. Mein Gott. Du weißt schon.'
    
  "Ich weiß, wer er ist. Ein italienischer Künstler."
    
  "Van Gogh war Deutscher, und du bist ein Idiot. Lass uns aufteilen und zu Spinato"s gehen, bevor sie schließen. Ich verhungere hier."
    
  Der Wächter, der ein Kunstliebhaber war, machte sich nicht die Mühe, darauf zu bestehen, dass Van Gogh eigentlich Holländer war, denn in diesem Moment erinnerte er sich, dass tatsächlich ein Gemälde von Zann im Besprechungsraum hing.
    
  "Leute, wartet mal kurz", sagte er, trat hinter dem Empfangstresen hervor und rannte den Klempnern hinterher. "Lasst uns darüber reden ..."
    
    
  Orville ließ sich im Konferenzraum in den Präsidentensessel fallen, einen Stuhl, den sein Besitzer selten benutzte. Er dachte, er könnte dort, umgeben von der Mahagonivertäfelung, ein Nickerchen machen. Kaum hatte er sich vom Adrenalinschub seiner Rede vor dem Wachmann des Gebäudes erholt, überkam ihn erneut die Müdigkeit und der Schmerz in seinen Armen.
    
  "Verdammt, ich dachte, er würde nie gehen."
    
  "Du hast den Kerl super überzeugt, Orville. Glückwunsch", sagte Albert und zog das oberste Fach seines Werkzeugkastens heraus, aus dem er einen Laptop holte.
    
  "Es ist eigentlich ganz einfach, hier reinzukommen", sagte Orville und zog die riesigen Handschuhe an, die seine bandagierten Hände bedeckten. "Gut, dass du mir den Code eingeben konntest."
    
  "Los geht"s. Ich glaube, wir haben noch etwa eine halbe Stunde, bevor sie jemanden schicken, um uns zu kontrollieren. Wenn wir es dann nicht schaffen, reinzukommen, haben wir noch ungefähr fünf Minuten, bevor sie uns erreichen. Zeig mir den Weg, Orville."
    
  Das erste Bedienfeld war einfach. Das System war so programmiert, dass es nur die Handabdrücke von Raymond Kane und Jacob Russell erkannte. Es wies jedoch einen Fehler auf, der allen Systemen mit elektronischen Codes und hohem Informationsbedarf gemein ist. Ein vollständiger Handabdruck erfordert in der Tat eine enorme Datenmenge. Nach Ansicht des Experten war der Fehler im Systemspeicher leicht zu finden.
    
  'Peng, bam, da kommt der erste', sagte Albert und klappte den Laptop zu, als ein orangefarbenes Licht auf dem schwarzen Bildschirm aufblitzte und die schwere Tür summend aufging.
    
  "Albert ... Sie werden merken, dass etwas nicht stimmt", sagte Orville und deutete auf die Stelle um die Platte herum, wo der Priester mit einem Schraubenzieher die Abdeckung aufgehebelt hatte, um an die Schaltkreise des Systems zu gelangen. Das Holz war nun rissig und splitterte.
    
  "Ich rechne damit."
    
  "Das ist doch nicht dein Ernst!"
    
  "Vertrau mir, ja?", sagte der Priester und griff in seine Tasche.
    
  Das Handy klingelte.
    
  'Meinst du, es ist eine gute Idee, jetzt ans Telefon zu gehen?', fragte Orville.
    
  "Einverstanden", sagte der Priester. "Hallo, Anthony. Wir sind drinnen. Rufen Sie mich in zwanzig Minuten an." Er legte auf.
    
  Orville stieß die Tür auf und sie betraten einen schmalen, mit Teppich ausgelegten Korridor, der zu Cains privatem Aufzug führte.
    
  "Ich frage mich, welches Trauma ein Mensch erlebt haben muss, um sich hinter so vielen Mauern einzuschließen", sagte Albert.
    
    
  71
    
    
    
  Eine MP3-Datei, die von der jordanischen Wüstenpolizei nach dem Unglück der Moses-Expedition auf dem digitalen Aufnahmegerät von Andrea Otero gefunden wurde.
    
  FRAGE: Herr Kane, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und Geduld. Dies erweist sich als äußerst schwierige Aufgabe. Ich weiß es sehr zu schätzen, wie Sie die schmerzlichsten Details Ihres Lebens mit mir geteilt haben, wie Ihre Flucht vor den Nazis und Ihre Ankunft in den Vereinigten Staaten. Diese Ereignisse verleihen Ihrer öffentlichen Person eine tiefe menschliche Dimension.
    
    
  ANTWORT: Meine liebe junge Dame, es ist nicht Ihre Art, um den heißen Brei herumzureden, bevor Sie mich fragen, was Sie wissen möchten.
    
    
  F: Toll, es scheint, als ob mir jeder Ratschläge gibt, wie ich meine Arbeit machen soll.
    
    
  A: Es tut mir leid. Bitte fahren Sie fort.
    
    
  Frage: Herr Kane, ich verstehe, dass Ihre Krankheit, Ihre Agoraphobie, durch schmerzhafte Ereignisse in Ihrer Kindheit verursacht wurde.
    
    
  A: Das glauben die Ärzte.
    
    
  Frage: Fahren wir in chronologischer Reihenfolge fort, auch wenn wir die Reihenfolge für die Radiosendung des Interviews eventuell anpassen müssen. Sie lebten bis zu Ihrer Volljährigkeit bei Rabbi Menachem Ben-Shlomo.
    
    
  A: Das stimmt. Der Rabbi war wie ein Vater für mich. Er hat mich versorgt, selbst als er selbst hungern musste. Er gab mir einen Sinn im Leben, damit ich die Kraft fand, meine Ängste zu überwinden. Es dauerte über vier Jahre, bis ich wieder unter Leute gehen konnte.
    
    
  Frage: Das war eine beachtliche Leistung. Ein Kind, das nicht einmal einem anderen Menschen in die Augen sehen konnte, ohne in Panik zu geraten, wurde einer der größten Ingenieure der Welt...
    
    
  A: Das alles ist nur dank der Liebe und des Glaubens von Rabbi Ben-Shlomo geschehen. Ich danke dem Allerbarmenden, dass er mich in die Hände eines so großartigen Mannes geführt hat.
    
    
  Frage: Dann wurden Sie Multimillionär und schließlich Philanthrop.
    
    
  A: Ich möchte den letzten Punkt lieber nicht besprechen. Es fällt mir schwer, über meine ehrenamtliche Arbeit zu sprechen. Ich habe immer das Gefühl, dass sie nie genug ist.
    
    
  F: Kommen wir zurück zur letzten Frage. Wann wurde Ihnen klar, dass Sie ein normales Leben führen konnten?
    
    
  A: Niemals. Ich leide schon mein ganzes Leben unter dieser Krankheit, meine Liebe. Es gibt gute und schlechte Tage.
    
    
  Frage: Sie führen Ihr Unternehmen mit eiserner Hand, und es zählt zu den Top 50 der Fortune-500-Unternehmen. Man kann wohl sagen, dass es mehr gute als schlechte Tage gab. Sie haben außerdem geheiratet und einen Sohn bekommen.
    
    
  A: Das stimmt, aber ich möchte lieber nicht über mein Privatleben sprechen.
    
    
  Frage: Ihre Frau hat Sie verlassen und lebt nun in Israel. Sie ist Künstlerin.
    
    
  A: Sie hat einige sehr schöne Bilder gemalt, das kann ich Ihnen versichern.
    
  Frage: Was ist mit Isaak?
    
    
  A: Er... war großartig. Etwas Besonderes.
    
    
  Frage: Herr Kane, ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen schwerfällt, über Ihren Sohn zu sprechen, aber dies ist ein wichtiger Punkt, und ich möchte darauf zurückkommen. Besonders angesichts Ihres Gesichtsausdrucks. Es ist deutlich zu sehen, wie sehr Sie ihn geliebt haben.
    
    
  A: Wissen Sie, wie er gestorben ist?
    
    
  Frage: Ich weiß, dass er eines der Opfer des Anschlags auf die Twin Towers war. Und nach vierzehn, fast fünfzehn Stunden Interviews habe ich verstanden, dass sein Tod den Rückfall Ihrer Krankheit ausgelöst hat.
    
    
  A: Ich werde Jacob jetzt hereinbitten. Sie sollen bitte gehen.
    
    
  Frage: Herr Kane, ich glaube, tief in Ihrem Inneren möchten Sie darüber sprechen; Sie müssen es. Ich werde Sie jetzt nicht mit billiger Psychologie überhäufen. Aber tun Sie, was Sie für richtig halten.
    
    
  A: Schalten Sie Ihr Tonbandgerät aus, junge Dame. Ich muss nachdenken.
    
    
  Frage: Herr Kane, vielen Dank, dass Sie das Interview fortsetzen. Wann werden Sie bereit sein...
    
    
  A: Isaac war alles für mich. Er war groß, schlank und sehr gutaussehend. Schau dir sein Foto an.
    
    
  Frage: Er hat ein nettes Lächeln.
    
    
  A: Ich glaube, er hätte Ihnen gefallen. Tatsächlich war er Ihnen sehr ähnlich. Er bat lieber um Verzeihung als um Erlaubnis. Er besaß die Kraft und Energie eines Atomreaktors. Und alles, was er erreichte, hat er sich selbst erarbeitet.
    
    
  F: Bei allem Respekt, es fällt mir schwer, einer solchen Aussage über eine Person zuzustimmen, die dazu geboren wurde, ein solches Vermögen zu erben.
    
    
  A: Was soll ein Vater da sagen? Gott sagte dem Propheten David, dass er für immer sein Sohn sein würde. Nach solch einem Liebesbeweis... Aber ich sehe, du willst mich nur provozieren.
    
    
  F: Verzeihen Sie mir.
    
    
  A: Isaac hatte viele Fehler, aber den einfachen Weg zu wählen, gehörte nicht dazu. Er hatte nie Bedenken, gegen meine Wünsche zu handeln. Er ging nach Oxford, eine Universität, zu der ich nichts beigetragen habe.
    
    
  Frage: Und dort traf er Herrn Russell, ist das richtig?
    
    
  A: Sie studierten gemeinsam Makroökonomie, und nachdem Jacob seinen Abschluss gemacht hatte, empfahl Isaac ihn mir. Mit der Zeit wurde Jacob mein engster Mitarbeiter.
    
    
  Frage: Welche Position sollte Isaac Ihrer Meinung nach einnehmen?
    
    
  A: Und das hätte er niemals akzeptiert. Als er noch sehr jung war... [unterdrückt ein Schluchzen]
    
    
  Frage: Wir setzen nun das Interview fort.
    
  A: Danke. Verzeihen Sie mir, dass ich bei der Erinnerung so emotional werde. Er war noch ein Kind, nicht älter als elf. Eines Tages kam er mit einem Hund nach Hause, den er auf der Straße gefunden hatte. Ich war sehr wütend. Ich mag keine Tiere. Mögen Sie denn Hunde, mein Schatz?
    
    
  Frage: Super Angebot.
    
    
  A: Tja, dann hättest du es sehen sollen. Es war ein hässliches, dreckiges Mischlingchen mit nur drei Beinen. Es sah aus, als wäre es schon jahrelang auf der Straße gewesen. Das einzig Vernünftige, was man mit so einem Tier tun konnte, war, es zum Tierarzt zu bringen und sein Leiden zu beenden. Das sagte ich zu Isaak. Er sah mich an und antwortete: "Du wurdest auch von der Straße aufgelesen, Vater. Meinst du, der Rabbi hätte dich von deinem Elend erlösen sollen?"
    
  Frage: Oh!
    
    
  A: Ich war innerlich geschockt, eine Mischung aus Angst und Stolz. Dieses Kind war mein Sohn! Ich erlaubte ihm, den Hund zu behalten, wenn er die Verantwortung für ihn übernehmen würde. Und das tat er. Das Tier lebte noch vier Jahre.
    
    
  F: Ich glaube, ich habe verstanden, was Sie vorhin gesagt haben.
    
    
  A: Schon als Junge wusste mein Sohn, dass er nicht in meinem Schatten stehen wollte. An seinem letzten Tag hatte er ein Vorstellungsgespräch bei Cantor Fitzgerald. Er befand sich im 104. Stock des Nordturms.
    
    
  Frage: Möchten Sie eine kurze Pause einlegen?
    
    
  A: Nichtgedeiget. Mir geht's gut, Schatz. Isaac hat mich am Dienstagmorgen angerufen. Ich habe gerade die Nachrichten auf CNN verfolgt. Ich hatte das ganze Wochenende nicht mit ihm gesprochen, deshalb kam mir gar nicht in den Sinn, dass er dort sein könnte.
    
    
  Frage: Bitte trinken Sie etwas Wasser.
    
    
  A: Ich nahm den Hörer ab. Er sagte: "Papa, ich bin im World Trade Center. Es gab eine Explosion. Ich habe furchtbare Angst." Ich sprang auf. Ich stand unter Schock. Ich glaube, ich habe ihn angeschrien. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Er sagte: "Ich versuche dich schon seit zehn Minuten anzurufen. Das Netz ist bestimmt überlastet. Papa, ich hab dich lieb." Ich sagte ihm, er solle ruhig bleiben, ich würde die Polizei rufen. Wir würden ihn da rausholen. "Wir können nicht die Treppe runter, Papa. Der Boden unter uns ist eingestürzt, und das Feuer breitet sich im Gebäude aus. Es ist brütend heiß. Ich will ..." Und das war"s. Er war vierundzwanzig Jahre alt. [Lange Pause.] Ich starrte auf das Telefon und strich mit den Fingerspitzen darüber. Ich verstand nichts. Die Verbindung war abgebrochen. Ich glaube, mein Gehirn hat in diesem Moment einen Kurzschluss erlitten. Der Rest des Tages ist wie ausgelöscht.
    
    
  Frage: Hast du sonst nichts gelernt?
    
    
  A: Ich wünschte, es wäre so gewesen. Am nächsten Tag schlug ich die Zeitungen auf und suchte nach Nachrichten über Überlebende. Da sah ich sein Bild. Da war er, in der Luft, frei. Er war gesprungen.
    
    
  Frage: Oh mein Gott. Es tut mir so leid, Mr. Kane.
    
  A: So bin ich nicht. Die Flammen und die Hitze müssen unerträglich gewesen sein. Er fand die Kraft, die Fenster einzuschlagen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Vielleicht war es sein Schicksal, an diesem Tag zu sterben, aber niemand sollte ihm vorschreiben, wie. Er nahm sein Schicksal an wie ein Mann. Er starb stark, fliegend, Herr der zehn Sekunden, die er in der Luft war. Die Pläne, die ich all die Jahre für ihn geschmiedet hatte, waren damit zunichte.
    
    
  F: Oh mein Gott, das ist ja furchtbar.
    
    
  A: Es wäre alles für ihn. Alles.
    
    
  72
    
    
    
  TURM VON KAIN
    
  NEW YORK
    
    
  Mittwoch, 19. Juli 2006, 23:39 Uhr.
    
    
  "Bist du sicher, dass du dich an nichts erinnerst?"
    
  "Ich sag"s Ihnen. Er hat mich gezwungen, mich umzudrehen, und dann ein paar Nummern gewählt."
    
  "So kann es nicht weitergehen. Es sind noch etwa sechzig Prozent der Kombinationen offen. Sie müssen mir irgendetwas geben. Irgendetwas."
    
  Sie befanden sich in der Nähe der Aufzugtüren. Diese Diskussionsgruppe war deutlich komplexer als die vorherige. Anders als das per Handabdruck gesteuerte Bedienfeld verfügte dieses über ein einfaches numerisches Tastenfeld, ähnlich einem Geldautomaten, und es war praktisch unmöglich, eine kurze Zahlenfolge aus einem größeren Speicher zu extrahieren. Um die Aufzugtüren zu öffnen, schloss Albert ein langes, dickes Kabel an das Bedienfeld an, in der Absicht, den Code mit einer simplen, aber brutalen Methode zu knacken. Im weitesten Sinne bedeutete dies, den Computer zu zwingen, jede mögliche Kombination auszuprobieren, von Nullen bis Neunen, was eine ganze Weile dauern konnte.
    
  "Wir haben drei Minuten, um in diesen Aufzug zu gelangen. Der Computer benötigt mindestens weitere sechs Minuten, um die zwanzigstellige Sequenz zu scannen. Vorausgesetzt, er stürzt in der Zwischenzeit nicht ab, da ich seine gesamte Rechenleistung auf das Entschlüsselungsprogramm umgeleitet habe."
    
  Der Laptop-Lüfter machte einen höllischen Lärm, wie hundert Bienen, die in einem Schuhkarton gefangen sind.
    
  Orville versuchte sich zu erinnern. Er drehte sich zur Wand und blickte auf seine Uhr. Nicht mehr als drei Sekunden waren vergangen.
    
  "Ich werde es auf zehn Ziffern beschränken", sagte Albert.
    
  "Bist du sicher?", fragte Orville und drehte sich um.
    
  "Absolut. Ich glaube, wir haben keine andere Wahl."
    
  'Wie lange wird es dauern?'
    
  "Vier Minuten", sagte Albert und kratzte sich nervös am Kinn. "Hoffentlich ist das nicht die letzte Kombination, die er versucht, denn ich höre sie schon kommen."
    
  Am anderen Ende des Korridors hämmerte jemand gegen die Tür.
    
    
  73
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli, 6:39 Uhr.
    
    
  Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft im Talon Canyon acht Tage zuvor schliefen die meisten Expeditionsmitglieder bei Tagesanbruch. Fünf von ihnen, begraben unter fast zwei Metern Sand und Gestein, sollten nie wieder erwachen.
    
  Andere zitterten in der Morgenkälte unter ihren Tarndecken. Sie starrten auf das, was der Horizont hätte sein sollen, und warteten auf den Sonnenaufgang, der die kühle Luft in eine Hölle verwandeln würde - an dem Tag, der der heißeste Tag eines jordanischen Sommers seit fünfundvierzig Jahren werden sollte. Hin und wieder nickten sie unsicher, und das allein ängstigte sie. Für jeden Soldaten ist die Nachtwache die härteste; und für einen, der Blut an den Händen hat, ist es die Zeit, in der die Geister derer, die er getötet hat, ihm ins Ohr flüstern könnten.
    
  Auf halbem Weg zwischen den fünf Campern unter Tage und den drei Wachen auf der Klippe drehten sich fünfzehn Personen in ihren Schlafsäcken um; vielleicht hatten sie das Horn verpasst, mit dem Professor Forrester sie vor Tagesanbruch geweckt hatte. Die Sonne ging um 5:33 Uhr auf und wurde von Stille begrüßt.
    
  Gegen 6:15 Uhr, etwa zur gleichen Zeit, als Orville Watson und Pater Albert die Lobby des Kine Tower betraten, erwachte als erstes Mitglied der Expedition Koch Nuri Zayit. Er stupste seine Assistentin Rani an und ging nach draußen. Sobald er das Speisezelt erreicht hatte, begann er, Instantkaffee mit Kondensmilch statt Wasser zuzubereiten. Es gab nicht mehr viele Milch- oder Saftpackungen, da die Leute diese tranken, um den Wassermangel auszugleichen, und es gab kein Obst. Dem Koch blieb also nichts anderes übrig, als Omeletts und Rührei zuzubereiten. Der alte Stumme steckte all seine Kraft und eine Handvoll der letzten Petersilie in das Essen und kommunizierte, wie immer, durch seine Kochkünste.
    
  Im Krankenzelt löste sich Harel aus Andreas Umarmung und ging zu Professor Forester. Der alte Mann war an eine Sauerstoffmaske angeschlossen, doch sein Zustand hatte sich verschlechtert. Der Arzt bezweifelte, dass er die Nacht überleben würde. Harel schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben, und weckte Andrea mit einem Kuss. Während sie sich zärtlich berührten und sich unterhielten, wurde ihnen beiden klar, dass sie sich verliebten. Schließlich zogen sie sich an und gingen zum Frühstück in den Speisesaal.
    
  Fowler, der nun nur noch mit Pappas in einem Zelt schlief, begann seinen Tag wider besseres Wissen und beging einen Fehler. In der Annahme, alle Soldaten im Zelt schliefen, schlich er hinaus und rief Albert über das Satellitentelefon an. Ein junger Priester meldete sich und bat ihn ungeduldig, in zwanzig Minuten zurückzurufen. Fowler legte auf, erleichtert, dass das Gespräch so kurz gewesen war, aber besorgt, dass er sein Glück so bald wieder versuchen müsse.
    
  David Pappas wachte kurz vor halb sieben auf und besuchte Professor Forrester in der Hoffnung, sich besser zu fühlen, aber auch, die Schuldgefühle abzuschütteln, die ihn nach dem Traum der vorangegangenen Nacht plagten, in dem er der einzige noch lebende Archäologe war, als die Bundeslade endlich das Tageslicht erblickte.
    
  Im Zelt des Soldaten deckte Marla Jackson ihren Kommandanten und Geliebten mit ihrer Matratze zu - sie schliefen während ihrer Einsätze nie zusammen, schlichen sich aber gelegentlich gemeinsam auf "Aufklärungsmissionen" hinaus. Sie fragte sich, was der Südafrikaner wohl dachte.
    
  Decker gehörte zu denen, für die der Morgengrauen den Hauch der Toten mit sich brachte und ihm die Nackenhaare aufstellte. In einem kurzen Moment der Wachheit zwischen zwei aufeinanderfolgenden Albträumen glaubte er, ein Signal auf dem Bildschirm des Frequenzscanners zu erkennen, doch es war zu schnell, um dessen Ursprung zu bestimmen. Plötzlich sprang er auf und begann, Befehle zu erteilen.
    
  In Raymond Cains Zelt breitete Russell die Kleidung seines Chefs aus und drängte ihn, wenigstens die rote Pille zu nehmen. Widerwillig willigte Cain ein und spuckte sie aus, als Russell nicht hinsah. Er fühlte sich seltsam ruhig. Endlich würde sich das Ziel seiner 68 Lebensjahre erfüllen.
    
  In einem bescheideneren Zelt steckte sich Tommy Eichberg unauffällig den Finger in die Nase, kratzte sich am Hintern und ging ins Badezimmer, um Brian Hanley zu suchen. Er brauchte dessen Hilfe, um ein Ersatzteil für den Bohrer zu reparieren. Sie mussten zwar zweieinhalb Meter Felswand durchbohren, aber wenn sie von oben bohrten, konnten sie den Druck etwas verringern und die Steine dann von Hand entfernen. Wenn sie schnell arbeiteten, könnten sie in sechs Stunden fertig sein. Natürlich half es nicht, dass Hanley nirgends zu sehen war.
    
  Hookan warf einen Blick auf seine Uhr. In der vergangenen Woche hatte er den besten Platz ausfindig gemacht, von dem aus man das gesamte Gebiet überblicken konnte. Nun wartete er darauf, dass sich die Soldaten umzogen. Das Warten gefiel ihm gut. Er hatte sein ganzes Leben lang gewartet.
    
    
  74
    
    
    
  TURM VON KAIN
    
  NEW YORK
    
    
  Mittwoch, 19. Juli 2006, 11:41 Uhr.
    
    
  7456898123
    
  Der Computer fand den Code in genau zwei Minuten und 43 Sekunden. Das war ein Glücksfall, denn Albert hatte die Ankunftszeit der Wachen falsch eingeschätzt. Die Tür am Ende des Korridors öffnete sich fast gleichzeitig mit der Aufzugstür.
    
  'Halt das!'
    
  Zwei Wachmänner und ein Polizist betraten stirnrunzelnd den Korridor, die Pistolen im Anschlag. Sie waren von dem ganzen Tumult alles andere als begeistert. Albert und Orville stürmten in den Aufzug. Sie hörten Schritte auf dem Teppich und sahen eine ausgestreckte Hand, die versuchte, den Aufzug anzuhalten. Sie verfehlte ihn nur um Haaresbreite.
    
  Die Tür knarrend schloss sie. Draußen konnten sie die gedämpften Stimmen der Wachen erkennen.
    
  "Wie öffnet man das Ding?", fragte der Polizist.
    
  "Sie kommen nicht weit. Dieser Aufzug benötigt einen Spezialschlüssel. Ohne ihn kommt niemand hinein."
    
  'Aktivieren Sie das Notrufsystem, von dem Sie mir erzählt haben.'
    
  'Jawohl, Sir. Sofort. Das wird ein Kinderspiel sein.'
    
  Orville spürte sein Herz rasen, als er sich zu Albert umdrehte.
    
  'Verdammt, sie kriegen uns!'
    
  Der Priester lächelte.
    
  "Was zum Teufel ist los mit dir? Denk dir irgendwas aus!", zischte Orville.
    
  "Ich habe bereits einen. Als wir uns heute Morgen in das Computersystem des Kayn Tower einloggten, war es unmöglich, auf den elektronischen Schlüssel zuzugreifen, der die Aufzugstüren öffnet."
    
  "Verdammt unmöglich", stimmte Orville zu, der es nicht mochte, geschlagen zu werden, aber in diesem Fall stand er der Mutter aller Firewalls gegenüber.
    
  "Du magst ein großartiger Spion sein und kennst sicherlich ein paar Tricks ... aber dir fehlt etwas, das ein großartiger Hacker braucht: Querdenken", sagte Albert. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, als würde er in seinem Wohnzimmer entspannen. "Wenn die Türen verschlossen sind, benutzt man die Fenster. Oder in diesem Fall ändert man die Reihenfolge, die die Position des Aufzugs und die Reihenfolge der Stockwerke bestimmt. Ein einfacher Schritt, der nicht blockiert war. Jetzt denkt der Kayn-Computer, der Aufzug befinde sich im 39. Stock statt im 38.."
    
  "Na und?", fragte Orville, leicht genervt von der Prahlerei des Priesters, aber auch neugierig.
    
  "Nun, mein Freund, in einer solchen Situation sorgen alle Notfallsysteme dieser Stadt dafür, dass die Aufzüge bis zum letzten verfügbaren Stockwerk fahren und dann die Türen öffnen."
    
  In diesem Moment, nach einem kurzen Ruck, setzte sich der Aufzug in Bewegung. Draußen hörten sie die Schreie der schockierten Wachen.
    
  "Oben ist unten und unten ist oben", sagte Orville und klatschte in die Hände, während eine Wolke aus Minzdesinfektionsmittel einströmte. "Du bist ein Genie."
    
    
  75
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 6:43 Uhr.
    
    
  Fowler war nicht bereit, Andreas Leben erneut zu riskieren. Die Benutzung eines Satellitentelefons ohne jegliche Vorsichtsmaßnahmen war Wahnsinn.
    
  Es ergab für jemanden mit seiner Erfahrung keinen Sinn, denselben Fehler zweimal zu begehen. Dies wäre bereits das dritte Mal.
    
  Das erste Mal war es in der Nacht zuvor. Der Priester blickte von seinem Gebetbuch auf, als das Ausgrabungsteam mit Professor Forresters halbtotem Körper aus der Höhle kam. Andrea rannte zu ihm und berichtete ihm, was geschehen war. Der Reporter sagte, sie seien sich sicher, dass die Goldbox in der Höhle versteckt sei, und Fowler hatte nun keine Zweifel mehr. Er nutzte die allgemeine Aufregung, die die Nachricht ausgelöst hatte, und rief Albert an, der erklärte, er wolle gegen Mitternacht New Yorker Zeit, ein paar Stunden nach Sonnenaufgang in Jordanien, ein letztes Mal versuchen, Informationen über die Terrorgruppe und Hakan zu erhalten. Das Gespräch dauerte genau dreizehn Sekunden.
    
  Das zweite Ereignis ereignete sich am frühen Morgen, als Fowler eilig telefonierte. Das Gespräch dauerte sechs Sekunden. Er bezweifelte, dass der Scanner genügend Zeit hatte, die Quelle des Signals zu ermitteln.
    
  Der dritte Anruf war in sechseinhalb Minuten fällig.
    
  Albert, um Gottes Willen, enttäusche mich nicht.
    
    
  76
    
    
    
  TURM VON KAIN
    
  NEW YORK
    
    
  Mittwoch, 19. Juli 2006, 23:45 Uhr.
    
    
  "Wie, glaubst du, werden sie dorthin gelangen?", fragte Orville.
    
  "Ich glaube, die werden ein SEK-Team holen und sich vom Dach abseilen, vielleicht die Fensterscheiben einschießen und so einen Mist."
    
  Ein SEK-Team für ein paar unbewaffnete Räuber? Ist das nicht so, als würde man mit einem Panzer auf ein paar Mäuse jagen?
    
  "Sieh es mal so, Orville: Zwei Fremde sind in das Privatbüro eines paranoiden Multimillionärs eingebrochen. Du solltest froh sein, dass sie keine Bombe auf uns werfen wollen. Nun, lass mich mich konzentrieren. Wenn Russell als Einziger Zugang zu dieser Etage hat, muss er einen extrem sicheren Computer besitzen."
    
  "Sag mir nicht, dass du nach all dem, was wir durchgemacht haben, um hierher zu gelangen, nicht in seinen Computer kommst!"
    
  "Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, dass ich mindestens noch zehn Sekunden brauche."
    
  Albert wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ seine Hände über die Tastatur gleiten. Selbst der beste Hacker der Welt konnte nicht in einen Computer eindringen, der nicht mit einem Server verbunden war. Das war von Anfang an ihr Problem gewesen. Sie hatten alles versucht, um Russells Computer im Kayn-Netzwerk zu finden. Es war unmöglich, denn systemtechnisch gehörten die Computer auf dieser Etage nicht zum Kayn Tower. Zu seiner Überraschung erfuhr Albert, dass nicht nur Russell, sondern auch Kayn Computer nutzte, die über 3G-Karten mit dem Internet und untereinander verbunden waren - zwei von Hunderttausenden, die damals in New York im Einsatz waren. Ohne diese entscheidende Information hätte Albert jahrzehntelang im Internet nach zwei unsichtbaren Computern suchen müssen.
    
  "Die zahlen bestimmt über fünfhundert Dollar am Tag für Breitband, von den Telefonen ganz zu schweigen", dachte Albert. "Ich schätze, das ist nichts, wenn man Millionen wert ist. Vor allem, wenn man Leute wie uns mit so einem simplen Trick in Angst und Schrecken versetzen kann."
    
  "Ich glaube, ich hab"s", sagte der Priester, als der Bildschirm von Schwarz auf ein helles Blau wechselte und damit den Systemstart anzeigte. "Haben Sie die Diskette gefunden?"
    
  Orville durchwühlte die Schubladen und den einzigen Schrank in Russells ordentlichem und elegantem Büro, zog Akten heraus und warf sie auf den Teppich. Nun riss er wie besessen Bilder von der Wand, suchte nach dem Safe und schnitt mit einem silbernen Brieföffner die Stuhlbeine auf.
    
  "Hier gibt es anscheinend nichts zu finden", sagte Orville und schob mit dem Fuß einen von Russells Stühlen beiseite, um sich neben Albert zu setzen. Die Verbände an seinen Händen waren wieder blutverschmiert, und sein rundes Gesicht war blass.
    
  "Paranoider Mistkerl. Sie kommunizierten nur untereinander. Keine E-Mails von außen. Russell sollte für geschäftliche Zwecke einen anderen Computer benutzen."
    
  "Er muss es nach Jordanien gebracht haben."
    
  Ich brauche Ihre Hilfe. Wonach suchen wir?
    
  Eine Minute später, nachdem er jedes Passwort eingegeben hatte, das ihm eingefallen war, gab Orville auf.
    
  "Es hat keinen Sinn. Da ist nichts. Und falls doch, hat er es bereits gelöscht."
    
  "Das bringt mich auf eine Idee. Moment", sagte Albert, zog einen USB-Stick, kaum größer als ein Kaugummistreifen, aus der Tasche und steckte ihn in den Computer, damit er mit der Festplatte kommunizieren konnte. "Mit dem kleinen Programm auf dem Ding können wir Daten von gelöschten Partitionen der Festplatte wiederherstellen. Damit können wir anfangen."
    
  "Fantastisch. Schaut euch Netcatch an."
    
  'Rechts!'
    
  Mit einem leisen Murmeln erschien eine Liste mit vierzehn Dateien im Suchfenster des Programms. Albert öffnete sie alle auf einmal.
    
  "Dies sind HTML-Dateien. Gespeicherte Webseiten."
    
  "Erkennen Sie irgendetwas?"
    
  "Ja, ich habe sie selbst gespeichert. Ich nenne das Server-Chat. Terroristen verschicken nie E-Mails, wenn sie einen Anschlag planen. Jeder Idiot weiß, dass eine E-Mail zwanzig oder dreißig Server durchlaufen kann, bevor sie ihr Ziel erreicht. Man weiß also nie, wer die Nachricht mitliest. Stattdessen geben sie allen in der Zelle dasselbe Passwort für ein kostenloses Konto und schreiben dort den E-Mail-Entwurf, den sie weitergeben müssen. Es ist, als würde man sich selbst schreiben, nur dass hier eine ganze Terroristenzelle miteinander kommuniziert. Die E-Mail wird nie abgeschickt. Sie geht nirgendwohin, weil jeder einzelne Terrorist dasselbe Konto benutzt und..."
    
  Orville stand wie gelähmt vor dem Bildschirm, so fassungslos, dass er einen Moment lang vergaß zu atmen. Das Undenkbare, etwas, das er sich nie hätte vorstellen können, wurde ihm plötzlich klar vor Augen geführt.
    
  "Das ist falsch", sagte er.
    
  'Was ist los, Orville?'
    
  "Ich hacke jede Woche Tausende von Accounts. Wenn wir Dateien von einem Webserver kopieren, speichern wir nur den Text. Andernfalls würden die Bilder unsere Festplatten schnell füllen. Das Ergebnis ist zwar unansehnlich, aber man kann es trotzdem lesen."
    
  Orville zeigte mit einem bandagierten Finger auf den Computerbildschirm, auf dem die Unterhaltung zwischen den Terroristen per E-Mail über Maktoob.com stattfand, und man konnte farbige Schaltflächen und Bilder sehen, die nicht da gewesen wären, wenn es sich um eine der Dateien gehandelt hätte, die er gehackt und gespeichert hatte.
    
  "Jemand hat über einen Browser auf diesem Computer, Albert, Maktoob.com aufgerufen. Obwohl die Datei anschließend gelöscht wurde, blieben die Bilder im Cache erhalten. Und um auf Maktoob zuzugreifen ..."
    
  Albert verstand es, bevor Orville ausreden konnte.
    
  "Wer auch immer hier war, muss das Passwort gekannt haben."
    
  Orville stimmte zu.
    
  'Das ist Russell, Albert. Russell ist der Hakan.'
    
  In diesem Moment fielen Schüsse, die ein großes Fenster zerschmetterten.
    
    
  77
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 6:49 Uhr.
    
    
  Fowler warf einen Blick auf seine Uhr. Neun Sekunden vor dem vereinbarten Zeitpunkt war etwas Unerwartetes geschehen.
    
  Albert rief an.
    
  Der Priester ging zum Eingang der Schlucht, um zu telefonieren. Dort gab es einen toten Winkel, der für den Soldaten, der vom südlichen Ende der Klippe aus zusah, unsichtbar war. In dem Moment, als er das Telefon einschaltete, klingelte es. Fowler begriff sofort, dass etwas nicht stimmte.
    
  'Albert, was ist passiert?'
    
  Am anderen Ende der Leitung hörte er mehrere schreiende Stimmen. Fowler versuchte herauszufinden, was vor sich ging.
    
  'Auflegen!'
    
  "Officer, ich muss kurz telefonieren!", sagte Albert mit distanzierter Stimme, als hätte er kein Telefon am Ohr. "Das ist wirklich wichtig. Es geht um die nationale Sicherheit."
    
  "Ich hab dir gesagt, du sollst dieses verdammte Handy weglegen."
    
  "Ich werde meine Hand langsam senken und reden. Wenn Sie mich bei etwas Verdächtigem beobachten, dann erschießen Sie mich."
    
  "Das ist meine letzte Warnung. Lass es sein!"
    
  "Anthony", sagte Albert mit ruhiger und klarer Stimme. Schließlich setzte er den Ohrhörer ein. "Kannst du mich hören?"
    
  'Ja, Albert.'
    
  "Russell ist ein Hakan. Bestätigt. Vorsicht!"
    
  Die Verbindung war unterbrochen. Fowler spürte einen Schock. Er drehte sich um und rannte zurück ins Lager, dann wurde es stockdunkel.
    
    
  78
    
    
    
  IM SPEISEZELT, DREIUNDFÜNFZIG SEKUNDEN VORHER
    
  Andrea und Harel blieben am Eingang des Speisezeltes stehen, als sie David Pappas auf sich zurennen sahen. Pappas trug ein blutiges T-Shirt und wirkte desorientiert.
    
  'Doktor, Doktor!'
    
  "Was zum Teufel ist los, David?", fragte Harel. Sie war seit dem Wasservorfall, der "richtigen Kaffee" unmöglich gemacht hatte, in derselben schlechten Laune.
    
  "Das ist der Professor. Es geht ihm schlecht."
    
  David bot an, bei Forrester zu bleiben, während Andrea und Doc frühstücken gingen. Forresters Zustand verzögerte den Abriss der Mauer zur Bundeslade nur, obwohl Russell die Arbeiten am Vorabend fortsetzen wollte. David weigerte sich, die Öffnung zu öffnen, bis der Professor sich erholt hatte und zu ihnen stoßen konnte. Andrea, deren Meinung über Pappas sich in den letzten Stunden stetig verschlechtert hatte, vermutete, dass er nur darauf wartete, dass Forrester aus dem Weg ging.
    
  "Okay." Doc seufzte. "Geh du schon mal, Andrea. Es hat keinen Sinn, dass wir beide das Frühstück auslassen." Sie rannte zurück zur Krankenstation.
    
  Die Reporterin warf einen kurzen Blick in das Speisezelt. Zayit und Peterke winkten zurück. Andrea mochte den stummen Koch und seinen Gehilfen, doch die einzigen, die in diesem Moment an den Tischen saßen, waren zwei Soldaten, Alois Gottlieb und Louis Maloney, die von ihren Tabletts aßen. Andrea wunderte sich, dass nur zwei da waren, da die Soldaten normalerweise gemeinsam frühstückten und nur einen Ausguck für eine halbe Stunde auf dem südlichen Bergrücken zurückließen. Tatsächlich war das Frühstück die einzige Gelegenheit, bei der sie die Soldaten zusammen an einem Ort sah.
    
  Da Andrea sich nicht für deren Firma interessierte, beschloss sie, zurückzukehren und nachzusehen, ob sie Harel helfen konnte.
    
  Auch wenn meine medizinischen Kenntnisse sehr begrenzt sind, würde ich wahrscheinlich ein Krankenhauskleid verkehrt herum tragen.
    
  Dann drehte sich Doc um und rief: "Würden Sie mir einen Gefallen tun und mir einen großen Kaffee holen?"
    
  Andrea hatte einen Fuß ins Speisezelt gesteckt und suchte nach dem besten Weg, um den schwitzenden Soldaten auszuweichen, die wie Affen über ihrem Essen gebeugt waren, als sie beinahe mit Nuri Zayit zusammenstieß. Der Koch muss den Arzt zurück zur Krankenstation rennen gesehen haben, denn er reichte Andrea ein Tablett mit zwei Tassen Instantkaffee und einem Teller Toast.
    
  "Instantkaffee in Milch aufgelöst, stimmt das, Nuri?"
    
  Der Stumme lächelte und zuckte mit den Achseln; es sei nicht seine Schuld.
    
  "Ich weiß. Vielleicht sehen wir heute Abend Wasser aus einem Felsen sprudeln und all das Biblische. Wie dem auch sei, danke."
    
  Langsam, darauf bedacht, ihren Kaffee nicht zu verschütten - sie wusste, dass sie nicht gerade die geschickteste Person war, auch wenn sie es nie zugeben würde -, steuerte sie die Krankenstation an. Nuri winkte ihr vom Eingang des Speisesaals aus zu und lächelte dabei immer noch.
    
  Und dann geschah es.
    
  Andrea fühlte sich, als hätte eine riesige Hand sie vom Boden gehoben, fast zwei Meter hochgeschleudert und dann wieder zurückgeschleudert. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren linken Arm, und ein furchtbares Brennen durchfuhr ihre Brust und ihren Rücken. Gerade noch rechtzeitig drehte sie sich um und sah Tausende winziger, brennender Stofffetzen vom Himmel fallen. Eine schwarze Rauchsäule war alles, was von dem übrig war, was vor zwei Sekunden noch ein Feldzelt gewesen war. Hoch oben schien sich der Rauch mit einem anderen, viel schwärzeren Rauch zu vermischen. Andrea konnte nicht ausmachen, woher er kam. Vorsichtig berührte sie ihre Brust und merkte, dass ihr Hemd mit einer heißen, klebrigen Flüssigkeit bedeckt war.
    
  Der Arzt kam angerannt.
    
  "Geht es dir gut?" Oh Gott, geht es dir gut, Liebling?
    
  Andrea wusste, dass Harel schrie, doch ihre Stimme klang über dem Pfeifen in Andreas Ohren nur noch fern. Sie spürte, wie der Arzt ihren Hals und ihre Arme untersuchte.
    
  'Meine Brust'.
    
  "Alles gut. Es ist nur Kaffee."
    
  Andrea stand vorsichtig auf und bemerkte, dass sie sich mit Kaffee übergossen hatte. Ihre rechte Hand umklammerte noch immer das Tablett, während ihre linke gegen den Stein geschlagen war. Sie bewegte die Finger, aus Angst, sich noch mehr verletzt zu haben. Zum Glück war nichts gebrochen, aber ihre gesamte linke Körperhälfte fühlte sich wie gelähmt an.
    
  Während mehrere Expeditionsmitglieder versuchten, das Feuer mit Eimern voller Sand zu löschen, kümmerte sich Harel um Andreas Wunden. Die Reporterin hatte Schnitt- und Schürfwunden an der linken Körperseite. Ihre Haare und die Haut an ihrem Rücken waren leicht verbrannt, und sie litt unter einem ständigen Ohrensausen.
    
  "Das Summen wird in drei oder vier Stunden verschwinden", sagte Harel und steckte das Stethoskop wieder in ihre Hosentasche.
    
  "Es tut mir leid...", sagte Andrea fast schreiend, ohne es selbst zu merken. Sie weinte.
    
  "Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen."
    
  "Er ... Nuri ... hat mir Kaffee gebracht. Wenn ich reingegangen wäre, um ihn zu holen, wäre ich jetzt tot. Ich hätte ihn bitten können, mit mir rauszukommen und eine Zigarette zu rauchen. Ich hätte ihm im Gegenzug das Leben retten können."
    
  Harel deutete umher. Sowohl das Speisezelt als auch der Treibstofftanker waren explodiert - zwei separate Explosionen gleichzeitig. Vier Menschen waren zu Asche verbrannt.
    
  "Der Einzige, der etwas fühlen sollte, ist der Hurensohn, der das getan hat."
    
  "Keine Sorge, meine Dame, wir haben ihn", sagte Torres.
    
  Er und Jackson zerrten den Mann, der an den Beinen gefesselt war, mit sich und legten ihn mitten auf den Platz in der Nähe der Zelte, während die anderen Expeditionsmitglieder schockiert zusahen und nicht glauben konnten, was sie sahen.
    
    
  79
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 6:49 Uhr.
    
    
  Fowler hob die Hand an die Stirn. Sie blutete. Die Explosion des Lastwagens hatte ihn zu Boden geschleudert, und er war mit dem Kopf gegen etwas gestoßen. Er versuchte aufzustehen und zurück zum Lager zu gehen, das Satellitentelefon noch immer in der Hand. Verschwommen sah er, umgeben von dichtem Rauch, zwei Soldaten mit gezogenen Pistolen auf sich zukommen.
    
  'Du warst es, du Hurensohn!'
    
  "Schau mal, er hält das Telefon immer noch in der Hand."
    
  'Damit hast du die Explosionen ausgelöst, nicht wahr, du Mistkerl?'
    
  Der Gewehrkolben traf ihn am Kopf. Er fiel zu Boden, spürte aber keine Tritte oder andere Schläge an seinem Körper. Er war schon lange zuvor bewusstlos geworden.
    
    
  "Das ist lächerlich!", rief Russell und schloss sich der Gruppe an, die sich um Pater Fowler drängte: Decker, Torres, Jackson und Alrik Gottlieb auf der Seite der Soldaten; Eichberg, Hanley und Pappas auf der Seite der verbliebenen Zivilisten.
    
  Mit Harels Hilfe versuchte Andrea aufzustehen und sich der Gruppe bedrohlicher, rußgeschwärzter Gesichter zu nähern.
    
  "Das ist nicht lustig, Sir", sagte Decker und warf Fowlers Satellitentelefon weg. "Er hatte es dabei, als wir ihn in der Nähe des Tankwagens fanden. Dank des Scanners wissen wir, dass er heute Morgen kurz telefoniert hat, deshalb waren wir schon misstrauisch. Anstatt frühstücken zu gehen, bezogen wir unsere Positionen und beobachteten ihn. Zum Glück."
    
  'Es ist nur...', begann Andrea, aber Harel zerrte an ihrem Arm.
    
  'Sei still. Das wird ihm nicht helfen', flüsterte sie.
    
  Genau. Ich meinte, ob das ein geheimes Telefon ist, mit dem er die CIA kontaktiert? Das ist nicht gerade der beste Weg, deine Unschuld zu schützen, du Idiot.
    
  "Es ist ein Handy. So etwas ist auf dieser Expedition natürlich nicht erlaubt, aber das reicht nicht aus, um diese Person der Verursachung der Bombenanschläge zu bezichtigen", sagte Russell.
    
  "Vielleicht nicht nur ein Telefon, Sir. Aber sehen Sie, was wir in seiner Aktentasche gefunden haben."
    
  Jackson ließ den zerstörten Aktenkoffer vor ihnen fallen. Er war leer, und der Deckel war abgerissen. An der Unterseite klebte ein Geheimfach mit kleinen, marzipanartigen Blöcken.
    
  "Hier spricht C4, Mr. Russell", fuhr Decker fort.
    
  Die Information verschlug ihnen allen den Atem. Dann zog Alric seine Pistole.
    
  "Dieses Schwein hat meinen Bruder getötet. Lass mich ihm eine Kugel in den verdammten Schädel jagen!", schrie er außer sich vor Wut.
    
  "Ich habe genug gehört", sagte eine leise, aber selbstsichere Stimme.
    
  Der Kreis öffnete sich, und Raymond Cain näherte sich dem bewusstlosen Körper des Priesters. Er beugte sich über ihn, die eine Gestalt in Schwarz, die andere in Weiß.
    
  "Ich kann verstehen, was diesen Mann zu seiner Tat getrieben hat. Aber diese Mission wurde zu lange verzögert, und sie darf nicht länger verzögert werden. Pappas, bitte machen Sie sich wieder an die Arbeit und reißen Sie diese Mauer ein."
    
  "Herr Kain, das kann ich nicht tun, ohne zu wissen, was hier vor sich geht", antwortete Pappas.
    
  Brian Hanley und Tommy Eichberg, die Arme verschränkt, gingen hinüber und stellten sich neben Pappas. Kain warf ihnen nicht einmal einen zweiten Blick zu.
    
  'Herr Decker?'
    
  "Sir?", fragte der große Südafrikaner.
    
  "Zeigen Sie Ihre Autorität. Die Zeit der Höflichkeiten ist vorbei."
    
  "Jackson", sagte Decker und gab ein Zeichen.
    
  Die Soldatin hob ihr M4-Gewehr und richtete es auf die drei Rebellen.
    
  "Das kann doch nicht wahr sein!", beschwerte sich Eichberg, dessen große rote Nase nur wenige Zentimeter vom Lauf von Jacksons Pistole entfernt war.
    
  "Das ist kein Scherz, Schätzchen. Mach dich auf den Weg, oder ich schieß dir in den Arsch." Jackson spannte ihre Pistole mit einem bedrohlichen metallischen Klicken.
    
  Kain ignorierte die anderen und ging auf Harel und Andrea zu.
    
  "Was Sie, junge Damen, betrifft, so war es uns ein Vergnügen, auf Ihre Dienste zählen zu können. Herr Decker garantiert Ihre Rückkehr zu Behemoth."
    
  "Was redest du da?", schrie Andrea, die trotz ihrer Hörprobleme einiges von dem, was Kain gesagt hatte, mitbekommen hatte. "Du verdammter Mistkerl! Sie werden die Bundeslade in ein paar Stunden holen. Lass mich bis morgen hierbleiben. Du schuldest mir was."
    
  "Du meinst, der Fischer schuldet den Wurm? Nimm sie. Oh, und achte darauf, dass sie nur das mitnehmen, was sie am Leib tragen. Bitte die Reporterin, dir die CD mit ihren Fotos auszuhändigen."
    
  Decker zog Alric beiseite und sprach leise mit ihm.
    
  'Nimm sie.'
    
  "Das ist Blödsinn. Ich will hierbleiben und mich um den Priester kümmern. Er hat meinen Bruder getötet", sagte der Deutsche mit blutunterlaufenen Augen.
    
  "Er wird noch leben, wenn du zurückkommst. Tu jetzt, was dir gesagt wird. Torres wird dafür sorgen, dass es schön warm für dich ist."
    
  "Verdammt, Colonel. Von hier nach Aqaba und zurück sind es mindestens drei Stunden, selbst mit Höchstgeschwindigkeit im Humvee. Wenn Torres den Priester erreicht, wird von ihm nichts mehr übrig sein, wenn ich zurückkomme."
    
  "Vertrau mir, Gottlieb. Du bist in einer Stunde zurück."
    
  "Was meinen Sie, Sir?"
    
  Decker sah ihn ernst an, genervt von der Langsamkeit seines Untergebenen. Er hasste es, Dinge Wort für Wort zu erklären.
    
  Sarsaparilla, Gottlieb. Und mach es schnell.
    
    
  80
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 7:14 Uhr.
    
    
  Andrea saß auf dem Rücksitz des H3 und schloss die Augen halb, in einem vergeblichen Versuch, den Staub abzuwehren, der durch die Fenster hereinströmte. Die Explosion des Tankwagens hatte die Scheiben des Wagens zersplittert und die Windschutzscheibe zersplittert. Obwohl Alrik einige Löcher mit Klebeband und ein paar Hemden notdürftig geflickt hatte, war er so schnell gewesen, dass an manchen Stellen immer noch Sand eingedrungen war. Harel beschwerte sich, doch der Soldat reagierte nicht. Er umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen, seine Knöchel waren weiß, sein Mund angespannt. Er hatte die große Düne am Eingang des Canyons in nur drei Minuten hinter sich gelassen und gab nun Vollgas, als hinge sein Leben davon ab.
    
  "Es wird nicht die angenehmste Reise der Welt, aber wenigstens fahren wir nach Hause", sagte Doc und legte ihre Hand auf Andreas Oberschenkel. Andrea drückte ihre Hand fest.
    
  'Warum hat er das getan, Doc? Warum hatte er Sprengstoff in seiner Aktentasche? Sagen Sie mir, dass sie ihn ihm untergeschoben haben', fragte der junge Reporter fast flehend.
    
  Die Doktorin beugte sich näher zu Alric, damit dieser sie nicht hören konnte, obwohl sie bezweifelte, dass er angesichts des Lärms des Motors und des Windes, der gegen die provisorischen Fensterabdeckungen schlug, überhaupt etwas hören konnte.
    
  "Ich weiß es nicht, Andrea, aber der Sprengstoff gehörte ihm."
    
  "Woher weißt du das?", fragte Andrea mit plötzlich ernstem Blick.
    
  "Weil er es mir erzählt hat. Nachdem Sie die Soldaten unter ihrem Zelt belauscht hatten, kam er zu mir und bat mich um Hilfe mit einem verrückten Plan, die Wasserversorgung in die Luft zu sprengen."
    
  "Doc, wovon reden Sie? Wussten Sie davon?"
    
  "Er ist deinetwegen hier. Er hat dir schon einmal das Leben gerettet, und gemäß dem Ehrenkodex seiner Art fühlt er sich verpflichtet, dir immer dann zu helfen, wenn du Hilfe brauchst. Wie dem auch sei, aus Gründen, die ich nicht ganz verstehe, war es sein Boss, der dich überhaupt erst in diese Sache hineingezogen hat. Er wollte sichergehen, dass Fowler an der Expedition teilnimmt."
    
  'Deshalb hat Kain also den Wurm erwähnt?'
    
  "Ja. Für Kaine und seine Männer waren Sie lediglich ein Mittel zum Zweck, um Fowler zu kontrollieren. Es war von Anfang an alles eine Lüge."
    
  'Und was wird nun mit ihm geschehen?'
    
  Vergiss ihn. Sie werden ihn verhören, und dann ... wird er verschwinden. Und bevor du etwas sagst, denk nicht einmal daran, dorthin zurückzukehren.
    
  Die Realität der Situation verblüffte den Reporter.
    
  "Warum, Doc?" Andrea wandte sich angewidert von ihr ab. "Warum hast du es mir nicht gesagt, nach allem, was wir durchgemacht haben? Du hast geschworen, mich nie wieder anzulügen. Du hast es mir geschworen, als wir miteinander schliefen. Ich weiß nicht, wie ich nur so dumm sein konnte ..."
    
  "Ich sage vieles." Eine Träne rann Harel über die Wange, doch als sie fortfuhr, war ihre Stimme eisern. "Seine Mission ist anders als meine. Für mich war es nur eine dieser albernen Expeditionen, die ab und zu vorkommen. Aber Fowler wusste, dass es ernst sein könnte. Und wenn es so war, wusste er, dass er etwas unternehmen musste."
    
  'Und was sollte das? Uns alle in die Luft jagen?'
    
  "Ich weiß nicht, wer heute Morgen die Explosion verursacht hat, aber glauben Sie mir, es war nicht Anthony Fowler."
    
  "Aber du hast nichts gesagt."
    
  "Ich konnte nichts sagen, ohne mich zu verraten", sagte Harel und wandte den Blick ab. "Ich wusste, sie würden uns da rausholen ... Ich ... wollte bei dir sein. Weg von der Ausgrabungsstätte. Weg von meinem Leben, nehme ich an."
    
  "Was ist mit Forrester? Er war Ihr Patient, und Sie haben ihn dort zurückgelassen."
    
  "Er ist heute Morgen gestorben, Andrea. Kurz vor der Explosion, um genau zu sein. Er war ja schon seit Jahren krank."
    
  Andrea schüttelte den Kopf.
    
  Wäre ich Amerikaner, würde ich den Pulitzer-Preis gewinnen, aber um welchen Preis?
    
  "Ich kann es nicht fassen. So viel Tod, so viel Gewalt, alles wegen einer lächerlichen Museumsausstellung."
    
  'Hat Fowler dir das nicht erklärt? Es steht viel mehr auf dem Spiel...' Harels Stimme verstummte, als der Hammer langsamer wurde.
    
  "Das stimmt nicht", sagte sie und spähte durch die Ritzen im Fenster. "Hier ist nichts."
    
  Das Fahrzeug kam abrupt zum Stehen.
    
  "Hey, Alric, was machst du denn da?", fragte Andrea. "Warum halten wir an?"
    
  Der große Deutsche sagte nichts. Ganz langsam zog er den Schlüssel aus dem Zündschloss, zog die Handbremse an und stieg aus dem Hummer, wobei er die Tür zuschlug.
    
  "Verdammt. Das würden sie sich nicht trauen", sagte Harel.
    
  Andrea sah die Angst in den Augen des Arztes. Sie hörte Alriks Schritte im Sand. Er ging zu Harels Seite hinüber.
    
  'Was ist los, Doc?'
    
  Die Tür öffnete sich.
    
  "Raus hier", sagte Alric kalt, sein Gesichtsausdruck ausdruckslos.
    
  "Das geht nicht", sagte Harel, ohne sich einen Zentimeter zu rühren. "Euer Kommandant will sich den Mossad nicht zum Feind machen. Wir sind sehr unangenehme Feinde."
    
  Ein Befehl ist ein Befehl. Verschwinde!
    
  "Nicht sie. Lasst sie wenigstens gehen, bitte."
    
  Der Deutsche griff an seinen Gürtel und zog eine automatische Pistole aus dem Holster.
    
  'Zum letzten Mal. Steigen Sie aus dem Auto.'
    
  Harel blickte Andrea an, ihrem Schicksal ergeben. Sie zuckte mit den Achseln und griff mit beiden Händen nach dem Haltegriff über dem Seitenfenster, um auszusteigen. Doch plötzlich spannte sie ihre Armmuskeln an und trat, den Griff noch immer umklammernd, mit ihren schweren Stiefeln aus, wobei sie Alrik in die Brust traf. Der Deutsche ließ seine Pistole fallen, die zu Boden stürzte. Harel stürzte sich mit dem Kopf voran auf den Soldaten und riss ihn zu Boden. Die Ärztin sprang sofort auf und trat dem Deutschen ins Gesicht, wobei sie ihm die Augenbraue aufschlitzte und sein Auge verletzte. Sie hob ihr Bein über sein Gesicht, bereit, ihm den Rest zu geben, doch der Soldat erholte sich, packte ihr Bein mit seiner riesigen Hand und wirbelte sie scharf nach links. Ein lautes Knacken ertönte, als die Ärztin zu Boden stürzte.
    
  Der Söldner stand auf und drehte sich um. Andrea ging auf ihn zu, bereit zum Angriff, doch der Soldat schlug sie mit der flachen Hand nieder und hinterließ eine hässliche rote Striemen auf ihrer Wange. Andrea fiel rückwärts. Als sie auf dem Sand aufschlug, spürte sie etwas Hartes unter sich.
    
  Alrik beugte sich nun über Harel. Er packte eine üppige, lockige schwarze Mähne und riss daran, hob sie hoch wie eine Stoffpuppe, bis sein Gesicht ganz nah an ihrem war. Harel war noch immer benommen von dem Schock, doch er schaffte es, dem Soldaten in die Augen zu sehen und spuckte ihn an.
    
  'Fick dich, du Dreckskerl.'
    
  Der Deutsche spuckte zurück, hob dann die rechte Hand, in der er ein Kampfmesser hielt. Er stieß es Harel in den Bauch und genoss den Anblick, wie sich die Augen seines Opfers verdrehten und ihr Mund offen stand, während sie nach Luft rang. Alrik drehte das Messer in der Wunde und riss es dann grob heraus. Blut spritzte heraus und bespritzte die Uniform und die Stiefel des Soldaten. Mit angewidertem Gesichtsausdruck ließ er den Arzt los.
    
  'Nein!'
    
  Nun wandte sich der Söldner Andrea zu, die auf der Pistole gelandet war und versuchte, die Sicherung zu finden. Sie schrie aus Leibeskräften und drückte ab.
    
  Die automatische Pistole zuckte in ihren Händen und ließ ihre Finger taub werden. Sie hatte noch nie zuvor eine Pistole abgefeuert, und das merkte man ihr an. Die Kugel pfiff an dem Deutschen vorbei und schlug in die Tür des Hummers ein. Alrik rief etwas auf Deutsch und stürzte sich auf sie. Fast blind feuerte Andrea drei weitere Male.
    
  Eine Kugel verfehlte ihr Ziel.
    
  Ein anderer stach einen Reifen an einem Humvee auf.
    
  Der dritte Schuss traf den Deutschen in den offenen Mund. Die Wucht seines 90 Kilo schweren Körpers trieb ihn weiter auf Andrea zu, obwohl seine Hände nicht mehr darauf aus waren, ihr die Waffe zu entreißen und sie zu erwürgen. Er fiel mit dem Gesicht nach oben zu Boden, rang nach Worten, Blut spritzte aus seinem Mund. Entsetzt sah Andrea, dass der Schuss dem Deutschen mehrere Zähne ausgeschlagen hatte. Sie trat beiseite und wartete, die Pistole immer noch auf ihn gerichtet - doch wäre sie nicht rein zufällig getroffen worden, wäre es sinnlos gewesen, da ihre Hand zu stark zitterte und ihre Finger schwach waren. Ihre Hand schmerzte vom Aufprall des Schusses.
    
  Es dauerte fast eine Minute, bis der Deutsche starb. Die Kugel durchschlug seinen Hals, durchtrennte sein Rückenmark und lähmte ihn. Er erstickte an seinem eigenen Blut, das seinen Hals füllte.
    
  Als Andrea sicher war, dass von Alrik keine Gefahr mehr ausging, rannte sie zu Harel, die blutend im Sand lag. Sie setzte sich auf und stützte Docs Kopf, wobei sie die Wunde aussparte, während Harel hilflos versuchte, ihre inneren Organe mit den Händen festzuhalten.
    
  'Warte, Doc. Sag mir, was ich tun soll. Ich werde dich hier rausholen, und sei es nur, um dir in den Hintern zu treten, weil du mich angelogen hast.'
    
  "Keine Sorge", erwiderte Harel schwach. "Ich habe genug. Vertrau mir. Ich bin Arzt."
    
  Andrea schluchzte und lehnte ihre Stirn an Harels. Harel nahm die Hand von der Wunde und packte einen der Reporter.
    
  "Sag das nicht. Bitte nicht."
    
  "Ich habe dich genug belogen. Ich möchte, dass du etwas für mich tust."
    
  'Benennen Sie es.'
    
  "Gleich steigen Sie in den Hummer und fahren Sie westwärts auf diesem Ziegenpfad. Wir sind etwa 150 Kilometer von Aqaba entfernt, aber Sie sollten die Straße in ein paar Stunden erreichen." Sie hielt inne und biss die Zähne zusammen. "Das Auto ist mit einem GPS-Tracker ausgestattet. Falls Sie jemanden sehen, steigen Sie aus dem Hummer und rufen Sie um Hilfe. Ich will, dass Sie hier verschwinden. Versprochen Sie mir, dass Sie das tun?"
    
  'Ich schwöre'.
    
  Harel zuckte vor Schmerz zusammen. Ihr Griff um Andreas Hand wurde mit jeder Sekunde schwächer.
    
  "Weißt du, ich hätte dir meinen richtigen Namen nicht sagen sollen. Ich möchte, dass du noch etwas für mich tust. Ich möchte, dass du ihn laut aussprichst. Das hat noch nie jemand getan."
    
  'Chedva'.
    
  'Schreit lauter!'
    
  "CHEDVA!", schrie Andrea, ihre Qual und ihr Schmerz durchbrachen die Stille der Wüste.
    
  Eine Viertelstunde später endete Chedva Harels Leben für immer.
    
    
  Mit bloßen Händen ein Grab im Sand zu graben, war das Schwerste, was Andrea je getan hatte. Nicht wegen der Anstrengung, sondern wegen der Bedeutung. Weil es eine sinnlose Geste war und weil Chedva zum Teil aufgrund der Ereignisse gestorben war, die sie selbst in Gang gesetzt hatte. Sie grub ein flaches Grab und markierte es mit einer Hummer-Antenne und einem Steinkreis.
    
  Nachdem Andrea fertig war, suchte sie den Hummer nach Wasser ab, jedoch ohne großen Erfolg. Das einzige Wasser, das sie fand, befand sich in der Feldflasche des Soldaten, die an seinem Gürtel hing. Sie war zu drei Vierteln gefüllt. Sie nahm auch seine Mütze, musste sie aber mit einer Sicherheitsnadel, die sie in seiner Tasche fand, fixieren, damit sie nicht verrutschte. Außerdem zog sie eines der Hemden aus den zerbrochenen Fenstern und holte ein Stahlrohr aus dem Kofferraum des Hummers. Sie riss die Scheibenwischer heraus, stopfte sie in das Rohr und wickelte sie in ein Hemd, um sich einen provisorischen Regenschirm zu basteln.
    
  Dann kehrte sie auf die Straße zurück, die Hummer verlassen hatte. Unglücklicherweise bemerkte sie nicht, dass eine verirrte Kugel ihren Vorderreifen durchbohrt hatte, als Harel sie bat, ihm zu versprechen, nach Aqaba zurückzukehren, da sie mit dem Rücken zum Auto stand. Selbst wenn Andrea ihr Versprechen hätte halten wollen - was sie nicht tat -, wäre es ihr unmöglich gewesen, den Reifen selbst zu wechseln. So sehr sie auch suchte, sie konnte keinen Wagenheber finden. Auf dieser holprigen Straße hätte das Auto ohne einen intakten Vorderreifen keine dreißig Meter weit fahren können.
    
  Andrea blickte nach Westen, wo sie die schwache Linie der Hauptstraße erkennen konnte, die sich zwischen den Dünen hindurchschlängelte.
    
  95 Meilen bis Aqaba in der Mittagshitze, fast 60 bis zur Hauptstraße. Das bedeutet mindestens mehrere Tage Fußmarsch in der brütenden Hitze, in der Hoffnung, jemanden zu finden, und ich habe nicht einmal genug Wasser für sechs Stunden. Und das setzt voraus, dass ich mich nicht auf der Suche nach einer fast unsichtbaren Straße verirre oder dass diese Mistkerle die Bundeslade nicht schon längst geklaut und mich auf dem Rückweg überfahren haben.
    
  Sie blickte nach Osten, wo die Spuren des Hummers noch frisch waren.
    
  Acht Meilen weiter in diese Richtung gab es Fahrzeuge, Wasser und die Schöpfkelle des Jahrhunderts, dachte sie, als sie losging. Ganz zu schweigen von einer ganzen Menge Leute, die mich tot sehen wollten. Das Positive daran? Ich hatte noch eine Chance, meine Diskette zurückzubekommen und dem Priester zu helfen. Ich hatte keine Ahnung, wie, aber ich würde es versuchen.
    
    
  81
    
    
    
  Krypta mit Reliquien
    
  VATIKAN
    
    
  Dreizehn Tage zuvor
    
    
  "Willst du Eis für die Hand?", fragte Sirin. Fowler zog ein Taschentuch aus der Tasche und verband sich die Knöchel, die von mehreren Schnittwunden bluteten. Er mied Bruder Cecilio, der immer noch versuchte, die Nische zu reparieren, die er mit den Fäusten zerstört hatte, und ging auf das Oberhaupt der Heiligen Allianz zu.
    
  'Was willst du von mir, Camilo?'
    
  "Ich möchte, dass du sie zurückgibst, Anthony. Wenn sie wirklich existiert, gehört die Bundeslade hierher, in eine befestigte Kammer 45 Meter unter dem Vatikan. Jetzt ist nicht die Zeit, sie in die falschen Hände geraten zu lassen. Geschweige denn, dass die Welt von ihrer Existenz erfährt."
    
  Fowler knirschte mit den Zähnen angesichts der Arroganz von Sirin und seines Vorgesetzten, vielleicht sogar des Papstes selbst, die glaubten, über das Schicksal der Bundeslade entscheiden zu können. Was Sirin von ihm verlangte, war weit mehr als eine einfache Mission; es lastete wie ein Grabstein auf seinem ganzen Leben. Die Risiken waren unermesslich.
    
  "Wir werden ihn behalten", beharrte Sirin. "Wir wissen, wie man wartet."
    
  Fowler nickte.
    
  Er würde nach Jordanien gehen.
    
  Aber auch er war in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen.
    
    
  82
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 9:23 Uhr.
    
    
  'Wach auf, Pater.'
    
  Fowler kam langsam zu sich und wusste nicht, wo er war. Er spürte nur, wie ihm der ganze Körper schmerzte. Er konnte seine Hände nicht bewegen, da sie über seinem Kopf gefesselt waren. Die Fesseln waren irgendwie an der Canyonwand befestigt.
    
  Als er die Augen öffnete, bestätigte sich dies, ebenso wie die Identität des Mannes, der versucht hatte, ihn zu wecken. Torres stand vor ihm.
    
  Ein breites Lächeln.
    
  "Ich weiß, dass Sie mich verstehen", sagte der Soldat auf Spanisch. "Ich spreche aber lieber meine Muttersprache. So kann ich Details viel besser erfassen."
    
  "An dir ist nichts Feines", sagte der Priester auf Spanisch.
    
  "Da irren Sie sich, Padre. Im Gegenteil, eines der Dinge, die mich in Kolumbien berühmt gemacht haben, war, wie ich mir immer die Natur zunutze gemacht habe. Ich habe kleine Freunde, die meine Arbeit für mich erledigen."
    
  "Sie waren also derjenige, der die Skorpione in Miss Oteros Schlafsack gelegt hat", sagte Fowler und versuchte, Torres unbemerkt die Handschellen zu entfernen. Es war vergeblich. Sie waren mit einem in den Fels getriebenen Stahlnagel an der Canyonwand befestigt.
    
  "Ich weiß deine Bemühungen zu schätzen, Padre. Aber egal, wie fest du ziehst, diese Handschellen rühren sich nicht", sagte Torres. "Aber du hast recht. Ich wollte deine kleine spanische Schlampe. Es hat nicht geklappt. Jetzt muss ich auf unseren Freund Alric warten. Ich glaube, er hat uns im Stich gelassen. Er amüsiert sich bestimmt gerade mit deinen beiden Hurenfreundinnen. Hoffentlich vögelt er sie beide, bevor er ihnen die Köpfe wegpustet. Blut geht so schwer aus der Uniform."
    
  Fowler riss an den Handschellen, blind vor Wut und unfähig, sich zu beherrschen.
    
  'Komm her, Torres. Komm du her!'
    
  "He, he! Was ist denn passiert?", sagte Torres und genoss den Zorn in Fowlers Gesicht. "Ich sehe dich gern wütend. Meine kleinen Freunde werden es lieben."
    
  Der Priester blickte in die Richtung, in die Torres zeigte. Nicht weit von Fowlers Füßen entfernt befand sich ein Sandhügel, über den sich mehrere rote Gestalten bewegten.
    
  'Solenopsis catusianis. Ich kann zwar kein Latein, aber ich weiß, dass diese Ameisen es todernst meinen, Padre. Ich habe großes Glück, einen ihrer Hügel so nah gefunden zu haben. Ich liebe es, ihnen bei der Arbeit zuzusehen, und ich habe sie schon lange nicht mehr dabei beobachtet...'
    
  Torres hockte sich hin und hob den Stein auf. Er stand auf, spielte kurz damit und ging dann ein paar Schritte zurück.
    
  "Aber heute werden sie wohl besonders hart arbeiten, Padre. Meine kleinen Freunde haben Zähne, die Sie sich nicht vorstellen können. Aber das ist noch nicht alles. Das Beste kommt, wenn sie ihren Stachel in Sie rammen und das Gift injizieren. Hier, ich zeig"s Ihnen."
    
  Er holte mit dem Arm aus, hob das Knie wie ein Baseballwerfer und schleuderte dann den Stein. Dieser traf den Hügel und zersplitterte dessen Spitze.
    
  Es war, als wäre eine rote Wut auf dem Sand zum Leben erwacht. Hunderte von Ameisen flogen aus dem Nest. Torres trat ein Stück zurück und warf einen weiteren Stein, diesmal in einem Bogen, der genau zwischen Fowler und dem Nest landete. Die rote Masse verharrte einen Moment, dann stürzte sie sich auf den Stein und ließ ihn unter ihrer Wucht verschwinden.
    
  Torres wich noch langsamer zurück und warf einen weiteren Stein, der etwa einen halben Meter von Fowler entfernt landete. Die Ameisen krabbelten erneut über den Stein, bis die Ansammlung nur noch etwa 20 Zentimeter von dem Priester entfernt war. Fowler hörte das Knistern der Insekten. Es war ein widerliches, beängstigendes Geräusch, wie das Schütteln einer Papiertüte voller Kronkorken.
    
  Sie orientieren sich durch Bewegung. Jetzt wirft er mir einen weiteren Stein näher, um mich in Bewegung zu setzen. Wenn ich das tue, bin ich verloren, dachte Fowler.
    
  Und genau so geschah es. Der vierte Stein fiel Fowler vor die Füße, und die Ameisen stürzten sich sofort darauf. Nach und nach bedeckte ein Ameisenmeer Fowlers Stiefel, das mit jeder Sekunde wuchs, da immer neue Ameisen aus dem Nest krochen. Torres warf weitere Steine nach den Ameisen, die dadurch noch aggressiver wurden, als hätte der Geruch ihrer zerquetschten Artgenossen ihren Rachedurst nur noch verstärkt.
    
  "Gib es zu, Padre. Du bist am Arsch", sagte Torres.
    
  Der Soldat warf einen weiteren Stein, diesmal zielte er nicht auf den Boden, sondern auf Fowlers Kopf. Er verfehlte ihn um wenige Zentimeter und stürzte in eine rote Welle, die sich wie ein wütender Wirbelwind bewegte.
    
  Torres bückte sich erneut und wählte einen kleineren Stein, einen, der sich leichter werfen ließ. Er zielte sorgfältig und schleuderte ihn. Der Stein traf den Priester an der Stirn. Fowler kämpfte gegen den Schmerz und den Drang an, sich zu bewegen.
    
  "Sie werden früher oder später nachgeben, Padre. Ich habe vor, den Vormittag so zu verbringen."
    
  Er bückte sich erneut, um nach Munition zu suchen, musste aber innehalten, als sein Funkgerät zu knistern begann.
    
  'Torres, hier spricht Decker. Wo zum Teufel steckst du?'
    
  "Ich kümmere mich um den Priester, Sir."
    
  "Überlass das Alrik, er kommt bald zurück. Ich habe es ihm versprochen, und wie Schopenhauer sagte: Ein großer Mann behandelt seine Versprechen wie göttliche Gesetze."
    
  'Verstanden, Sir.'
    
  "Melde dich bei Nest One."
    
  "Mit Verlaub, Sir, ich bin jetzt nicht an der Reihe."
    
  "Mit Verlaub, wenn Sie nicht innerhalb von dreißig Sekunden bei Nest Eins erscheinen, werde ich Sie finden und bei lebendigem Leibe häuten. Haben Sie mich verstanden?"
    
  'Ich verstehe, Colonel.'
    
  "Das freut mich. Es ist vorbei."
    
  Torres steckte das Funkgerät wieder an seinen Gürtel und ging langsam zurück. "Du hast ihn gehört, Padre. Nach der Explosion sind wir nur noch zu fünft, deshalb müssen wir unser Spiel um ein paar Stunden verschieben. Wenn ich zurückkomme, wird es dir schlechter gehen. So lange kann niemand stillsitzen."
    
  Fowler beobachtete, wie Torres in der Nähe des Eingangs eine Kurve im Canyon umrundete. Seine Erleichterung war jedoch nur von kurzer Dauer.
    
  Mehrere Ameisen auf seinen Stiefeln begannen langsam, seine Hose hinaufzukrabbeln.
    
    
  83
    
    
    
  Meteorologisches Institut Al-Qahir
    
  KAIRO, ÄGYPTEN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 9:56 Uhr.
    
    
  Es war noch nicht einmal zehn Uhr morgens, und das Hemd des jungen Meteorologen war schon klatschnass. Er hatte den ganzen Morgen telefoniert und die Arbeit eines anderen erledigt. Es war Hochsommer, und alle, die etwas auf sich hielten, waren abgereist und trieben sich an den Stränden von Sharm el-Sheikh herum, wo sie vorgaben, erfahrene Taucher zu sein.
    
  Doch diese Aufgabe ließ sich nicht aufschieben. Das herannahende Ungeheuer war zu gefährlich.
    
  Zum gefühlt tausendsten Mal, seit er seine Instrumente überprüft hatte, griff der Beamte zum Telefon und rief in einem anderen Gebiet an, das voraussichtlich von der Vorhersage betroffen sein würde.
    
  Hafen von Aqaba.
    
  "Salam alaykum, das ist Jawar Ibn Dawood vom Al-Qahira Meteorological Institute."
    
  "Alaykum salam, Jawar, hier spricht Najar." Obwohl die beiden Männer sich nie persönlich begegnet waren, telefonierten sie ein Dutzend Mal miteinander. "Könnten Sie mich in ein paar Minuten zurückrufen? Ich bin heute Morgen sehr beschäftigt."
    
  "Hören Sie mir zu, das ist wichtig. Wir haben heute Morgen früh eine riesige Luftmasse bemerkt. Sie ist sehr heiß und zieht auf Sie zu."
    
  'Simun? Du gehst diesen Weg? Verdammt, ich muss meine Frau anrufen und ihr sagen, sie soll die Wäsche holen.'
    
  "Hör auf mit den Witzen! Das ist einer der größten Fälle, die ich je gesehen habe. Das sprengt alle Grenzen. Extrem gefährlich."
    
  Der Meteorologe in Kairo konnte den Hafenmeister am anderen Ende der Leitung fast schlucken hören. Wie alle Jordanier hatte auch er gelernt, den Simun zu respektieren und zu fürchten - einen wirbelnden Sandsturm, der sich wie ein Tornado bewegte und Geschwindigkeiten von bis zu 160 km/h und Temperaturen von 49 Grad Celsius erreichte. Wer das Pech hatte, einen Simun in seiner vollen Stärke im Freien zu erleben, starb aufgrund der extremen Hitze sofort an Herzstillstand. Der Körper wurde vollständig ausgetrocknet, sodass nur noch eine hohle, ausgedörrte Hülle übrigblieb, wo wenige Minuten zuvor noch ein Mensch gestanden hatte. Glücklicherweise gaben moderne Wettervorhersagen der Bevölkerung genügend Zeit, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.
    
  'Ich verstehe. Haben Sie einen Vektor?', fragte der Hafenmeister, nun sichtlich besorgt.
    
  "Es hat die Sinai-Wüste vor ein paar Stunden verlassen. Ich denke, es wird Aqaba nur knapp passieren, sich aber von den dortigen Strömungen verstärken und über eurer zentralen Wüste explodieren. Ihr müsst alle informieren, damit die Nachricht weitergegeben werden kann."
    
  "Ich weiß, wie das Netzwerk funktioniert, Javar. Danke."
    
  "Achtet einfach darauf, dass niemand vor Einbruch der Dunkelheit geht, okay? Sonst müsst ihr die Mumien morgen früh abholen."
    
    
  84
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 11:07 Uhr.
    
    
  David Pappas setzte den Bohrkopf zum letzten Mal in das Loch ein. Sie hatten gerade ein etwa 1,80 Meter breites und 9 Zentimeter hohes Loch in die Wand gebohrt, und dank der Ewigkeit war die Decke der Kammer auf der anderen Seite der Wand nicht eingestürzt, obwohl die Vibrationen ein leichtes Beben verursachten. Nun konnten sie die Steine von Hand entfernen, ohne sie auseinanderzunehmen. Sie anzuheben und beiseite zu legen, war allerdings eine andere Sache, da es ziemlich viele waren.
    
  "Es wird noch zwei Stunden dauern, Mr. Cain."
    
  Der Milliardär war eine halbe Stunde zuvor in die Höhle hinabgestiegen. Er stand, wie so oft, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen in der Ecke, beobachtete die Umgebung und wirkte entspannt. Raymond Kain hatte Angst vor dem Abstieg in die Grube, aber nur aus rationalen Gründen. Er hatte sich die ganze Nacht mental darauf vorbereitet und verspürte nicht die übliche Beklemmung. Sein Puls beschleunigte sich, aber nicht mehr als sonst bei einem 68-Jährigen, der zum ersten Mal in einen Gurtzeug geschnallt und in eine Höhle hinabgelassen wurde.
    
  Ich verstehe nicht, warum ich mich so gut fühle. Liegt es an meiner Nähe zur Arche? Oder ist es dieser enge Schoß, dieser heiße Brunnen, der mich beruhigt und mir so guttut?
    
  Russell trat an ihn heran und flüsterte ihm zu, er müsse etwas aus seinem Zelt holen. Kain nickte, in Gedanken versunken, aber stolz darauf, nicht mehr von Jacob abhängig zu sein. Er liebte ihn wie einen Sohn und war dankbar für dessen Opfer, doch er konnte sich kaum an einen Moment erinnern, in dem Jacob nicht auf der anderen Seite des Raumes gewesen war, bereit, ihm zu helfen oder Rat zu geben. Wie geduldig der junge Mann doch mit ihm gewesen war.
    
  Ohne Jakob wäre all dies nie geschehen.
    
    
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  Protokoll der Kommunikation zwischen der Behemoth-Crew und Jacob Russell
    
  20. Juli 2006
    
    
  MOSES 1: Behemoth, hier spricht Moses 1. Kannst du mich hören?
    
    
  Nilpferd: Guten Morgen, Herr Russell.
    
    
  MOSES 1: Hallo Thomas. Wie geht es dir?
    
    
  BEHEMOTH: Wissen Sie, Sir. Es ist sehr herzlich, aber ich glaube, wir, die wir in Kopenhagen geboren sind, können nie genug davon bekommen. Wie kann ich Ihnen helfen?
    
    
  MOSES 1: Thomas, Mr. Cain braucht BA-609 in einer halben Stunde. Wir müssen eine Notfallbesprechung organisieren. Sagen Sie dem Piloten, er soll so viel Treibstoff wie möglich mitnehmen.
    
    
  BEHEMOTH: Sir, das ist leider nicht möglich. Wir haben soeben eine Nachricht von der Hafenbehörde von Aqaba erhalten, wonach ein gewaltiger Sandsturm durch das Gebiet zwischen dem Hafen und Ihrem Standort zieht. Der gesamte Flugverkehr wurde bis 18:00 Uhr eingestellt.
    
    
  MOSES 1: Thomas, ich hätte da eine Frage. Befindet sich an Bord Ihres Schiffes ein Emblem des Hafens von Aqaba oder von Cain Industries?
    
    
  BEHEMOTH: Kine Industries, Sir.
    
    
  MOSES 1: Das dachte ich mir. Noch etwas. Haben Sie mich zufällig gehört, als ich Ihnen den Namen der Person nannte, die BA-609 benötigt?
    
    
  BEHEMOTH: Hm, ja, Sir. Herr Kine, Sir.
    
    
  MOSES 1: Gut, Thomas. Dann befolgen Sie bitte meine Anweisungen, sonst werden Sie und die gesamte Besatzung dieses Schiffes einen Monat lang arbeitslos sein. Ist das verständlich?
    
    
  BEHEMOTH: Alles klar, Sir. Das Flugzeug wird sich sofort in Ihre Richtung begeben.
    
    
  MOSES 1: Immer wieder gern, Thomas. Erledigt.
    
    
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  X UKAN
    
  Er begann damit, den Namen Allahs, des Allweisen, des Heiligen, des Barmherzigen, desjenigen zu preisen, der ihm den Sieg über seine Feinde ermöglicht hatte. Er tat dies kniend auf dem Boden, in ein weißes Gewand gehüllt, das seinen ganzen Körper bedeckte. Vor ihm stand ein Becken mit Wasser.
    
  Um sicherzustellen, dass das Wasser auch die Haut unter dem Metall erreichte, nahm er den Ring mit der Gravur seines Abschlussdatums ab. Er hatte ihn von seiner Studentenverbindung geschenkt bekommen. Dann wusch er sich beide Hände bis zu den Handgelenken und achtete dabei besonders auf die Zwischenräume der Finger.
    
  Er formte mit seiner rechten Hand, mit der er nie seine Genitalien berührte, eine Schale, schöpfte etwas Wasser hinein und spülte sich dann dreimal kräftig den Mund aus.
    
  Er schöpfte mehr Wasser, führte es sich an die Nase und atmete kräftig ein, um seine Nasenlöcher zu befreien. Er wiederholte das Ritual dreimal. Mit der linken Hand entfernte er das restliche Wasser, den Sand und den Schleim.
    
  Mit der linken Hand befeuchtete er erneut seine Fingerspitzen und reinigte seine Nasenspitze.
    
  Er hob seine rechte Hand und führte sie zu seinem Gesicht, dann senkte er sie, tauchte sie in das Becken und wusch sich dreimal das Gesicht, vom rechten Ohr zum linken.
    
  Dann dreimal von der Stirn bis zum Hals.
    
  Er nahm seine Uhr ab und wusch sich gründlich beide Unterarme, zuerst den rechten und dann den linken, vom Handgelenk bis zum Ellbogen.
    
  Er befeuchtete seine Handflächen und rieb sich den Kopf von der Stirn bis zum Nacken.
    
  Er führte seine feuchten Zeigefinger in seine Ohren ein, reinigte die Ohren von innen und rieb anschließend seine Ohrläppchen mit den Daumen.
    
  Zum Schluss wusch er beide Füße bis zu den Knöcheln, beginnend mit dem rechten Fuß, und achtete darauf, auch zwischen den Zehen zu waschen.
    
  "Ash hadu an la ilaha illa Allah wahdahu la sharika lahu wa anna Muhammadan 'abduhu wa rasuluh", rezitierte er leidenschaftlich und betonte damit den zentralen Grundsatz seines Glaubens, dass es keinen Gott außer Allah gibt, der keinem Gleichen gleicht, und dass Muhammad sein Diener und Gesandter ist.
    
    
  Damit war die rituelle Waschung abgeschlossen, die den Beginn seines Lebens als erklärter Dschihad-Kämpfer markierte. Nun war er bereit, für die Ehre Allahs zu töten und zu sterben.
    
  Er griff nach der Pistole und erlaubte sich ein kurzes Lächeln. Er konnte die Triebwerke des Flugzeugs hören. Es war Zeit, das Signal zu geben.
    
  Mit einer feierlichen Geste verließ Russell das Zelt.
    
    
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  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 13:24 Uhr.
    
    
  Der Pilot von BA-609 war Howell Duke. In 23 Flugjahren hatte er 18.000 Stunden in verschiedenen Flugzeugtypen und unter allen erdenklichen Wetterbedingungen absolviert. Er hatte einen Schneesturm in Alaska und ein Gewitter in Madagaskar überlebt. Doch wahre Angst, dieses Gefühl der Kälte, das einem die Hoden zusammenzieht und den Hals austrocknet, hatte er noch nie erlebt.
    
  Bis heute.
    
  Er flog unter wolkenlosem Himmel mit optimaler Sicht und holte jedes letzte Quäntchen Leistung aus seinen Motoren heraus. Das Flugzeug war zwar nicht das schnellste oder beste, das er je geflogen hatte, aber mit Sicherheit das, das ihm am meisten Spaß machte. Es erreichte 507 km/h und schwebte dann majestätisch wie eine Wolke. Alles lief perfekt.
    
  Er blickte nach unten, um seine Flughöhe, den Tankinhalt und die Entfernung zu seinem Ziel zu überprüfen. Als er wieder aufsah, blieb ihm der Mund offen stehen. Am Horizont war etwas aufgetaucht, das vorher nicht da gewesen war.
    
  Zuerst sah es aus wie eine dreißig Meter hohe und mehrere Kilometer breite Sandwand. Da es in der Wüste nur wenige Orientierungspunkte gab, hielt Duke das Gesehene zunächst für unbeweglich. Nach und nach begriff er jedoch, dass es sich bewegte - und zwar rasend schnell.
    
  Vor mir liegt eine Schlucht. Verdammt. Gott sei Dank ist das nicht schon vor zehn Minuten passiert. Das muss der Simun sein, vor dem sie mich gewarnt haben.
    
  Er würde mindestens drei Minuten für die Landung benötigen, und die Felswand war weniger als 40 Kilometer entfernt. Er überschlug kurz. Simun bräuchte weitere 20 Minuten, um den Canyon zu erreichen. Er aktivierte den Hubschrauber-Umwandlungsmodus und spürte, wie die Triebwerke sofort langsamer wurden.
    
  Wenigstens funktioniert es. Ich werde Zeit haben, den Vogel zu landen und mich in die kleinste verfügbare Lücke zu quetschen. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was sie darüber sagen...
    
  Dreieinhalb Minuten später setzte das Fahrwerk der BA-609 auf einer ebenen Fläche zwischen dem Camp und der Ausgrabungsstätte auf. Duke schaltete den Motor aus und verzichtete - zum ersten Mal in seinem Leben - auf den letzten Sicherheitscheck. Er verließ das Flugzeug, als stünde ihm der Kragen. Er sah sich um, entdeckte aber niemanden.
    
  Ich muss es allen sagen. In dieser Schlucht werden sie es erst sehen, wenn es nur noch dreißig Sekunden entfernt ist.
    
  Er rannte auf die Zelte zu, obwohl er sich nicht sicher war, ob es darin am sichersten war. Plötzlich näherte sich ihm eine weiß gekleidete Gestalt. Er erkannte sie sofort.
    
  "Hallo, Mr. Russell. Ich sehe, Sie haben sich den Einheimischen angepasst", sagte Duke nervös. "Ich habe Sie schon lange nicht mehr gesehen ..."
    
  Russell war etwa sechs Meter von mir entfernt. In diesem Moment bemerkte der Pilot, dass Russell eine Pistole in der Hand hielt, und blieb abrupt stehen.
    
  'Mr. Russell, was ist los?'
    
  Der Kommandant sagte nichts. Er zielte einfach auf die Brust des Piloten und feuerte drei schnelle Schüsse ab. Dann beugte er sich über den am Boden liegenden Körper und feuerte drei weitere Schüsse in den Kopf des Piloten.
    
  In einer nahegelegenen Höhle hörte O Schüsse und warnte die Gruppe.
    
  "Brüder, das ist das Signal. Auf geht"s!"
    
    
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  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 13:39 Uhr.
    
    
  'Bist du betrunken, Nest Drei?'
    
  "Colonel, ich wiederhole, Mr. Russell hat dem Piloten den Kopf weggeschossen und ist dann zur Ausgrabungsstelle gerannt. Was sind Ihre Befehle?"
    
  'Verdammt. Hat irgendjemand ein Foto von Russell?'
    
  "Sir, das ist Nest Zwei. Er kommt auf den Bahnsteig. Er ist seltsam gekleidet. Soll ich einen Warnschuss abgeben?"
    
  "Negativ, Nest Zwei. Tun Sie nichts, bis wir mehr wissen. Nest Eins, können Sie mich verstehen?"
    
  '...'
    
  'Nest Eins, kannst du mich hören?'
    
  "Nest Nummer eins. Torres, nimm endlich dieses verdammte Radio!"
    
  '...'
    
  'Nest zwei, haben Sie ein Bild von Nest eins?'
    
  "Ja, Sir. Ich habe ein Bild, aber Torres ist nicht darauf zu sehen, Sir."
    
  'Verdammt! Ihr zwei, behaltet den Eingang zur Ausgrabungsstätte im Auge. Ich bin unterwegs.'
    
    
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  AM EINGANG ZUM CANYON, ZEHN MINUTEN VORHER
    
  Der erste Biss erfolgte vor zwanzig Minuten an seiner Wade.
    
  Fowler verspürte einen stechenden Schmerz, der aber glücklicherweise nicht lange anhielt und in ein dumpfes Pochen überging, eher wie ein harter Schlag als der erste Blitzschlag.
    
  Der Priester hatte geplant, etwaige Schreie durch Zähneknirschen zu unterdrücken, zwang sich aber, dies noch nicht zu tun. Er würde es beim nächsten Bissen versuchen.
    
  Die Ameisen waren ihm nicht höher als bis zu den Knien geklettert, und Fowler hatte keine Ahnung, ob sie ihn erkannten. Er gab sich alle Mühe, entweder ungenießbar oder gefährlich zu wirken, und aus beiden Gründen konnte er eines nicht tun: sich bewegen.
    
  Die nächste Injektion schmerzte viel mehr, vielleicht weil er wusste, was als Nächstes kommen würde: die Schwellung in dem Bereich, die Unausweichlichkeit des Ganzen, das Gefühl der Hilflosigkeit.
    
  Nach dem sechsten Stich hörte er auf zu zählen. Vielleicht war er zwölfmal gestochen worden, vielleicht zwanzigmal. Es dauerte nicht mehr lange, aber er konnte es nicht mehr ertragen. Er hatte alle seine Kräfte ausgeschöpft - er knirschte mit den Zähnen, biss sich auf die Lippen und blähte die Nasenflügel so weit auf, dass man einen LKW hindurchfahren konnte. In seiner Verzweiflung riskierte er sogar, sich in den Handschellen die Handgelenke zu verdrehen.
    
  Das Schlimmste war die Ungewissheit über den Zeitpunkt des nächsten Angriffs. Bis jetzt hatte er Glück gehabt, da sich die meisten Ameisen etwa sechs Meter nach links zurückgezogen hatten und nur ein paar Hundert den Boden unter ihm bedeckten. Doch er wusste, dass sie bei der geringsten Bewegung angreifen würden.
    
  Er musste sich auf etwas anderes konzentrieren als auf den Schmerz, sonst würde er gegen sein besseres Wissen handeln und versuchen, die Insekten mit seinen Stiefeln zu zertreten. Vielleicht würde er sogar ein paar töten, aber es war klar, dass sie zahlenmäßig überlegen waren, und er würde letztendlich verlieren.
    
  Ein weiterer Schlag war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Schmerzen durchfuhren seine Beine und entluden sich in seinen Genitalien. Er war kurz davor, den Verstand zu verlieren.
    
  Ironischerweise war es Torres, der ihn rettete.
    
  "Padre, deine Sünden greifen dich an. Eine nach der anderen, genau wie sie die Seele verzehren."
    
  Fowler blickte auf. Der Kolumbianer stand fast zehn Meter entfernt und beobachtete ihn mit einem amüsierten Gesichtsausdruck.
    
  "Weißt du, ich hatte es satt, da oben zu sein, also bin ich zurückgekommen, um dich in deiner ganz persönlichen Hölle zu besuchen. Sieh mal, so wird uns niemand stören", sagte er und schaltete mit der linken Hand das Radio aus. In seiner rechten Hand hielt er einen Stein von der Größe eines Tennisballs. "Also, wo waren wir stehen geblieben?"
    
  Der Priester war dankbar für Torres' Anwesenheit. So hatte er jemanden, auf den er seinen Hass richten konnte. Was ihm wiederum ein paar weitere Minuten der Stille, ein paar weitere Minuten des Lebens verschaffen würde.
    
  "Oh ja", fuhr Torres fort. "Wir haben versucht herauszufinden, ob du den ersten Schritt machen würdest oder ob ich ihn für dich machen würde."
    
  Er warf einen Stein und traf Fowler an der Schulter. Der Stein landete dort, wo sich die meisten Ameisen versammelt hatten, wieder ein pulsierender, tödlicher Schwarm, bereit, alles anzugreifen, was ihr Zuhause bedrohte.
    
  Fowler schloss die Augen und versuchte, den Schmerz zu ertragen. Der Stein hatte ihn an derselben Stelle getroffen, an der ihn der psychopathische Mörder sechzehn Monate zuvor angeschossen hatte. Die ganze Gegend schmerzte nachts noch immer, und nun fühlte er sich, als durchlebte er die ganze Tortur erneut. Er versuchte, sich auf den Schmerz in seiner Schulter zu konzentrieren, um den Schmerz in seinen Beinen zu betäuben, und wandte dabei einen Trick an, den ihm sein Ausbilder vor einer gefühlten Ewigkeit beigebracht hatte: Das Gehirn kann immer nur einen stechenden Schmerz gleichzeitig verarbeiten.
    
    
  Als Fowler die Augen wieder öffnete und sah, was hinter Torres geschah, musste er sich noch mehr anstrengen, seine Gefühle zu beherrschen. Würde er sich auch nur einen Moment lang verraten, wäre es sein Ende. Andrea Oteros Kopf tauchte hinter der Düne auf, die sich direkt hinter dem Eingang der Schlucht erhob, in der Torres ihn gefangen hielt. Die Reporterin war ganz in der Nähe, und zweifellos würde sie sie in wenigen Augenblicken sehen, falls sie es nicht schon getan hatte.
    
  Fowler wusste, dass er absolut sicher sein musste, dass Torres nicht umkehren und nach einem anderen Stein suchen würde. Er beschloss, dem Kolumbianer das zu geben, womit der Soldat am wenigsten gerechnet hatte.
    
  "Bitte, Torres. Bitte, ich flehe dich an."
    
  Der Gesichtsausdruck des Kolumbianers veränderte sich schlagartig. Wie bei allen Mördern erregte ihn kaum etwas mehr als die Kontrolle, die er über seine Opfer zu haben glaubte, wenn diese zu betteln begannen.
    
  'Worum bettelst du denn, Padre?'
    
  Der Priester musste sich zur Konzentration zwingen und die richtigen Worte wählen. Alles hing davon ab, dass Torres sich nicht umdrehte. Andrea hatte sie gesehen, und Fowler war sich sicher, dass sie in der Nähe war, obwohl er sie aus den Augen verloren hatte, weil Torres' Körper ihm den Weg versperrte.
    
  "Ich flehe Sie an, mein Leben zu verschonen. Mein jämmerliches Leben. Sie sind ein Soldat, ein wahrer Mann. Verglichen mit Ihnen bin ich nichts."
    
  Der Söldner grinste breit und zeigte seine vergilbten Zähne. "Gut gesagt, Padre. Und nun ..."
    
  Torres kam gar nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Er spürte den Schlag nicht einmal.
    
    
  Andrea, die die Szene beim Näherkommen überblicken konnte, entschied sich gegen den Einsatz ihrer Waffe. Sie erinnerte sich daran, wie schlecht sie mit Alric geschossen hatte, und hoffte bestenfalls, dass keine verirrte Kugel Fowler am Kopf treffen würde, so wie sie zuvor den Reifen des Hummers getroffen hatte. Stattdessen zog sie die Scheibenwischer von ihrem improvisierten Regenschirm. Sie hielt das Stahlrohr wie einen Baseballschläger und kroch langsam vorwärts.
    
  Das Rohr war nicht besonders schwer, deshalb musste sie ihren Angriff sorgfältig planen. Nur wenige Schritte hinter ihm beschloss sie, auf seinen Kopf zu zielen. Ihre Handflächen wurden schweißnass, und sie betete, dass sie keinen Fehler machen würde. Wenn Torres sich umdrehte, war es um sie geschehen.
    
  Das tat er nicht. Andrea stellte ihre Füße fest auf den Boden, schwang ihre Waffe und traf Torres mit aller Kraft an der Schläfe.
    
  'Nimm das, du Mistkerl!'
    
  Der Kolumbianer stürzte wie ein Stein in den Sand. Die Masse roter Ameisen musste die Erschütterungen gespürt haben, denn sie drehten sich sofort um und stürzten sich auf seinen Körper. Ohne zu ahnen, was geschehen war, begann er sich aufzurichten. Noch halb bewusstlos vom Schlag gegen seine Schläfe, taumelte er und fiel erneut, als die ersten Ameisen ihn erreichten. Als er die ersten Bisse spürte, hob Torres in panischer Angst die Hände vor die Augen. Er versuchte niederzuknien, doch das reizte die Ameisen nur noch mehr, und sie stürzten sich in noch größerer Zahl auf ihn. Es war, als würden sie über ihre Pheromone miteinander kommunizieren.
    
  Feind.
    
  Töten.
    
  "Lauf, Andrea!", schrie Fowler. "Weg von ihnen!"
    
  Der junge Reporter wich einige Schritte zurück, doch nur wenige Ameisen folgten den Vibrationen. Sie kümmerten sich vielmehr um den Kolumbianer, der von Kopf bis Fuß bedeckt war und vor Schmerzen aufschrie. Jede Zelle seines Körpers war von scharfen Kiefern und nadelartigen Bissen attackiert worden. Torres schaffte es, wieder aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen; die Ameisen bedeckten ihn wie eine fremde Haut.
    
  Er machte noch einen Schritt, stürzte dann und stand nie wieder auf.
    
    
  Andrea zog sich derweil zu der Stelle zurück, wo sie die Scheibenwischer und das Hemd weggeworfen hatte. Sie wickelte die Scheibenwischer in einen Lappen. Dann machte sie einen großen Umweg um die Ameisen herum, ging auf Fowler zu und zündete das Hemd mit ihrem Feuerzeug an. Während das Hemd brannte, zog sie einen Kreis um den Priester auf den Boden. Die wenigen Ameisen, die sich nicht an dem Angriff auf Torres beteiligt hatten, flohen in der Hitze.
    
  Mithilfe eines Stahlrohrs zog sie Fowlers Handschellen und den Nagel, mit dem sie am Stein befestigt waren, zurück.
    
  "Danke", sagte der Priester, seine Beine zitterten.
    
    
  Als sie etwa dreißig Meter von den Ameisen entfernt waren und Fowler sie in Sicherheit wähnte, brachen sie erschöpft zusammen. Der Priester krempelte seine Hosenbeine hoch, um sie zu untersuchen. Abgesehen von kleinen, rötlichen Bissspuren, Schwellungen und einem anhaltenden, aber dumpfen Schmerz hatten die gut zwanzig Bisse kaum Schaden angerichtet.
    
  "Jetzt, wo ich dir das Leben gerettet habe, ist deine Schuld mir gegenüber wohl beglichen?", sagte Andrea sarkastisch.
    
  'Hat Ihnen der Arzt davon erzählt?'
    
  "Ich möchte Sie dazu und zu vielem mehr befragen."
    
  "Wo ist sie?", fragte der Priester, aber er kannte die Antwort bereits.
    
  Die junge Frau schüttelte den Kopf und begann zu schluchzen. Fowler umarmte sie zärtlich.
    
  "Es tut mir sehr leid, Miss Otero."
    
  "Ich habe sie geliebt", sagte sie und vergrub ihr Gesicht an der Brust des Priesters. Während sie schluchzte, bemerkte Andrea, dass Fowler sich plötzlich angespannt hatte und den Atem anhielt.
    
  'Was ist passiert?', fragte sie.
    
  Als Antwort auf ihre Frage deutete Fowler zum Horizont, wo Andrea eine tödliche Sandwand sah, die sich ihnen so unaufhaltsam näherte wie die Nacht.
    
    
  90
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 13:48 Uhr.
    
    
  Ihr zwei, behaltet den Eingang zur Ausgrabungsstätte im Auge. Ich bin unterwegs.
    
  Es waren diese Worte, die, wenn auch indirekt, zum Tod der restlichen Decker-Besatzung führten. Als der Angriff erfolgte, richteten die beiden Soldaten ihre Blicke überall hin, nur nicht dorthin, wo die Gefahr herkam.
    
  Tewi Waaka, ein riesiger Sudanese, erhaschte nur einen kurzen Blick auf die braun gekleideten Eindringlinge, als diese bereits im Lager waren. Sieben von ihnen waren mit Kalaschnikows bewaffnet. Er warnte Jackson über Funk, woraufhin die beiden das Feuer eröffneten. Einer der Eindringlinge fiel im Kugelhagel. Die Übrigen verschanzten sich hinter den Zelten.
    
  Vaaka war überrascht, dass sie nicht zurückschossen. Das war sogar sein letzter Gedanke, denn wenige Sekunden später überfielen ihn zwei Terroristen, die die Klippe hinaufgeklettert waren, von hinten. Zwei Salven aus einer Kalaschnikow, und Tevi Vaaka ging zu seinen Vorfahren.
    
    
  Auf der anderen Seite des Canyons, bei Nest 2, sah Marla Jackson, wie Waka durch das Zielfernrohr ihres M4 erschossen wurde, und wusste, dass ihr dasselbe Schicksal bevorstand. Marla kannte die Klippen gut. Sie hatte dort so viele Stunden verbracht, nichts anderes zu tun, als sich umzusehen und sich heimlich durch die Hose zu berühren, während sie die Stunden zählte, bis Decker kam und sie auf eine private Aufklärungsmission mitnahm.
    
  Während ihrer Wache hatte sie sich hunderte Male ausgemalt, wie hypothetische Feinde sie umzingeln könnten. Jetzt, als sie über den Klippenrand spähte, sah sie zwei sehr reale Feinde nur einen halben Meter entfernt. Sofort feuerte sie vierzehn Kugeln auf sie ab.
    
  Sie gaben keinen Laut von sich, als sie starben.
    
    
  Nun wusste sie von vier Feinden, doch ohne Deckung konnte sie aus ihrer Position nichts ausrichten. Ihr fiel nur ein, sich Decker an der Ausgrabungsstätte anzuschließen, um gemeinsam einen Plan zu entwickeln. Es war eine furchtbare Option, da sie dadurch ihren Höhenvorteil und einen leichteren Fluchtweg verlieren würde. Aber sie hatte keine Wahl, denn nun hörte sie drei Worte über Funk:
    
  'Marla... hilf mir.'
    
  'Decker, wo bist du?'
    
  "Unten. Am Fuße des Bahnsteigs."
    
  Ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit kletterte Marla die Strickleiter hinunter und rannte zur Ausgrabungsstätte. Decker lag neben der Plattform, mit einer hässlichen Wunde auf der rechten Brust und dem linken Bein unter sich verdreht. Er musste vom Gerüst gestürzt sein. Marla untersuchte die Wunde. Dem Südafrikaner war es gelungen, die Blutung zu stoppen, aber seine Atmung war...
    
  Verdammte Pfeife.
    
  ...Sorgen. Er hatte eine Lungenverletzung, und es wäre schlimm gewesen, wenn sie nicht sofort zum Arzt gekommen wären.
    
  'Was ist mit dir passiert?'
    
  "Es war Russell. Dieser Mistkerl... er hat mich völlig überrascht, als ich reinkam."
    
  "Russell?", sagte Marla überrascht. Sie versuchte nachzudenken. "Es wird alles gut. Ich hole Sie hier raus, Colonel. Versprochen."
    
  'Auf keinen Fall. Du musst hier alleine verschwinden. Ich bin fertig. Der Meister hat es am besten ausgedrückt: "Das Leben ist für die große Mehrheit ein ständiger Kampf ums Überleben, in der Gewissheit, dass er letztendlich gewonnen wird."'
    
  'Könntest du diesen verdammten Schopenhauer bitte endlich in Ruhe lassen, Decker?'
    
  Der Südafrikaner lächelte traurig über den Ausbruch seiner Geliebten und machte eine leichte Kopfbewegung.
    
  'Ich folge dir, Soldat. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.'
    
  Marla drehte sich um und sah vier Terroristen auf sich zukommen. Sie hatten sich verteilt und die Felsen als Deckung genutzt, während ihr einziger Schutz die schwere Plane war, die das Hydrauliksystem und die Stahllager der Plattform abdeckte.
    
  "Colonel, ich glaube, wir sind beide erledigt."
    
  Sie warf sich das M4 über die Schulter und versuchte, Decker unter das Gerüst zu ziehen, schaffte es aber nur, ihn ein paar Zentimeter zu bewegen. Das Gewicht des Südafrikaners war selbst für eine so starke Frau zu viel.
    
  'Hör mir zu, Marla.'
    
  "Was zum Teufel wollt ihr?", fragte Marla und versuchte nachzudenken, während sie sich neben die Stahlgerüststützen duckte. Sie war sich zwar nicht sicher, ob sie das Feuer eröffnen sollte, bevor sie freie Schussbahn hatte, aber sie war zuversichtlich, dass sie viel schneller eine haben würden als sie.
    
  'Ergebt euch. Ich will nicht, dass sie euch töten', sagte Decker mit immer schwächer werdender Stimme.
    
  Marla wollte ihren Kommandanten gerade wieder verfluchen, als ein kurzer Blick zum Eingang der Schlucht ihr verriet, dass die Kapitulation vielleicht der einzige Ausweg aus dieser absurden Situation war.
    
  "Ich gebe auf!", schrie sie. "Hört ihr mir überhaupt zu, ihr Idioten? Ich gebe auf. Yankee, sie fährt nach Hause."
    
  Sie warf ihr Gewehr ein paar Meter vor sich hin, dann ihre automatische Pistole. Dann stand sie auf und hob die Hände.
    
  Ich zähle auf euch, ihr Mistkerle. Das ist eure Chance, eine weibliche Gefangene gründlich zu verhören. Schieß nicht auf mich, du verdammtes Ding.
    
  Die Terroristen näherten sich langsam, ihre Gewehre auf ihren Kopf gerichtet, jeder Lauf der Kalaschnikow bereit, Blei auszuspucken und ihr kostbares Leben zu beenden.
    
  "Ich ergebe mich", wiederholte Marla und beobachtete, wie sie vorrückten. Sie bildeten einen Halbkreis, die Knie gebeugt, die Gesichter mit schwarzen Schals verhüllt, etwa sechs Meter voneinander entfernt, damit sie keine leichten Ziele abgaben.
    
  Verdammt nochmal, ich geb's auf, ihr Mistkerle. Viel Spaß mit euren zweiundsiebzig Jungfrauen.
    
  "Ich ergebe mich!", schrie sie ein letztes Mal, in der Hoffnung, das immer lauter werdende Rauschen des Windes zu übertönen, das sich in eine Explosion verwandelte, als eine Sandwand über die Zelte hinwegfegte, das Flugzeug verschlang und dann auf die Terroristen zuraste.
    
  Zwei von ihnen drehten sich schockiert um. Die Übrigen erfuhren nie, was ihnen widerfahren war.
    
  Sie starben alle auf der Stelle.
    
  Marla eilte zu Decker und zog die Plane wie ein provisorisches Zelt über sie beide.
    
  Du musst runtergehen. Bedecke dich mit etwas. Kämpfe nicht gegen die Hitze und den Wind an, sonst trocknest du aus wie eine Rosine.
    
  Das waren die Worte von Torres, dem ewigen Prahler, als er seinen Kameraden beim Pokern von dem Simun-Mythos erzählte. Vielleicht würde es ja klappen. Marla packte Decker, und er versuchte dasselbe, doch sein Griff war schwach.
    
  'Halten Sie durch, Colonel. In einer halben Stunde sind wir weg.'
    
    
  91
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 13:52 Uhr.
    
    
  Die Öffnung war kaum mehr als ein Spalt am Grund der Schlucht, aber groß genug für zwei eng aneinandergedrängte Personen. Sie schafften es gerade noch hineinzuzwängen, bevor der Simun mit voller Wucht über die Schlucht stürzte. Ein kleiner Felsvorsprung schützte sie vor der ersten Hitzewelle. Sie mussten schreien, um sich gegen das Tosen des Sandsturms verständlich zu machen.
    
  "Entspannen Sie sich, Miss Otero. Wir werden mindestens zwanzig Minuten hier sein. Dieser Wind ist lebensgefährlich, aber zum Glück dauert er nicht allzu lange."
    
  'Du warst doch schon einmal in einem Sandsturm, nicht wahr, Vater?'
    
  "Ein paar Mal. Aber ich habe noch nie einen Simun gesehen. Ich habe nur in Rand McNallys Atlas darüber gelesen."
    
  Andrea verstummte einen Moment lang und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Glücklicherweise drang der vom Canyon herabgewehte Sand kaum in ihre Unterkunft ein, obwohl die Temperatur rapide angestiegen war und Andrea das Atmen erschwerte.
    
  "Sprich mit mir, Vater. Mir ist, als würde ich ohnmächtig werden."
    
  Fowler versuchte, seine Position zu verändern, um die Schmerzen in seinen Beinen zu reiben. Die Bisse brauchten dringend Desinfektionsmittel und Antibiotika, auch wenn das keine Priorität hatte. Wichtig war, Andrea da rauszubringen.
    
  "Sobald der Wind nachlässt, rennen wir zu den H3s und richten eine Ablenkung ein, damit Sie von hier wegkommen und nach Aqaba fahren können, bevor jemand zu schießen beginnt. Sie können doch fahren, oder?"
    
  "Ich wäre längst in Aqaba, wenn ich den Stecker in diesem verdammten Hummer finden könnte", log Andrea. "Jemand hat ihn mitgenommen."
    
  "Bei einem Fahrzeug wie diesem befindet es sich unter dem Reserverad."
    
  Wo ich natürlich nicht gesucht habe.
    
  "Wechsle nicht das Thema. Du hast die Einzahl benutzt. Kommst du nicht mit?"
    
  "Ich muss meine Mission erfüllen, Andrea."
    
  'Du bist meinetwegen hierhergekommen, nicht wahr? Nun, jetzt kannst du mit mir gehen.'
    
  Der Priester zögerte einige Sekunden, bevor er antwortete. Schließlich entschied er, dass der junge Reporter die Wahrheit erfahren musste.
    
  "Nein, Andrea. Ich wurde hierher geschickt, um die Bundeslade zu bergen, koste es, was es wolle, aber das war ein Befehl, den ich nie ausführen wollte. Es gibt einen Grund, warum ich Sprengstoff in meinem Aktenkoffer hatte. Und dieser Grund liegt in dieser Höhle. Ich habe nie wirklich an ihre Existenz geglaubt und hätte die Mission niemals angenommen, wenn du nicht dabei gewesen wärst. Mein Vorgesetzter hat uns beide ausgenutzt."
    
  'Warum, Vater?'
    
  "Es ist sehr kompliziert, aber ich versuche, es so kurz wie möglich zu erklären. Der Vatikan hat die möglichen Folgen einer Rückkehr der Bundeslade nach Jerusalem erwogen. Die Menschen würden dies als Zeichen deuten, genauer gesagt als Zeichen dafür, dass der Tempel Salomos an seinem ursprünglichen Standort wieder aufgebaut werden sollte."
    
  Wo befinden sich der Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee?
    
  "Genau. Die religiösen Spannungen in der Region würden sich hundertfach verschärfen. Das würde die Palästinenser provozieren. Die Al-Aqsa-Moschee würde schließlich zerstört werden, um den ursprünglichen Tempel wieder aufzubauen. Das ist keine bloße Annahme, Andrea. Es ist eine grundlegende Idee. Wenn eine Gruppe die Macht hat, eine andere zu unterdrücken, und sie glaubt, die Rechtfertigung dafür zu haben, wird sie es letztendlich tun."
    
  Andrea erinnerte sich an eine Geschichte, an der sie sieben Jahre zuvor, zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn, gearbeitet hatte. Es war September 2000, und sie arbeitete in der Auslandsredaktion der Zeitung. Die Nachricht erreichte sie, dass Ariel Sharon einen Marsch auf dem Tempelberg plante - der Grenze zwischen dem jüdischen und dem arabischen Viertel im Herzen Jerusalems, einem der heiligsten und umstrittensten Orte der Geschichte, dem Standort des Felsentempels, der drittheiligsten Stätte der islamischen Welt. Umgeben von Hunderten von Bereitschaftspolizisten.
    
  Dieser einfache Spaziergang führte zur Zweiten Intifada, die bis heute andauert. Zu Tausenden Toten und Verwundeten; zu Selbstmordattentaten auf der einen und Militärangriffen auf der anderen Seite. Zu einer endlosen Spirale des Hasses, die kaum Hoffnung auf Versöhnung bot. Würde die Entdeckung der Bundeslade den Wiederaufbau des Tempels Salomos an der Stelle der heutigen Al-Aqsa-Moschee bedeuten, würden sich alle islamischen Länder der Welt gegen Israel erheben und einen Konflikt mit unvorstellbaren Folgen entfesseln. Angesichts der Tatsache, dass der Iran kurz davor stand, sein Atomprogramm zu realisieren, waren dem, was geschehen konnte, keine Grenzen gesetzt.
    
  "Ist das eine Ausrede?", fragte Andrea mit zitternder Stimme. "Die heiligen Gebote des Gottes der Liebe?"
    
  "Nein, Andrea. Dies ist der Titel für das Gelobte Land."
    
  Der Reporter rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
    
  "Jetzt erinnere ich mich, wie Forrester es nannte ... einen Vertrag zwischen Mensch und Gott. Und was Kira Larsen über die ursprüngliche Bedeutung und Macht der Arche sagte. Aber ich verstehe nicht, was Kain damit zu tun hat."
    
  Herr Cain ist offensichtlich unruhig, aber auch tief religiös. Soweit ich weiß, hat ihm sein Vater einen Brief hinterlassen, in dem er ihn bittet, die Mission seiner Familie zu erfüllen. Mehr weiß ich nicht.
    
  Andrea, die die ganze Geschichte durch ihr Interview mit Cain genauer kannte, unterbrach nicht.
    
  Wenn Fowler den Rest wissen will, kann er sich das Buch kaufen, das ich schreiben will, sobald ich hier raus bin, dachte sie.
    
  "Von dem Moment an, als sein Sohn geboren wurde, machte Kain deutlich", fuhr Fowler fort, "dass er all seine Mittel einsetzen würde, um die Bundeslade zu finden, damit sein Sohn..."
    
  'Isaak'.
    
  "...damit Isaak die Bestimmung seiner Familie erfüllen konnte."
    
  'Um die Bundeslade in den Tempel zurückzubringen?'
    
  "Nicht ganz, Andrea. Laut einer bestimmten Auslegung der Tora wird derjenige, der die Bundeslade wiederfinden und den Tempel wieder aufbauen kann - was angesichts Kains Zustand relativ einfach ist -, der Verheißene sein: der Messias."
    
  'Oh Gott!'
    
  Andreas Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig, als das letzte Puzzleteil an seinen Platz fiel. Es erklärte alles. Die Halluzinationen. Das zwanghafte Verhalten. Das schreckliche Trauma, in diesem beengten Raum aufgewachsen zu sein. Religion als unumstößliche Tatsache.
    
  "Genau", sagte Fowler. "Außerdem betrachtete er den Tod seines eigenen Sohnes Isaak als ein von Gott gefordertes Opfer, damit er selbst diese Bestimmung erfüllen konnte."
    
  "Aber, Vater ... wenn Kain wusste, wer du warst, warum zum Teufel hat er dich dann auf die Expedition mitgenommen?"
    
  "Wissen Sie, es ist ironisch. Kain hätte diese Mission ohne Roms Segen, ohne die Bestätigung der Echtheit der Bundeslade, nicht durchführen können. So konnten sie mich für die Expedition rekrutieren. Aber auch jemand anderes hatte sich eingeschlichen. Jemand mit großer Macht, der beschloss, für Kain zu arbeiten, nachdem Isaak ihm von der Besessenheit seines Vaters mit der Bundeslade erzählt hatte. Ich vermute, zunächst nahm er den Auftrag nur an, um an sensible Informationen zu gelangen. Später, als Kains Besessenheit konkretere Formen annahm, entwickelte er seine eigenen Pläne."
    
  'Russell!', keuchte Andrea.
    
  "Das stimmt. Der Mann, der dich ins Meer warf und Stow Erling in einem ungeschickten Versuch, seine Entdeckung zu vertuschen, tötete. Vielleicht plante er, die Bundeslade später selbst auszugraben. Und entweder er oder Kain - oder beide - sind für Protokoll Upsilon verantwortlich."
    
  "Und er hat Skorpione in meinen Schlafsack getan, dieser Mistkerl."
    
  "Nein, es war Torres. Du hast einen sehr exklusiven Fanclub."
    
  "Erst seit wir uns kennengelernt haben, Vater. Aber ich verstehe immer noch nicht, warum Russell die Bundeslade braucht."
    
  "Vielleicht um es zu zerstören. Wenn dem so ist, obwohl ich es bezweifle, werde ich ihn nicht aufhalten. Ich denke, er will es vielleicht von hier wegbringen, um damit irgendeinen verrückten Plan zur Erpressung der israelischen Regierung umzusetzen. Ich habe diesen Teil noch nicht ganz durchschaut, aber eines ist klar: Nichts wird mich davon abhalten, meine Entscheidung umzusetzen."
    
  Andrea versuchte, dem Priester genauer ins Gesicht zu sehen. Was sie sah, ließ sie erstarren.
    
  'Willst du die Bundeslade wirklich in die Luft jagen, Vater? So ein heiliges Objekt?'
    
  "Ich dachte, Sie glauben nicht an Gott", sagte Fowler mit einem ironischen Lächeln.
    
  "Mein Leben hat in letzter Zeit viele seltsame Wendungen genommen", antwortete Andrea traurig.
    
  "Das Gesetz Gottes ist hier und da eingraviert", sagte der Priester und berührte seine Stirn und dann seine Brust. "Die Bundeslade ist nur eine Kiste aus Holz und Metall, die, wenn sie schwimmt, zum Tod von Millionen Menschen und zu hundert Jahren Krieg führen wird. Was wir in Afghanistan und im Irak gesehen haben, ist nur ein blasser Schatten dessen, was als Nächstes geschehen könnte. Deshalb verlässt er diese Höhle nicht."
    
  Andrea antwortete nicht. Plötzlich herrschte Stille. Das Heulen des Windes in den Felsen der Schlucht verstummte endlich.
    
  Simun ist vorbei.
    
    
  92
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 14:16 Uhr.
    
    
  Vorsichtig verließen sie ihren Unterschlupf und betraten die Schlucht. Vor ihnen bot sich ein Bild der Verwüstung. Zelte waren von ihren Podesten gerissen worden, und was sich darin befunden hatte, lag nun verstreut in der Umgebung. Die Windschutzscheiben der Hummer waren von kleinen Steinen zersplittert, die von den Schluchtwänden abgebrochen waren. Fowler und Andrea gingen gerade auf ihre Fahrzeuge zu, als sie plötzlich den Motor eines der Hummer aufheulen hörten.
    
  Plötzlich raste ein H3 mit voller Geschwindigkeit auf sie zu.
    
  Fowler stieß Andrea beiseite und sprang zur Seite. Einen kurzen Augenblick lang sah er Marla Jackson hinter dem Steuer, die Zähne vor Wut zusammengebissen. Der massive Hinterreifen des Hummers sauste nur Zentimeter an Andreas Gesicht vorbei und spritzte ihr Sand ins Gesicht.
    
  Bevor die beiden aufstehen konnten, bog H3 um eine Kurve im Canyon und verschwand.
    
  "Ich glaube, wir waren die Einzigen", sagte der Priester und half Andrea auf die Beine. "Das waren Jackson und Decker, die davongingen, als ob der Teufel persönlich hinter ihnen her wäre. Ich glaube nicht, dass viele ihrer Begleiter zurückgeblieben sind."
    
  "Vater, ich glaube nicht, dass das die einzigen fehlenden Dinge sind. Es sieht so aus, als ob dein Plan, mich hier rauszuholen, gescheitert ist", sagte der Reporter und deutete auf die drei verbliebenen Geländewagen.
    
  Alle zwölf Reifen waren aufgeschlitzt.
    
  Sie irrten einige Minuten lang zwischen den Zeltresten umher und suchten nach Wasser. Sie fanden drei halbvolle Feldflaschen und eine Überraschung: Andreas Rucksack mit ihrer Festplatte, fast im Sand vergraben.
    
  "Alles hat sich verändert", sagte Fowler und blickte sich misstrauisch um. Er wirkte unsicher und ging umher, als könnte der Mörder auf den Klippen jeden Moment den Rest geben.
    
  Andrea folgte ihm, vor Angst in die Hocke gehend.
    
  "Ich kann dich hier nicht rausholen, also bleib in meiner Nähe, bis wir eine Lösung gefunden haben."
    
  BA-609 kippte auf die linke Seite, wie ein Vogel mit gebrochenem Flügel. Fowler betrat die Kabine und kam dreißig Sekunden später mit mehreren Kabeln in der Hand wieder heraus.
    
  "Russell wird das Flugzeug nicht benutzen können, um die Bundeslade zu transportieren", sagte er, warf die Kabel beiseite und sprang wieder herunter. Er zuckte zusammen, als seine Füße den Sand berührten.
    
  Er hat immer noch Schmerzen. Das ist doch Wahnsinn, dachte Andrea.
    
  Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?
    
  Fowler wollte gerade antworten, hielt aber inne und ging zum Heck des Flugzeugs. In der Nähe der Räder lag ein mattschwarzer Gegenstand. Der Priester hob ihn auf.
    
  Es war seine Aktentasche.
    
  Der Deckel des Koffers sah aus, als sei er aufgeschnitten worden und gab den Blick auf den Plastiksprengstoff frei, mit dem Fowler den Wassertank gesprengt hatte. Er berührte den Koffer an zwei Stellen, woraufhin sich ein Geheimfach öffnete.
    
  "Es ist schade, dass sie das Leder ruiniert haben. Ich habe diese Aktentasche schon lange", sagte der Priester und sammelte die vier verbliebenen Päckchen Sprengstoff und einen weiteren Gegenstand, etwa so groß wie ein Uhrenzifferblatt, mit zwei Metallverschlüssen ein.
    
  Fowler wickelte die Sprengstoffe in ein Kleidungsstück ein, das bei einem Sandsturm aus den Zelten geweht worden war.
    
  'Pack das in deinen Rucksack, okay?'
    
  "Auf keinen Fall", sagte Andrea und trat einen Schritt zurück. "Diese Dinger machen mir wahnsinnige Angst."
    
  "Ohne angebrachten Zünder ist es harmlos."
    
  Andrea gab widerwillig nach.
    
  Als sie sich dem Bahnsteig näherten, sahen sie die Leichen der Terroristen, die Marla Jackson und Decker vor dem Angriff der Simun umzingelt hatten. Andreas erste Reaktion war Panik, bis ihr klar wurde, dass sie tot waren. Als sie die Leichen erreichten, entfuhr Andrea ein entsetzter Schrei. Die Körper lagen in seltsamen Positionen. Einer von ihnen schien zu versuchen, aufzustehen - ein Arm war erhoben, und seine Augen waren weit aufgerissen, als blickte er in die Hölle, dachte Andrea ungläubig.
    
  Nur hatte er keine Augen.
    
  Die Augenhöhlen der Leichen waren leer, ihre offenen Münder glichen schwarzen Löchern, und ihre Haut war so grau wie Pappe. Andrea holte ihre Kamera aus dem Rucksack und machte ein paar Fotos von den Mumien.
    
  Ich kann es nicht fassen. Es ist, als wäre ihnen ohne Vorwarnung das Leben entrissen worden. Oder als würde es immer noch geschehen. Mein Gott, wie schrecklich!
    
  Andrea drehte sich um, und ihr Rucksack traf einen der Männer am Kopf. Vor ihren Augen zerfiel der Körper des Mannes in einem Augenblick und hinterließ nur einen Haufen grauen Staubs, Kleidung und Knochen.
    
  Andrea fühlte sich elend und wandte sich dem Priester zu. Sie sah, dass er keine Reue für die Toten empfand. Fowler bemerkte, dass mindestens eine der Leichen einem eher praktischen Zweck gedient hatte, und zog ein sauberes Kalaschnikow-Sturmgewehr darunter hervor. Er überprüfte die Waffe und stellte fest, dass sie noch voll funktionsfähig war. Er nahm mehrere Ersatzmagazine aus der Kleidung des Terroristen und stopfte sie in seine Taschen.
    
  Er richtete den Lauf seines Gewehrs auf die Plattform, die zum Eingang der Höhle führte.
    
  Russell ist da oben.
    
  'Woher weißt du das?'
    
  "Als er sich zu erkennen gab, rief er ganz offensichtlich seine Freunde", sagte Fowler und nickte in Richtung der Leichen. "Das sind die Leute, die ihr bei unserer Ankunft gesehen habt. Ich weiß nicht, ob es noch andere gibt oder wie viele es sein könnten, aber es ist klar, dass Russell noch irgendwo da draußen ist, denn es gibt keine Spuren im Sand, die von der Plattform wegführen. Simun hat alles geplant. Wenn sie herausgekommen wären, hätten wir die Spuren gesehen. Er ist da, genau wie die Arche."
    
  'Was sollen wir tun?'
    
  Fowler dachte einige Sekunden nach und senkte den Kopf.
    
  "Wenn ich klug wäre, würde ich den Höhleneingang sprengen und sie verhungern lassen. Aber ich fürchte, da draußen könnten noch andere sein. Eichberg, Kain, David Pappas ..."
    
  'Du gehst also dorthin?'
    
  Fowler nickte. "Geben Sie mir bitte den Sprengstoff."
    
  "Lass mich mitkommen", sagte Andrea und reichte ihm das Paket.
    
  "Miss Otero, bleiben Sie hier und warten Sie, bis ich herauskomme. Sollten Sie sehen, dass sie stattdessen herauskommen, sagen Sie nichts. Verstecken Sie sich einfach. Machen Sie ein paar Fotos, wenn möglich, und dann verschwinden Sie von hier und erzählen Sie es der ganzen Welt."
    
    
  93
    
    
    
  IN DER HÖHLE, VIERZEHN MINUTEN ZUVOR
    
  Decker loszuwerden, erwies sich als einfacher als erwartet. Der Südafrikaner war fassungslos darüber, den Piloten erschossen zu haben, und wollte unbedingt mit ihm sprechen, sodass er beim Betreten des Tunnels keinerlei Vorsichtsmaßnahmen traf. Dort fand er die Kugel, die ihn vom Bahnsteig geschleudert hatte.
    
  Dass er das Upsilon-Protokoll hinter dem Rücken des alten Mannes unterzeichnet hatte, war ein genialer Schachzug, dachte Russell und gratulierte sich selbst.
    
  Es kostete fast zehn Millionen Dollar. Decker war anfangs misstrauisch, bis Russell sich bereit erklärte, ihm eine siebenstellige Summe im Voraus zu zahlen und weitere sieben Millionen, falls er gezwungen würde, das Protokoll anzuwenden.
    
  Kains Assistent lächelte zufrieden. Nächste Woche würden die Buchhalter von Cain Industries bemerken, dass Geld aus der Pensionskasse fehlte, und Fragen würden aufkommen. Bis dahin wäre er weit weg, und die Bundeslade sicher in Ägypten. Dort könnte man sich leicht verirren. Und dann würde das verfluchte Israel, das er hasste, den Preis für die Demütigung zahlen müssen, die es dem Haus des Islam zugefügt hatte.
    
  Russell ging den gesamten Tunnel entlang und spähte in die Höhle. Kain war dort und beobachtete interessiert, wie Eichberg und Pappas die letzten Steine entfernten, die den Zugang zur Kammer versperrten. Sie wechselten dabei zwischen einem Akkuschrauber und ihren bloßen Händen ab. Sie hörten den Schuss nicht, den er auf Decker abgab. Sobald er wusste, dass der Weg zur Bundeslade frei war und er sie nicht mehr brauchte, würden sie sterben.
    
  Was Kane betrifft...
    
  Keine Worte konnten den Hass beschreiben, den Russell für den alten Mann empfand. Er brodelte in seiner Seele, genährt von den Demütigungen, die Kain ihm angetan hatte. Die letzten sechs Jahre in der Nähe des alten Mannes zu verbringen, war eine Qual gewesen, eine Folter.
    
  Er versteckte sich im Badezimmer zum Beten und spuckte den Alkohol aus, den er vorgetäuscht trinken musste, damit niemand Verdacht schöpfte. Er kümmerte sich zu jeder Tages- und Nachtzeit um den kranken und von Angst geplagten alten Mann. Er heuchelte Fürsorge und Zuneigung.
    
  Es war alles eine Lüge.
    
  Deine beste Waffe wird die Taqiyya sein, die Täuschung des Kriegers. Ein Dschihadist kann über seinen Glauben lügen, er kann die Wahrheit verstellen, verbergen und verdrehen. Er kann dies einem Ungläubigen antun, ohne zu sündigen, sagte der Imam vor fünfzehn Jahren. Und glaube nicht, es wird einfach sein. Du wirst jede Nacht weinen vor Schmerz im Herzen, bis du dich selbst nicht mehr erkennst.
    
  Nun war er wieder ganz der Alte.
    
    
  Mit der ganzen Beweglichkeit seines jungen und durchtrainierten Körpers seilte sich Russell ohne Gurtzeug ab, genauso wie er es ein paar Stunden zuvor hinaufgestiegen war. Sein weißes Gewand flatterte im Wind und fing Cains Blick ein, der seinen Assistenten fassungslos anstarrte.
    
  'Was soll die Verkleidung, Jakob?'
    
  Russell antwortete nicht. Er ging auf die Vertiefung zu. Der entstandene Raum war etwa 1,50 Meter hoch und 2 Meter breit.
    
  "Es ist da, Mr. Russell. Wir haben es alle gesehen", sagte Eichberg, so aufgeregt, dass er zunächst gar nicht bemerkte, was Russell trug. "Hey, was ist das denn für eine Ausrüstung?", fragte er schließlich.
    
  'Bleib ruhig und ruf Pappas an.'
    
  'Mr. Russell, Sie sollten etwas mehr...'
    
  "Zwingen Sie mich nicht, es noch einmal zu wiederholen", sagte der Polizist und zog eine Pistole unter seiner Kleidung hervor.
    
  "David!", kreischte Eichberg wie ein Kind.
    
  "Jacob!", rief Kaine.
    
  "Halt die Klappe, du alter Sack."
    
  Die Beleidigung ließ Kaine das Blut aus dem Gesicht quellen. Niemand hatte je so mit ihm gesprochen, schon gar nicht der Mann, der bis jetzt sein engster Vertrauter gewesen war. Er hatte keine Zeit zu antworten, denn David Pappas trat aus der Höhle und blinzelte, während sich seine Augen an das Licht gewöhnten.
    
  'Was zum Teufel...?'
    
  Als er die Pistole in Russells Hand sah, verstand er sofort. Er war der Erste der drei, der es begriff, wenn auch nicht derjenige, der am meisten enttäuscht und schockiert war. Diese Rolle gebührte Kain.
    
  "Sie!", rief Pappas aus. "Jetzt verstehe ich. Sie hatten Zugriff auf das Magnetometerprogramm. Sie haben die Daten manipuliert. Sie haben Stowe getötet."
    
  "Ein kleiner Fehler, der mich beinahe teuer zu stehen gekommen wäre. Ich dachte, ich hätte die Expedition besser im Griff, als ich es tatsächlich hatte", gab Russell achselzuckend zu. "Nun eine kurze Frage: Sind Sie bereit, die Bundeslade zu tragen?"
    
  'Fick dich, Russell.'
    
  Ohne nachzudenken, zielte Russell auf Pappas' Bein und drückte ab. Pappas' rechtes Knie wurde blutüberströmt, und er stürzte zu Boden. Seine Schreie hallten von den Tunnelwänden wider.
    
  "Die nächste Kugel trifft dich in den Kopf. Jetzt antworte mir, Pappas."
    
  "Ja, es ist bereit zur Veröffentlichung, Sir. Die Luft ist rein", sagte Eichberg und hob die Hände in die Luft.
    
  "Das ist alles, was ich wissen wollte", antwortete Russell.
    
  Zwei Schüsse fielen in schneller Folge. Seine Hand sank, und zwei weitere Schüsse folgten. Eichberg stürzte auf Pappas, beide am Kopf verwundet, ihr Blut vermischte sich auf dem steinigen Boden.
    
  "Du hast sie getötet, Jakob. Du hast sie beide getötet."
    
  Kain kauerte in der Ecke, sein Gesicht eine Maske der Angst und Verwirrung.
    
  "Na, na, Alter. Für so einen verrückten alten Kerl bist du ganz schön gut darin, das Offensichtliche auszusprechen", sagte Russell. Er spähte in die Höhle und zielte dabei immer noch mit seiner Pistole auf Kaine. Als er sich umdrehte, lag ein zufriedener Ausdruck auf seinem Gesicht. "Also, wir haben es endlich gefunden, Ray? Die Arbeit deines Lebens. Schade nur, dass dein Vertrag dadurch unterbrochen wird."
    
  Der Assistent ging mit langsamen, bedächtigen Schritten auf seinen Chef zu. Kain wich noch weiter in seine Ecke zurück, völlig gefangen. Sein Gesicht war schweißbedeckt.
    
  "Warum, Jakob?", rief der alte Mann. "Ich habe dich geliebt wie meinen eigenen Sohn."
    
  "Das nennst du Liebe?", schrie Russell, ging auf Kaine zu und schlug ihm wiederholt mit der Pistole ins Gesicht, dann in die Arme und auf den Kopf. "Ich war dein Sklave, Alter. Jedes Mal, wenn du mitten in der Nacht wie ein Mädchen geweint hast, bin ich zu dir gerannt und habe mich daran erinnert, warum ich das hier tue. Ich musste an den Moment denken, in dem ich dich endlich besiegen und du mir ausgeliefert sein würdest."
    
  Kain fiel zu Boden. Sein Gesicht war geschwollen, von den Schlägen fast unkenntlich. Blut sickerte aus seinem Mund und seinen gebrochenen Wangenknochen.
    
  "Sieh mich an, Alter", fuhr Russell fort und hob Kane am Kragen seines Hemdes hoch, bis sie sich gegenüberstanden.
    
  "Stell dich deinem eigenen Versagen. In wenigen Minuten werden meine Männer in diese Höhle hinabsteigen und deine kostbare Arche bergen. Wir werden der Welt ihren gerechten Lohn geben. Alles wird so sein, wie es immer sein sollte."
    
  "Es tut mir leid, Mr. Russell. Ich muss Sie leider enttäuschen."
    
  Der Assistent drehte sich abrupt um. Am anderen Ende des Tunnels war Fowler gerade am Seil herabgeseilt und richtete eine Kalaschnikow auf ihn.
    
    
  94
    
    
    
  AUSGRABUNGEN
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 14:27 Uhr.
    
    
  Pater Fowler.
    
  'Hakan'.
    
  Russell positionierte Cains leblosen Körper zwischen sich und dem Priester, der immer noch sein Gewehr auf Russells Kopf richtete.
    
  "Es sieht so aus, als hättet ihr meine Leute losgeworden."
    
  "Ich war"s nicht, Mr. Russell. Gott hat dafür gesorgt. Er hat sie zu Staub verwandelt."
    
  Russell blickte ihn fassungslos an und versuchte herauszufinden, ob der Priester bluffte. Die Hilfe seiner Assistenten war für seinen Plan unerlässlich. Er verstand nicht, warum sie noch nicht erschienen waren, und versuchte, Zeit zu gewinnen.
    
  "Sie haben also die Oberhand, Vater", sagte er und nahm wieder seinen üblichen ironischen Ton an. "Ich weiß, was für ein guter Schütze Sie sind. Auf diese Entfernung können Sie nicht verfehlen. Oder haben Sie etwa Angst, den unangefochtenen Messias zu treffen?"
    
  "Herr Kain ist nur ein kranker alter Mann, der glaubt, Gottes Willen zu tun. Meiner Meinung nach ist der einzige Unterschied zwischen Ihnen beiden Ihr Alter. Lassen Sie Ihre Waffe fallen."
    
  Russell war sichtlich empört über die Beleidigung, aber machtlos, etwas daran zu ändern. Er hielt seine Pistole am Lauf, nachdem er Cain damit geschlagen hatte, und der Körper des alten Mannes bot ihm kaum Schutz. Russell wusste, dass eine falsche Bewegung ihm ein Loch in den Kopf reißen würde.
    
  Er öffnete seine rechte Faust und ließ die Pistole los, dann öffnete er seine linke Faust und ließ Kaine los.
    
  Der alte Mann brach in Zeitlupe zusammen, verdreht, als wären seine Gelenke nicht miteinander verbunden.
    
  "Ausgezeichnet, Mr. Russell", sagte Fowler. "Wenn Sie gestatten, treten Sie bitte zehn Schritte zurück ..."
    
  Mechanisch tat Russell, was ihm befohlen wurde, Hass brannte in seinen Augen.
    
  Für jeden Schritt, den Russell zurückging, machte Fowler einen Schritt nach vorn, bis Russell mit dem Rücken zur Wand stand und der Priester neben Kain stand.
    
  "Sehr gut. Legen Sie nun die Hände auf den Kopf, dann werden Sie das hier unbeschadet überstehen."
    
  Fowler hockte sich neben Cain und fühlte seinen Puls. Der alte Mann zitterte, und eines seiner Beine schien verkrampft zu sein. Der Priester runzelte die Stirn. Cains Zustand beunruhigte ihn - er zeigte alle Anzeichen eines Schlaganfalls, und seine Lebenskraft schien mit jedem Augenblick zu schwinden.
    
  Russell sah sich derweil um und suchte nach einer Waffe gegen den Priester. Plötzlich spürte er etwas unter sich auf dem Boden. Er blickte hinunter und bemerkte, dass er auf Kabeln stand, die etwa einen halben Meter rechts von ihm endeten und mit dem Generator verbunden waren, der die Höhle mit Strom versorgte.
    
  Er lächelte.
    
  Fowler packte Kane am Arm, bereit, ihn notfalls von Russell wegzuziehen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Russell hochsprang. Ohne zu zögern, feuerte er.
    
  Dann ging das Licht aus.
    
  Was als Warnschuss gedacht war, endete mit der Zerstörung des Generators. Die Anlage begann alle paar Sekunden Funken zu sprühen und erhellte den Tunnel mit einem sporadischen blauen Licht, das immer schwächer wurde, wie ein Kamerablitz, dessen Leistung allmählich nachlässt.
    
  Fowler ging sofort in die Hocke - eine Position, die er schon hunderte Male eingenommen hatte, wenn er in mondlosen Nächten mit dem Fallschirm über Feindesgebiet absprang. Wenn man die Position des Feindes nicht kannte, war es am besten, ruhig zu sitzen und abzuwarten.
    
  Blauer Funke.
    
  Fowler glaubte, einen Schatten an der Wand zu seiner Linken entlanghuschen zu sehen und schoss. Der Schuss ging daneben. Verfluchend lief er ein paar Schritte im Zickzack, um sicherzustellen, dass der andere Mann seine Position nach dem Schuss nicht erkennen würde.
    
  Blauer Funke.
    
  Ein weiterer Schatten, diesmal zu seiner Rechten, länger und direkt an der Wand. Er feuerte in die entgegengesetzte Richtung. Er verfehlte erneut, und es gab weitere Bewegung.
    
  Blauer Funke.
    
  Er stand mit dem Rücken zur Wand. Er konnte Russell nirgends sehen. Das könnte bedeuten, dass er -
    
  Russell stieß einen Schrei aus und stürzte sich auf Fowler, schlug ihm wiederholt ins Gesicht und in den Hals. Der Priester spürte, wie sich die Zähne des anderen Mannes wie die eines Tieres in seinen Arm gruben. Er konnte nicht anders und ließ die Kalaschnikow los. Einen Augenblick lang spürte er die Hände des anderen. Sie rangen miteinander, und das Gewehr verschwand in der Dunkelheit.
    
  Blauer Funke.
    
  Fowler lag am Boden, und Russell versuchte verzweifelt, ihn zu erwürgen. Der Priester, der seinen Feind endlich sehen konnte, ballte die Faust und schlug Russell in den Solarplexus. Russell stöhnte auf und rollte sich auf die Seite.
    
  Ein letzter, schwacher blauer Blitz.
    
  Fowler sah noch, wie Russell in der Zelle verschwand. Ein plötzliches, schwaches Leuchten verriet ihm, dass Russell seine Pistole gefunden hatte.
    
  Von rechts ertönte eine Stimme.
    
  'Vater'.
    
  Fowler schlich sich an den sterbenden Kain heran. Er wollte Russell kein leichtes Ziel bieten, falls dieser sein Glück versuchen und im Dunkeln zielen sollte. Der Priester spürte schließlich den Körper des alten Mannes vor sich und legte ihm den Mund ans Ohr.
    
  "Herr Kain, warten Sie", flüsterte er. "Ich kann Sie hier rausholen."
    
  "Nein, Vater, das kannst du nicht", erwiderte Kain, und obwohl seine Stimme schwach war, sprach er mit dem festen Ton eines kleinen Kindes. "Es ist das Beste so. Ich werde meine Eltern, meinen Sohn und meinen Bruder wiedersehen. Mein Leben begann in einem Loch. Es ist nur logisch, dass es auch so endet."
    
  "Dann vertraue dich Gott an", sagte der Priester.
    
  "Ich habe eins. Könnten Sie mir kurz helfen?"
    
  Fowler sagte nichts, aber er tastete nach der Hand des Sterbenden und hielt sie in seinen Händen. Weniger als eine Minute später, mitten in einem geflüsterten hebräischen Gebet, war ein Todesröcheln zu hören, und Raymond Cain erstarrte.
    
  Zu diesem Zeitpunkt wusste der Priester, was er zu tun hatte.
    
  In der Dunkelheit tastete er nach den Knöpfen seines Hemdes, öffnete sie und zog das Sprengstoffpäckchen heraus. Er ertastete den Zünder, steckte ihn in die C4-Stangen und drückte die Knöpfe. Im Kopf zählte er die Pieptöne.
    
  Nach der Installation habe ich zwei Minuten, dachte er.
    
  Doch er konnte die Bombe nicht außerhalb der Höhle platzieren, in der die Bundeslade stand. Ihre Sprengkraft reichte möglicherweise nicht aus, um die Höhle wieder zu verschließen. Er wusste nicht, wie tief der Graben war, und wenn die Bundeslade hinter einem Felsvorsprung lag, könnte sie unversehrt bleiben. Um diesen Wahnsinn künftig zu verhindern, musste er die Bombe neben die Bundeslade legen. Er konnte sie nicht wie eine Handgranate werfen, da sich der Zünder lösen könnte. Und er musste genügend Zeit zur Flucht haben.
    
  Die einzige Möglichkeit war, Russell auszuschalten, C4 in Position zu bringen und dann alles auf eine Karte zu setzen.
    
  Er kroch umher und hoffte, nicht zu viel Lärm zu machen, aber es war unmöglich. Der Boden war mit kleinen Steinen bedeckt, die sich bei jeder seiner Bewegungen verschoben.
    
  'Ich höre Sie kommen, Priester.'
    
  Es gab einen roten Blitz und ein Schuss fiel. Die Kugel verfehlte Fowler um einiges, doch der Priester blieb vorsichtig und rollte sich schnell nach links. Die zweite Kugel traf ihn an derselben Stelle, an der er Sekunden zuvor gestanden hatte.
    
  Er wird den Mündungsblitz der Waffe zur Orientierung nutzen. Aber das kann er nicht zu oft tun, sonst geht ihm die Munition aus, dachte Fowler und zählte im Geiste die Wunden, die er an Pappas' und Eichbergs Leichen gesehen hatte.
    
  Er hat Decker wahrscheinlich einmal erschossen, Pappas vielleicht dreimal, Eichberg zweimal und mich zweimal. Das sind acht Kugeln. Eine Pistole fasst vierzehn Kugeln, fünfzehn, wenn sich eine im Patronenlager befindet. Das heißt, er hat noch sechs, vielleicht sieben Kugeln. Er muss bald nachladen. Wenn er das tut, höre ich das Magazin klicken. Dann...
    
  Er zählte noch, als zwei weitere Schüsse den Höhleneingang erhellten. Diesmal rollte sich Fowler gerade noch rechtzeitig von seiner Position weg. Der Schuss verfehlte ihn um etwa zehn Zentimeter.
    
  Es sind noch vier oder fünf übrig.
    
  "Ich krieg dich, Kreuzritter. Ich krieg dich, denn Allah ist mit mir." Russells Stimme klang geisterhaft in der Höhle. "Verschwinde von hier, solange du noch kannst."
    
  Fowler schnappte sich einen Stein und warf ihn in das Loch. Russell biss an und feuerte in Richtung des Geräusches.
    
  Drei oder vier.
    
  "Sehr clever, Kreuzritter. Aber es wird dir nichts nützen."
    
  Er hatte noch nicht ausgeredet, als er erneut feuerte. Diesmal waren es nicht zwei, sondern drei Schüsse. Fowler rollte nach links, dann nach rechts, seine Knie schlugen gegen die scharfen Felsen.
    
  Eine einzelne Kugel oder ein leeres Magazin.
    
  Kurz bevor er seinen zweiten Schuss abgab, blickte der Priester einen Augenblick auf. Es mag nur eine halbe Sekunde gedauert haben, aber was er in dem kurzen Licht der Schüsse sah, wird sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt haben.
    
  Russell stand hinter einer riesigen goldenen Kiste. Zwei grob gemeißelte Figuren leuchteten hell an ihrer Oberseite. Der Blitz der Pistole ließ das Gold uneben und verbeult erscheinen.
    
  Fowler holte tief Luft.
    
  Er befand sich fast im Inneren der Kammer, hatte aber kaum Bewegungsfreiheit. Würde Russell erneut schießen, selbst nur um seine Position zu überprüfen, würde er ihn mit ziemlicher Sicherheit treffen.
    
  Fowler beschloss, das zu tun, womit Russell am wenigsten gerechnet hatte.
    
  Blitzschnell sprang er auf und rannte in das Loch. Russell versuchte zu schießen, doch der Abzug klickte laut. Fowler sprang hinterher, und bevor der andere Mann reagieren konnte, warf sich der Priester mit seinem ganzen Gewicht auf die Lade, die auf Russell stürzte, den Deckel öffnete und ihren Inhalt ergoss. Russell sprang zurück und entging nur knapp dem Tod.
    
  Was folgte, war ein erbitterter Kampf. Fowler gelang es, Russell mehrere Schläge gegen Arme und Brust zu versetzen, doch Russell schaffte es irgendwie, ein volles Magazin in seine Pistole einzuführen. Fowler hörte, wie die Waffe nachgeladen wurde. Er tastete im Dunkeln mit der rechten Hand nach dem Griff und hielt Russells Arm mit der linken fest.
    
  Er fand einen flachen Stein.
    
  Er schlug Russell mit aller Kraft auf den Kopf, und der junge Mann fiel bewusstlos zu Boden.
    
  Die Wucht des Aufpralls zersplitterte den Felsen in Stücke.
    
  Fowler versuchte, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Sein ganzer Körper schmerzte, und sein Kopf blutete. Mithilfe des Lichts seiner Uhr versuchte er, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Er richtete einen dünnen, aber intensiven Lichtstrahl auf die umgestürzte Bundeslade und erzeugte so ein sanftes Leuchten, das den Raum erfüllte.
    
  Er hatte kaum Zeit, es zu bewundern. In diesem Moment hörte Fowler ein Geräusch, das ihm während des Kampfes entgangen war...
    
  Tonsignal.
    
  ...und erkannte, dass er sich dabei herumwälzte und den Schüssen auswich...
    
  Tonsignal.
    
  ...nicht bedeutend...
    
  Tonsignal.
    
  ... er aktivierte den Zünder...
    
  ...es war nur in den letzten zehn Sekunden vor der Explosion zu hören...
    
  Piep!
    
  Von Instinkt und nicht von Vernunft getrieben, sprang Fowler in die Dunkelheit jenseits der Kammer, jenseits des schwachen Lichts der Bundeslade.
    
  Am Fuße des Gerüsts kaute Andrea Otero nervös an ihren Nägeln. Plötzlich bebte die Erde. Das Gerüst schwankte und ächzte, als der Stahl die Explosion abfing, aber nicht einstürzte. Eine Rauch- und Staubwolke quoll aus der Tunnelöffnung und bedeckte Andrea mit einer dünnen Sandschicht. Sie rannte ein paar Schritte vom Gerüst weg und wartete. Eine halbe Stunde lang klebten ihre Augen am Eingang der rauchenden Höhle, obwohl sie wusste, dass das Warten sinnlos war.
    
  Niemand kam heraus.
    
    
  95
    
    
    
  Auf dem Weg nach Aqaba
    
  WÜSTE AL-MUDAWWARA, JORDAN
    
    
  Donnerstag, 20. Juli 2006, 21:34 Uhr.
    
    
  Andrea erreichte den H3 mit einem platten Reifen an der Stelle, wo sie ihn abgestellt hatte, erschöpfter als je zuvor. Sie fand den Wagenheber genau dort, wo Fowler ihn genannt hatte, und betete still für den gefallenen Priester.
    
  Er wird wahrscheinlich im Himmel sein, falls es so etwas gibt. Wenn es dich gibt, Gott. Wenn du da oben bist, warum schickst du mir nicht ein paar Engel, um mir zu helfen?
    
  Niemand kam, also musste Andrea die Arbeit selbst erledigen. Als sie fertig war, verabschiedete sie sich von Doc, der keine drei Meter entfernt begraben lag. Der Abschied dauerte eine Weile, und Andrea merkte, dass sie mehrmals laut aufgeschrien und geweint hatte. Sie fühlte sich, als stünde sie kurz vor - mitten drin - einem Nervenzusammenbruch nach all dem, was in den letzten Stunden geschehen war.
    
    
  Der Mond ging gerade auf und tauchte die Dünen in sein silbrig-blaues Licht, als Andrea endlich die Kraft aufbrachte, sich von Chedva zu verabschieden und in den H3 zu steigen. Schwach schloss sie die Tür und schaltete die Klimaanlage ein. Die kühle Luft auf ihrer verschwitzten Haut war wohltuend, doch sie konnte es sich nicht leisten, den Moment länger als ein paar Minuten zu genießen. Der Tank war nur noch zu einem Viertel gefüllt, und sie würde jeden Tropfen Benzin brauchen, um wieder auf die Straße zu kommen.
    
  Hätte ich dieses Detail bemerkt, als wir an jenem Morgen ins Auto stiegen, hätte ich den wahren Zweck der Reise verstanden. Vielleicht wäre Chedva noch am Leben.
    
  Sie schüttelte den Kopf. Sie musste sich aufs Fahren konzentrieren. Mit etwas Glück würde sie vor Mitternacht eine Straße erreichen und eine Stadt mit Tankstelle finden. Falls nicht, musste sie zu Fuß gehen. Einen Computer mit Internetanschluss zu finden, war unerlässlich.
    
  Sie hatte viel zu erzählen.
    
    
  96
    
  EPILOG
    
    
  Die dunkle Gestalt machte sich langsam auf den Heimweg. Er hatte nur sehr wenig Wasser, aber das reichte für einen Mann wie ihn, der darauf trainiert war, unter den schlimmsten Bedingungen zu überleben und anderen beim Überleben zu helfen.
    
  Es gelang ihm, den Weg zu finden, den die Auserwählten von Yirmaəiáhu vor über zweitausend Jahren in die Höhlen genommen hatten. Es war die Dunkelheit, in die er kurz vor der Explosion gestürzt war. Einige der Steine, die ihn bedeckt hatten, waren durch die Wucht der Explosion weggerissen worden. Erst ein Sonnenstrahl und stundenlange, qualvolle Anstrengung brachten ihn wieder ins Freie.
    
  Tagsüber schlief er überall dort, wo er Schatten fand, und atmete nur durch die Nase, durch einen provisorischen Schal, den er aus weggeworfener Kleidung gefertigt hatte.
    
  Er wanderte die ganze Nacht hindurch und ruhte sich stündlich zehn Minuten aus. Sein Gesicht war völlig mit Staub bedeckt, und als er nun, in mehreren Stunden Entfernung, die Umrisse der Straße erkannte, wurde ihm immer deutlicher bewusst, dass sein "Tod" ihm endlich die Erlösung bringen könnte, nach der er sich all die Jahre gesehnt hatte. Er würde nicht länger Gottes Soldat sein müssen.
    
  Seine Freiheit war eine von zwei Belohnungen, die er für dieses Unterfangen erhielt, auch wenn er keine von beiden jemals mit irgendjemandem teilen konnte.
    
  Er griff in seine Tasche und holte ein Stück Gestein hervor, nicht größer als seine Handfläche. Es war alles, was von dem flachen Stein übrig geblieben war, mit dem er Russell in der Dunkelheit geschlagen hatte. Überall auf seiner Oberfläche befanden sich tiefe, aber perfekte Symbole, die unmöglich von Menschenhand stammen konnten.
    
  Zwei Tränen rannen ihm über die Wangen und hinterließen Spuren im Staub, der sein Gesicht bedeckte. Seine Fingerspitzen fuhren die Symbole auf dem Stein nach, und seine Lippen formten sie zu Worten.
    
  Loh Tirtzach.
    
  Du darfst nicht töten.
    
  In diesem Moment bat er um Vergebung.
    
  Und ihm wurde vergeben.
    
    
  Dankbarkeit
    
    
  Ich möchte mich bei folgenden Personen bedanken:
    
  Meinen Eltern, denen dieses Buch gewidmet ist, dafür, dass sie den Bombenangriffen des Bürgerkriegs entkamen und mir eine Kindheit ermöglichten, die sich so sehr von ihrer eigenen unterschied.
    
  An Antonia Kerrigan, die beste Literaturagentin der Welt mit dem besten Team: Lola Gulias, Bernat Fiol und Victor Hurtado.
    
  Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, danke ich für den Erfolg meines ersten Romans "Gottes Spion" in neununddreißig Ländern.
    
  Nach New York, an James Graham, meinen "Bruder". Gewidmet Rory Hightower, Alice Nakagawa und Michael Dillman.
    
  In Barcelona ist Enrique Murillo, der Herausgeber dieses Buches, gleichermaßen unermüdlich und anstrengend, denn er besitzt eine ungewöhnliche Tugend: Er hat mir immer die Wahrheit gesagt.
    
  In Santiago de Compostela lebte Manuel Sutino, der sein beträchtliches technisches Verständnis in die Beschreibungen von Moses' Expedition einbrachte.
    
  In Rom wurde Giorgio Celano für seine Kenntnisse der Katakomben geehrt.
    
  In Mailand Patrizia Spinato, Bändigerin der Worte.
    
  In Jordan, Mufti Samir, Bahjat al-Rimawi und Abdul Suhayman, die die Wüste kennen wie kein anderer und die mir das Ritual des Gahwa beigebracht haben.
    
  Nichts davon wäre in Wien möglich gewesen ohne Kurt Fischer, der mir Informationen über den wahren Metzger aus Spiegelgrund lieferte, der am 15. Dezember an einem Herzinfarkt starb.
    
  Und ein Dank an meine Frau Katuksa und meine Kinder Andrea und Javier für ihr Verständnis für meine Reisen und meinen Zeitplan.
    
  Liebe Leserin, lieber Leser, ich möchte dieses Buch nicht beenden, ohne Sie um einen Gefallen zu bitten. Lesen Sie Samuel Keenes Gedicht noch einmal ganz von vorn. Wiederholen Sie dies so lange, bis Sie jedes Wort auswendig gelernt haben. Bringen Sie es Ihren Kindern bei; leiten Sie es an Ihre Freunde weiter. Bitte.
    
    
  Gepriesen seist Du, o Gott, ewige, allumfassende Gegenwart, der Du das Brot aus der Erde wachsen lässt.

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